Es hatte keinen Sinn. Ich würde es auch heute nicht schaffen, in die Schwärze des Nicht-Seins abzutauchen. Seit Stunden lag ich hier auf meinem Bett und erahnte den Hunger immer noch. Gereizt schlug ich die Augen auf und spürte, wie ihre Farbe sich angesichts des matten Lichts der Gewittersonne zu verändern begann – heller wurden sie, grüner. Doch auch wenn ich sie schloss und ihnen ihr tiefes, funkelndes Schwarz zurückgab, würde das nichts daran ändern, dass ich nicht schlafen konnte. Nicht heute Nachmittag, nicht heute Nacht und auch morgen nicht. Schlaf war anderen, besseren Wesen vorbehalten.
Wesen wie ihr, erinnerte ich mich mit einem schwachen inneren Lächeln. Mitten am Tag hatte sie geschlafen wie ein Murmeltier. Es lag erst wenige Stunden zurück, dass ich sie dabei beobachtet hatte, verborgen in meinem Auto und mein Gesicht versteckt hinter einer pechschwarzen Sonnenbrille, als wäre ich ein mieser Stalker. Doch es war mir unmöglich gewesen, mich von ihrem Anblick loszureißen – wie sie da im Wartehäuschen der Bushaltestelle saß, ein zartes, dünnhäutiges Zauberwesen mit mächtigen Gedanken und noch mächtigeren Träumen. Ihr Kopf lehnte an dem schmutzigen Plastik der Bank, ihre braunroten Locken bewegten sich sanft im schwülen Wind, während ihre Knie immer weiter zur Seite sackten, weil der Schlaf ihr jegliche Kontrolle rauben wollte. In mir grollte das animalische Begehren auf, zur Haltestelle zurückzufahren, sie an meine Brust zu reißen und hierherzuverschleppen. Zu mir, in den Schatten des Waldes. In mein Bett. Damit sie hier lag und ruhte und ich mich in das wirbelnde Durcheinander ihrer Fantasien hinabfallen lassen konnte, um endlich satt zu werden.
»Nein. Das tust du nicht«, wies ich mich klar zurecht und wunderte mich wie so oft darüber, dass meine Stimme rein und samtig klang, als gehörte sie einem Edelmann. Täuschen konnte ich mit ihr und verführen, wenn ich wollte. Eigentlich hätte sie brüchig und rau sein müssen, eine Stimme, die den Teufel verriet, der in mir hauste. Doch ihre Reinheit half mir, mich auf meine Worte zu konzentrieren und mich glauben zu lassen, dass ich ihnen folgen würde. »Denk nicht einmal daran, Colin Jeremiah Blackburn. Nicht eine einzige Sekunde lang. Du beherrschst deinen Hunger. Nicht er dich.« Ich wusste zu gut, dass das eine Illusion war, aber Gedanken bedeuteten Macht, und wenn ich nicht mehr hoffte, dass es kraft meiner Gedanken anders werden könnte, war alles verloren.
Langsam richtete ich mich auf, während die letzten Ruhemomente meiner Meditation sich verflüchtigten, als hätten sie es eilig, meinem Geist zu entkommen. Vielleicht würde es mir irgendwann gelingen, beim Meditieren wenigstens in eine Art Scheinschlaf zu geraten, das Bewusstsein noch wach, aber der Kopf vollkommen leer. Zeit zu üben hatte ich schließlich genügend. Unendlich viel Zeit.
Mr X erwachte aus seinem nachmittäglichen Katzenkoma, robbte auf dem platten Bauch zu mir herüber und schob seinen dicken schwarzen Kopf unter mein Knie. Auch meine anderen Katzen hatten sich wie so oft um mich herumdrapiert. Sie liebten es, wenn ich toter Mann spielte. Eine nach der anderen kroch zu mir auf den samtroten Bettüberwurf, um sich an meinen kühlen Körper zu schmiegen und in jenen seligen Schlummer zu verfallen, der mir fremd bleiben würde.
Vorsichtig schob ich Mr X beiseite, stand auf und lief über die knarrenden Holzdielen der alten Treppe nach unten in den Wohnbereich. Ich hätte meine Beine nicht benutzen müssen, ja, ich hätte auch jedes Geräusch vermeiden können, aber das Knarren und Quietschen des Holzes vermittelte mir das Gefühl, selbst entscheiden zu dürfen, was ich war. Eine Weile blieb ich zwischen Küche und Wohnzimmer stehen und horchte in mich, unfähig, das Bild des Mädchens zu verdrängen, wie sie in diesem schäbigen Ambiente der Haltestelle saß und schlief. Ihr halb offener Mund, das sanfte Rosa ihrer Lippen …
»Stopp«, ermahnte ich mich erneut. »Bleib hier, Colin. Bleib im Jetzt. Es gibt nichts anderes.« Ich lebte seit Jahren alleine, also durfte ich auch wie ein alter Kauz mit mir sprechen, wenn es nötig wurde, und die deutsche Sprache eignete sich dank ihrer Klarheit und Strenge hervorragend dazu, sich selbst zurechtzustauchen. Mit dem Mädchen hingegen würde ich lieber Gälisch sprechen wollen, verschliffene, weiche Worte, geflüstert nur … ein Hauch auf ihrer Wange …
Verdammt. Ich verlor bereits. Ich spürte es mit jedem meiner so überflüssigen Atemzüge. Seit Stunden, nein, seit Tagen kämpfte ich und doch würde es sinnlos bleiben. Ich hatte mich ihr bereits zu sehr genähert. Warum hatte ich das getan, wo ich doch wusste, dass jede Annäherung an ein weibliches Menschenwesen nur mit dem absoluten Grauen enden konnte – und zwar nicht nur für sie und jene, die sie liebten, sondern auch für mich?
