Kapitel Einundzwanzig
Sebastian und Teaser standen am Rande von Philos Innenhof und betrachteten die Gäste. Sebastian war allerdings hauptsächlich darauf konzentriert, Lynnea dabei zu beobachten, wie sie Bestellungen aufnahm und Tische abräumte.
»Ist es Liebe«, überlegte er, »wenn es dich glücklicher macht, dass eine bestimmte Frau sich darüber beklagt, dass du das gesamte Bett für dich beanspruchst, als wenn ein Dutzend Frauen dich mit den Augen ausziehen?«
»Frag mich nicht«, beschwerte sich Teaser. »Ich bin nicht derjenige, der jede Nacht seufzt und stöhnt.«
»Lynnea seufzt und stöhnt nicht.« Jedenfalls nicht so laut, dass man sie im Nebenzimmer hören konnte.
»Ich habe auch nicht von Lynnea gesprochen.« Teaser warf Sebastian einen langen Blick zu, um seinen Standpunkt deutlich zu machen, dann sah er ihn noch einmal von oben bis unten an. »Du machst dich schick in letzter Zeit. So bist du schon eine ganze Weile nicht mehr herumgelaufen.«
Sebastian lächelte. »Ich habe allen Grund dazu - und ich will nicht, dass sie das vergisst.«
Oh ja. Obwohl er ein Inkubus mit nur einer Frau und der Rechtsbringer des Pfuhls war, kleidete er sich in letzter Zeit sehr sexy. Enge schwarze Jeans und eine schwarze Jacke aus dem gleichen Stoff, ein grünes Hemd, um die Farbe seiner Augen hervorzuheben, und ein Kettenanhänger - ein flacher grüner Stein an einer Goldkette, die Glorianna ihm vor Jahren geschenkt und die er hinten in einer Schublade seiner Kommode gefunden hatte, als er sie nach etwas Interessantem durchstöberte, das die Aufmerksamkeit einer Frau auf sich ziehen würde. Er war sich nicht sicher, ob es etwas mit dem Stein zu tun hatte, oder damit, dass er ihn trug, aber Lynnea …
»Wenn du weiter an das denkst, woran du gerade denkst, hast du gleich in aller Öffentlichkeit einen stehen«, sagte Teaser ungerührt.
»Das ist geschmacklos.«
»Ich sag ja bloß, wie es ist. Und da wir alle wissen, wer dich zur Zeit so erregt -«
»Warum bist du nicht auf Streifzug?«
Teaser verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Weil sich das letzte Mal, als ich eine attraktive Frau gesehen habe, an der ich gern herumgeknabbert hätte, herausgestellt hat, dass sie deine Tante ist.«
»Ich versuche, das zu vergessen.«
»Ich auch.«
»Versuch es härter.«
Teaser seufzte und wollte sich der Straße zuwenden. »In Ordnung. Ich ziehe ein bisschen herum und - Tageslicht! Was macht einer von denen hier?«
Sebastian folgte seinem Blick und fühlte, wie ihn im selben Moment heiße Wut und der kalte Schauer der Angst packten. »Sprich mit den Bullendämonen«, sagte er leise, während er dabei zusah, wie der Zauberer die Straße entlangstolperte. »Sag ihnen, sie sollen auf Lynnea aufpassen und sie beschützen.«
»Wirst du ungemütlich, wenn sie anfangen, Leute aufzuspießen oder Schädel einzuschlagen?«
»Nein.«
»Gut.« Teaser sah Sebastian an. »Er kann genauso Blitze heraufbeschwören. Denk daran. Wenn es drauf ankommt, musst du derjenige sein, der noch steht, wenn es vorüber ist.«
»Mach dir keine Sorgen«, knurrte Sebastian. »Das werde ich.«
Er schritt die Straße hinauf, wusste, dass der Zauberer ihn in dem Moment erkannte, in dem er begann, sich zu bewegen - und das war mehr, als er von sich behaupten konnte. Am Gang hätte er den Zauberer nicht erkannt. Noch nie hatte er Koltak so schmutzig und erschöpft gesehen. Offensichtlich war seine Reise in den Pfuhl lang und beschwerlich gewesen.
Aber Koltak hätte nicht in der Lage sein dürfen, den Pfuhl überhaupt zu erreichen. Darüber musste Sebastian bei nächster Gelegenheit mit Lee sprechen. Wenn Koltak es geschafft hatte, einen Weg in den Pfuhl zu finden, was konnte dann mittlerweile noch durch Gloriannas Landschaften streifen?
Er blieb stehen und wartete, bis der Zauberer sich ihm bis auf eine Körperlänge genähert hatte. »Du bist hier nicht willkommen.«
»Sebastian«, keuchte Koltak. »Gefahr droht. Schreckliche Gefahr. Wir brauchen deine Hilfe. Du musst mich anhören.«
»So, wie du mich angehört hast, als ich dich um Hilfe gebeten habe? Geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist. Von uns hast du nichts zu erwarten.«
»Du musst mich anhören.« Koltak wollte die Hand heben, vielleicht um zu flehen, vielleicht aus einem anderen Grund.
Sebastian wartete nicht ab, bis er es herausfand. Seine Hand schoss nach oben. Knisternd durchströmte ihn die Macht, ballte sich in seinen Fingerspitzen, wartete darauf, losgelassen zu werden.
