KAPITEL 4
KONKURRENZ
Wenn die Ausländer keine andere Möglichkeit hätten, wären die Schwierigkeiten des Dollars ohne Bedeutung. Wenn sie mangels Alternativen in der Klemme stecken würden, so wie sie nach dem Zusammenbruch von Bretton Woods in der Klemme steckten, dann wären die Zweifel an seinen Aussichten nichts weiter als eben Zweifel. Aber seit 1999 gibt es noch eine andere Währung, die das Potenzial hat, zu einem großen Rivalen zu werden, nämlich den Euro. Wie die jüngsten Ereignisse unterstreichen, ist die Eurozone zwar nicht problemfrei, aber das sind die Vereinigten Staaten auch nicht. Wenn der Euro mit gestärkten Institutionen aus seiner Krise hervorgeht, könnte er in der internationalen Sphäre immer noch eine ernsthafte Alternative zum Dollar darstellen.
Diese Alternative ist nicht über Nacht aufgekommen. Die Schaffung des Euros war der Höhepunkt eines buchstäblich jahrhundertelangen Prozesses. Der böhmische König Georg von Podiebrad hatte im 15. Jahrhundert eine Föderation mit einheitlicher Währung zur Finanzierung einer europäischen Armee vorgeschlagen, die gegen die Türken kämpfen könnte. Napoleon brachte Argumente für eine einheitliche unter französischer Ägide ausgegebene Währung, um die
Integration des Kontinents zu fördern. 105 (Frankreichs Zuversicht, sobald eine einheitliche Währung geschaffen würde, würde Frankreich sie unter Kontrolle bekommen, ist ein weiteres Dauerthema der europäischen Währungsgeschichte.) Unter dem Goldstandard, der bis 1914 galt, konnten die europäischen Währungen effektiv gegeneinander eingetauscht werden. 106 Der Erste Weltkrieg unterbrach zwar die Geltung des Goldstandards, aber er führte auch dazu, dass Richard Nikolaus Graf von Coudenhove-Kalergi die Paneuropa-Union gründete, die Unterstützung für eine europäische Föderation und eine europäische Währung erarbeiten wollte. In den 1950er- und 1960er-Jahren verfocht Jacques Rueff, der uns schon im dritten Kapitel begegnet ist, eine einheitliche europäische Währung mit Goldbindung als Alternative zum Dollar – die vermutlich wieder einmal unter französischer Leitung operieren würde.
Der Zweite Weltkrieg als Dreh- und Angelpunkt der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert hatte auf diesen Prozess tiefgreifende Auswirkungen. So gut wie alle Persönlichkeiten, die in den Verhandlungen, welche zur Währungsunion führten, eine führende Rolle spielten, hatten sich ihre Ansichten durch ihre Erfahrungen während des Krieges gebildet. In ihren Augen verhinderte die europäische Integration, dass wieder gleichermaßen tragische Ereignisse eintreten würden. Angesichts der wirtschaftlichen Wiederauferstehung der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er-Jahren betrachteten sie es als noch wichtiger, Deutschland fest in Europa einzubinden.
Zwar beschränkte sich der Einbindungsmechanismus, der 1958 eingerichtet wurde – die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) – , ganz klar auf eine wirtschaftliche und politische Föderation, aber sie regte Gespräche über eine tiefere Integration und dann unweigerlich über eine einzige europäische Währung an. 107 Und gerade als die Erinnerung an jene früheren Ereignisse zu verblassen begann, erweckte sie die deutsche Wiedervereinigung wieder zum Leben. Ohne diese Geschichte kann man sich unmöglich vorstellen, dass die Franzosen den folgenschweren Schritt unternommen hätten, den Franc – das Symbol ihrer Erhabenheit – aufzugeben, oder dass die Deutschen ihre geliebte D-Mark aufgegeben hätten.
Diese Geschichte gemahnt uns auch daran, dass der Euro im Grunde ein politisches Projekt ist. Das ist auch seine Schwäche, denn das erklärt, wieso der Euro eingeführt wurde, bevor die ganzen wirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffen waren, die für sein reibungsloses Funktionieren notwendig wären. Aber das ist auch seine Stärke, denn es erklärt, wieso sich die Mitgliedstaaten jetzt gezwungen sehen, sie vollständig einzuführen – und weshalb der Euro aus der Krise wahrscheinlich gestärkt hervorgehen wird.
Jedoch ist es ebenso unvorstellbar, dass der Übergang zum Euro auf diese Art stattgefunden hätte, wenn nicht die durch den Dollar erzeugten Probleme gewesen wären. Immer wenn Zweifel am Dollar aufkamen und Mittel aus den Vereinigten Staaten herausflossen, strömten sie nicht gleichmäßig in alle europäischen Märkte.
Vielmehr flossen sie hauptsächlich nach Deutschland, die Heimat von Europas gefürchtetster Währung. Die D-Mark stieg gegenüber dem Französischen Franc, was für die deutschen Exporteure einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und für die französischen Politiker einen Gesichtsverlust darstellte. Angesichts der gewaltigen Größe der US-amerikanischen Finanzmärkte hatte dies zur Folge, dass die Deutschen – um es mit den Worten von Otmar Emminger zu sagen, des Bundesbankers, dem wir schon in Kapitel 3 begegnet sind – „mit einem Elefanten im Boot – oder im Bett – saßen“.
Somit ermunterte die Instabilität des Dollars die Europäer, über eine gemeinsame Währung nachzudenken, die sie vor solchen Störungen abschirmen würde. Somit führten die Probleme des Dollars indirekt zur Schaffung einer Alternative – des Euros –, die in der Lage ist, auf der Weltbühne mit ihm zu konkurrieren.
Mit dem Streben nach einer Abschirmung vor destabilisierenden Währungsimpulsen verschmolzen noch andere Motive – ebenso wie mehrere Motive hinter der Schaffung der Federal Reserve gestanden hatten. Anfang der 1990er-Jahre musste Deutschland Frankreichs Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung gewinnen, und da konnte es als Gegenleistung die Währungsunion anbieten. Danach bestand im wiedervereinigten Deutschland der Wunsch nach einer durchsetzungsfähigeren Außenpolitik, die nur im Kontext einer stärker integrierten Europäischen Union verfolgt werden konnte. In Frankreich bestand der Wunsch, einer deutschen Notenbank, welche europaweit die Währungspolitik diktierte, die Währungskontrolle abzuringen. Außerdem wollten die Franzosen in der gaullistischen Tradition eine Währung haben, die dem Dollar Konkurrenz machen kann. Sie schätzten die monetäre Macht aus dem gleichen Grund wie die militärische Macht. Sie wollten sowohl währungstechnisch als auch militärisch weniger abhängig von den Vereinigten Staaten sein. Der Euro war ihre währungstechnische Force de frappe.
Das Ende des Kalten Krieges spielte ihnen in die Hände. Frankreich hatte schon immer eine europäische Abschreckung und eine von den Vereinigten Staaten unabhängige Verteidigungsallianz angestrebt. Doch solange in den Wäldern um Berlin sowjetische Truppen lauerten, war Westdeutschland vom amerikanischen Verteidigungsschirm abhängig. Es war der „gehorsame Verbündete“. 108 Wenn die Vereinigten Staaten die Bundesrepublik baten, den Dollar zu stützen, dann tat sie es. Und wenn Paris Pläne für die Schaffung einer europäischen Alternative anbot, zögerte Bonn. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderte sich das. Dies ist eine Mahnung, wie außergewöhnlich das halbe Jahrhundert nach 1945 war, in dem der Dollar unangefochten regierte.
Bis in die 1970er-Jahre hinein lieferte das Bretton-Woods-System Europa die Währungsstabilität, die es brauchte. Die Stabilisierung der europäischen Währungen gegen den Dollar stabilisierte sie auch gegeneinander. Die Vollendung des gemeinsamen Marktes, die Europa 1968 vollzog, wäre schwieriger gewesen, wenn es Währungsschwankungen gegeben hätte. Die Geschäfte von Importeuren und Exporteuren wären dadurch gestört worden. Den Staaten wäre es schwerer gefallen, Handelsschranken abzubauen und einen gemeinsamen Außenzoll einzurichten.
Es wäre ihnen auch schwerer gefallen, die Ausgleichszahlungen zu leisten, die notwendig waren, um sich von den agrarwirtschaftlichen Gegnern des gemeinsamen Marktes freizukaufen. Europas weniger produktive Bauern sahen im gemeinsamen Markt für landwirtschaftliche Produkte eine Bedrohung. Ihre Lobby war so stark, dass man sie nicht ignorieren konnte, und als Gegner hätten sie das europäische Projekt torpedieren können. Als sie offiziell verordnete Preise verlangten, stimmten die Regierungen zu. Aber das konnte keine Regierung auf eigene Faust leisten. Wenn Frankreich versucht hätte, höhere Getreidepreise als in anderen Ländern des gemeinsamen Marktes festzulegen, wäre es mit Getreide aus anderen Mitgliedstaaten überschwemmt worden. Deshalb wurde eine gemeinsame Agrarpolitik ins Leben gerufen, in deren Rahmen die Mitglieder ihre Agrarpreise harmonisierten. Aber da der französische Staat sie in Francs, der deutsche in D-Mark und andere Mitglieder der Gemeinschaft in ihren jeweiligen Währungen festlegten, hätten ungeregelte Währungskursschwankungen das System ruiniert. Und wieder kam Bretton Woods zu Hilfe. Daher war es vorhersehbar, dass die ersten wesentlichen Schritte in Richtung einer gemeinsamen europäischen Währung mit dem Todeskampf von Bretton Woods zusammenfielen.
VERSUCHSBALLONS
Weniger vorhersehbar war es, dass die Initiative vom deutschen Kanzler Willy Brandt ausging. Brandt wurde als uneheliches Kind einer Verkäuferin von seinem Großvater mütterlicherseits aufgezogen, der Lastwagenfahrer und glühender Sozialist war. Er übernahm die politischen Ansichten seines Großvaters und trat in die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) sowie in die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) ein. Neben den politischen Aktivitäten arbeitete er bei einer Reederei und Spedition. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten waren junge Sozialisten in Deutschland nicht mehr gut gelitten und Brandt nutzte seine Verbindungen zur Seefahrt, um sich nach Norwegen abzusetzen. Als ihn die deutschen Behörden 1938 ausbürgerten, beantragte er die norwegische Staatsbürgerschaft. Und so kehrte Brandt 1946 makellos nach Berlin zurück und konnte den Verlockungen der Politik nicht lange widerstehen. Im Jahr 1949 trat er in den Dienst des Westberliner Oberbürgermeisters und 1957 wurde er selbst zum Oberbürgermeister gewählt. Dieses Amt war sein Sprungbrett in die Bundespolitik. Er war ab 1964 Vorsitzender der SPD, ab 1966 Außenminister der großen Koalition aus CDU und SPD und von 1969 bis 1974 Bundeskanzler.