Noch immer dominierten meine Triebe meine Gedanken – sie entflammten rascher, als mein Verstand dagegen protestieren konnte. Neue Seelen witterte ich wie Wölfe ein verletztes, schwaches Tier und ich hatte ihre sofort bemerkt. Ein Wunderwerk von einer Mädchenseele; zart, wild, mit Widerhaken. Köstlich. Aber niemand hatte mich dazu gezwungen, mich ihr vor ein paar Tagen zu nähern, als sie am ersten Abend nach ihrer Ankunft durch das einsame Dorf geirrt war, auf berührende Weise völlig verkehrt angezogen für diese Waldwildnis, ihr Herz schwer – und noch etwas anderes war da gewesen, was bitter roch, ein süßer Hauch von Gift. Angst. Sie hatte sich gefürchtet.
Warum war ich ihr dennoch durch den Frühlingsnebel entgegengeritten, bis sie mich sehen konnte? Zwar musste ich in ihren Augen wie eine Geistererscheinung gewirkt haben, eine Halluzination, die Menschen sofort verdrängen, aber sie hatte mich bemerkt. Ach, meine Frage war frustrierend leicht zu beantworten, es war mein Hunger gewesen, der mich dazu getrieben hatte. Nach zwei Tagen Jagdpause war er so stark gewesen, dass ihn selbst ihre Angst nicht abhalten hätte können, zumal sie nicht mir galt, sondern der Fremde, in die sie von ihren Eltern versetzt worden war, und der Ungewissheit ihrer Zukunft. Doch jeder Gedanke an sie und ihre Verletzlichkeit, jede Erinnerung an unsere Begegnung waren Geschenke an meinen Hunger, die ich ihm nicht geben durfte.
So aufmerksam wie möglich ließ ich meine Augen durch die Räume gleiten – eine Technik, die ich oft anwandte, um zurück in die Gegenwart zu finden, wenn der Dämon in mir durchzubrechen drohte. Wie immer besänftigte der Anblick meines Heims das Zerren und Ziehen in mir ein wenig. Da standen der Fernseher und die Stereoanlage, schicke, teure Designergeräte, die nie in Betrieb waren, weil die Satellitenantenne keinen vernünftigen Empfang bekam und jede CD zu springen begann, von MP3-Dateien ganz zu schweigen. Trotzdem waren sie hier, gaukelten Normalität und Zeitgeist vor, genauso wie meine Nobelküche mit dem chromblitzenden Standmixer, dem Cerankochfeld und einem Wasserhahn, der Profiköche neidisch werden lassen würde. Wie oft hatte ich den Herd in all den Jahren benutzt? Ein, zwei Mal für meine Kollegen vom Forstamt, denen ich ein frisch geschossenes Reh zubereitet hatte, von dem ich ebenfalls widerwillig ein paar Bissen genommen hatte. Der Backofen roch nach wie vor penetrant nach Kunststoff, wenn ich ihn anschaltete.
Immerhin, ich hatte ihn benutzt. Nur das zählte. Ich hackte Brennholz und feuerte den Kamin an, obwohl ich nie fror, ich hatte ein Bett, obwohl ich nie schlief, und ich badete und duschte, obwohl meine Haut selbst nach acht Stunden härtester Waldarbeit im Hochsommer so sauber und verführerisch roch, dass es mich manchmal anekelte.
Ich hatte nicht nur meine Katzen, die mir ihre ganz eigene Form der ungebundenen Treue entgegenbrachten und von denen der pechschwarze Mr X ganz besonders an mir hing, sondern auch Louis, meinen Hengst, mit dem ich mich verbundener fühlte, als ich es je mit einem anderen Wesen erlebt hatte. Oft streiften wir tagelang zusammen durch den Wald oder fuhren an Wochenenden zu Dressurturnieren. Auch das – ein Teil menschlichen Lebens.
Ich nahm an Wettbewerben teil, in gleich zwei Disziplinen, Dressurreiten und Kampfsport. Oh, ich war sogar ordentliches Vereinsmitglied, etwas, über das ich schmunzeln musste. Mich konnte so ziemlich niemand in diesem Verein ausstehen, aber Sportler besitzen die merkwürdige Fähigkeit, zwischen Sympathie und Anerkennung zu trennen. Anerkennung für mein Talent verweigerte mir dort fast niemand. Mit zwanzig Jahren den dritten DAN-Grad, das musste man erst einmal schaffen. Ihr Narren, dachte ich bitter. Zwanzig Jahre. Habt ihr eine Ahnung, wie lange ich schon zwanzig bin und wie hart ich dafür trainiert habe.
Trotzdem. Ich war Mitglied in einem Verein, bekam regelmäßig Post von dessen Vorsitzenden, wie auch von der Universität und meinen Vorgesetzten. Sie mussten mir schreiben. Mein Laptop hatte seinen Streik zum Dauerzustand erklärt und mein Handy schaltete ich gar nicht mehr an. Es war sinnlos. Doch die Briefe zeigten, dass ich existierte und als einer von ihnen betrachtet wurde. Ein Mensch. Sie alle dachten, ich sei ein Mensch – zugegeben ein verschrobenes und eigenbrötlerisches Exemplar, aber ein Mensch.
Langsam drehte ich mich um und blickte in den runden, leicht angelaufenen Flurspiegel, ein Erinnerungsstück aus Schottland. Wie immer brauchte ich einige Minuten, bis ich durch den Nebel, der sich angesichts meiner Selbst vor meinen Augen bildete, etwas erkennen konnte.
Nach all diesen Jahren wusste ich immer noch nicht, ob ich schön oder hässlich war. Nur in einem war ich mir sicher: Dass ich nicht gewöhnlich aussah. Hier, im Dämmerlicht des Flurs, glühten meine Augen wieder kohlrabenschwarz und meine langen, gebogenen Mädchenwimpern warfen dünne Schatten auf die hoch sitzenden Wangenknochen. Meine Haare führten ein vollkommen eigenständiges Dasein, bewegten sich ohne die Einwirkung von Luft wie züngelnde Schlangen auf meinem Kopf; minimal nur, aber wer genau hinschaute, musste es erkennen. Kurios: Die Menschen bemerkten es dennoch nicht. Noch nie hatte mich jemand darauf angesprochen. Wollten sie nicht sehen, was sie nicht glauben konnten? Dazu meine Haut – so bleich … nein. Weiß. Sie war weiß wie das Laken auf meinem Bett, ohne dass Adern hindurchschimmerten. Mit meiner Nase war ich einverstanden, sie funktionierte prächtig und besaß eine markante Form. Eben eine Männernase. Das war in Ordnung. Aber mein Mund? Hart oder weich – was war er eigentlich? Die Mundwinkel kräuselten sich, wenn ich lächelte, doch wie meistens wirkte dieses Lächeln auch jetzt kalt und zynisch auf mich.