Koltak starrte die Hand an und ließ dann seine eigene langsam sinken. »So. Die Macht in dir ist erwacht. Du bist ein Zauberer.«
»Ein Rechtsbringer«, fauchte Sebastian. »Ich erwarte nicht von dir, dass du den Unterschied verstehst.«
»Das tue ich aber«, rief Koltak. »Das tue ich! Ich -« Er schwankte. »Sebastian, wenn noch irgendetwas Menschliches in dir steckt, zeig ein wenig Mitleid.«
»Komm mir nicht damit, alter Mann. Du hast immer gesagt, in mir sei nichts Menschliches. Du wolltest nie ein menschliches Wesen in mir sehen. Und jetzt -«
»Glaubst du, mir fällt das leicht?«, knurrte Koltak, jetzt wieder mit dem vertrauten, zornigen Gift in der Stimme. »Denkst du, ich krieche gerne vor dir, damit du mir hilfst? Glaubst du, ich bin gerne hier? Aber ich bin bereit, unsere Differenzen zu bereinigen, um Ephemera zu retten. Bist du Rechtsbringer genug, um das Gleiche zu tun? Oder lässt du zu, dass alles vernichtet wird, nur um mir zu zeigen, was du von mir hältst?«
Um Ephemera zu retten. Was für ihn bedeutete, Gloriannas und Nadias Landschaften zu retten. Was bedeutete, den Pfuhl zu retten, den Ort, den zu schützen er versprochen hatte. Was ebenso bedeutete, Lynnea zu beschützen.
»Komm mit«, sagte Sebastian. »Wir besorgen dir etwas zu essen - und ich werde dich anhören.«
Als er Koltak zurück zu Philo führte, ging Sebastian eilig am Rande des Hofes entlang, bis er die Tür zum Innenraum erreichte. Koltak roch schlecht genug, um jedem außer den Bullendämonen die Lust am Essen zu verderben, und so war es ein Akt der Güte, den Mann so schnell wie möglich von Philos Gästen fortzubringen. Er hielt Koltak die Tür auf, atmete noch einmal tief die frische Luft ein und betrat den Raum.
Koltak taumelte zum nächsten Stuhl und brach darauf zusammen.
Mit dem Gedanken, dass ein starker Schnupfen seine Vorteile hatte und dem Wunsch, er möge die kommende Stunde daran leiden, zog Sebastian zögerlich den Stuhl unter der anderen Seite des Tisches hervor und setzte sich.
»Lange Reise?«, fragte Sebastian ungeduldig und machte deutlich, dass die Reise, egal wie lang sie auch gewesen sein mochte, nicht lang genug gewesen war. In den Augen des Zauberers blitzte Ärger auf
»Ja« antwortete Koltak dennoch mit beherrschter Stimme, »es war eine lange Reise.«
Was kann er von mir wollen, dass er sich die Mühe gibt, höflich zu bleiben? Und warum machten ihn die Worte »eine lange Reise« nervös, als hielte sich etwas Bedeutsames gerade außerhalb der Reichweite seiner Erinnerung?
Die innere Tür schwang auf. Mit einem Tablett bewaffnet betrat Teaser den Raum, stellte zwei dampfende Schüsseln mit Wasser, zwei Handtücher und einen Teller mit zwei Stückchen Seife auf den Tisch, die jemand von einem größeren Stück herunter geschnitten hatte, und ging dann wieder.
Sebastian beäugte die Seifenstücke und hoffte, dass jemand Brandon dazu brachte, das Messer abzuwaschen, bevor der Junge sich wieder dem Schneiden von Fleisch oder Gemüse zuwandte.
»Ist das … üblich?«, fragte Koltak und Verlegenheit färbte seine Wangen.
»Nein«, erwiderte Sebastian seelenruhig, während er nach einem Stück Seife griff. »Aber wenn es angeboten wird, nimmt man es dankend an.« Er wusch sich die Hände, trocknete sie ab, stellte alles zur Seite und lächelte seinen Vater herausfordernd an.
Als Koltak damit fertig war, den Schmutz von seinen Händen zu schrubben, kehrte Teaser mit einem Wasserkrug, einer Flasche Rotwein und ein paar Gläsern zurück, die so aussahen, als hätte er sie mitgenommen, weil sie sauber waren und gerade dastanden, denn diese Gläser nahm Philo normalerweise nicht für Wasser und Wein.
»Nicht besonders gut ausgebildet, oder?«, murrte Koltak, als er sich ein Glas Wasser einschenkte und es gierig hinunterstürzte.
»Er hilft nur aus.« Und Teaser hatte daran gedacht, die Schüsseln mit dem dreckigen Wasser und die Handtücher mitzunehmen. Sebastian war sich nicht sicher, ob er die Seife aus Versehen auf dem Tisch liegen gelassen hatte, oder ob er damit etwas sagen wollte.
»Dieses Frauenzimmer bedient nicht an den Tischen hier drinnen?«
Das Frauenzimmer werde ich einmal heiraten. Aber je weniger Koltak - und jeder andere Zauberer - über Lynnea wusste, desto besser. Trotzdem fragte er sich, was es über Koltak als Mann aussagte, dass eine Frau auf der anderen Seite des Hofes seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, wenn es angeblich so entscheidend war, mit seinem Sohn zu sprechen - und was es über einen Mann aussagte, dass er ernsthaft das Wort »Frauenzimmer« benutzte, was man im Pfuhl nur aussprach, um jemanden aufzuziehen.
»Nein, sie bedient nicht an den Tischen hier drinnen.«
Schwungvoll stieß Teaser die Tür nach innen zum dritten Mal auf. Er ließ zwei Löffel in die Mitte des Tisches fallen und leerte dann sein Tablett, auf dem zwei Schüsseln Rindfleischeintopf, ein Teller mit gewürfeltem Käse und ein Korb mit Phallischen Köstlichkeiten stand. Keine Butter.
Sebastian sah Teaser an. Teaser zuckte mit den Schultern und drehte sich um. Offensichtlich war Philo nicht der Meinung, dass der Besuch eine Delikatesse wie Butter verdiente. Oder Oliven.
Wahrscheinlich war es gut so, entschied Sebastian, als er eine Phallische Köstlichkeit aus dem Korb nahm. Er wollte die Mahlzeit schließlich nicht unnötig ausdehnen.
»Das ist widerwärtig«, sagte Koltak und starrte auf die Köstlichkeit in Sebastians Hand.
