Kapitel Neunzehn
Mit Jeb an ihrer Seite und einer Reisetasche über der Schulter lief Nadia die Hauptstraße des Sündenpfuhls entlang. Dabei beschwerte sie sich darüber, wie albern dieser Besuch war, während sie den mitgebrachten Korb von einer Hand in die andere nahm. Immer wieder ertönten plötzlich Musik und Stimmengewirr, wenn sich die Türen der Tavernen und Varietétheater öffneten und schlossen. Die farbigen Lampenglocken der Straßenlaternen verliehen dem Licht etwas Festliches, anstatt für einfache Beleuchtung zu sorgen. Es ließ sie an den spätabendlichen Teil eines Erntefestes denken - die Zelte und Buden, deren Existenz die meisten Besucher eines Festes nicht wahrnahmen. Es herrschte eine aufgeladene Stimmung, und die Niedertracht, die in der Resonanz mitschwang, reichte aus, um sich an dem Samenkorn des Zweifels zu reiben, das sich während der letzten Tage in ihrem Herzen eingenistet hatte.
»Ich verstehe nicht, warum wir das nicht im Cottage lassen konnten«, murrte Jeb.
»Es sah nicht so aus, als wohne jemand im Cottage«, erwiderte Nadia und versuchte, die Unruhe zu ignorieren, die sie befallen hatte, als sie feststellen musste, dass Sebastian den Ort verlassen hatte, der ihm die letzten zehn Jahre ein Zuhause gewesen war. »Ich möchte sehen, wie es Lynnea geht, das ist alles. Und ich wollte mir den Pfuhl anschauen.«
»Es gibt ihn jetzt seit ein paar Jahren«, sagte Jeb und sah sie mit der Aufmerksamkeit eines Mannes an, der in den letzten Nächten zu oft durch böse Träume geweckt worden war. »Gibt es einen Grund, warum du das Bedürfnis verspürst, ihn jetzt anzusehen?«
Zahllose Gründe. Aber diese Worte würde sie nicht laut aussprechen, würde ihnen nicht einmal so viel Bedeutung zugestehen. Fünfzehn Jahre lang hatte sie den unerschütterlichen Glauben aufrechterhalten, dass Glorianna keine todbringende, gefährliche Kreatur war, wie die Zauberer behaupteten. Als Glorianna den Sündenpfuhl erschaffen und somit verändert hatte, wie Ephemeras Landschaften ineinander übergingen, hatte Nadia darauf vertraut, dass ihre Tochter, die über eine solch außergewöhnliche Begabung verfügte, eine Notwendigkeit gesehen hatte, die den anderen Landschafferinnen verborgen geblieben war.
Fünfzehn Jahre lang hatte sie Glorianna vertraut, denn weniger zu tun, hätte Gloriannas Glauben daran, dass sie die Unterstützung ihrer Mutter besaß, vielleicht erschüttert - und Glorianna war bereits zu alleine auf der Welt. Jetzt höhlte das kleine Körnchen Zweifel dieses Vertrauen aus, und sie musste selbst sehen, musste wissen, was für eine dunkle Landschaft mit diesem Ort geschaffen worden war.
»Zum ersten Mal hier?«, fragte eine Stimme und riss Nadia damit aus ihren Gedanken.
Der blonde Mann, der sie ansah, hatte das selbstbewusste Grinsen eines Unruhestifters, aber als sie sich ihm weit genug genähert hatte, entdeckte sie ängstliche Vorsicht in seinen blauen Augen.
»Was bringt Euch darauf, dass wir zum ersten Mal hier sind?«, fragte Jeb herausfordernd.
Das selbstbewusste Grinsen bekam etwas Hinterhältiges. »Ihr seht so aus. Also …«
Diese blauen Augen waren die ganze Zeit über auf ihr Gesicht gerichtet, aber sie hätte schwören können, dass jemand sie gestreichelt hatte, von den Brüsten bis zur Hüfte, und dass seine Hände sich jeder Rundung, über die sie verfügte, bewusst waren. Bis auf Sebastian hatte sie noch nie einen Inkubus getroffen, aber sie war sich sicher, dass sie gerade einem gegenüberstand. Die Erfahrung war auf eine Art … beunruhigend …, die sie dazu brachte, sich reif und weiblich zu fühlen.
»Wer ist Euer Begleiter?«, fragte der Inkubus.
»Ich bin der Freund der Dame«, knurrte Jeb.
Nadia blinzelte. Hatte sie gerade gehört, wie Jeb - der bodenständige, vertrauenswürdige Jeb - sie für sich beanspruchte wie einen saftigen Knochen? Als ob irgendein junger Mann, selbst wenn er ein Inkubus war, überhaupt Interesse daran haben könnte, sich mit einer Frau in den Laken zu wälzen, die alt genug war, um seine Mutter zu sein.