Was würde sie denken, wenn sie mich sah – das schlafende Mädchen aus der Bushaltestelle? Oh, das wäre leicht herauszufinden, ich müsste mich ihr nur zeigen und in ihre Gedanken schauen. Sie würde es mir leicht machen.
Würde ich sie dabei abschrecken wie so viele andere Mädchen und Frauen zuvor? Die erst dann glaubten, etwas Schönes und Anziehendes in mir zu sehen, wenn ich sie manipulierte? Was ich aufgegeben hatte, schon vor Jahren. Auch damit hielt ich die Dämonen in mir fern. Askese. Eine Geisteshaltung, die harschen Gegenwind bekommen hatte, seit sie in diesem Ort eingetroffen war.
Ich drehte meinen Kopf ein Stück zur Seite, sodass meine Ohrringe funkelnd das wenige Licht einfingen, das durch die Wohnzimmerfenster ins Haus drang. Draußen wurde es immer finsterer. Ich hatte das Unwetter bereits heute früh kommen gespürt. Auch Louis schnaubte schon den ganzen Tag unruhig. Er wollte sich bewegen, war das Herumstehen leid. Der Paddock war zu klein für ihn; ich würde Bäume fällen und einen größeren errichten müssen. Ja, genau, das würde ich in den nächsten Wochen abends und nachts tun. Es war gut, einen Plan zu haben. Pläne waren menschlich. Und ein paar Jahre würde ich hier noch bleiben können, bis meine Kollegen und Vereinsgenossen anfingen zu bemerken, dass sich keine Fältchen in mein Gesicht schlichen und meine Kraft beim Kämpfen niemals nachließ. Dass sich nichts an mir veränderte – rein gar nichts. Dann würde ich erneut über Nacht verschwinden müssen und sie würden mich binnen weniger Wochen vergessen haben. So war es immer gewesen.
Aber noch war diese Zeit nicht gekommen. Und daran durfte auch die Ankunft des Mädchens nichts ändern.
Wieder tönte Louis’ kräftiges Schnauben durch die schwere Luft, als würde er mich rufen. Ich nahm seine Trense vom Haken an der Wand und schritt nach draußen, zum Paddock hinüber, wo er mich mit einem vorwurfsvollen Wiehern begrüßte. Mit abgewandtem Blick näherte ich mich ihm – er hätte mir auch vertraut, wenn ich ihn direkt angesehen hätte, doch ich betrachtete es als mein Zeichen des Respekts, seine Fluchttier-Natur zu berücksichtigen. Es war für mich eines der Wunder dieser Welt, dass Pferde mich auf ihrem Rücken duldeten, sobald ich ihnen bewiesen hatte, dass ich ihnen nichts Böses wollte. Aber eigentlich ging es gegen ihren Instinkt. Denn Raubtiere waren ihre Todfeinde.
Eine Armeslänge vor Louis blieb ich stehen, noch außerhalb des Gatters, und wartete, bis seine Nüstern mein Gesicht behutsam streiften. Erst dann legte ich meine kalte Hand auf sein sonnenwarmes schwarzes Fell und schob sie langsam unter die dichte Mähne. Wie schön und anmutig er doch war – ungewollt und ungeplant, ein Weideunfall, weil eine der Zuchtstuten sich zu den Hengsten verirrt hatte. Eine Kreuzung aus Friese und Trakehner – was sollte dabei herauskommen? Ein Prachttier – das ahnte ich schon damals – und nahm ihn zu mir, bevor der Gutsbesitzer sich entschließen konnte, ihn zum Schlachter zu geben. Nach einigen Jahren begann er, vor warmer Menschenhaut zu erschrecken und meine unterkühlte zu suchen, weil er mich gewöhnt war. Nur mich. Er wäre für mich durchs Feuer gegangen.
Die langen Haare an seinen Nüstern kitzelten meine Wange und erinnerten mich an die erste Berührung mit einem Pferdekopf, damals in den Highlands. Oh Gott, es war solch ein Fluch, sich an alles zu erinnern, von der ersten Minute an. Was für eine Gnade bedeutete doch das Vergessen, das den Menschen geschenkt worden war. Wenn jeder sich in aller Gänze an seine ersten Jahre auf Erden erinnern würde, könnte niemand glücklich sein. Selbst jetzt, an diesem warmen, drückenden Frühsommernachmittag, spürte ich die Kälte an meinem Leib, als ich in Gedanken nach oben blickte und das verzerrte Gesicht meiner leiblichen Mutter sah, die mich in einem alten Weidekorb durch die Winternacht trug, um mich wieder einmal auf einem Hügel abzusetzen und zu hoffen, dass die Feen mich holten, dieses bösartige Wechselbalg, für das sie mich hielt. Oder dass ich eben endlich erfror … Denn ob Wechselbalg oder nicht: Sie wollte mich nicht bei sich haben. Aber obwohl ich die Kälte in meinem winzigen Körper wie eine Feindesmacht fühlte und zu gut wusste, dass meine eigene Mutter mich fürchtete und ablehnte, gab es eine Flamme in mir, die stärker war und mich am Leben hielt. Jedes andere Baby wäre schon in der ersten Nacht gestorben. Doch meine Mutter fand mich morgens mit wachen, klaren Perlenaugen, meinen Blick unverwandt auf sie gerichtet, fragend und wissend zugleich.