»Es ist Brot«, entgegnete Sebastian scharf. »Wenn du es wegen seiner Form nicht magst, dann iss es nicht.« Er ließ das Brot in die Schale mit Eintopf fallen, goss sich ein Glas Wein ein und lehnte sich zurück. Die Erkenntnis, dass er sich immer noch danach sehnte, dass sein Vater ihn akzeptierte, machte ihm zu schaffen. Es war sinnlos und unnötig, sich so zu fühlen. Schließlich war er sein ganzes Leben ohne die Anerkennung seines Vaters ausgekommen. Vor allem, weil die Äußerung über das »Frauenzimmer« ein Gefühl heraufbeschwor, das weniger eine Erinnerung, sondern eher ein verblasster Eindruck der Male war, in denen Koltak zu Nadia gekommen war, um ihn zurück in die Stadt der Zauberer zu schleppen, und sie auf der Reise gezwungen gewesen waren, in einem Gasthaus zu übernachten.
Wäre Koltak kein Zauberer gewesen, hätte er sich nicht hinter seiner Macht verstecken können. Dann wäre er nichts als ein geschmackloser, unsympathischer Mann gewesen. Vielleicht hat er mir damit, dass er sich geweigert hat, einen Inkubus als Sohn anzuerkennen, einen größeren Gefallen getan, als ich erkennen konnte. Anstatt von ihm lernen zu müssen, hatte ich Tante Nadia, die mir gezeigt hat, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein.
Koltak zögerte. Dann besiegte der Hunger den Ekel, und er nahm eine Köstlichkeit aus dem Korb und biss ein großes Stück ab. Die gleiche Mischung aus Missfallen und Hunger spiegelte sich auf seinem Gesicht wieder, als er sich über den Eintopf hermachte.
Sebastian hatte den Appetit verloren, trank Wein und sah seinem Vater dabei zu, wie er die Mahlzeit hinunterschlang. Während Koltak den letzten Rest Eintopf mit einem Stück Brot auftunkte, leerte er sein Glas, schob seine unberührte Schüssel zur Seite, beugte sich nach vorn und legte die Arme auf den Tisch.
»Was willst du?«, fragte er.
Koltak rülpste verhalten. Dann seufzte er. »Dein Bericht über die gewaltsamen Tode war nur der erste von vielen. Wenn der Rat zugehört hätte -«
»Wenn du zugehört hättest!«
Zorn blitzte in Koltaks Augen auf, bevor er den Blick senkte und auf die Tischplatte starrte. »Gut, in Ordnung. Wenn ich zugehört hätte. Es ist schlimmer, als du begreifst, Sebastian. Die Schule der Landschafferinnen wurde angegriffen.«
»Ich weiß.« Die Erinnerung an das, was er gesehen hatte, ließ den Wein in seinem Magen sauer werden. »Ich hatte in der Schule … zu tun …, aber ich kam zu spät. Ich habe niemanden gefunden, der noch am Leben war. Beinahe wäre ich selbst nicht mehr herausgekommen.«
»Dann hast du es gesehen. Du weißt es.«
»Dass der Weltenfresser entkommen ist und frei durch die Landschaften zieht? Ja, das weiß ich.«
Der Schrecken in Koltaks Augen konnte nicht gespielt sein.
»Nein«, sagte Koltak. »Nicht der Weltenfresser. Sogar -« Er verstummte, bemüht, die Fassung wiederzugewinnen. »Der Rat der Zauberer ist sich bewusst, dass einige der dunklen Landschaften, die aus der Welt genommen wurden, seit einiger Zeit in anderen Landschaften … auftauchen …, dass eine dunkle Macht die Landschaften beeinflusst, damit diese Orte wieder Zugang zum Rest der Welt haben. Diese Macht muss aufgehalten werden, muss vernichtet werden. Das siehst du doch ein?«
»Das sehe ich ein.«
»Dann musst du mit mir in die Stadt der Zauberer kommen und zum Rat sprechen.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Über die Morde hier im Pfuhl kann ich dir alles erzählen, was ich weiß. Ich beschreibe dir alles, was ich in der Schule der Landschafferinnen gesehen habe. Aber ich gehe nicht in die Stadt der Zauberer.« Seine Stimme wurde schärfer, als Koltak begann, zu protestieren. »Für mich besteht kein Grund, dorthin zu gehen, aber ich habe allen Grund, zu bleiben. Ich habe mein Wort gegeben, den Pfuhl zu beschützen.«
»Dann beschütze ihn!« Koltak presste sich die Handballen an die Schläfen, als versuche er angestrengt, die richtigen Worte zu finden. »Begreifst du nicht, was ohne die Landschafferinnen mit Ephemera geschehen wird?«
»Die Landschaften werden verwundbar. Der Weltenfresser wird in der Lage sein, Veränderungen zu -«
»Du Narr! Es ist schlimmer als das.« Koltak ballte die Hände zu Fäusten und schlug sie auf den Tisch. »Ohne die Landschafferinnen gibt es nichts, das zwischen Ephemera und dem menschlichen Herzen steht. Die dunklen Landschaften werden den Wahnsinn nur noch verstärken. Stell es dir vor, Sebastian. Ein Baby weint, und im Brunnen der Familie steht auf einmal Salzwasser - untrinkbar. Zwei Mädchen, die sich als Rivalinnen betrachten, treffen vor einem Süßwarengeschäft aufeinander und streiten sich - und plötzlich brechen Felsbrocken aus der Straße, Wagen und Kutschen, die keinen Weg hindurch finden, bleiben stecken und möglicherweise werden sogar Menschen verletzt. Ephemera lässt Gefühle Gestalt annehmen. Das hat es schon immer getan. Die Landschafferinnen sind die Einzigen, die in der Lage sind, diesem Vorgang Grenzen zu setzen.«
Fassungslos lehnte Sebastian sich zurück. War es das, was Glorianna gemeint hatte, als sie sagte, er sei ein Anker? Dass seine Gefühle für den Pfuhl, seine Liebe zu diesem Ort, ihn im Gleichgewicht hielten? Aber nicht nur seine Gefühle, sondern ihre Gefühle ebenso. Glorianna Belladonnas Resonanz hallte durch den Pfuhl.