Sie blickte erneut in diese blauen Augen - und spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte und ihr Kopf ganz heiß wurde. Wächter und Wahrer, er hatte Interesse!
»Wir sind hier, um meinen Neffen zu besuchen«, sagte sie mit fester Stimme, bereit, den Straßenlaternen oder dem Fußmarsch hierher die Schuld zu geben, dass sie errötete. Als er wissend lächelte, um deutlich zu machen, dass er ähnliche Ausführungen dieser Erklärung ständig hörte, fügte sie hinzu: »Sebastian.«
Der Inkubus fuhr zusammen, als hätte sie ihn mit einem Besen verprügelt.
»Ihr seid Sebastians Tante?«, quietschte er.
»Das bin ich.«
»Tageslicht!«
»Wer seid Ihr?«
»Teaser. Gnädige Frau. Tante, gnädige Frau.« Mit einem Gesichtsausdruck, der sich am Rande der Verzweiflung befand, sah er sich um. »Ja, also, warum bringe ich Euch nicht zu Philos Restaurant und sehe dann nach, wo Sebastian steckt. Er ist hier irgendwo. Das sollte er jedenfalls sein«, fügte er leise hinzu.
Er war noch anziehender, wenn er nervös war, entschied Nadia, während sie und Jeb dem Inkubus die Straße entlang folgten. Auf eine Art … menschlicher, die sie verstand. Und es war angenehm, mit ihm zusammen zu sein.
»Was ist mit Lynnea?«, fragte Nadia. »Wo ist sie?«
»Bei Philo«, antwortete Teaser.
»Fühlt sie sich wohl?«
»Es geht ihr gut. Sie wird ziemlich aufsässig, wenn ich die Handtücher auf dem Badezimmerfußboden liegen lasse oder vergesse, die Wanne auszuspülen. Werden alle Frauen wegen so etwas Männern gegenüber aufsässig, mit denen sie keinen Sex haben?« Teaser hielt inne. »Natürlich wird sie auch Sebastian gegenüber aufsässig, und von dem bekommt sie Sex. Äh …«
Nadia seufzte. Bevor er erfahren hatte, dass sie Sebastians Tante war, hätte er alles Erdenkliche zu ihr gesagt. Jetzt ließ ihn die bloße Erwähnung von Sex erröten wie einen Schuljungen. »Tante zu sein, macht mich nicht weniger zur Frau«, murmelte sie.
»Es ist anders«, gab Teaser ebenfalls murmelnd zurück.
»Wie?«
»Ich weiß nicht. Es ist einfach so.«
Es war erstaunlich, festzustellen, dass Inkuben so … Wie war noch einmal der Ausdruck, den sie Sebastian gelegentlich hatte murmeln hören? Zimperlich tugendhaft. Ja, das war es. Dass sie so zimperlich tugendhaft sein konnten.
Vielleicht würde sie die Komik des Ganzen in ein oder zwei Tagen erkennen.
»Was ist das?«, fragte Jeb, als sie sich vier riesigen, zottigen, gehörnten Kreaturen näherten, die genau vor einem Hof voller Tische und Stühle standen.
»Bullendämonen«, antwortete Teaser und fügte dann hinzu: »Ich hoffe, William Farmer hatte bei seiner letzten Lieferung Eier mit im Wagen.«
Bevor Nadia fragen konnte, was Eier mit solch gefährlich aussehenden Kreaturen zu tun hatten, erhob Teaser die Stimme und sagte: »Das ist Sebastians Tante, die zu Besuch ist und einen Happen essen möchte. Also sucht euch einfach einen Tisch aus und wartet, bis ihr dran seid - und kein Gebrüll, sonst bekommt sie Sodbrennen.«
Die zottigen Kreaturen starrten sie an.
»Om-e-lette?«, grollte eine.
»Sie will euer Omelette nicht«, sagte Teaser. »Setzt euch einfach hin.« Er zog einen Stuhl unter einem freien Tisch hervor und lächelte Nadia an. »Das ist ein guter Platz.«
Für was?, fragte sie sich, als sie die Statue bemerkte, die ihr am nächsten stand. Und sie bemerkte auch, dass Jebs Gesicht sich grellrot färbte, als er sich umsah. Die Reisetasche entglitt seinem Griff und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden.
Nadia stellte ihren Korb auf den Tisch und starrte die Statuen an. All die Jahre, die Lee in den Pfuhl gegangen war und gelacht hatte über ihre Sorge, er könnte zu jung dafür sein …
Mutter, wenn ich wild und verrucht sein wollte, würde ich nicht in den Pfuhl gehen. Sebastian ist zweimal schlimmer als eine alte verknöcherte Anstandsdame, wenn es darum geht, dass ich etwas tun könnte, das dir vielleicht missfällt.