Die Pferde waren es, die mich schließlich retteten – und eine Standpauke des Dorfpfarrers, der meine Mutter zurechtwies, sie solle mich als ein Geschenk Gottes annehmen und ihre Pflicht erfüllen. Sie ließ mich leben, aber Milch, Wärme und Fürsorge gaben mir die Pferde. Sie berührten mich, neugierig und scheu zugleich. Aber sie taten es. Und sie taten es mit weitaus mehr Hingabe als meine Schwester, die sich immerhin überwand, mich zu ihnen zu bringen und die Ponystute zu melken, um mich zu ernähren. Noch heute war ich ihr dankbar dafür.
Ich duckte mich, um unter dem oberen Balken des Zauns hindurchzuschlüpfen, wobei sich mein Körper merkwürdig schwerelos und energiegeladen zugleich anfühlte, was mir wieder einmal bewies, welch rohe Kraft in mir schlummerte. So wartete ich ein paar Sekunden, in denen das Rauschen in mir sich etwas beruhigte, bis ich mich sacht gegen Louis’ muskulöse Schulter lehnte.
Der Geruch seines Fells verriet mir, dass der Luftdruck sich erneut veränderte. Die feinen Haare seines Unterfells reagierten auf jede winzige Wetterkapriole. Es war erst Mai, aber dieses Gewitter würde die Qualität eines handfesten Sommerunwetters haben. Bildete ich mir das nur ein oder wurde das Wetter in den vergangenen Jahren immer extremer? Hatte der Wald sich verändert? Manchmal hatte ich den Eindruck, das gesamte Ökosystem des Waldes hatte zu kippen begonnen, seitdem ich hier lebte und wirkte. Zumindest war auf der anderen Seite des Waldes ein Wolf heimisch geworden. Außer mir schien ihn noch niemand gesichtet zu haben und ich hatte meine Entdeckung wohlweislich verschwiegen. Nicht einmal dem Förster hatte ich davon erzählt. Die Menschen fürchteten Bestien und taten alles, um sie zu vernichten oder zu vertreiben – wenn das jemand wusste, dann ich. Der Wolf suchte beinahe jede Nacht meine Nähe, genauso wie die Hirsche und Eulen. Fast war mir, als wollten sie sich mir freiwillig als Nahrungsquelle anbieten. Dabei war es eigentlich meine Aufgabe, sie zu schützen, und nicht, mich an ihnen zu vergreifen. Ein weiterer der vielen Widersprüche, die mein Leben seit jeher begleiteten.
Prüfend blickte ich in den Himmel, obwohl selbst das matte schwefelgelbe Licht, das einem Unwetter vorausging, in meinen Augen brannte und sie türkisgrün werden ließ. Ja, da braute sich etwas zusammen. Blitzeinschläge im Sekundentakt. Orkanböen. Sintflutartiger Regen, der die Bäche binnen Minuten in Sturzfluten verwandeln würde – all das würde sich noch vor Sonnenuntergang hier abspielen. Wie immer, wenn die Naturgewalten zu wüten begannen, zog es mich nach draußen, weg von sicheren Mauern und schützenden Dächern, als existiere ein Teil in mir, der hoffte, von den wild tobenden Elementen vernichtet zu werden. Aber dieses Mal war es mehr als nur Todessehnsucht, was mich nach draußen trieb. Ich wollte, dass Louis’ Wärme im Galopp auf mich überging, meine Haut menschenähnlich machte, dass der Wind mir Tränen in die Augen steigen ließ, dass ich … ja, was denn nun?
Ich stutzte. Konnte das sein? Ich wusste nicht genau, was mich antrieb. Trug ich ein Geheimnis in mir? Noch einmal horchte ich in mich hinein, doch es blieb etwas in mir, das ich nicht deuten konnte, ein sanfter, aber unerbittlicher Drang. Eine neue Variante von Hunger? Nein, Hunger fühlte sich grausamer und quälender an. Ich hatte Hunger, doch das war Dauerzustand, nichts Besonderes mehr, selbst der Hunger nach dem Mädchen war beschämend klar zu identifizieren gewesen.
Trotzdem – hatte dieses ungewohnte, zarte Drängen etwas mit ihr zu tun?
Ich machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne und schmiegte meine Stirn an Louis’ Stirn, damit unsere Instinkte miteinander verschmelzen konnten. Er war nervös, aufgepeitscht, etwas da draußen ging auf ihn über und schoss in seine Nerven, und nun nahm auch ich es wahr, obwohl es Gefühle waren, die Geschöpfe wie ich normalerweise mieden wie die Pest.
Schon heute Mittag hätte ich eigentlich davor flüchten müssen, ach, schon bei unserer ersten Begegnung. Doch ich irrte mich nicht. Das Drängen in mir hatte mit ihr zu tun. Grundgütiger, dieses Mädchen war da draußen, im Wald, nicht weit weg von hier … und sie fürchtete sich. Was in aller Welt tat sie da? Sie sollte wie andere Jugendliche ihres Alters vor dem Fernseher oder dem Computer sitzen oder ihre Nase in ein schlaues Buch stecken, sie sollte von mir aus schlafen, aber im Wald hatte sie nichts verloren. Sie war ein Stadtpflänzchen, das hatte ich nicht nur anhand ihres Verhaltens und ihrer Kleidung erkennen können. Auch das Nummernschild des Autos, von dem sie abgeholt wurde, hatte es mir verraten. Sie kam aus Köln, war gerade erst hierhergezogen, unfreiwillig. Und sie dachte wahrscheinlich, die Gewitter hier waren wie die Gewitter in der Großstadt – ein paar Blitze, Donnergrollen, ein kurzer Regenguss. Doch über uns braute sich gerade die Vorhölle zusammen.