Aber irgendetwas von dem, was Koltak sagte, stimmte nicht ganz. Wenn der Anker des Pfuhls eine Person war, hätten dann andere Orte nicht ebenfalls einen solchen Anker haben müssen? Schließlich bestimmte die Signaturresonanz einer Landschafferin vielleicht die »Atmosphäre« ihrer eigenen Landschaften, aber sie konnte nicht überall zur gleichen Zeit sein.
Und warum spürte er auf einmal einen solchen Druck im Kopf, als stieße etwas von innen an seine Schädeldecke? Konnte der Wunsch nach Schnupfen ihn wirklich krank machen? Wenn das der Fall war, würde er sich von nun an nur noch gesunde Gedanken machen.
»Du glaubst, du seiest hier sicher«, sagte Koltak. »Und vielleicht bist du das auch eine Weile. Aber wie lange wird dieser Ort standhalten, wenn der Rest Ephemeras aus dem Gleichgewicht gerät? Der Aufruhr wird sich ausbreiten - und alle mit sich in den Untergang reißen.«
»Wie …« Sebastian goss sich noch Wein ein und stürzte ihn in einem Zug hinunter, in dem Versuch, sich die Kehle auszuspülen und in der Hoffnung, den Kopf frei zu bekommen. »Wie soll ich dir dabei helfen, diese Entwicklung aufzuhalten?«
»Wir versuchen, alle Landschafferinnen zu finden, die noch dort draußen sind und ihnen die Warnung zukommen zu lassen, möglichst nicht in die Schule zurückzukehren. Wir wussten, dass in der Schule etwas geschah, etwas Schreckliches, aber wir konnten nicht herausfinden, was es war. Alle Zauberer, die gegangen sind, um Nachforschungen anzustellen, sind nicht zurückgekehrt. Wir kämpfen blind, Sebastian. Einige der Brücken sind zerstört worden, und zu etlichen Landschaften haben wir keinen Zugang mehr. So sind wir nicht in der Lage, die Menschen, die vielleicht um ihr Überleben kämpfen, zu erreichen oder ihnen zu helfen. Der Rat will mir dir sprechen, weil du uns von den Morden, die hier stattgefunden haben, berichten, und uns eine Vorstellung davon verschaffen könntest, was aus diesen versteckten, dunklen Landschaften herausgekommen ist. Aber du hast auch die Schule gesehen. Du bist der Einzige, der sie gesehen hat. Du bist der Einzige, der uns sagen kann, was wir gegenüberstehen. Du musst mich begleiten!«
»Nein.« Sebastian rieb sich die Stirn. Was Koltak sagte, ergab Sinn. Warum war er so stur? Koltak zu begleiten, um zu berichten, was er gesehen hatte, war richtig. Oder etwa nicht?
Koltak seufzte. »Ich habe mich freiwillig gemeldet, zu versuchen, dich zu finden. Um wiedergutzumachen, dass ich nicht auf dich gehört habe, als du gekommen bist, um mich um Hilfe zu bitten. Wäre statt meiner ein anderer Zauberer gekommen, hätte dir die Dinge gesagt, die ich dir gerade gesagt habe, wärst du bereit gewesen, das Richtige zu tun? Du nennst dich einen Rechtsbringer. Beginnt und endet deine Gerechtigkeit - und dein Mitleid - mit den Straßen dieses Ortes? Ich war kein guter Vater. Das weiß ich. Aber was ich in der Vergangenheit getan oder nicht getan habe, spielt jetzt keine Rolle. Darf jetzt keine Rolle spielen. Einzig die Rettung Ephemeras ist von Bedeutung, und was das betrifft, so kämpfen wir, denke ich, beide auf der gleichen Seite.«
Aus Koltaks Worten sprach Wahrheit. Ihre Resonanz hallte in Sebastian wider. Aber etwas in ihm leistete noch immer Widerstand. Hätte er mit Koltak Karten gespielt, wäre er schon lange vom Tisch aufgestanden und hätte auf sein Bauchgefühl gehört, das ihm sagte, dass dieser Mann ein Betrüger war. Aber er kam einfach nicht darauf, warum er das Gefühl nicht loswurde, dass Koltaks Wahrheit irgendwie eine Lüge war.
Aber etwas gab es, das Koltak nicht berücksichtigt hatte: Alles, was er von den Zauberern erfuhr, würde er an Nadia, Glorianna und Lee weitergeben.
»Wo bist du übergetreten?«, fragte er.
»An einer Brücke aus Brettern in Sichtweite der Stadt der Zauberer. Ich bin in einer dunklen Landschaft gelandet. Dämonen in Pferdegestalt streiften dort umher.«
»Ich kenne den Ort.« Er hatte dieselbe Brücke überquert, als er aus der Stadt der Zauberer geflohen war. Offensichtlich hatte Lee nicht alle Brücken gefunden, die einen Zugang aus der Stadt der Zauberer in die Landschaften Belladonnas schaffen konnten.