Brandt machte sich weniger Sorgen um Währungsangelegenheiten als darum, Ordnung in die Beziehungen zum Ostblock zu bringen. Er hatte sich betrogen gefühlt, als die Vereinigten Staaten 1961 nichts gegen den Bau der Berliner Mauer getan hatten. Er kam daher zu dem Schluss, Deutschlands Schicksal würde von den Deutschen selbst entschieden werden, und ein entscheidender Aspekt dessen war die Verbesserung der Beziehungen zu den Ostblockländern und der UdSSR. Brandts große Leistung als Kanzler bestand darin, dass er Nichtangriffsverträge mit Polen und der Sowjetunion aushandelte und dass er diplomatische Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik einrichtete.
Die Wirtschaft hingegen war nicht sein Ding. Aber Brandt hatte 1968 als Außenminister einen Logenplatz, als die Probleme des Dollars Spannungen in Europa entfachten. Befürchtungen, die Vereinigten Staaten könnten ihn abwerten, verursachten eine Flutwelle von Kapitalflüssen nach Deutschland. Dieser Zustrom trieb die D-Mark nach oben. Dies warf zusätzliche Fragen hinsichtlich des Fra ncs auf. Angesichts verbreiteter Demonstrationen („Mai-Ereignisse“) und der Tatsache, dass die Regierung de Gaulle auf dem letzten Loch pfiff, stand dessen Gesundheit ohnehin in Zweifel. Der General mochte zwar seine besten Zeiten hinter sich haben, aber er widerstand dem Abwertungsdruck, weil er das als peinliches Eingeständnis der Niederlage betrachtete – und das jetzt umso mehr, als er den Amerikanern gern Vorträge über die Dollarschwäche hielt. Den Gedanken, er könne zur Abwertung gezwungen werden, tat de Gaulle als „Absurdität schlimmster Sorte“ ab. Wenn das Problem gelöst werden musste, so beharrte er, musste die Lösung von Deutschland kommen.
Aber die deutsche Regierung in Gestalt von Wirtschaftsminister Karl Schiller und Finanzminister Franz Josef Strauß verweigerte eine Abwertung unnachgiebig, weil sie die Beschädigung der deutschen Exporte fürchtete. Schiller und Strauß standen mit ihrer Reputation dafür ein, den aktuellen Dollarkurs aufrechtzuerhalten. Auf einem zerstrittenen Gipfel von Industrieländern in Bonn im November 1968 wurde der Beschluss gefasst, nichts zu entscheiden. De Gaulle verordnete Kurskontrollen, wodurch er sich zwar Zeit erkaufte, aber nichts für eine Lösung des Problems tat.
Die Blockade wurde erst durchbrochen, als Mitte 1969 Georges Pompidou die Nachfolge de Gaulles antrat. Pompidou war pragmatischer als sein Vorgänger. Dem Namen nach war er zwar Gaullist, aber trotzdem konnte er die Schuld dafür, dass er den Franc abwerten musste, dem General in die Schuhe schieben. Im August, als der größte Teil der Franzosen in Urlaub war – nicht nur die Politiker und Finanziers, sondern auch die Journalisten –, schritt er zur Tat und nahm flugs eine Abwertung vor.
Zwischenzeitlich hatten die Kapitalzuflüsse allerdings auch in Deutschland die Inflationsangst geschürt. Dies wurde im September 1969 zum zentralen Wahlkampfthema und brachte die Koalition aus Sozialdemokraten und Freien Demokraten unter Willy Brandt an die Macht. Da die neue Regierung Brandt ihre Reputation nicht auf die Beibehaltung der herrschenden Wechselkurse gesetzt hatte, konnte sie als eine ihrer ersten Amtshandlungen problemlos eine Abwertung vornehmen. Das gefiel zwar der deutschen Exportwirtschaft nicht, aber schließlich kann man es ja nicht allen recht machen. Sie gab den Franzosen die Schuld daran, dass sie diese bittere Medizin schlucken musste. Die deutsch-französische Allianz im Herzen Europas wies Anzeichen dafür auf, dass sie aus dem Leim ging.
In Brandts Augen stand ein solcher Bruch unmittelbar bevor und er tat etwas, um das zu reparieren. Sein Instrument der Wahl war ein Währungsabkommen, das weitere Währungsprobleme verhindern sollte. Allerdings musste Brandt mehrere Widerstände überwinden, um seinen Plan durchzusetzen. Die Bundesbank, die sich als Hüterin der Preisstabilität betrachtete, sah in der Kooperation mit Frankreich eine Bedrohung ihrer Fähigkeit, die Inflation zu bekämpfen. Das Außenministerium warnte, eine engere europäische Zusammenarbeit könnte das Engagement für die transatlantische
Währungskooperation schwächen. 109 Die Auffassung, Deutschland sollte den gehorsamen Verbündeten spielen, war nach wie vor sehr lebendig. Aber nachdem 1968 Nixon zum Präsidenten gewählt worden war und nachdem seine Regierung eine zunehmend einseitige Politik betrieb, waren Argumente für eine Kooperation mit den Amerikanern schwerer zu finden. Die Argumente für eine Intensivierung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurden stärker. Auch war der Franzose auf der Straße nicht unbedingt begeistert davon, dass der Franc aufgegeben wurde. Die Abwertung war peinlich, die nationale Souveränität war ein geschätztes Ideal und der Franc war ein mächtiges Symbol dafür. Stabilitätsorientierte Politiker wie Valéry Giscard d’Estaing, der von 1962 bis 1966 unter de Gaulle sowie von 1969 bis 1974 unter Pompidou Wirtschaftsminister war, sahen indes, dass eine Kooperation mit Deutschland die französische Währungspolitik von der Innenpolitik befreien würde. Sie sahen das gewissermaßen als Import der deutschen Stabilitätskultur. Außerdem erachtete Giscard eine gemeinsame europäische Währung als unentbehrlich für die Sicherung der europäischen Agrarpolitik, die den französischen Bauern erhebliche Vorteile brachte, und sie stellte seines Erachtens eine ausgewachsene Konkurrenz zum Dollar dar. 110
Pompidou dachte mit dem typisch französischen Selbstbewusstsein, wenn Brandts Initiative irgendwann in einer einzigen europäischen Währung resultierte, würde Frankreich sie kontrollieren. Er sah den Status quo so, dass Frankreich zwischen einem verantwortungslosen und immer mächtigen Deutschland auf der einen Seite und ebenso verantwortungslosen sowie immer noch mächtigen Vereinigten Staaten auf der anderen Seite eingeklemmt war. Als Pompidou auf dem Europagipfel im Dezember 1969, auf dem Brandt seinen Vorschlag zur Währungsintegration vorlegte, feststellte, Die Gemeinschaft müsse „ihr Schicksal in die Hand nehmen“, spielte er eigentlich auf die Notwendigkeit an, dass Frankreich sein eigenes Schicksal und insbesondere das Schicksal seiner Währung wieder in den Griff bekommen müsse.111
Ob diese eigenartige Koalition eine Einigung über eine gemeinsame Währung würde erzielen können, war sehr zu bezweifeln. Und im Zweifelsfall bildet man einen Ausschuss. Und so ging aus dem Gipfel ein Ausschuss von Politikern unter dem Vorsitz des luxemburgischen Premierministers Pierre Werner hervor. Luxemburg war zwar nicht die naheliegendste Wahl, aber Werner hatte Bankerfahrung. Er war 1944 auf der Konferenz von Bretton Woods gewesen. Er hatte einen makellosen Ruf, weil er während der deutschen Besetzung die Résistance unterstützt hatte. Er war ein effektiver Politiker und ein eifriger Verfechter der europäischen Integration.
Laut dem Bericht der Werner-Kommission, der im Oktober 1970 veröffentlicht wurde, war die unwiderrufliche Koppelung der Wechselkurse unentbehrlich für die Bewahrung des gemeinsamen Marktes und um Europa vor destabilisierenden Währungsimpulsen aus den Vereinigten Staaten abzuschirmen. Er schlug ein europaweites System von Notenbanken vor, das dem Federal Reserve System ähneln würde. Er betonte die Notwendigkeit, die nationalen Haushalte der Teilnehmerländer an der Währungsunion zu koordinieren. Und er wies darauf hin, es sei ein System zwischenstaatlicher Transfers zu wünschen, das schwachen Ländern helfen würde – ähnlich wie das System der Bundessteuern und der Transferzahlungen in den Vereinigten Staaten die Mittel umverteilt.
Das waren ambitionierte Empfehlungen, die bei ausgemachten Nationalisten garantiert eine negative Reaktion hervorrufen würden, auch wenn sich die Autoren des Werner-Berichts beträchtliche Mühe gaben, diese zu entkräften. Anstatt die Ersetzung der Landeswährungen durch eine neue europäische Einheit zu fordern – was, wie die späteren Erfahrungen zeigen, für die Überlebensfähigkeit des Unterfangens unabdingbar war –, schlug sie vor, dass die Landeswährungen wegen ihres Symbolcharakters beibehalten werden sollten. Fragen, wie das europäische System der Zentralbanken funktionieren sollte, wer die Entscheidungen treffen sollte und welches Verhältnis zwischen den Währungsbehörden und den Politikern bestehen sollte, wich er aus. Außerdem schlug er keine schnelle Einführung der Währungsunion vor, sondern einen dreistufigen Übergang über zehn Jahre.
Die Tatsache, dass der Werner-Bericht die Frage umging, wie genau und von wem die europäische Währungspolitik betrieben werden sollte, war eine tödliche Schwäche. Dadurch konnte Bundesbankpräsident Karl Klasen nämlich die deutschen Befürchtungen ausnutzen, die gemeinsame Währungspolitik würde von französischsprachigen Politikern diktiert werden und zu einer Inflationsmaschine werden. Gleichzeitig rief sie in Frankreich Befürchtungen hervor, die Entscheidungsfindung könnte der Politik abgenommen werden und die Bemühungen der Franzosen vereiteln, die Kontrolle über ihr monetäres Schicksal zurückzugewinnen. Zwar unterstützten die europäischen Wirtschafts- und Finanzminister im März 1971 den Werner-Plan, aber sie unternahmen keine konkreten Schritte zu seiner Umsetzung. Das einzige dauerhafte Vermächtnis des Plans war die Idee eines langsamen dreistufigen Übergangs, an dessen Ende die Wechselkurse unwiderruflich aneinander gebunden werden sollten.
ANIMAL CR ACKERS
Aber da weiterhin Währungsschocks von den Vereinigten Staaten aus nach außen ausstrahlten, wurde es dringend, etwas zu unternehmen. In den ersten vier Monaten des Jahres 1971 wurden die Investoren wieder besorgt wegen der Aussicht auf eine Dollar-Abwertung und verschoben ihr Vermögen nach Deutschland. Am 10. Mai stoppte die von Kapitalzuflüssen überwältigte Bundesbank ihre Interventionen zur Stabilisierung der D-Mark und ließ zu, dass sie gegenüber dem Dollar stieg. 112 Die Niederlande mit ihren engen wirtschaftlichen Verbindungen zu Deutschland taten es ihr nach.