Sie hätte wissen sollen, dass ihr Sohn, was solche Dinge betraf, mit der Ehrlichkeit eher sparsam umgehen würde. Und es sah nicht so aus, als müsse ein junger Mann zarten Alters etwas anderes tun, als sich umzusehen, um sich einer interessanten Fortbildung zu unterziehen.
Dunkel. Dekadent. Aber …
Das Herz sprang ihr bis in die Kehle, als plötzlich Gebrüll erklang und jäh wieder verstummte. »Oje! Einer der Bullendämonen hat einem anderen eins auf die Nase gegeben.«
Die Leute an den anderen Tischen zuckten zusammen, bereit, beim ersten Anzeichen eines Kampfes die Flucht zu ergreifen.
Dann trat Lynnea aus der Tür. Vier zottige Köpfe drehten sich um und starrten sie an. Sie hielt vier Finger hoch. Vier Köpfe bewegten sich auf und ab.
»Wie hat sie das gemacht?«, fragte Jeb.
»Sie macht ihnen kein Omelette, wenn sie sich nicht benehmen«, antwortete Teaser und hob eine Hand, um Lynnea auf sich aufmerksam zu machen.
Als sie sich umdrehte und sie erblickte, leuchtete ihr Gesicht vor Freude auf, sie sprang zwischen den Tischen hindurch und streckte ihre Hände nach Nadias aus.
»Ihr seid hier!«, rief Lynnea. »Ich bin so glücklich!« Dann verwandelte sich die Freude in Besorgnis. »Ist zu Hause alles in Ordnung?«
»Es ist alles wunderbar.« Freundschaftlich drückte Nadia Lynneas Hände, bevor sie sie losließ und sich dem Korb zuwandte. »Ich wollte euch nur ein paar Sachen bringen. Ich hätte sie im Cottage gelassen, aber es sah so … unbewohnt aus.«
»Ah. Ja. Sebastian dachte, es sei sicherer, eine Weile hier zu bleiben. Es gab ein paar Schwierigkeiten, wisst ihr, und -«
»Wie seid Ihr hergekommen?«, fragte Teaser und richtete seine Aufmerksamkeit auf Jeb.
»Wir sind über die Brücke gegangen, die in den Wald hinter dem Cottage führt«, antwortete Jeb.
»Aber wie seid Ihr hier hergekommen?«
»Zu Fuß.«
»Was ist los?«, fragte Nadia als Teaser anfing, zu fluchen, und Lynnea bestürzt dreinblickte.
»Dazu wird Sebastian das ein oder andere zu sagen haben«, murmelte Teaser.
»Warum sollte Sebastian dazu etwas zu sagen haben?«, fragte Nadia irritiert. Wenn sie die Skulpturen, die zottigen Dämonen und die Tatsache außer Acht ließ, dass hier, anstatt eines sonnigen Morgens Dunkelheit herrschte wie mitten in der Nacht, hätte sie genauso gut in eine Streiterei in ihrem eigenen Dorf geraten sein können. Und in ihren Augen war das Einzige, das schlimmer war, als bei einem Familienstreit zwischen zwei Parteien zu geraten, selbst daran beteiligt zu sein.
»Er wird einiges dazu zu sagen haben, schließlich seid Ihr seine Tante«, erwiderte Teaser hitzig. »Außerdem ist er der -«
»Jetzt aber!« Ein rundlicher Mann mit dunklem Haar und beginnender Glatze eilte an ihren Tisch. »Teaser, lass unsere Gäste sich hinsetzen und eine kleine Erfrischung zu sich nehmen, bevor du anfängst, sie vollzuquatschen. Und Lynnea Schatz …« Er deutete mit dem Kopf auf die Bullendämonen. »Da wartet eine Bestellung darauf, dass du dich ihrer annimmst.«
»Ja, Philo, du hast Recht«, sagte Lynnea. Dann fügte sie eilig hinzu: »Nadia, Jeb, bitte bleibt. Ich bringe euch etwas zu essen, und ihr könnt euch ein wenig ausruhen. Und Teaser? Sei kein Schwachkopf.« Sie lief im Slalom durch die Tische und rannte in das Gebäude.
»Inwiefern macht es mich zu einem Schwachkopf, dass ich mir Sorgen um Sebastians Tante mache?«, rief Teaser und brachte alle Leute im Hof dazu, sich zu ihm umzudrehen.
Herzensgeschwister, dachte Nadia, und Tränen brannten ihr in den Augen. Lynnea blühte hier auf, wurde von einem ängstlichen Mädchen zu einer willensstarken Frau. Und der verwirrte, verärgerte Mann, der neben ihr stand, war einer der Gründe für diese Veränderung.