»In Ordnung«, sagte Sebastian. »Ich begleite dich. Jedenfalls bis zur Brücke. An diesem Punkt werde ich entscheiden, ob ich mit dir in die Stadt der Zauberer gehe oder nicht.« Er runzelte die Stirn. Es gab etwas über Ephemera zu wissen, an das er sich erinnern sollte. Aber der Gedanke tanzte gerade so weit am Rande seines Verstandes, dass er ihn nicht zu fassen bekam. »Ich werde dir ein Zimmer besorgen, in dem du ein paar Stunden schlafen kannst, und dann -«
»Dafür bleibt uns keine Zeit!« Verzweiflung klang aus Koltaks Stimme. »Ich habe Tage gebraucht, um dich zu finden. Wer weiß, was in den anderen Landschaften geschehen ist, während ich nach dir gesucht habe.«
Da war es wieder. Dieses Gefühl, dass etwas nicht stimmte. »Du hast Tage damit verbracht, durch die Landschaft der Wasserpferde zu wandern?«
»Ich habe Brücken überquert, in der Hoffnung, eine von ihnen würde zu dir führen. Bin in Orten namens Dunberry und Foggy Downs und so weiter in einigen anderen Teilen der Welt gelandet.«
Von diesen Orten hatte er noch nie etwas gehört. »Und du hast die Stadt der Zauberer zu Fuß verlassen? Ohne Proviant?«
»Ich wurde … angegriffen«, erwiderte Koltak. »Mein Pferd wurde getötet. Ich bin entkommen. Und danach habe ich endlich den Weg hierher gefunden.«
Wenn er ein wenig mehr Zeit hätte, könnte er vielleicht herausfinden, was ihn an all dem so störte. »Du musst dich ausruhen.«
»Ich ruhe mich aus, wenn meine Aufgabe erledigt ist. Wenn ich getan habe, was ich konnte, um Ephemera wieder zu einem sicheren Ort zu machen.«
Die ruhige Würde in Koltaks Stimme traf Sebastian genau ins Herz, fegte jeden Zweifel beiseite.
»Ich muss zurück ins Bordell und ein paar Sachen einpacken. Ein paar Anweisungen hinterlassen«, erklärte er.
Koltak schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Ich gehe mit dir, wenn du keine Einwände hast.«
Sebastian nickte nur. »Warte eine Minute hier.«
Er erwischte Lynnea gerade, als sie mit einer weiteren Bestellung den Hof betrat.
»Sebastian, wer ist dieser Mann? Teaser hat gesagt, er ist ein Zauberer und ein schlechter Mensch.«
Er ist mein Vater. Und ich glaube auch nicht, dass er ein guter Mensch ist. »Ich muss dich ein paar Tage verlassen. Höchstens drei. Schlimme Dinge geschehen in den anderen Landschaften. Die Zauberer - die anderen Rechtsbringer - haben mich um Hilfe gebeten. Ich muss gehen, Lynnea.«
Sorge sprach aus ihren Augen.
Sebastian strich sanft mit einem Finger über ihre Wange. »Pass auf dich auf, in Ordnung? Bitte einen der Bullendämonen, dich zurück zum Bordell zu begleiten, wenn Teaser nicht in der Nähe ist.«
»Das werde ich.«
»Und vermiss mich ein wenig.«
»Das tue ich jetzt schon.«
Er trat zur Seite, damit sie das Essen auf ihrem Tablett servieren konnte. Dann entdeckte er Teaser.
»Hat dieser Zauberer dein Gehirn weichgekocht?«, fragte Teaser, bevor Sebastian damit fertig war, ihm den Grund für seine Abreise zu erklären.
So ungefähr fühlte sich sein Kopf auch an, aber das sagte er Teaser nicht. »Ich tue das Richtige.«
»Für sie vielleicht.«
»Teaser.«
»Ich sage nur, wie es ist.«
»Ich muss gehen.«
»Warum? Wir treiben mit diesen Landschaften sowieso keinen Handel.«
Frustration ergriff Sebastian. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Teaser ihn wegen seiner Entscheidung angreifen würde. »Bist du sicher, dass wir nicht mit ihnen handeln? Bist du sicher, dass wir überleben können, wenn diese anderen Landschaften zerstört werden? Ich bin nicht sicher.«
Teaser wandte den Blick ab.
»Ich werde Lee eine Nachricht hinterlassen, um ihn über die Brücke und die Orte, die Koltak durch die Landschaft der Wasserpferde erreichen konnte, zu informieren. Ich lege sie in dein Zimmer. Wenn er auftaucht, bevor ich wieder da bin, musst du dich darum kümmern, dass er die Nachricht erhält. Und pass auf Lynnea auf.«
»Wir werden wohl aufeinander aufpassen. Wie eine Familie, irgendwie.«
Als er Teasers wehmütiges Lächeln sah, stieg in Sebastian das Gefühl auf, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen. »Wir sind eine Familie.«
Erfreut und verlegen deutete Teaser mit dem Kopf auf die Tür zum Innenraum. »Da ist einer ungeduldig.«
Wie lange hatte Koltak schon in der Tür gestanden und ihm zugesehen?
»Sebastian?«, fragte Teaser. »Reise leichten Herzens.«
»Ich komme zurück, so schnell ich kann.« Als er sich von Teaser entfernte und an der Tür vorüberging, wandte er sich an Koltak: »Gehen wir.«
Sebastian zuzuschauen, war wie seinen Bruder Peter wiederzusehen. Die gleiche undefinierbare Eigenschaft, die Menschen zu ihm hinzog, die sie dazu brachte, ihm zuzuhören. Die gleiche Mischung aus Charme und eiserner Härte. Peter Rechtsbringer. Nie Peter, Zauberer der Dritten Stufe, oder Magier Peter. Es war ihm nie darum gegangen, etwas darzustellen - nicht Peter. Ihm war es immer um Gerechtigkeit gegangen.
Aber der Glaube an die Gerechtigkeit hatte Peter nicht davon abgehalten, auf Nimmerwiedersehen in den Landschaften zu verschwinden.
Natürlich hatte niemand in der Stadt der Zauberer gewusst, dass der gute Peter zwei Kinder mit einer Landschafferin gezeugt hatte. Vielleicht war sein Verschwinden also auch eine Art von Gerechtigkeit - die Strafe dafür, die Gesetze gebrochen zu haben.
Koltak verdrängte diese Gedanken, als Sebastian ein Gespräch mit einem Dämon beendete, der offenbar in einem zweirädrigen Gefährt hauste.
»Die Dämonenräder werden uns bis zur Brücke bringen, die in die Stadt der Zauberer führt«, sagte Sebastian, als er zu der Ecke zurückkehrte, an der Koltak wartete. »Danach werden wir, sowie die Wächter und Wahrer wollen, jemanden finden, der uns mitnimmt.«
Wir. Sebastian hatte wir gesagt. Die Gedankenkontrolle funktionierte.