Frankreich aber nicht, denn die Investoren sahen es nicht mit dem gleichen Vertrauen und es war kein Empfänger von Mittelzuflüssen. Die Franzosen reagierten darauf mit Irritationen. Deutschland habe eigenmächtig gehandelt und die Aufwertung der D-Markt habe wieder einmal ungerechtfertigt den Franc in Mitleidenschaft gezogen. Pompidou informierte die anderen Mitgliedstaaten, Frankreich werde so lange nicht an den Sitzungen der Kommission der Notenbankdirektoren teilnehmen, bis die Situation geregelt wäre – also bis Deutschland und die Niederlande ihre fixen Paritäten wiederhergestellt hätten.
Die Wiederherstellung hatte kaum begonnen, da stellte Nixon am 15. August den Umtausch von Dollar in Gold ein.113 Dies irritierte die Anleger erneut und führte dazu, dass der Franc und die D-Mark noch weiter auseinanderliefen. Frankreich war zum Handeln gezwungen. Nixon und Pompidou trafen sich auf halbem Weg, auf der Azoreninsel Terceira. Pompidou behielt die Oberhand, indem er mit der Concorde einflog. Gerade hatte der Kongress Nixons Vorschlag abgelehnt, ein Überschall-Passagierflugzeug zu bauen, sodass die Concorde zu einem nicht besonders subtilen Statement für Frankreichs Überlegenheit wurde.
Auch in politischer Hinsicht kamen sich die beiden Präsidenten auf halbem Weg entgegen. Nixon wollte eine kräftige Dollar-Abwertung, um die Wirtschaft anzukurbeln, aber Pompidou befürchtete, ein solcher Schritt würde Europa einen großen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit bescheren. Frankreich hatte zwar keine finanzielle Handhabe, aber als Ex-Banker und ehemaliger Lehrer konnte Pompidou ausgiebig über Wechselkurse dozieren und für dieses Thema konnte der amerikanische Präsident nur wenig Geduld aufbringen. Man kann sich vorstellen, wie der entnervte Nixon mit dem Fuß auf den Boden klopft, während er Pompidous endlosen Erläuterungen der Währungsbeziehungen lauscht.
Am Ende einigten sich die beiden Präsidenten darauf, dass der Dollar um exakt 7,9 Prozent abgewertet werden sollte, also ein bisschen weniger, als sich die Vereinigten Staaten erhofft hatten. Nixon sah erschöpft aus und brachte bei der abschließenden Pressekonferenz seinen Text durcheinander. Er war in den Nächten zwischen den zweitägigen Gesprächen meistens wach geblieben und hatte sich auf dem Militärsender AFRS das Football-Spiel der Washington Redskins gegen die Los Angeles Rams angehört. Pompidou war hingegen in guter Verfassung. Nach der Pressekonferenz zog er sich auf einen Aperitif und weitere Wortgeplänkel mit Reportern in das Hotel Angra, das einzige Hotel der Stadt, zurück. 114
Bei einem Treffen im Castle Building der Smithsonian Institution am 17. und 18. Dezember wurden weitere Länder ins Boot geholt. Ihre Vereinbarung hing von der Bereitschaft Deutschlands ab, seine Währung um mehr als Nixons und Pompidous 7,9 Prozent aufzuwerten, damit andere Länder mit schwächerer Wirtschaft nicht so stark aufzuwerten brauchten. Nach einem schwierigen Telefonat mit Brandt zu Hause in Bonn stimmte Wirtschaftsminister Schiller zu, die D-Mark um 14 Prozent aufzuwerten. Das war die letzte Handlung des gehorsamen Verbündeten.
Die Verteidigung der Bretton-Woods-Kurse war kostspielig gewesen. Deutschland und die Niederlande hatten haufenweise Dollar gekauft, bevor sie ihre Kurse freigegeben hatten, und deshalb hatte ihnen die Abwertung des Dollars große Verluste beschert. Da sie keine echte Änderung der US-Politik sahen, widerstrebte es ihnen verständlicherweise, sich wieder in diese Ecke drängen zu lassen. Im Smithsonian bestanden sie deshalb darauf, dass die Klausel von Bretton Woods, wonach Kurse nur um ein Prozent nach oben oder unten schwanken durften, durch einen lockereren Bereich von plusminus 2,25 ersetzt werden sollte.115
Dieses flexiblere Arrangement nahm zwar etwas den Druck, Dollar zu kaufen, erzeugte aber andere Probleme. Wenn die D-Mark um die vollen 2,25 Prozent steigen und der Dollar um den gleichen Betrag fallen würde – und wenn dann der Franc das Gegenteil tun würde, dann würde der D-Mark/Franc-Kurs um neun Prozent steigen, was die gemeinsame europäische Agrarpolitik massiv stören und dem deutschen verarbeitenden Gewerbe Probleme bereiten würde. Diese Gefahr bewahrheitete sich 1972, als Arthur Burns dem Druck von Nixon nachgab, die Zinsen zu senken. 116 Die niedrigeren Zinsen der Vereinigten Staaten führten dazu, dass der Dollar nachgab und wieder Kapital nach Deutschland floss. Es musste etwas getan werden. Im März 1972 geschah das auch: Die europäischen Länder kamen überein, ihre bilateralen Wechselkurse in engeren Grenzen zu halten. Das war nicht das erste Mal, dass eine unberechenbare Politik der Vereinigten Staaten Europa zur Währungskooperation zwang. Das neue System orientierte sich an der D-Mark und daran nahmen die sechs EWG-Länder, die drei Beitrittskandidaten (Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich) und Norwegen teil (dazu mag die Tatsache beigetragen haben, dass Kanzler Brandt Norwegisch sprach).117
Die Teilnehmerländer richteten im Endeffekt innerhalb der breiten Bänder aus dem Smithsonian schmalere Bänder für ihre eigenen Währungen ein. Dieses Arrangement wurde ungeschickt als „Schlange im Tunnel“ oder einfach „Währungsschlange“ bezeichnet, was bildlich bedeuten sollte, dass eine europäische Schlange durch den Smithsonian-Tunnel glitt. Als dieser Tunnel 1973 einstürzte und der Dollar frei zu schwanken begann, wurde die Schlange im Tunnel zur Schlange im See. Da die sehr offenen Volkswirtschaften Belgien und Luxemburg eine noch schmalere Bandbreite bevorzugten, wurde ihre Schlange zum Wurm, der sich durch den Bauch der Schlange wand.
Aber allein die Aussage, dass man die Wechselkurse innerhalb eines schmalen Bands halten will, macht noch nicht, dass das auch passiert. Vielmehr muss die Währungs- und Steuerpolitik entsprechend angepasst werden. Wenn Spekulanten gegen eine Währung wetten, müssen die Zentralbanken diese Währung stützen, wobei die Unterstützung sowohl aus Ländern mit starker Währung als auch aus Ländern mit schwacher Währung kommen muss. Zwar bediente sich Europa der Sprache der Kooperation, aber als die Währungsschlange eingerichtet wurde, war keine dieser Vorbedingungen gegeben. Die Länder setzten ihre Steuer- und Währungsgewohnheiten munter fort. Dänemark und das Vereinigte Königreich wurden fast sofort wieder aus der Vereinbarung gedrängt.118 Als die Vereinigten Staaten Anfang 1973 beschlossen, um weitere zehn Prozent abzuwerten, wuchs der Druck auf schwache europäische Länder und Italien war gezwungen, sich zurückzuziehen.
WACHABLÖSUNG
Bis zum März 1973 war klar geworden, dass die Vereinigten Staaten kaum noch so taten, als würden sie den Dollar stabilisieren wollen. Edward Heath, dessen auffallendste Leistung als Premierminister darin bestanden hatte, dass er das Vereinigte Königreich in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gebracht hatte, reiste zu Gesprächen über dieses Thema nach Bonn. Da das Pfund kurz zuvor aus der Schlange geflogen war, bat Heath Deutschland um Hilfe bei der Lösung des Währungsproblems und bezeichnete diese Hilfe als „gemeinsame europäische Antwort“. Vermutlich hatte er im Sinn, dass Deutschland seine Dollarreserven dafür einsetzen würde, das Pfund zu stützen. Brandt reagierte darauf mit der Aufforderung, Heath solle sich erst für die Stabilisierung des Pfunds gegenüber den anderen europäischen Währungen einsetzen, indem er der Schlange wieder beitrat. So gerieten die beiden Seiten in eine Sackgasse. Heath und seine Berater waren nicht bereit, eine Wechselkursabsprache der Art zu treffen, wie sie in der Vergangenheit schon öfter zusammengebrochen war, wenn Deutschland keine unbegrenzte Unterstützung versprach.119 Aber Brandt und sein Finanzminister Helmut Schmidt waren nicht bereit, dem Pfund unbegrenzte Unterstützung zu gewähren, weil sie befürchteten, dadurch würden sie bloß die britische Inflationspolitik bestätigen. Das sollte nicht das letzte Mal sein, dass diese spezielle Pattsituation eintrat. Als der Dollarkurs im März 1973 frei zu schweben begann, einigten sich die verbliebenen Mitglieder der Währungsschlange auf gemeinsam gegen den Dollar schwebende Wechselkurse. Da es kein Abkommen über die Zusammenlegung von Reserven oder die allgemeine politische Richtung gab, wurde das System von Deutschland gelenkt. Die Bundesbank legte die Zinsen fest und andere Notenbanken folgten ihr. Aber wenn die Bundesbank in die eine Richtung zog und gewisse Regierungen in die andere, konnte es zu akuten Spannungen kommen. Als 1973 die Rohstoffteuerung zunahm, zog die Bundesbank die Zinsschraube an. Da Frankreich nicht mitmachen wollte, erlitt es Kapitalabflüsse und war 1974 gezwungen, aus der Schlange auszusteigen. Zwar trat es 1975 wieder ein, aber 1976 trat es wieder aus. Jedes Mal warf Frankreich Deutschland vor, es passe seine Politik nicht an allgemeinere europäische Bedürfnisse – anders gesagt französische Bedürfnisse – an. Die Deutschen warfen den Franzosen mangelhafte Disziplin vor.