Noch einmal versuchte ich, mich mit Louis zusammenzuschließen und mich auf sie zu fokussieren, ohne Rücksicht auf das, was mir dabei entgegenbrandete. Wut. Frustration. Verletztheit. Unsicherheit. Zweifel … so viele Zweifel, die sich im Sekundentakt vermehrten. An Zweifeln konnte jemand wie ich zugrunde gehen und doch gab es für mich nichts zu überlegen. Sie war in Gefahr, weil sie dachte, sie könne mal eben so durch den Wald spazieren, vermutlich angezogen wie zum Shoppingausflug in der Fußgängerzone. Sie brauchte jemanden, der ihr da heraushalf. Und ausgerechnet ich wollte derjenige sein, der diese Rolle übernahm. Es passte nicht zu dem, was ich war, es sei denn, es war nur eine Masche, ein Trick meines Hungers, um an sie heranzukommen. Doch dieses Risiko musste ich eingehen, denn sie war ganz alleine.
»Ellie …« Mit einem Mal lag ihr Name auf meiner Zunge, ohne dass ich ihn je gehört oder gelesen hatte. Jetzt, wo ich sie schützen wollte, kannte ich ihn, sah ihn sogar geschrieben vor mir. Doch wenn ich ihn ausgesprochen hätte, hätte er wie Ally geklungen. Mein Akzent brach durch, sobald ich an sie dachte. Meine Silben wurden weich …
Ich musste zu ihr. Wenn mein innerer Kompass mich nicht täuschte, lief sie an einem jener Bäche entlang, die bei Gewitter über die Ufer traten, draußen, bei den Brückenruinen des ehemaligen Eisenbahnnetzes, das seit Jahrzehnten unter der grünen Last des Waldes verrottete. Eine gefährlichere Stelle für ihren unschuldigen und so gottverdammt naiven Nachmittagsspaziergang hätte sie sich kaum aussuchen können. Ich hatte keine Zeit zu verlieren.
Auf den Sattel verzichtete ich und schnallte Louis nur die Trense um, bevor ich meine Haare, so gut es ging, unter meine Baseballkappe stopfte und diese tief ins Gesicht zog. Denn mein Gesicht sollte sie nicht sehen können. Nicht meine Augen, nicht meine Nase und auch nicht meinen Mund. Ich sollte ein Schatten für sie bleiben.
In dem Moment, in dem ich mich auf Louis’ Rücken schwang, erhob sich die erste Windböe, noch warm und beinahe sanft, aber was danach kam, würde eisig werden und wahrscheinlich sogar Hagel bringen. Schon auf dem Kies der Einfahrt trieb ich Louis in seinen typisch schwebenden, schwungvollen Galopp. Zitternd und im gleichmäßigen Rhythmus seiner Hufe verschmolzen seine Lebensenergien mit dem Pulsieren in meiner Brust – etwas, wofür wir anfangs Stunden brauchten und was sich jetzt innerhalb weniger Augenblicke vollendete.
Doch ich durfte dabei niemals vergessen, was ich war – es blieb eine Gratwanderung, Louis’ Natur in mich fließen zu lassen und nicht meine in ihn. Manchmal passierte es dennoch, dann wurde aus dem sonst so treuen, gutmütigen Hengst ein Ungeheuer von einem Pferd, das sich zwar an der Macht auf seinem Rücken erfreute, weil sie ihm seine naturgegebene Angst nahm, aber zugleich unberechenbar wurde. Mit äußerster Konzentration und Beherrschung konnte ich ihn dann noch kontrollieren, durfte die Zügel aber keinesfalls aus der Hand geben, denn für alle anderen konnte er zu einer Gefahr werden.
Ob die Gratwanderung heute glücken würde, wusste ich nicht. Schlechter hätten die Voraussetzungen kaum sein können.
Louis wurde mit jeder Biegung, die wir nahmen, schneller, aber auch widerspenstiger. Die Muskeln seines Rückens arbeiteten steinhart unter mir, weißer Schaum troff aus seinem Maul und sein Hals war bereits schweißbedeckt, sodass sein dunkles Fell im zuckenden Gewitterlicht in allen Schattierungen schimmerte. Doch zwischen uns gab es keine Grenzen mehr, wir waren eins geworden. Niemals würde er jetzt versuchen, mich abzuwerfen – und alleine deshalb hätte ich, ohne zu zögern, mein Leben für ihn gegeben. Ohne ihn konnte ich nicht sein. Er war meine Menschlichkeit.
Nun konnte ich sie riechen. Ein schwacher Hauch eines etwas zu schweren Parfums, nicht genug, um den salzig-matten, milden Duft ihrer Haut zu überdecken. Tief atmete ich ein und wieder aus, um sie zu orten, und kurz brüllte der Hunger in meinem Bauch auf, irritiert und unwillig angesichts dessen, was ich da vorhatte. Die Nahrungsquelle war zwar korrekt, aber ihr Zustand eine Katastrophe.
Ich ignorierte ihn und trieb Louis weiter, während das Unwetter ohne jede Vorwarnung losbrach und seine ganze Zerstörungskraft entfachte. Die Blitze schlugen so rasch hintereinander ein, dass das Grollen des Donners gar nicht mehr endete, und in einem tierischen Kreischen brachen Äste über uns entzwei, weil der Wind in wütenden Böen an den Wurzeln der Bäume rüttelte, als habe er den Wald zu seinem Feind erklärt. Und Ellie war mittendrin in diesem Inferno, schutzlos und alleine. Trotz des Tosens um mich herum gelang es mir, mich auf ihre Gedanken zu konzentrieren, die völlig konturenlos und vor allem viel zu zahlreich geworden waren, um sie ordnen zu können. Aber sie dachte noch, plante noch, ihr Gehirn arbeitete, obwohl sie sich mitten im Zentrum des Unwetters befand.
Weit entfernt konnte sie nicht mehr sein, vielleicht vierhundert oder fünfhundert Meter. Aber warum nahm ich sie jetzt nicht mehr am Boden wahr – warum entschwebte ihre Essenz, dieses fatale Gemisch aus Panik, Entsetzen und rasenden Gedanken, nach oben? War sie etwa schon von einem der Blitze getroffen worden? Starb sie?