Um Ephemera zu retten, wiederholte Koltak immer wieder stumm. Zum Wohl Ephemeras.
Sie gingen eine Seitenstraße hinunter und betraten ein Gebäude, das in der Mitte des Häuserblocks lag.
Das Gebäude war vornehm und gepflegt. Er hatte Orte wie diesen in den Städten vieler Landschaften gesehen, schließlich hatte er Bedürfnisse wie jeder andere Mann. Aber er hatte nur einziges Mal ein Haus gesehen, das so teuer aussah - als ihm eine wohlhabende Familie als Gegenleistung für einen Gefallen ein Zimmer und eine Frau bezahlt hatte. Das alles war natürlich sehr diskret geschehen, versteht sich.
Sebastian hielt am Fuße der Treppe inne, als beunruhige ihn etwas. Koltak nahm seine ewiggleichen Wiederholungen wieder auf. Um Ephemera zu retten. Zum Wohl Ephemeras.
Der Raum im dritten Stock war groß genug, um über eine eigene Sitzgruppe zu verfügen. Er schrie nicht nach »käuflicher Liebe«. Es sah so aus, als hätte Sebastian gut für sich gesorgt.
Die Ausstrahlung des Zimmers war männlich, aber er entdeckte auch einen Hauch von Weiblichkeit.
»Du wohnst mit einer Frau zusammen?«, fragte Koltak und wunderte sich, wie ein Inkubus mit einer Frau im Haus wohl seinen Geschäften nachging.
»Das geht dich nichts an«, sagte Sebastian scharf und zog ein Bündel aus den Tiefen des Kleiderschrankes.
»Nein, tut es nicht.« Er bemerkte erneut, wie Sebastian zögerte. Der Junge hatte schon immer einen eisernen Willen besessen. Um Ephemera zu retten. Zum Wohl Ephemeras.
Zwei Garnituren Unterwäsche wanderten in das Bündel. Zwei Hemden.
Dann ging Sebastian durch eine Tür und schloss sie hinter sich. Einen Moment darauf vernahm Koltak das Krachen und Knacken alter Wasserrohre.
Nicht sicher, wie lange Sebastian beschäftigt sein würde, ließ Koltak seinen Blick durch den Raum schweifen, während er in die Innentasche seiner Robe griff und das gefaltete, versiegelte Stück Papier herauszog, das die Erlösung Ephemeras enthielt. Er hatte sich Sorgen gemacht, dass er keinen passenden Ort finden könnte, an dem er das Schriftstück hinterlassen konnte - einen Ort, an dem man es zwar ganz bestimmt, aber nicht zu schnell entdecken würde. Dies Problem hatte Sebastian praktischerweise dadurch für ihn gelöst, dass er mit einer Frau zusammenlebte.
Das Knacken der Wasserrohre verstummte.
Koltak steckte das Papier zwischen das Sitzkissen und die Lehne eines Sessels und ließ es dabei gerade so weit hervorstehen, dass es den Blick auf sich zog.
»Fertig?«, fragte Koltak, als Sebastian in den Raum zurückkehrte, und trat einen Schritt zur Seite, um den Sessel zu verbergen und zu verhindern, dass Sebastian das Schriftstück bemerkte.
»Gehen wir.«
Als sie die Straße erreichten und Koltak die zwei Dämonen erblickte, die auf sie warteten, sträubte er sich. »Nein.«
Sebastian rückte das Bündel auf seinem Rücken zurecht und schwang dann ein Bein über den Ledersitz des Gefährts. »Du bist derjenige, der darauf besteht, dass wir so schnell wie möglich ankommen. Die Dämonenräder sind die schnellste Reisemöglichkeit.«
Widerwillig bestieg Koltak das andere Dämonenrad und stellte seine Füße auf die Fußrasten, wie Sebastian es getan hatte.
»Halt dich fest«, sagte Sebastian.
Koltaks Hände schmerzten, so fest umklammerte er den Lenker. Als die Räder ruhig über die Hauptstraße schwebten, entspannte er sich ein wenig. Sie waren nicht schneller, als ein Pferd laufen konnte. Warum hatten sie statt dieser Kreaturen kein natürliches Wesen benutzen können?
»Was glaubst du, wie viele Tage werden wir brauchen, um die Brücke zu erreichen?«, fragte er.
Sebastian sah ihn an, sein Gesichtsausdruck zögernd und verwirrt.
Er musste aufhören, nach der Zeit zu fragen. Der Junge war nicht dumm. Wenn er genug Zeit bekam, um über das Wesen Ephemeras nachzudenken, würde Sebastian die richtigen Schlüsse ziehen, und das wäre katastrophal. Wir müssen schnell sein, um Ephemera zu retten. Müssen die Brücke finden, um Ephemera zu beschützen.
Sebastian grinste verschlagen. »So lange wird es nicht dauern.«
Sie fuhren langsam die Hauptstraße entlang, bis sie den Schotterweg erreichten. Dann …
Koltak schrie auf, als die Dämonenräder nach vorne schossen und mit einer Geschwindigkeit über die Straße rasten, die ein galoppierendes Pferd weder erreichen noch halten könnte. Das Cottage flog vorüber. Sebastian rief: »Grenzlinie voraus.«
Die Räder hoben sich wie ein Pferd, das über einen Zaun springt. Koltak hatte keine Ahnung, ob es notwendig war, die Grenzlinie von dieser Seite aus zu überqueren, oder ob es der widerwärtige Versuch des Dämons war, ihn so zu ängstigen, dass er sich in die Hose machte.
Der Boden, über den er sich geschleppt hatte, flog unter ihm hinweg. Der Mond, jetzt beinahe voll, erhellte das Land und verlieh ihm eine seltsame Schönheit und einen Frieden, den er während all der Zeit, die er in dieser Landschaft gefangen gewesen war, nicht bemerkt oder gespürt hatte.