All das entmutigte den Vorkämpfer der europäischen Integration, der die Währungsschlange als Schritt in Richtung Währungsunion gesehen hatte. Der ehemalige Finanzminister Helmut Schmidt, der 1974 die Kanzlerschaft übernahm, nachdem ein enger persönlicher Berater von Brandt als ostdeutscher Spion enttarnt worden war, war überzeugter Europäer. Außerdem kannte sich Schmidt gründlich mit der Wirtschaft aus, weil er Volkswirtschaft studiert hatte und nach der Universität in der Behörde für Wirtschaft und Verkehr der Freien und Hansestadt Hamburg gearbeitet hatte. Jetzt sah er in einer Übereinkunft zur Stabilisierung der Währungen einen Weg zur tieferen europäischen Integration. Außerdem sah er das als Möglichkeit, die wirtschaftliche und finanzielle Dominanz Deutschlands herunterzuspielen, die anderswo in Europa auf Ablehnung stieß. Den deutschen Exporteuren konnte Schmidt ein Währungsabkommen als Schutz vor weiteren Einbußen der Wettbewerbsfähigkeit aufgrund von Aufwertungen der D-Mark verkaufen. Fragte sich nur, ob er es auch der Bundesbank würde verkaufen können.
Schmidts französischer Kollege Valéry Giscard d’Estaing wurde Staatschef, als Pompidou 1974 plötzlich an einem Lymphom verstarb. Giscard war ein Modernisierer. In der Wahlnacht hatte er beim politischen Establishment Anstoß erregt, weil er seinen Gegner, den Sozialisten François Mitterrand, nicht nur auf Französisch, sondern auch auf Englisch gegrüßt hatte. Er wies die männlichen Gäste seiner Amtseinführung an, gewöhnliche Anzüge anstelle der traditionellen gestreiften Hosen zu tragen, und bei der Ankunft im Elysée-Palast nahm er eine einsatzfähige Armee-Einheit statt der Republikanischen Garde mit ihren Silberhelmen ab.
Und jetzt wollte er einen ähnlichen Pragmatismus in Währungsangelegenheiten einführen. Giscard hatte bereits in verschiedenen Funktionen drei peinliche Abwertungen des Francs mitbeaufsichtigt. Er sah in einem Währungsabkommen eine Möglichkeit für Frankreich, mehr Stabilität zu bekommen und gleichzeitig in europäischen Währungsangelegenheiten mehr Mitspracherecht zu haben. Da Giscard in Deutschland geboren worden – sein Vater war Verwaltungsbeamter gewesen, als Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg das Rheinland besetzt hatte –, aber in Frankreich aufgewachsen war, hatte er von dem Deutsch-Französischen Krieg und von der Hyperinflation am Essenstisch gehört. Er war ebenso wie Schmidt geistig und emotional von der europäischen Integration überzeugt. Nun lag also Europas monetäres Schicksal in der Hand zweier Männer, die beide engagierte Europäer und als ehemalige Finanzminister ökonomisch gut informiert waren.
TOD DURCH AUSSCHUSS
Die Frage war, wann sie zur Tat schreiten würden. Der umstrittene britische Politiker Roy Jenkins, der 1977 Präsident der Europäischen Kommission wurde – der Vorstufe einer Exekutive der EWG, lieferte einen Ansatzpunkt. James Callaghans Labour-Regierung hatte Jenkins nach Brüssel verbannt, weil er ein Verfechter der europäischen Integration war – was bei den einfachen Labour-Abgeordneten nicht gut ankam – und wegen seines opulenten Lebensstils, der einem Sozialisten nicht gut anstand. Dort geriet Jenkins in den Bann von Robert Triffin, des belgischen IWF-Volkswirts, der als Berater der Kommission arbeitete. 120 Auf einer Rede am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz 1977 befürwortete Jenkins einen Neubeginn der Verhandlungen über eine Europäische Währungsunion. In Anlehnung an den Werner-Plan schlug er vor, den Haushalt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auszuweiten, damit sie Ländern – vermutlich auch seinem eigenen Land – Hilfe leisten könnte, denen es schwerfallen würde, sich an eine straffe Geldpolitik im deutschen Stil anzupassen.
In London wurde den Ideen von Jenkins zwar ein frostiger Empfang bereitet, aber Schmidt und Giscard lieferten sie einen Einstieg. 121 Da dies wieder eine Phase der Dollarschwäche war, trieben Kapitalflüsse aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland wieder die D-Mark in die Höhe, was der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Exports schadete. Für Schmidt war dies die „Dollarmisere“.122 Von Mitte Januar bis Mitte Februar 1978 gab die Bundesbank 1,7 Milliarden D-Mark an den Devisenmärkten aus, um die Aufwertung der Landeswährung zu dämpfen. Aber diese Anstrengungen blieben fruchtlos. Da Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich die Schlange verlassen hatten, gab es keine größere Gruppe europäischer Währungen mehr, die den Druck hätten teilen können. Die D-Mark bekam ihn mit voller Wucht zu spüren.
Die europäischen Regierungen reagierten auf die Sitzung in Kopenhagen im April 1978 – wer hätte das gedacht – mit der Gründung eines Ausschusses. Im Laufe der nächsten Monate trafen sich dessen Mitglieder fünfmal, ohne groß voranzukommen.
Im Juni hatten Giscard und Schmidt genug davon. Sie übertrugen die Zuständigkeit für die Erstellung des Plans an den Leiter der Abteilung Finanzpolitik im Kanzleramt Horst Schulmann und an Bernard Clappier, den Direktor der Banque de France, der gleichzeitig als persönlicher Vertreter des französischen Präsidenten fungierte. Auch die Downing Street wurde dazu eingeladen, damit die Initiative eine gemeinsame Anstrengung der drei größten europäischen Länder werden sollte. Als den Briten klar wurde, dass sie Schulmann und Clappier nicht von ihren ehrgeizigen Plänen abhalten konnten, kamen sie einfach nicht mehr zu den Sitzungen.
Schulmann und Clappier machten weiter, unbehindert nicht nur von den Engländern, sondern auch von ihren eigenen Finanzministern, die über ihre Beratungen ebenso im Dunkeln gelassen wurden wie Otmar Emminger, der jetzt Clappiers Pendant bei der Bundesbank war. Ihr Entwurf wurde 1978 als gemeinsame Initiative von Giscard und Schmidt enthüllt. Nach dem Vorbild der Schlange sollte es erneut eine Bandbreite der Währungsschwankungen von 2,25
Prozent geben. 123 Um sicherzustellen, dass das nicht wieder ein von Deutschland dominiertes System wurde, sollten die Schwankungs-bänder im Verhältnis zu einem europäischen Währungskorb definiert werden. Ein Auslösungsmechanismus sollte Länder mit starker Währung zwingen, ihre Währungsbedingungen zu lockern, und Länder mit schwacher Währung, sie zu straffen. Die Notenbanken sollten gezwungen sein, zu intervenieren, um ihre Währungen im Raster zu halten. Nach zwei Jahren sollte ein Europäischer Währungsfonds gegründet werden, der die zusammengefassten Reserven der Mitglieder verteilen sollte. Zu einem nicht genau angegebenen künftigen Zeitpunkt sollte der Übergang zur Währungsunion stattfinden.
Im weiteren Verlauf wurde es für die deutsche Regierung dringender, dass eine Einigung erzielt wurde, denn die Carter-Administration übte Druck auf sie aus, die Nachfrage zu steigern und den Außenhandelsüberschuss Deutschlands zu senken. In einem Land, das etwas gegen Inf lation hat, war dieser Druck nicht willkommen. Schmidt mochte Carter sowieso nicht besonders, denn dessen leutselige Ungezwungenheit kam bei einem Kanzler, der es nicht gewohnt war, mit seinem Vornamen angesprochen zu werden, nicht gut an. Jetzt mochte er ihn noch weniger.
Schmidts und Giscards Vorschläge waren zwar nicht unbedingt nach dem Geschmack der britischen Regierung, aber nachdem sie auf Clappiers und Schulmanns Ambitionen damit reagiert hatte, dass sie deren Sitzungen boykottierte, hätte sie das Ergebnis eigentlich nicht überraschen dürfen. Da dieser Zug abgefahren war, strebten die Briten jetzt an, die Verpflichtung zur Teilnahme aufzuschieben. Schmidt und Giscard stimmten dem gern zu, wenn es der Preis dafür war, überhaupt voranzukommen.
Auch der Bundesbank gefielen diese Vorschläge nicht. Ein Auslösungsmechanismus, der die Bundesbank zur Ausweitung der Geldmenge zwingen würde, würde ihre Fähigkeit zur Inflationsbekämpfung einschränken. Wenn sie gezwungen wäre, zur Stützung schwacher Währungen zu intervenieren, könnte sie sich an der leichtsinnigen Politik anderer Länder mitschuldig machen. Eine Zusammenlegung der Reserven würde ihre im Bundesbankgesetz verankerte Unabhängigkeit gefährden. Emminger war kein Freund des Plans, der auf ihn losgelassen wurde, und startete einen letzten verzweifelten Gegenangriff. Aber Schmidt war leidenschaftlich von der europäischen Integration überzeugt. Er hatte im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gekämpft und war 1945 drei Monate lang in britischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Er reagierte darauf mit dem ersten persönlichen Besuch eines bundesdeutschen Regierungschefs bei der für ihre Unabhängigkeit berühmten Zentralbank und einer emotionalen Rede vor dem Zentralbankrat. Darin beschwor er Auschwitz und den Krieg herauf und bezeichnete die neue Vereinbarung als Schlussstein der Versöhnung nach dem Krieg.
Die Ratsmitglieder konnte das wohl kaum ungerührt lassen. Was sie jedoch tun konnten, war, Zugeständnisse zu verlangen. Sie bestanden darauf, dass der Auslösungsmechanismus aufgegeben wurde. Sie duldeten keine Diskussion mehr über die Zusammenfassung von Reserven. Sie ließen keine Diskussionen darüber zu, dass ein Währungskorb die D-Mark als Dreh- und Angelpunkt des Systems ersetzen könnte. Sie bestanden darauf, dass nicht mehr von einer Währungsunion gesprochen wurde. Sie verlangten eine Rücktrittsmöglichkeit von der Verpflichtung zur unbegrenzten Intervention. 124
In den entscheidenden Punkten gab die Regierung nach. Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff bestätigte das vor dem Bundestag: „Die Bundesbank hat die Verantwortung, zu intervenieren, und die Möglichkeit, dann nicht zu intervenieren, wenn sie der Meinung ist, sie sei dazu nicht in der Lage.“ 125
Es ist unwahrscheinlich, dass Kanzler Schmidt darüber traurig war. So konnte er sich nämlich gegen die radikaleren Vorschläge Frankreichs wehren und den Franzosen sagen, er persönlich sei zwar dafür, aber die Bundesbank hindere ihn am Handeln.