»Nein!«, brüllte ich in die Finsternis, die uns jetzt umgab, ohne meine Stimme hören zu können. Louis wieherte schrill auf und drehte sich einmal um sich selbst. »Du stirbst nicht! Du stirbst nicht, Ellie! Niemals!«
Lieber hätte ich sie gepackt und ihr die Unendlichkeit eingeflößt, als dass ich zuließ, sie in diesen Gewalten hier untergehen zu lassen. Ich war stärker als das. Ja, ich war mächtiger als der Tod, er kannte mich nicht, ignorierte mich seit 168 Jahren, und das würde ich auf sie übertragen, indem ich sie mir holte, wegbrachte und dann in ihre Seele drang, bis ihre Angst und Furcht schwanden. Deine Träume zu meinen. Für immer.
Es war Louis, der für einen kurzen hellen Moment den Verstand zurück in meinen Körper holte. Trotz seiner elenden Scheu vor Wasser entriss er mir die Zügel und sprang freiwillig die Böschung hinunter, mitten in den Bach, der sich wie befürchtet in einen reißenden Strom verwandelt hatte. Sein plötzlicher Ungehorsam überraschte mich so sehr, dass das Brüllen in mir stockte. Zu überrumpelt, um Louis wieder zur Räson zu bringen, ließ ich zu, dass er schnaubend vorwärtspreschte und das Wasser bei jedem Galoppsprung in Fontänen aufstieg.
Verflucht, was sollte ich nur tun? Die Elektrizität um uns herum ließ Louisʼ Mähne knistern und selbst meine Haut schmerzte und flirrte, gleich würde sich ein Blitz entladen, der in seiner Zerstörungskraft alle anderen in den Schatten stellte. Und sie – wo war sie? Wo …
Ich hieb mir die Faust in den Magen, um meinen Hunger zum Schweigen zu bringen, der mich unentwegt von hier wegtrieb und meine Sinne zu vernebeln begann.
»Wo bist du, Ellie? Wo bist du. Sag es mir. Bitte«, flüsterte ich, so sanft es mir möglich war. »Gib mir ein Zeichen.«
Nun stieg ihr Bild vor meinem geistigen Auge auf – endlich, ich sah sie, als habe sie in ihrem Kopf ein Fenster geöffnet und mich zu sich gelassen, damit ich sie retten konnte. Als wäre ich ein alt vertrauter Freund. Sie brauchte tatsächlich Hilfe. Es war richtig, dass ich ihr entgegenritt. Sie war auf eine der Brückenruinen geklettert, um sich vor dem steigenden Wasser zu retten, und weil das Gestein rutschig und brüchig war vom Regen, hielt sie sich an einem umgebogenen, eisernen Schienenstück fest. Ihr ganzer Arm flimmerte bereits blau, ebenso wie Louis’ Fell und das Wasser des Baches. Elmsfeuer, überall – die Vorboten der Vernichtung. Der Blitz, dessen Sirren bereits jetzt drohend die Luft zerriss, würde sie töten, das spürte ich.
»Lass los«, wisperte ich und dachte diese Worte so intensiv, bis ich sie in meinem Kopf aufleuchten sah und in meinem ganzen Körper fühlte. Sie mussten sie erreichen. Louis blieb stehen, starr vor Angst angesichts dessen, was geschehen würde, doch er half mir damit, mich zu sammeln. »Lass los!«
Sie ließ los und nur Sekundenbruchteile später ertönte ein so brachialer Donnerschlag, dass Louis vor Schreck stieg und ich die Zügel anziehen musste, um ihn an der Flucht zu hindern. Unsere Aufgabe war noch nicht erledigt. Sie war nicht gerettet, sondern hielt sich mit letzter Kraft am Felsen fest, ein paar Meter unterhalb des Schienenstücks. Wenn sie der Blitzeinschlag verletzt hatte und sie in den Bach hinabstürzte, würde sie womöglich ertrinken, weil sie in diesem Zustand nicht fähig war zu schwimmen … Vielleicht war sie gelähmt oder einer Ohnmacht nahe, eine Vorstellung, die meinen Hunger erneut anfachte. Noch einmal hieb ich mir die Faust in den Magen, um ihm zu zeigen, wer der Herr in diesem Hause war.
Colin, du Idiot, schalt ich mich in Gedanken, weil ich wieder mal vergessen hatte, wie Menschen beschaffen waren. Ihr Körper und Geist waren viel verletzlicher als meiner. Derart geschwächt würde sie sich niemals an dem glitschigen Gestein festhalten können – und nun wandte sie sogar den Kopf zu mir. Sie war bei Bewusstsein. Und sie sah mich.
So blickte auch ich direkt in ihre Augen, die mich tief und wild umfingen wie das aufgewühlte Meer. Blaugrün. Mit braunen Sprenkeln in der Iris. Oh, es waren nicht die Augen einer Siebzehnjährigen. In ihnen schlummerten die erlebten Gefühle ganzer Generationen. Und wenn sie wütend wurde, konnte sie mit ihnen Blitze senden, die selbst mich nicht unberührt zurücklassen würden.
Aber sie zeigte eine ganz normale Reaktion, wie fast alle Menschen, wenn sie mich erblickten. Ablehnung, Abscheu, beinahe Hass. »Nein«, formte ihr Mund, während Louis schnaubend auf sie zugaloppierte und seine schweren Hufe die dünne Eisschicht durchbrachen, die sich am Rande des Baches infolge des Temperatursturzes gebildet hatte. Ihre zerzausten Locken klebten nass an ihrem bleichen Gesicht, bläulich schimmerten die Adern durch die zarte Haut an ihren Schläfen. Sie hatte einen Schuh verloren, ihr rechter Fuß war bloß und für ein paar Sekunden saugten sich meine Augen daran fest, fixierten die Vene an ihrem Knöchel und das dünne Blut, das aus einer Schramme über ihre Haut sickerte. Ihr ganzer Körper strömte Angst aus, so stark, dass ich aufhörte zu atmen, doch ihr Blut war erfüllt von unbändigem Überlebenswillen. Genau deshalb würde sie es zulassen, dass ich sie zu mir nahm. Sie wollte leben.