Die Dämonen grollten und wurden langsamer, als sie sich einem Ring aus Felsgestein näherten. Inmitten des Ringes befand sich etwas, das aussah, wie fahle, unfruchtbare Erde.
»Es ist Sand«, sagte Sebastian. Er lehnte sich nach vorne und tippte dem Dämon auf die Schulter. »Bring uns ein bisschen näher ran, aber flieg langsam. Sei vorsichtig.«
Der Dämon schob sich bis auf Armeslänge an den Ort heran.
»Wir haben den falschen Weg genommen«, sagte Koltak. »Ich kann mich nicht daran erinnern, einen Ort wie diesen auf dem Hinweg gesehen zu haben.«
»Nein«, sagte Sebastian mit seltsam klingender Stimme und hob eine Hand, um auf etwas zu zeigen, das halb vergraben im Sand lag. »Ich glaube, es ist der richtige Weg. Sieh doch.«
Koltak keuchte auf, als er erkannte, dass er auf den abgetrennten Pferdekopf blickte, den er zurück gelassen hatte. »Aber … so hat es vorher nicht ausgesehen.«
»Die Landschaft ist verändert worden. Ich glaube, wenn man über die Steine, die den Sand einfassen, hinweggeht, landet man in einer Landschaft, die weit von hier entfernt liegt.« Sebastian sah Koltak an, Vorsicht sprach aus jeder Faser seines Körpers. »Was hat das Pferd getötet?«
»Was spielt das für eine Rolle?«, erwiderte Koltak und versuchte, seine Angst mit gerechtem Zorn zurückzudrängen. Sie hatte dies getan. Musste es getan haben. Hatte sie eine ungeschützte Landschaft in diese Ödnis verwandelt? Gab es dort draußen Städte, plötzlich von Sand überflutet?
»Was hat das Pferd getötet?«, fragte Sebastian.
»Todesdreher. Da waren Todesdreher in dem Teich.«
Sebastian atmete tief ein und langsam wieder aus. »Sieht nicht so aus, als würden sie dort, wo sie jetzt sind, noch Wasser finden. Komm. Wenn dies derselbe Teich war, sind wir nicht sehr weit von der Brücke entfernt. Ich kann nicht länger als ein paar Stunden gelaufen sein, bevor ich auf das Wasserpferd gestoßen bin.« Er hielt inne und fuhr dann leise fort: »Ich frage mich, was wohl mit ihm geschehen ist.«
Zum Wohl Ephemeras, wiederholte Koltak stumm. Um Ephemera zu retten.
Sie gingen nach Norden. Soweit es Koltak betraf, sah ein Hügel aus wie der andere, genauso wie eine Baumgruppe ungefähr so aussah wie alle anderen, aber Sebastian blieb an jeder Baumgruppe stehen und umkreiste sie, um sie aus allen Richtungen zu betrachten.
»Es ist diese hier«, sagte Sebastian. »Nachdem ich die Brücke überquert hatte und eine Weile gelaufen war, habe ich mich an einer Baumgruppe nach Süden gewandt. Ich glaube, es ist diese hier.«
Koltak biss sich auf die Zunge, um nichts Unbedachtes zu sagen. Er konnte nicht riskieren, etwas auszusprechen, das Sebastians Konzentration darauf, die Brücke zu erreichen, erschüttern würde.
Sie wandten sich nach Westen und erreichten in kürzerer Zeit, als Koltak für möglich gehalten hätte, einen schmalen Bach.
Aber keine Brücke. Kein Zeichen der Holzplanken.
Die Dämonenräder drehten nach Norden ab und folgten dem Wasserlauf.
»Ich sehe die Planken!«, sagte Koltak mit vor Aufregung klopfendem Herzen. Er hatte es beinahe geschafft. Wenn Dalton ihn nicht im Stich ließ …
Plötzlich schwenkten die Dämonenräder vom Bach ab und gaben ein bösartiges Knurren von sich. Sie fuhren im Kreis zurück und blieben nördlich der Planken stehen, mit Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Etwas war hier«, sagte Sebastian leise. »Etwas Bösartiges.« Er sah die zwei Dämonen an, die endlich aufhörten, zu knurren. »Aber ich glaube nicht, dass es noch hier ist.« Er blickte nach Osten - in die Richtung, in der der Pfuhl lag.
Nein, dachte Koltak. Nein. Nicht jetzt. Um Ephemera zu retten. Zum Wohl Ephemeras.
Sebastian beugte sich vor und flüsterte dem Dämon etwas ins Ohr - und fuhr fort, zu flüstern, bis der Dämon zustimmend mit dem Kopf nickte. Dann schwang er sich von dem Rad und rückte sein Bündel zurecht.
Koltak beeilte sich, es ihm gleichzutun. Nervosität ergriff ihn, als die Dämonenräder nicht davonfuhren, sondern sich nur ein paar Körperlängen von der Brücke entfernten.
»Sie werden eine Weile warten, falls wir sie brauchen«, sagte Sebastian. »Sollte auf der anderen Seite etwas Schlimmes auf uns lauern, brauchen wir eine Möglichkeit, schnell wegzukommen.«
Es verletzte seinen Stolz, aber er verlieh seiner Stimme einen ängstlichen, schwachen Klang. »Würde es dir etwas ausmachen, zuerst hinüberzugehen, Sebastian? Wenn es Schwierigkeiten gibt, du bist jünger und … besser in Form … um über die Brücke zurückzulaufen.«
Sebastian zögerte.
Zum Wohl Ephemeras. Um Ephemera zu retten.
Dann bewegte sich der Inkubus auf die Brücke zu, prüfte mit jedem Schritt den Boden und hielt die Augen auf die Stelle gerichtet, die den Dämonenrädern nicht gefiel. Ein Fuß auf den hölzernen Planken. Beide Füße. Ein Schritt auf die andere Seite zu. Noch einer.
Koltak eilte zur Brücke und betrat die Planken. Sebastian stand am anderen Ende. Noch einen Schritt, und es wäre vollbracht.