DAS INSTABILE EWS
Und so trat das Europäische Währungssystem (EWS) ohne Auslösungsmechanismus und ohne eindeutige Interventionsverpflichtung in Kraft. Sein Kernelement, der Wechselkursmechanismus (WKM), ähnelte der Währungsschlange mehr, als seine Gründer zugeben mochten. Der Hauptunterschied: Wenn Wettbewerbsprobleme auftraten, passten die Länder ihre Kurse jetzt innerhalb des Mechanismus an, anstatt ihn aufzugeben. Das erste derartige „Realignment“, wie diese Anpassungen geschönt genannt wurden, fand im September 1979 statt, also kaum sechs Monate nach Beginn des Systems. Damals wurden andere Währungen gegenüber der D-Mark um zwei Prozent abgewertet. 126 In den vier Jahren danach gab es fünf weitere Realignments, deren dramatischste weitere Abwertungen des Francs in den Jahren 1981, 1982 und 1983 waren.
Für François Mitterrand, der Giscard bei der Präsidentschaftswahl 1981 endlich besiegte, war das ein Problem. Offiziell war Mitterrand zwar Sozialist und Europäer, aber sich an Prinzipien zu halten war nicht seine Stärke. Er wurde 1916 in einem Dorf in der Nähe von Cognac geboren. Der junge François wurde bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zur französischen Armee eingezogen und sofort an die Maginot-Linie geschickt, wo er von einem Schrapnell verwundet wurde und im Juni 1940 in Gefangenschaft geriet. Später erzählte er, dass er sich in der Gefangenschaft mit einem Kreis von Kommunisten angefreundet habe, die den Anstoß für seine intellektuelle Reise nach links gegeben hätten. Als es ihm beim dritten Versuch gelang, aus dem Lager auszubrechen und durch den Jura ins von der Vichy-Regierung beherrschte Südfrankreich zu gelangen, fand er jedoch eine Anstellung als Beamter in der kollaborierenden Vichy-Verwaltung. Dann schloss er sich 1943 der Résistance an, wo er Agitationen von Kriegsgefangenen gegen die Nazi-Besatzung organisierte. Auch sein späteres Leben war von solchen Widersprüchen gekennzeichnet. Die Motive des unnahbaren, verkopften Mitterrand waren selbst für seine engsten Berater schwer zu enträtseln. Als Präsident wechselte er regelmäßig die Richtung, wenn es zweckdienlich war.
Als Mitterand 1981 beim dritten Anlauf die Präsidentschaftswahl gewann (was er gern mit dem Gelingen seines dritten Fluchtversuchs aus dem deutschen Gefangenenlager verglich), schwor er, „mit dem Kapitalismus zu brechen“. Er verstaatlichte die Banken und fünf große Industriekonzerne. Er fuhr die Sozialausgaben hoch, erhöhte den Mindestlohn und verkürzte die Wochenarbeitszeit. Die Nachfrage boomte und die Inflation stieg. Wie zu erwarten, geriet der Franc unter Druck.
Es folgten zwei Realignments im Oktober 1981 und im Juni 1982. Aber die Realignment-Verhandlungen waren schwierig: Man musste sich ja nicht nur auf einen Kurs gegen die D-Mark einigen, sondern gegen die gesamte Gruppe europäischer Währungen. Für eine linksorientierte Regierung, die ihre wirtschaftlichen Glaubensüberzeugungen einführen wollte, war das ein peinlicher Vorgang.
Aber während die französischen Behörden die wirtschaftliche Wiederbelebung massiv vorantrieben, floss auch nach zwei Abwertungen das Kapital weiterhin aus dem Land hinaus. Anfang 1983 hatte sich die Situation schon wieder deutlich verschlechtert. Im März spielte Mitterrand mit dem Gedanken, sich aus dem EWS zurückzuziehen, um sich weitere Peinlichkeiten zu ersparen. Das hätte ihn zwar davor bewahrt, sich auf weitere Währungsverhandlungen mit Deutschland einzulassen, aber den Franc hätte das nicht gerettet. Auch hätte es nicht verhindert, dass man Mitterrand seine Abwertungspolitik angekreidet hätte. Vielleicht hätte das nicht einmal die Fortsetzung der expansiven Politik der französischen Regierung ermöglicht, denn es hätte dem Franc die einzige echte Quelle von Glaubwürdigkeit entzogen. Diese Punkte stellte Jacques Delors klar, der Banker und Volkswirt, der unter Mitterrand Wirtschafts- und Finanzminister war. Delors’ Erfahrungen während des Krieges – seine Jugend in Südfrankreich hatte er unter der deutschen Besatzung verbracht und sein bester Freund war nach Auschwitz deportiert worden, weil er für die Résistance Nachrichten überbracht hatte – schufen bei ihm die Veranlagung, zur europäischen Integration zu neigen. Seine familiäre Herkunft förderte die Tatsache, dass er die Währungsintegration als Mittel zu diesem Zweck betrachtete. Sein Vater hatte als Bote in der Banque de France gearbeitet und der Sohn trat nach dem Zweiten Weltkrieg in seine Fußstapfen. Im zarten Alter von 19 Jahren trat er in die Notenbank ein.
Trotz seiner Ausflüge als Gewerkschaftsfunktionär, Mitarbeiter des staatlichen Planungsausschusses und Mitglied des Europäischen Parlaments verlor Delors nie ganz den Habitus des strengen, technokratischen Notenbankers. Er war zwar offiziell Sozialist, aber er gehörte der sehr gemäßigten Linken an und war weniger als viele seiner Kollegen von der Fähigkeit des Staates überzeugt, die Entwicklung des Marktes besser vorauszusehen als der Markt selbst. Außerdem war er pro-europäischer als viele seiner sozialistischen Kollegen und befürchtete, das staatliche Programm massiver Nachfrageanreize könnte nicht nur die Stabilität des Francs, sondern dadurch auch das Projekt Europa gefährden. In seiner Eigenschaft als Wirtschafts- und Finanzminister unter Mitterrand wurde Delors als Sparsamkeitsapostel bekannt.
Jetzt schlug dieser Apostel Alarm. Er warnte, der Ausstieg aus dem Wechselkursmechanismus würde Frankreichs Ambitionen zunichte machen, den Kurs der europäischen Integration vorzugeben. Da sich Mitterrand nicht unbedingt an sozialistische Prinzipien hielt, nahm er den Rat von Delors an, kürzte die Ausgaben und unternahm gleichzeitig eine letzte Abwertung innerhalb des WKM, um die Auslandsnachfrage zu fördern.
Für diesen letzten Schritt brauchte er die Kooperation Deutschlands. Aber Deutschland zögerte. Seine Wirtschaft fing gerade erst an, wieder aus der Rezession der frühen 1980er-Jahre herauszukommen, und da wäre eine Aufwertung der D-Mark ja nicht gerade hilfreich. Damit war ganz klar Helmut Kohl am Zug, der konservative Christdemokrat, der 1982 Kanzler geworden war. Kohl war eine andere Art führender westdeutscher Politiker. Er war der erste Kanzler der Bundesrepublik, der kein Englisch sprach. Er war der erste, der zu jung war, um wirklich im Zweiten Weltkrieg gekämpft zu haben oder wie Brandt zur Flucht gezwungen gewesen zu sein. Trotzdem hatten seine Kriegserfahrungen einen enormen Einfluss auf seine Einstellung zu Europa. 127 Zwar führten seine Leibesfülle, seine Geselligkeit und seine bescheidene Herkunft – sein Vater war ein kleiner Beamter gewesen und der junge Helmut hatte sein Taschengeld durch Kaninchenzucht aufgebessert – dazu, dass er regelmäßig unterschätzt wurde, aber am Ende wurde er der dienstälteste Kanzler in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit der Zeit wurde Kohl für seine außerordentliche Beharrlichkeit bekannt – seine Frau hätte das sicher nicht überrascht, denn er hatte ihr mit mehr als 2.000 Liebesbriefen den Hof gemacht. Zu den Dingen, die er beharrlich verfolgte, gehörte auch die europäische Integration.
Kohl wusste vielleicht nicht viel über Volkswirtschaftslehre, aber er wusste genug, um zu begreifen, dass die konjunkturelle Erholung, die gerade erst auf die Füße kam, erstickt werden konnte, wenn er dem Aufwertungsdruck nachgab. Als engagierter Europäer wollte er aber auch nicht für den Zusammenbruch des frisch errichteten Währungssystems der Gemeinschaft verantwortlich sein. Und da Kohl in Rheinland-Pfalz nahe der französischen Grenze aufgewachsen war, hatte er instinktiv Verständnis für Frankreich.
Mitterrand hatte vielleicht die Ökonomie genauso wenig begriffen wie Kohl, aber er begriff Deutschland und ihm war klar, dass er dessen Aufmerksamkeit erregte, wenn er drohte, sich aus dem EWS zurückzuziehen. Am dritten Märzwochenende wiederholte Delors bei einem Treffen in Bonn diese Drohung. Er, der normalerweise nicht zur Theatralik neigte, „drohte, raste und bekam Wutanfälle“ und gab eine Vorstellung, die eines John Connally würdig gewesen wäre. „Was soll ich denn mit arroganten Leuten anstellen, die nichts begreifen ?“, fragte er geringschätzig mit Bezug auf Deutschlands Abneigung gegen die Aufwertung. 128 Unter dem Schock dieser Aufführung knickten die Deutschen ein. Kohl wies seinen Finanzminister Gerhard Stoltenberg an, die D-Mark gegen die anderen EWS-Währungen aufzuwerten, sodass der Franc im Verhältnis zu der Gruppe nicht so stark abgewertet zu werden brauchte und Frankreich sein Gesicht wahren konnte.
Nachdem Paris die Verbesserung der äußeren Wettbewerbsfähigkeit erzielt hatte, die zur Förderung des Exports nötig war, konnte es jetzt zu Ausgabenkürzungen übergehen, ohne dadurch eine massive Rezession zu riskieren. Die Arbeitslosigkeit stieg zwar, aber nicht so sehr, dass es die sozialistische Regierung gefährdet hätte. Und als sich der Haushalt in Richtung Ausgeglichenheit zubewegte, stabilisierte sich der Franc. Das EWS trat in eine ruhige Phase ein, in der es zwar Realignments gab, aber keine Krisen. Nachdem Europa diese anfängliche Episode der waghalsigen Währungspolitik hinter sich gebracht hatte, konnte es sich wieder an die Arbeit machen.
EIN MARKT, EINE WÄHRUNG
Dieses Ergebnis vergrößerte das Format von Mitterand, Kohl und Delors und diese drei Männer sollten in der nächsten Phase der europäischen Integration entscheidende Rollen spielen. Delors übernahm zusätzlich zu seiner Zuständigkeit für Wirtschaft und Finanzen noch das Haushaltsportfolio der Regierung. Dann wurde er mit der Unterstützung Frankreichs und Deutschlands Präsident der EG-Kommission. Die Kohl-Regierung mag von Delors’ theatralischem Auftritt 1983 vielleicht schockiert gewesen sein, aber sie wusste es zu schätzen, dass er es war, der Mitterrand von der überragenden Bedeutung der Währungsstabilität überzeugt hatte. Dann startete Delors 1986 den Binnenmarkt und rief 1988 das Projekt der Währungsunion wieder ins Leben. Der Binnenmarkt – ein europaweiter Markt für Waren, Kapital und Arbeitskraft – war seine Anstrengung, den Integrationsprozess wiederzubeleben, der Anfang der 1980er-Jahre ins Stocken geraten war. Er betrachtete die Währungsunion als „Kronjuwel“ Europas. In der hergebrachten französischen Tradition betrachtete er das Ziel, eine europäische Reservewährung neben dem Dollar zu schaffen, als ein wichtiges Ergebnis dieses Prozesses. Es gelang ihm zwar, ein Bekenntnis zur Vereinheitlichung der Währung in das Binnenmarktgesetz einzubringen, aber keine Frist – das Gesetz nahm nur auf die „schrittweise Verwirklichung“ der Währungsunion Bezug.