»Nein«, flehte sie noch einmal, nun mit geschlossenen Augen, weil sie mich nicht mehr sehen wollte oder konnte, doch ich war schon bei ihr, pflückte sie mit einer einzigen, starken Bewegung vom Felsen und schob sie vor mich auf Louis’ Rücken. Sie leistete keinerlei Widerstand, ließ es still mit sich geschehen, doch an dem Brennen in meiner Brust erkannte ich, dass sie ihre Augen wieder geöffnet hatte.
Louis zuckte zusammen, als er die erhitzte Haut ihrer Schenkel spürte, bäumte sich wiehernd auf den Hinterläufen auf und drehte sich einmal um sich selbst. Aber die Kraft meiner Gedanken genügte, um ihn zur Vernunft zu bringen und weiter vorwärtszutreiben, während ich Ellie mit meinem linken Arm dicht bei mir hielt und die Zügel nur noch locker in meiner Rechten lagen.
Mit derselben plötzlichen Willkür, in der das Unwetter über den Wald gezogen war, schwand es auch wieder. Schon während der ersten Meter, die Louis und ich zusammen mit Ellie zurücklegten, ebbten die Böen ab und der Regen verwandelte sich in ein gleichmäßiges, friedliches Plätschern. Der Wald troff vor Nässe, Nebel stieg zwischen den Bäumen auf und es begann, betörend süß nach feuchten Blüten zu duften, doch das alles tangierte mich nicht, denn mich beherrschten alleine die Gefühle, die Ellies Seele in Aufruhr hielten.
Fast war mir, als könnte ich sehen, wie sie durch ihre Venen schossen und im Takt ihres Herzschlags vibrierten, doch irgendetwas stimmte dabei nicht, war anders als sonst. Mein Hunger war zu jenem bösartigen Schmerz mutiert, gegen den ich selbst mit Meditation nicht dauerhaft ankam, aber nicht etwa deshalb, weil ich zu lange nichts zu mir genommen hatte. Erst heute Nacht war ich wieder dem Wolf begegnet und er hatte mich trinken lassen. Der Hunger protestierte gegen das, was ich hier tat, zu Recht, doch in seiner Einfältigkeit konnte er nicht jenes Wunder sehen, dem ich langsam gewahr wurde – erst irritiert, dann abwehrend, dann vollkommen fasziniert.
Ihre Angst galt gar nicht mir. Ihr Rücken lehnte fast entspannt an meiner Brust, auch wehrte sie sich in keinster den Menschen so eigener Weise gegen den Arm um ihre Taille. Doch ihre Schenkel spannten sich bei jedem Galoppsprung an und immer wieder starrte sie argwöhnisch auf Louis’ im Wind flatternde Mähne, zuckte sogar zusammen, wenn er schnaubte. Sie hatte keine Angst vor mir. Sie hatte Angst vor meinem Pferd.
Wie konnte es sein, dass sie mich nicht fürchtete? Gab es das überhaupt – dass ich ein Mädchen nicht manipulieren musste, um ihm seine Angst zu nehmen? Oder stand sie noch unter dem Schock des Blitzeinschlags?
An meinem Verhalten konnte es kaum liegen, ich gab mich kauzig wie immer, eine alte, bewährte Strategie, die den Menschen die Neugierde nahm, in mein Gesicht zu schauen und zu ahnen, was sie nicht ahnen sollten. Im Zweifelsfall war ich lieber unhöflich als dämonisch.
Der Bach schwoll so rasch ab, dass die Wege entlang der Ufer wieder begehbar wurden, ich hätte Ellie längst absetzen können, doch ich tat es nicht, solange sie nicht darum bat, und nahm einige weitere Biegungen, in denen ich versuchte, das unbarmherzige Stechen in meinen Eingeweiden zu ignorieren und einen Beweis für das zu finden, was nicht sein konnte. Angst vor Louis, aber nicht vor mir – das war eine verkehrte Welt, sinnlos und abstrus, aber je länger ich sie bei mir hielt, desto unmissverständlicher wurden ihre Signale. Sie schien nicht einmal zu spüren, welche Kälte unter meiner Haut lauerte, die nur vorgab, warm zu sein – was ich Louis’ und ihrer eigenen Hitze zu verdanken hatte. Ich musste sie unbedingt wieder freigeben, bevor das Eis in mir sich seinen Weg an die Oberfläche verschaffte. Sie sollte glauben, dass ich einer von ihnen war. Ein Mann, von mir aus ein Junge, mein Gesicht hatte sie schließlich nicht gesehen und konnte daher mein Alter nicht schätzen, und dabei sollte es auch bleiben.
Ohne ein Wort nahm ich die nächste flache Böschung hinauf auf den Pfad, der sie nach Hause bringen würde, und setzte sie auf dem Waldboden ab. Nicht unsanft, aber auch nicht besonders gefühlvoll. Ich wollte ihr keinen Grund geben, sich nach mir umzudrehen oder sich gar zu bedanken. Als sie ihren Blick dennoch hob, wandte ich mein Gesicht ab und senkte mein Kinn, sodass sie allenfalls das aberwitzige Spiel meiner Haare betrachten konnte.
»In Zukunft öfter mal nach oben schauen«, riet ich ihr und war einmal mehr dankbar für die Reinheit meiner Stimme, denn sie verband sich vortrefflich mit der unterkühlten Arroganz, die ich an den Tag legte, um zu verhindern, dass sie auch nur einen Gedanken an mich verschwendete, sobald sie in Sicherheit war. Nach leidenschaftlichen, strahlenden Rettern musste sie woanders suchen.