Aber er ging den Schritt nicht. Stand einfach nur da.
Koltak stürzte nach vorne, versetzte Sebastian einen festen Stoß und beförderte den jungen Mann stolpernd von der Brücke.
»Ergreift ihn!«, rief Koltak, als er den letzten Schritt machte, der ihn zurück in die Landschaft bringen würde, in der all sein Ehrgeiz endlich Früchte tragen würde.
Sein Herz füllte sich mit Freude, als er zusah, wie Sebastian versuchte, zwei Wachen abzuwehren. Der Stoß mit dem Knie in die Leistengegend ließ einen Wachmann würgend zur Seite rollen. Der andere Mann wirkte fähiger, versuchte aber, Sebastian einfach nur festzuhalten.
»Du verlogener Bastard!«, schrie Sebastian und riss sich fast vom anderen Wachmann los, bevor Dalton und ein weiterer Mann die Brücke erreichen konnten.
Im flackernden Licht der Fackeln, die zu beiden Seiten der Brücke aufgestellt waren, erkannte Koltak die Absicht in Sebastians Augen, konnte sich aber nicht schnell genug bewegen, um zu verhindern, dass er getroffen wurde.
Blitze schossen aus Sebastians Hand. Der Treffer wäre tödlich gewesen, hätte der Wachmann Sebastian nicht einen Schlag gegen den Kopf versetzt, so dass dieser sein Ziel verfehlte.
Koltak spürte, wie die Macht durch seinen linken Fuß fuhr, als Sebastian, von dem Schlag betäubt, zu Boden ging.
»Bindet ihn, bevor er noch mehr Schaden anrichten kann«, befahl Dalton scharf.
Einer der Männer löste ein Seil, das an seinem Gürtel hing, während der andere Sebastian das Bündel abnahm. Koltak wartete, bis Sebastians Hände hinter seinem Rücken gebunden waren, bevor er sich hinkend seinem Sohn näherte.
Der Schmerz war grauenhaft, und er vermutete, dass er die Zehen an jenem Fuß verloren hatte. Aber er humpelte noch einen Schritt nach vorne, hob die Hand …
… und Dalton stellte sich vor ihn.
»Nein«, sagte Dalton. »Ihr könnt keinen wehrlosen Mann niederschlagen.«
»Ohne Beine wird er uns weniger Schwierigkeiten bereiten«, knurrte Koltak.
Er sah das Entsetzen in Daltons Augen und erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Dieser Hauptmann der Wache taugte nicht dazu, den Machthabern in der Stadt der Zauberer zu dienen. Aber das würde Koltak richten. Vorläufig brauchte er Dalton und seine Männer.
»Ihr habt recht«, sagte Koltak. »Ich habe nicht nachgedacht. Eine Reaktion auf den Schmerz.«
Dalton nickte, aber es war deutlich, dass der Mann nicht überzeugt war.
»Sag mir, warum«, keuchte Sebastian.
Dalton zögerte und trat dann zur Seite.
Koltak starrte seinen Sohn an. Das Blut, das Sebastians Haar und Gesicht verschmierte, befriedigte ihn ein wenig, aber nicht genug. Nicht annähernd genug.
»Ich bin dir nicht von Nutzen«, sagte Sebastian. »Warum nimmst du all diese Schwierigkeiten auf dich, um mich hierher zu bringen?«
»Aber du bist uns von Nutzen«, sagte Koltak. »Du wirst uns den Feind ausliefern. Wir hatten keine Möglichkeit, Nadia oder Lee zu erreichen, also bist du der Einzige, zu dessen Rettung sie kommen wird.«
»Nein.« Sebastian stöhnte. »Nein.«
»Ja.« Koltak lächelte. »Siehst du? Ich habe dich nicht angelogen. Indem du Belladonna hierher bringst, wo wir sie vernichten können, wirst du Ephemera retten.«
Ich weiß nicht, wie die Dinge an anderen Orten der Welt gehandhabt werden, aber hier in den Landschaften gibt es drei Arten der Rechtssprechung: das Urteil des Alltags, das Urteil der Zauberer und das Urteil des Herzens.
Das Urteil des Alltags wird von Gesetzeshütern und Magistraten vollstreckt, die Gericht halten, um geringere Vergehen zu bestrafen und Streitigkeiten beizulegen, die an jedem Ort aufkommen, an dem sich Menschen versammeln, um dort zu leben.
Jedes Mal, wenn Gewalt zum Einsatz kommt, wird ein Zauberer gerufen, um die Strafe festzulegen. Manchmal besteht sie in dem Blitz, den die Magier hervorrufen können. Obwohl er Höllenqualen verursacht, bedeutet er dennoch einen schnellen Tod.
Aber manchmal erfordert die Strafe etwas weniger und doch mehr als den Tod, und der Zauberer wird die Nachricht aussenden, dass eine Landschafferin gebraucht wird, um das Urteil des Herzens zu vollstrecken.
Nichts weckt größere Angst - und größere Hoffnung - als das Urteil des Herzens. Die Landschafferin schafft eine direkte Verbindung zwischen Ephemera und dem Angeklagten und diese Person wird in die dunkelste Landschaft geschickt, deren Resonanz in ihrem Herzen klingt. Dieser Strafe kann man nicht entgehen, denn in welcher Landschaft die Person auch endet, sie muss mit dem Wissen leben, dass dieser Ort widerspiegelt, was sie ist, und dass alle Not, die sie hier durchleidet, ihrem eigenen Herzen entspringt.
Aber ebenso besteht die Hoffnung, dass eine Person aus ihrer Vergangenheit lernen und sich stark genug verändern kann, so dass sie, eines Tages in der Lage sein wird, in eine andere, freundlichere Landschaft überzutreten.
Obschon jene Person zumeist in irgendeinem trostlosen Ort der Welt verschwindet und nie wieder gesehen wird.
- Des Magistrats Buch der Gerechtigkeit