Den französischen Politikern verhieß das, dass sie eines Tages in der Lage sein würden, die Kontrolle über das europäische Währungsruder wiederzuerlangen. Ein weiterer Schwächeanfall des Francs Mitte der 1980er-Jahre vergrößerte ihre Begeisterung noch. Die Franzosen schrieben ihre Schwierigkeiten dem Verfall des Dollars ab Ende 1985 zu, der dazu führte, dass die D-Mark ohne Verschulden Frankreichs stärker wurde. Dies stärkte die Argumente, die dafür sprachen, Frankreich von der Tyrannei eines dollarzentrierten internationalen Systems zu befreien.
Die Regierung Kohl war absolut für den Binnenmarkt, weil die deutsche Exportwirtschaft besseren Marktzugang immer gut gebrauchen konnte, aber gegenüber der Währungsunion hatte sie eine vorsichtigere Einstellung. Persönlich war der Kanzler zwar dafür, aber er warnte Mitterrand, dass die Deutschen nur ungern ihre kostbare D-Mark aufgeben würden, wenn sie nicht im Gegenzug etwas Außerordentliches dafür bekommen würden. Damit spielte Kohl wohl auf die Art von tiefgreifender politischer Integration an, die es Europa und somit auch Deutschland ermöglichen würde, sich auf der außenpolitischen Bühne zu behaupten. Oder er hatte die Möglichkeit im Blick, dass Deutschland eines Tages wiedervereinigt werden könnte.
In seiner Unterstützung des Binnenmarktes und seinem gleichzeitigen Widerwillen, sich auf eine Währungsunion zu verpflichten, hatte Kohl in der britischen Premierministerin Margaret Thatcher eine Verbündete. Den Binnenmarkt betrachtete sie als Hebel, um die Regulierung zurückzufahren, aber die Währungsunion betrachtete sie als gallisch-dirigistische Verschwörung. Gegen den Widerspruch einiger ihrer Spitzenberater hielt sie das Pfund Sterling aus dem WKM heraus.
Aber weder Kohl noch Thatcher konnten den gewieften Delors aufhalten. Als dieser sich vom Binnenmarkt ab- und der Währungsunion zuwandte, hatte er die Unterstützung von Paris, dessen Unbehagen mit dem Status quo umso größer wurde, je länger es gezwungen war, den währungspolitischen Diktaten Deutschlands zu folgen. Das Gleiche galt für andere europäische Länder mit schwachen Währungen, zum Beispiel für Italien.
Dann bekam Delors aus einer höchst unwahrscheinlichen Quelle Unterstützung, nämlich vom deutschen Außenministerium. Im Februar 1988 verfasste Außenminister Hans-Dietrich Genscher ein Memorandum, in dem er Argumente für eine europäische Zentralbank skizzierte. Traditionell hatte das deutsche Außenministerium der Verteidigungsallianz mit den Vereinigten Staaten den Vorzug gegeben, aber seine Denkschrift war ein Hinweis darauf, dass die wachsende Schwäche der Sowjetunion zu einer Verschiebung der Prioritäten geführt hatte. Genscher selbst war überzeugter Europäer. Er betrachtete die Schaffung einer europäischen Notenbank als nächsten logischen Schritt in Richtung der politischen Integration und als Befreiung der deutschen Politik von ihren historischen Fesseln. Zudem betonte er, dass eine europäische Notenbank, die für eine einheitliche Währung zuständig wäre, Europas Abhängigkeit vom Dollar vermindern würde – ein Argument, das bei den Franzosen mit Sicherheit Anklang fand.
Die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen – zum Beispiel Finanzminister Stoltenberg und Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl – waren zwar entsetzt, aber da eine bombastische internationale Koalition gegen sie stand, konnten sie nicht verhindern, dass eine Expertenkommission unter Delors gebildet wurde, die Pläne entwerfen sollte.
THE LONG AND WINDING ROAD
Der Beschluss zur Bildung des Delors-Ausschusses wurde im Frühjahr 1988 gefasst. Ihr ein Jahr später veröffentlichter Bericht beschrieb einen Übergang zur Währungsunion in drei Schritten, nicht viel anders als der Werner-Bericht 20 Jahre zuvor.
Doch im Gegensatz zu seinem Vorgänger betonte der Delors-Bericht, wie wichtig es sei, der neuen Währungsinstitution den Auftrag der Preisstabilität zu geben. Er sagte ausdrücklich, dass eine europäische Notenbank und die Zusammenfassung der Reserven der teilnehmenden Länder notwendig seien. Als Verneigung vor der Skepsis à la Thatcher bestand er nicht darauf, dass mit der Währungsintegration die Notwendigkeit der politischen Union einhergehen würde, auch wenn Delors hoffte, dass sie eines Tages folgen würde. Der Bericht befürwortete weder einen erheblich größeren Haushalt der EWG, ein unionweites System von Steuern und Transferleistungen noch andere Kompromisse hinsichtlich der einzelstaatlichen Steuerhoheit, denn solche Vorschläge waren der Tod des Werner-Plans gewesen. Diese Zugeständnisse waren zwar politisch zweckdienlich, aber mit der Zeit sollten sie der Währungsunion ernstliche Probleme bereiten. Und diese Probleme wiederum sollten die Fähigkeit des Euros, mit dem Dollar zu konkurrieren, bedeutend einschränken. 129
Die entscheidende Bestimmung war die Unabhängigkeit der Notenbank. Darauf hatte Deutschland bestanden, aber Frankreich – wo die Notenbank traditionell dem Staat dienstbar war – hatte sich dem lange entgegengestellt.130 Infolge der Währungsprobleme in den 1980er-Jahren war Mitterrand bereits ein Stück von der traditionellen französischen Position abgerückt. Nachdem ihn Delors von den Vorteilen überzeugt hatte, welche die Disziplin des Wechselkursmechanismus’ für Frankreich hatte, wusste er die Vorzüge einer Abschottung der Währungspolitik von der Politik zu schätzen. Mitglieder des Delors-Ausschusses, die die deutsche Sichtweise transportierten, sorgten dafür, dass er sich auf die Notwendigkeit eines erheblichen Maßes an wirtschaftlicher Konvergenz vor Einführung der Währungsunion und somit auf Teilnahmevoraussetzungen für die Länder einigte. Delors erhob zwar Einspruch gegen diese Bestimmungen, weil er fürchtete, die Vorbedingungen könnten zum Ausschluss des falschen Landes (also Frankreichs) führen, aber angesichts des deutschen Vetos war er gezwungen, zuzustimmen.
Dank dieser Kompromisse konnte der Delors-Ausschuss eine endgültige Fassung seines Berichts erstellen und diese wurde auf dem Europagipfel im Juni 1989 von den europäischen Regierungen bekräftigt. Aber nicht alle waren überzeugt. In den Korridoren der Bundesbank reichten die Meinungen von Skepsis bis zu offener Feindseligkeit. Bundesbankpräsident Pöhl und seine Kollegen waren sicher, dass sie die Oberhand behalten würden. Sie wussten, eine Regierung, die vorschlug, Deutschland solle seine eisenharte D-Mark zugunsten einer europäischen Währung aufgeben, würde politisches Harakiri begehen.
An diesem Punkt wäre der Prozess normalerweise fast mit Sicherheit wieder ins Stocken geraten. Im Rückblick ist schlagend offensichtlich, was dies verhinderte: das Ende des Kalten Krieges. Der Beschluss der europäischen Regierungen, einen rechtsverbindlichen Vertrag über die Währungsunion auszuhandeln, wurde im Dezember 1989 gefasst, also nicht viel mehr als einen Monat nach dem Fall der Berliner Mauer und Kohls Ankündigung eines Zehn-Punkte-Plans für die deutsche Wiedervereinigung. Da Deutschlands Fläche, Bevölkerung und wirtschaftliche Kapazität nun auf einen Schlag wachsen würden, wurde es noch dringender, es fest in Europa einzubinden. Die Vertiefung der Europäischen Union war die logische Folge, und der nächste Schritt dahin war die Währungsunion. Diese Argumente trug Mitterrand der skeptischen Margaret Thatcher vor, als sich die beiden kurz vor dem Fall der Mauer in Chequers trafen .131
Für die wirtschaftliche und monetäre Wiedervereinigung war die offizielle Zustimmung der vier Siegermächte aus dem Zweiten Weltkrieg erforderlich: Vereinigte Staaten, Frankreich, Großbritannien und Sowjetunion. Die einstürzende Sowjetunion war nicht in der Position, sich dagegenzustellen. Ihr Einfluss beschränkte sich auf die Aushandlung eines Abkommens, wonach ostdeutscher Besitz, den die Sowjets während der Besetzung beschlagnahmt hatten, nicht repatriiert und den früheren Eigentümern zurückgegeben würde. Und nachdem Moskau zugestimmt hatte, konnte sich Frankreich nicht querstellen. Aber die Ungewissheit dauerte immerhin so lange, dass Mitterrand Genscher drohen konnte, er würde sich mit Thatcher und Gorbatschow verbünden, um die Wiedervereinigung so schwierig wie möglich zu machen. Das reichte Paris, um Bonn die Zustimmung abzunehmen, dass es zum nächsten Schritt übergehen würde, nämlich zur zwischenstaatlichen Konferenz über die Währungsunion 1990.
Und so machte es den nächsten Schritt. Die Bundesbank bekam die Erlaubnis, die Satzung der Europäischen Zentralbank aufzusetzen. Wie vorherzusehen war, betonte sie die Unabhängigkeit, die Abschottung von politischer Einmischung und den Auftrag der Preisstabilität. Da die Wiedervereinigung inzwischen eine vollendete Tatsache war, verhärtete sich Deutschlands Haltung. Die neue Notenbank sollte wie die Bundesbank föderalistisch aufgebaut sein. Ihre Fähigkeit, staatliche Haushaltsdefizite zu finanzieren, sollte wie die der Bundesbank eingeschränkt sein. Bevor die Länder teilnahmen, sollten sie ihre Inflation, ihre Haushaltsdefizite und ihre Schulden senken. Das Haushaltsdefizit sollte höchstens drei Prozent und die Staatsverschuldung höchstens 60 Prozent des Nationaleinkommens betragen. Die Wechselkurse sollten stabil gehalten werden. Alle diese Bestimmungen gingen direkt in den Vertragsentwurf ein, der auf dem Gipfel im holländischen Maastricht 1991 verabschiedet wurde.