Bevor sie einen Schritt auf mich zu machen konnte, um einen Blick auf mein Gesicht zu erhaschen, wendete ich Louis und trieb ihn von ihr fort, obwohl mein Hunger zornig dagegen ankämpfte – nun, da ihre Angst vollends verflogen war und sie einen Duft verströmte, der mich schwindlig werden ließ, wollte er sie um jeden Preis haben. Ich musste jagen, jetzt sofort. Auf die Nacht konnte ich nicht warten und auch nicht darauf, dass die Tiere mich suchten und nicht ich sie. Heute musste ich es auf die rücksichtslose Art und Weise tun und ich schämte mich bereits jetzt dafür.
Doch das Brüllen in mir verstummte schlagartig, als plötzlich ihre kräftige und doch so mädchenhafte Stimme durch das Rauschen des Wassers drang, das uns umgab.
»Ja, vielen Dank auch und schönen Tag noch!«
Ihre Worte troffen vor Ironie, waren aber zugleich von einer fast verzweifelten Zuneigung erfüllt, die irregeleitet sein musste, anders ging es nicht. Doch alleine das Kratzbürstige darin sorgte dafür, dass meine Mundwinkel zuckten und sich darauf dieses tief amüsierte Lächeln stahl, das ich sehr lange nicht mehr gespürt hatte. Schon immer hatte mich dieser merkwürdige Umstand irritiert und auch hoffen lassen – dass ich Sinn für Humor hatte, sogar lachen konnte wie ein Mensch. Nicht böse und gehässig, sondern frei und mit einem hellen, heiteren Flirren in meinem Kopf. Genau das geschah auch jetzt. Mein Lächeln verwandelte sich in ein Lachen, perlend und so melodiös, dass Louis es sofort mit einem sonoren Schnauben beantwortete. Dieses Weibsstück brachte mich tatsächlich zum Lachen.
Trotz allem, was sie durchgemacht hatte, stand sie aufrecht. Zersaust und wild wie eine Gewitterhexe schleuderte sie mir pure Ironie hinterher – es waren nicht nur ihre Gefühle, die ich verschlingen wollte, es war auch ihr Geist. Sie war stark. Und der Jammer dabei war, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie stark sie war.
Doch wie immer siegte der Hunger über den scheuen Humor in mir. Zielsicher und ohne jegliches Zögern steuerte ich einen Hirsch an, der, aufgeschreckt vom Unwetter, durchs Unterholz trabte, und verging mich an dem, was ihn so lebendig und magisch machte. Louis blieb abwartend in der Nähe stehen, er kannte dieses Spiel schon, was es mir nicht leichter, sondern nur schwerer machte. Er sollte das nicht sehen müssen.
Erst, als ich satt und träge auf den Waldboden sank und der Hunger mich aus seinen Klauen entließ, gelang es mir, die Fährte zu Ellie wieder aufzunehmen. Jetzt war ich stark genug, um das zu tun, was ich mir seit heute Mittag verboten hatte. Ich ließ meine Instinkte frei und entschwebte meinem Körper, um Ellie in ihrer Gänze wahrnehmen zu können, schwarz-weiß, wie immer, wenn ich Menschen aus der Ferne beobachtete, doch schöner konnten Grautöne kaum sein. Ihre Konturen schimmerten beinahe silbrig, wenn sie sich bewegte.
Sie marschierte gerade zu ihren Eltern in den Wintergarten des Hauses, doch sobald sie ihn betrat, wurde das Bild in meinem Geist plötzlich unscharf und vage. Ein schwerer, penetranter Geruch drang in meine Nase. Unwillkürlich zuckte ich zurück und verlor den Kontakt zu ihr. Orchideen? Verflucht, ihre Mutter hatte ganz offensichtlich ein Faible für Orchideen. Dutzende mussten dort stehen. Was fanden Menschen an Orchideen nur so reizvoll? Sie rochen bestialisch und sahen überdies obszön aus. Und sie hielten mich fern. Orchideen ließen das verkommen, was unsereins nährte. Vielleicht ahnte ihre Mutter das. Wenn ihr Wesen nur in Facetten dem ihrer Tochter ähnelte, hatte sie eine starke Intuition.
Trotzdem versuchte ich, Ellie weiterhin zu erspüren, und fand sie wieder, als sie die Tür zu ihrem Zimmer schloss. Danke, Ellie, du hast Geschmack, dachte ich erleichtert. Ihr Zimmer war frei von Blumen und Pflanzen. Und zu groß für sie. Zu viel Raum für zu viele Träumereien. Aber es war ein Dachzimmer, nah am Himmel, weit weg von ihren Eltern, die ich immer noch nicht sehen konnte. Sie musste ganz alleine da oben sein. Nun öffnete sie ein Fenster. Jetzt das zweite … das dritte.
Bis sie mitten im Raum stehen blieb, ein wenig verwirrt angesichts der Erinnerung an das, was sie gerade erst erlebt hatte. Und doch war sie so voller Leben und innerer Stärke, dass sich Speichel in meinem Mund sammelte und mein Atem schwer wurde. Ich wollte sie dort heimsuchen. Wenn sie schlief. Wenn sie träumte … und dann …
Nein. Nein, das tue ich nicht, holte ich mich mit meinem immer gleichen Beschwörungsmantra in die Realität zurück und schnitt die Verbindung zu ihr mit einem schmerzvollen Stöhnen ab. Mein Blick flackerte, weil er sie festhalten wollte. Vergeblich. Um mich herum war nur der Wald, vertraut, aber menschenleer.
Ich durfte das nicht. Es war nicht fair ihr gegenüber. Ich musste ihr lassen, was sie am Leben hielt. Ihre Fantasien, ihre Träume, ihre Sehnsüchte. Und ich sollte für mich selbst das bewahren, was mir in all den Jahrzehnten noch nie widerfahren war – ein menschliches Wesen nah bei mir zu halten, so nah, dass ich seinen Herzschlag hören konnte, und zu wissen, dass es mich nicht fürchtete.
Kein Fluch sollte mir das jemals nehmen können. Ich hatte den Fluch damit sogar für einen kurzen Moment besiegt. Ja, ich hatte ihn übertrumpft. Zum allerersten Mal.
Ein Mensch hätte in diesem Moment Glück empfunden.
Doch ich blieb leer und alleine zurück.