Präsident Mitterrand holte in Maastricht zwar nur ein Zugeständnis heraus, dafür aber ein wesentliches: Die neue Währungsordnung sollte spätestens 1999 beginnen.
VERWERFUNGSLINIEN
Kaum hatten die europäischen Staatschefs diesen folgenschweren Schritt unternommen, da erzitterte der Boden unter ihren Füßen. Der Wechselkursmechanismus wurde von einem Erdbeben der Stärke sieben erschüttert. Seit mehr als fünf Jahren hatte es keine Realignments der Währungskurse mehr gegeben. Die Optimisten konnten behaupten, es sei gelungen, die Politik der Einzelstaaten mit den Geboten der Wechselkursstabilität zu versöhnen. Italien war von der großen Bandbreite, die den schwachen Geschwistern des Systems gewährt wurde, in das übliche 2,25-Prozent-Band gewechselt. Das Vereinigte Königreich war 1990 in den WKM eingetreten, nachdem Frau Thatcher endlich das Argument geglaubt hatte, dies sei ein schmerzloser Weg, die Inflation zu senken. 132 Nachdem Europa demonstriert hatte, dass es mit stabilen Wechselkursen leben kann, war es bereit für die Währungsunion.
Man konnte das aber auch anders interpretieren, nämlich dass nicht die fehlende Notwendigkeit, sondern die fehlende Fähigkeit diktierte, dass es keine Realignments mehr gab. Die Schaffung des Binnenmarktes hatte es im Rahmen des Aufbaus eines integrierten Marktes nicht nur für Waren, sondern auch für Finanzkapital verlangt, dass Kapitalflusskontrollen beseitigt wurden. Die Richtlinie, welche die Liberalisierung der Kapitalflüsse verordnete, war am 1. Juli 1990 in Kraft getreten.133 Da die Kapitalströme jetzt durch nichts mehr eingeschränkt wurden, gab es keinen Spielraum mehr, um Realignments zu organisieren. Wenn die Märkte Wind davon bekamen, dass ein Staat ein Realignment nach unten vorhatte, konnte es passieren, dass mehr Kapital in dieser Währung abfloss, weil Investoren sie hastig verkauften, bevor ihr Wert fallen würde. Wenn sie damit richtig lagen, ernteten sie enorme Gewinne. Und wenn sie sich irrten und sich die Währung nicht bewegte, verloren sie dabei nichts. Der ungarisch-amerikanische Investor George Soros mobilisierte ganz allein Milliarden von Dollar – das Meiste davon geliehen – und spekulierte damit 1992 gegen das Britische Pfund.
Also konnten die Regierungen keine Realignments mehr ins Auge fassen, weil sie befürchteten, dadurch Gegenspekulationen anzuregen. Wenn Ungleichgewichte entstanden, gab es jetzt keine Möglichkeit mehr, den Druck entweichen zu lassen. Die inflationsanfälligen Staaten Südeuropas kamen nach 1987 insofern voran, als sie ihre Inflationsraten senken konnten. Aber die Auswirkungen der Inflation waren kumulativ. Schon wenn man eine Inflationsrate bestehen ließ, die nur leicht über der von Deutschland lag, ballte sie sich zu einem ernsten Verlust der Wettbewerbsfähigkeit zusammen. Anfang der 1990er-Jahre war dies für Länder wie Italien zu einem großen Problem geworden.
In Großbritannien war das Problem zwar anders gelagert, aber das Ergebnis war das gleiche. Als das Land 1990 in den WKM eintrat, war das Pfund gegenüber der D-Mark ungewöhnlich stark. Die Bundesbank hatte die normale Versuchung, die Zinsen zu erhöhen, weil die Bundesrepublik immer noch die ehemalige DDR verdaute, eingeschränkt. Und die britische Wirtschaft befand sich auf dem Höhepunkt des Konjunkturzyklus’, was die Schwächen des industriellen Sektors des Landes verschleierte. Sobald die Bundesbank im November 1990 begann, die Zinsen zu erhöhen – und das tat sie nun aggressiv, um die verlorene Zeit aufzuholen –, begann der hohe Wechselkurs des Pfunds, weh zu tun.
Da sich die Situation in einer heiklen Balance befand, konnte bereits ein kleiner Schock den Obstkarren umstürzen lassen. Dieser Schock kam ausgerechnet aus dem kleinen Dänemark. Anders als die meisten seiner Nachbarn hatte Dänemark den Maastricht-Vertrag zum Gegenstand eines Referendums gemacht. Am 2. Juni 1992 lehnten die Wähler den Vertrag in dem knappen Verhältnis von 50,7 zu 49,3 Prozent ab. Zwar ratifizierten sie ihn später nach einer zweiten Abstimmung, aber ganz egal: Vorläufig wurden die Aussichten auf eine Währungsunion düster. Und wenn es nicht zur Währungsunion kommen würde, würde der Anreiz für Staaten, ihre Wechselkurse stabil zu halten, damit sie sich für die Teilnahme qualifizieren, kleiner werden.
Spekulanten, die diese Logik begriffen, schlugen zu und attackierten die Lira und das Pfund. Die übliche Verteidigung dagegen war eine Zinserhöhung, damit es für die Spekulanten teurer wurde, sich Geld zu leihen, um gegen eine Währung zu wetten. Aber die italienische Regierung war mit hohen Schulden belastet, die bei höheren Zinsen noch belastender wurden. 134 Im Vereinigten Königreich waren die Hypothekenzinsen an die Marktzinsen gebunden und die Hausbesitzer schrieen auf, als diese erhöht wurden. In Schweden – das zwar noch kein EU-Mitglied war, das aber die Krone an den WKM gebunden hatte – war das schwache Bankensystem das Problem. All das ließ Zweifel aufkommen, ob die Staaten bereit sein würden, diesen Kurs durchzuhalten.
Am 16. Juli erhöhte die Bundesbank erneut den Diskontsatz – zum zehnten Mal in Folge – und lud dadurch Kapitalzuflüsse ein, die wieder dafür sorgten, dass sie ihre Geldmengenziele überschritt. Der Diskontsatz erreichte den höchsten Stand seit 1931. Mag sein, dass die Bundesbank die Schraube nicht anzog, um bewusst den Druck auf fragwürdige Kandidaten für die Währungsunion zu erhöhen, aber wenn ihr Handeln diese Konsequenz hatte, kann man sich kaum vorstellen, dass sie es bedauerte. Die neue britische Regierung unter John Major drängte die deutsche Regierung, nicht die Zinsen zu erhöhen. Im Juli schrieb Major an Kanzler Kohl und drang auf Zurückhaltung. Aber die deutsche Regierung betrieb ja gar keine Währungspolitik – das machte die Bundesbank. Und auf Druck war sie nicht gut zu sprechen.
Bis August waren das Pfund und die Lira so weit gefallen, wie es die WKM-Regeln zuließen. Dann gab es auf einer Dringlichkeitssitzung im englischen Urlaubsort Bath noch einen letzten Versuch, eine Reaktion zu organisieren. Sie hätte in einer Verbindung aus der Abwertung der schwachen WKM-Währungen und einer Zinssenkung Deutschlands bestanden. Aber die Finanzminister konnten sich nicht darauf einigen, wer um wie viel abwerten sollte. Großbritannien und Frankreich fürchteten sich davor, sich mit Italien zusammenzutun, und traten Gesprächen über gemeinsame Realignments entgegen. Der britische Schatzkanzler Norman Lamont piesackte seine deutschen Kollegen heftig, was dazu führte, dass diese die Augenbrauen – und die Zinsen – hoben.
In der zweiten Septemberwoche sickerte das Ausmaß von Soros’ Wette gegen das Pfund passenderweise an die Presse durch. Dann veröffentlichte die deutsche Finanzzeitung Handelsblatt am 15. September Auszüge aus einem Interview mit Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger, in dem er vage andeutete, dass „weitere Abwertungen nicht ausgeschlossen werden können“. 135 Da die Märkte in New York noch geöffnet waren, wurde der Druck auf die schwachen europäischen Währungen quälend. Die verzweifelte Bank of England erhöhte am nächsten Morgen den Leitzins von zehn auf zwölf Prozent und äußerte die Absicht, ihn noch weiter zu erhöhen. Aber dies beruhigte die Anleger nicht, denn ihnen war klar, dass die Auswirkungen auf Hypothekendarlehen ohne Zinsbindung und auf die Arbeitslosigkeit die Unterstützung seitens der Öffentlichkeit versickern lassen würden. Die Behörden konnten es sich nicht leisten, die Zinsen lange hoch zu halten. Die Anleger konnten es sich leisten, länger zu warten als sie.
Lamont sah die Schrift an der Wand und ließ die zweite versprochene Zinserhöhung ausfallen. Kurz vor Mitternacht nahm der Währungsausschuss der Europäischen Gemeinschaft Großbritanniens und Italiens Anträge an, ihre Währungen aus dem WKM herauszunehmen. In manchen von den ärmeren Volkswirtschaften der Gemeinschaft, die wie Spanien von den entsprechenden Bestimmungen der Kapitalmarktrichtlinie befreit waren, galten noch Kapitalkontrollen, sodass sie zwar ebenfalls zur Abwertung gezwungen waren, aber im WKM verbleiben konnten.
Nun richteten die Spekulanten ihren Blick auf den Franc, die letzte große europäische Währung, die noch nicht gegen die D-Mark abgewertet worden war. Als der Maastricht-Vertrag bei dem Referendum am 20. September in Frankreich mit knapper Not den Sieg davontrug, begannen sich die Investoren zu fragen, ob die französische Regierung bereit sein würde, harte Maßnahmen zur Verteidigung des Francs zu ergreifen. Und das nicht ohne Grund: Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit wollte Paris das Problem lieber durch niedrigere Zinsen in Deutschland als durch höhere Zinsen in Frankreich gelöst haben. Die französische Regierung drängte die deutsche Regierung und hoffte, diese würde die Bundesbank drängen.
Das entscheidende Treffen zwischen dem französischen Finanzminister Jean-Claude Trichet (dem gleichen Jean-Claude Trichet, der später die Europäische Zentralbank leitete) und einer Phalanx von höheren deutschen Staatsvertretern fand am 22. September am Rande der Jahreshauptversammlungen des IWF und der Weltbank in Washington, D.C., statt. Trichet sagte zu Bundesbankpräsident Schlesinger – ähnlich wie 1978 Schmidt zu Emminger –, die Halsstarrigkeit der deutschen Notenbank gefährdet fünf Jahrzehnte deutsch-französischer Zusammenarbeit. Wieder einmal reichte die Anspielung auf den Zweiten Weltkrieg aus, um die Bundesbanker einknicken zu lassen. Sie einigten sich auf eine gemeinsame Verlautbarung über die Unterstützung der Franc-D-Mark-Parität und auf zusätzliche Kredite für die Banque de France. Dann senkte die Bundesbank den deutschen Geldmarktzins. Danach ließ die Spannung nach. 136
Zumindest ließ sie vorübergehend nach. Portugal und Spanien waren im November erneut gezwungen, abzuwerten, und im Mai des nächsten Jahres schon wieder. Offenbar waren der Escudo und die Peseta nicht so sakrosankt wie der Franc. Da andere Währungen auf seine Kosten wettbewerbsfähiger wurden, war der Druck auf Frankreich bald wieder da. Und da die Arbeitslosigkeit stieg, fragten Anleger wieder offen, ob die Franzosen die Courage haben würden, die Zinsen zu erhöhen, um den Franc zu verteidigen. Im Juni kamen Edouard Balladur als neuer Premierminister und Edmond Alphandéry als neuer Finanzminister. Dieser Führungswechsel gab weiteren Anlass zu Unsicherheit, die zusätzliche Kapitalabflüsse auslöste. Die Situation wurde schnell verzweifelt. Ende Juni bat Alphandéry um eine Dringlichkeitssitzung mit seinem deutschen Kollegen Theo Waigel. Waigel, der sich nicht in die Enge treiben lassen wollte, schützte andere dringende Geschäfte vor. Als sich der Bundesbankrat erneut weigerte, den Diskontsatz zu senken, kam es zu massiven Franc-Verkäufen. Allein in der letzten Juliwoche gab die Banque de France 32 Milliarden Dollar für Franc-Auf käufe aus, schaffte es aber nicht, die Märkte zu beruhigen. Auf einer Dringlichkeitssitzung am nächsten Wochenende beugten sich die Finanzminister und Notenbankdirektoren dem Unvermeidlichen und einigten sich darauf, die Bandbreiten des WKM von 2,25 auf 15 Prozent zu erhöhen. Somit durften die Währungen so weit schwanken, dass sie Spekulanten keine einseitigen Wetten mehr erlaubten.
LUXEMBURGS R ACHE
Doch ob dieser freizügigere WKM immer noch einen Weg zur Währungsunion darstellte, war ungewiss. Großbritannien und Frankreich schoben die Krise den hohen Zinsen der Bundesbank in die Schuhe. Deutschland hatte es ihrer Ansicht nach versäumt, sie für ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung angemessen zu bezahlen. In den Augen der Deutschen waren die Franzosen und Briten von ihrer Disziplinlosigkeit zu Fall gebracht worden. Diese Debatte riss alte Wunden wieder auf. Sie warf erneut die Frage auf, ob sich derart verschiedene Länder bequem eine Währung teilen konnten.
Angesichts all dieser Schuldzuweisungen bedarf es einer gewissen Erläuterung, wieso in den sechs Jahren danach neun europäischen Ländern der Übergang zur Währungsunion gelang. Die Erklärung beginnt mit der einfachen Tatsache, dass Rezessionen nicht ewig dauern. Nachdem Europa Anfang der 1990er-Jahre eine Rezession durchgemacht hatte, erfreute es sich nach 1993 einer Expansion. Diese wurde durch abgewertete Währungen gefördert, die der Wettbewerbsfähigkeit der Exportwirtschaft einen Schub verliehen. Da die Wirtschaft wuchs, war alles einfacher. Vor allem war es leichter, die Haushaltsdefizite so weit zu senken, wie es für die Aufnahme in die Währungsunion verlangt wurde.
Und ebenso wie der schwache Dollar zu Europas früheren Finanzproblemen beigetragen hatte, linderte der starke Dollar sie jetzt. Unter dem Einfluss von Finanzminister Robert Rubin schränkte die Clinton-Administration die Steigerung der Staatsausgaben ein. Amerikas Kassenlage besserte sich und das Vertrauen in seine Währung kehrte zurück. Der Dollar stieg und erhöhte dadurch die Wettbewerbsfähigkeit Europas noch weiter. Das bedeutete schnelleres Wachstum und geringere Steuerbelastung. Das bedeutete kräftiges Wachstum im Jahr 1997 – dem Jahr, in dem die Anwärter für die Währungsunion ihr jeweiliges Haushaltsdefizit auf drei Prozent des BIPs senken mussten. Das bedeutete, dass es Italien – das 1992 aus dem Europäischen Wechselkursmechanismus ausgeschlossen worden war – möglich war, wieder einzutreten. Es ist mehr als nur ein bisschen ironisch, dass ein starker Dollar dazu beigetragen hat, die Euro-Umstellung zu ermöglichen, wenn man bedenkt, dass ein schwacher Dollar Europa regelmäßig den Antrieb geliefert hatte, sich in diese Richtung zu bewegen.
Damit die Währungsunion zustande kam, musste Europa diese Umstände aber noch ausnutzen. Zum Glück war das politische Umfeld dafür günstig. In Deutschland amtierte immer noch Helmut Kohl mit seinem starken persönlichen Engagement für die politische Integration. Er wurde erst im September 1998 abgewählt, als die Vorbereitungen für die Euro-Umstellung bereits abgeschlossen waren. In Frankreich war der Wunsch, einem Status quo zu entkommen, in dem Deutschland die Währungsbedingungen kontrollierte, durch die Peinlichkeiten der Jahre 1992 und 1993 noch verstärkt worden. Zudem galt es nach der Wiedervereinigung als dringender denn je, Deutschland friedlich in Europa zu integrieren, und die Vereinheitlichung der Währung war der leistungsfähigste Mechanismus, der dafür zur Verfügung stand. Die Währungsunion war von Anfang an ein politisches Projekt gewesen. Und am Ende behielt die Politik zum Guten oder Schlechten die Oberhand.
In Deutschland ging wie immer das Gespenst der Inflation um, und die Bundesbank beschwor es bei jeder Gelegenheit. Um sich die Unterstützung oder auch nur die Zustimmung der Notenbanker zu sichern, musste man ihnen Zugeständnisse machen, teils symbolische, teils reale. Kohl sicherte sich die Zustimmung seiner Partner dafür, dass das Europäische Währungsinstitut, der Vorläufer der Europäischen Zentralbank, seinen Sitz in Frankfurt haben würde, wo auch die deutsche Notenbank ihren Sitz hat. Wenn man davon ausging, dass sich dann auch die EZB dort befinden würde, konnte es Frankfurt dazu verhelfen, das Finanzzentrum Europas zu werden. Waigel handelte einen Stabilitätspakt aus, der die Staaten verpflichtete, ihr Haushaltsdefizit nach Einführung des Euros auf drei Prozent des BIPs zu begrenzen. Deutschland sicherte sich die Zustimmung dafür, dass die neue Währung den Namen „Euro“ anstatt des eher französisch angehauchten „Ecu“ bekommen sollte. Es stellte sicher, dass der Gründungspräsident der EZB Wim Duisenberg aus den Niederlanden sein würde – einem Land, das jahrzehntelang strikt der deutschen Währungspolitik gefolgt war. Es machte Otmar Issing, einen Hardcore-Monetaristen und Angehörigen des Bundesbankdirektoriums, zum Chefvolkswirt der neuen Notenbank.
Nachdem Frankreich und Deutschland an Bord waren, stellte sich nur noch die Frage, wer sonst noch mitfahren würde. In dem Szenario, das als das wahrscheinlichste galt, war das eine Handvoll von Deutschlands stabilitätsorientierten Nachbarn – verkörpert durch die Niederlande. Andere Länder könnten auch beitreten, aber erst wenn sie die Disziplin bewiesen hätten, die nötig war, um ihre Defizite zu begrenzen und ihre Schulden zu senken. In einem anderen Szenario konnten weniger stabilitätsorientierte Länder wie Italien, Portugal und Spanien von Anfang an mitmachen. Wenn sie dabei waren, bestand die Gefahr, dass sie Defizite einfahren und dadurch die EZB zu einer eher lockeren Geldpolitik zwingen würden. Aber wenn sie nicht dabei waren, bestand die Gefahr, dass regelmäßig ihre Währungen abwerten und dadurch den Exporteuren aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden einen Wettbewerbsvorteil nehmen würden.
Die Entscheidung fiel schließlich dem kleinen Luxemburg zu. Dank seiner geringen Verschuldung und seiner stabilen Politik waren seine Referenzen makellos. Aber Luxemburg hatte bereits eine Währungsunion mit Belgien. In beiden Ländern liefen Belgische Francs um. Somit wäre es unangenehm gewesen, Belgien außen vor zu lassen. Aber wenn Belgien mit seiner im Verhältnis zum BIP hohen Staatsverschuldung dabei gewesen wäre, wäre es unmöglich gewesen, sich auf die Schuldenobergrenze des Maastricht-Vertrags zu berufen, um andere Länder draußen zu halten. Und so begann die Währungsunion 1999 mit neun Mitgliedern, zu denen nicht nur Belgien gehörte, sondern auch Irland, Italien, Portugal und Spanien. Griechenland war zwar ein Problemfall, unterschied sich aber nicht allzu sehr von den iberischen Ländern und wurde somit 2001 zugelassen.
Diese Entscheidung für eine große Währungsunion war schicksalhaft. Sie belastete den Euro mit mehreren schwer verschuldeten Staaten, die tiefgreifende strukturelle Probleme hatten. Dies sollte letztlich auf die Union zurückfallen und ihre Bemühungen behindern, der Währung eine prominentere internationale Rolle zu verschaffen. Wenn Großbritannien als Sitz von Europas führendem Finanzzentrum mitgemacht hätte, dann hätte es vielleicht anders ausgesehen.
Doch anders als Italien liebäugelte Großbritannien nur kurz mit dem EWS. Tony Blair konnte seinen Sieg bei der Wahl 1997 dem Schaden zuschreiben, den John Major der konservativen Regierung durch die Krise 1992 und durch das unrühmliche Ausscheiden des Pfunds aus dem Wechselkursmechanismus zugefügt hatte. Blair widerstrebte es verständlicherweise, dieses Experiment zu wiederholen. Da Großbritannien seit 1992 eine stabile Politik betrieb, konnten die anderen europäischen Länder hinsichtlich der Konsequenzen beruhigt sein, die sein Fernbleiben haben würde.
Ein Euro, der nicht nur die Währung von neun europäischen Volkswirtschaften, sondern auch des Vereinigten Königreichs und der City of London gewesen wäre, wäre ein noch respekteinflößenderer Rivale für den Dollar gewesen, aber es hat nicht sollen sein. Doch die neue Währung Europas stellte auch ohne Londons Hilfe eine faszinierende Alternative zum Dollar dar. Und es dauerte nicht lange, bis die Suche nach Alternativen zu mehr als nur einer Frage der Faszination wurde.