»Tante Nadia?«
Sie drehte sich um und fühlte, wie ihr Herz einen Sprung machte, als sie Sebastian erblickte.
Er hat sich verändert.
Reife hüllte ihn ein wie ein neuer Mantel, der noch ein wenig Zeit brauchte, um sich bequem tragen zu lassen. Aber es war mehr als das. Er strahlte ein Gefühl der Stärke aus, ein Gefühl der … Macht.
»Rechtsbringer«, sagte Nadia.
Sein Körper versteifte sich, als erwarte er einen Schlag, während er leicht den Kopf neigte, um die Wahrheit ihrer Worte anzuerkennen.
Zauberer. Rechtsbringer. Eines sollte wie das andere sein, aber sie waren nicht das Gleiche. Sebastians Vater, Koltak, war ein Zauberer. Aber Koltaks Bruder, Peter, der Mann ihres Herzens und Vater ihrer Kinder, war ein Rechtsbringer gewesen. Sie glaubte, hätte Peter überlebt, so wäre er in der Lage gewesen, Sebastian weit besser zu verstehen, als Koltak es jemals können würde.
»Ist es dem Rechtsbringer peinlich, seine Tante in der Öffentlichkeit zu umarmen?«, fragte Nadia und freute sich darüber, zu sehen, wie Sebastian sich entspannte, als er an den Tisch trat und sie in seine warmen, starken Arme schloss.
Teaser schnaubte. »Das hier ist der Sündenpfuhl. Nichts von dem, was man in der Öffentlichkeit tut, ist uns peinlich.«
Sebastian löste sich von Nadia, ließ aber einen Arm auf ihrer Schulter ruhen. »Jeb ist der Mann, der das Puzzle gemacht hat.«
»Wirklich?« Teasers Augen begannen zu leuchten. »Mir sind da ein paar Dinge eingefallen, die ein bisschen Geld bringen könnten.«
»Warum nimmst du dann Jeb nicht mit an einen anderen Tisch, während ich mich mit Tante Nadia unterhalte?«, fragte Sebastian.
Ohne Zeit zu verschwenden, führte Teaser Jeb zu einem anderen Sitzplatz, Nadia setzte sich neben Sebastian, und ein Junge, der nicht so aussah, als sei er alt genug, um etwas vom Pfuhl zu wissen, geschweige denn, um hier zu leben, nahm die Reisetasche und den Korb an sich und sagte, dass Philo sie verwahren würde. Bevor Nadia Atem schöpfen konnte, bedeckte Philo den Tisch mit vollen Schüsseln, zwei Gläsern Wein und zwei Tassen Kaffee.
»Sieht so aus, als wolle Philo dir eine Kostprobe aller seiner Spezialitäten geben«, sagte Sebastian. »Es gibt Titten Surprise, Phallische Köstlichkeiten und Oliven.«
Nadia nahm ein Brötchen, erkannte die Form und ließ es wieder fallen.
»Es ist nur Brot, Tante Nadia«, sagte Sebastian.
Er sah so belustigt aus, dass sie ihn am liebsten geschlagen hätte.
»Hier.« Er nahm noch eine Phallische Köstlichkeit, brach sie in drei Stücke und legte sie auf ihren Teller.
Nadia zog die Brauen zusammen. »Hast du saubere Hände?«
»Ja, Tantchen, meine Hände sind sauber. Und ich denke immer noch daran, sie mir nach dem Pinkeln zu waschen. Meistens jedenfalls.«
Sie lachte. Wie hätte sie nicht lachen können? »In Ordnung. Du hältst mich also für albern.«
Sebastian lächelte, während er eine Phallische Köstlichkeit in den geschmolzenen Käse tauchte. »Du bist zum ersten Mal hier. Wir wären alle enttäuscht, wenn es im Pfuhl nichts gäbe, was dich schockiert.«
Nadia nahm ein Stück Brot und tunkte es in den Käse. »Das hier ist einfach nur ein seltsames kleines Dorf, habe ich recht? Verrucht, mit einem Anflug von Humor, unanständig, einfach, weil es Spaß macht.«
»Ja, genau.«
Sie legte das Brot mit dem Käse ab, ohne es gekostet zu haben. »Dann ist der Pfuhl nicht das Problem. Mögen die Wächter des Herzens mir vergeben, ich hatte gehofft, es wäre so.«
Er verspannte sich. »Du bist gekommen, um den Pfuhl zu überprüfen?«
»Ja.«
»Denkst du, er ist die Schwachstelle in den Landschaften unter Gloriannas Obhut?«
»Nein, Sebastian. Ich glaube, ich bin die Schwachstelle.«
Langes Schweigen. Dann sagte Sebastian sanft: »Trink deinen Kaffee. Er wird kalt.«
Gehorsam zog sie Untertasse und Tasse näher zu sich heran. Dabei bemerkte sie, dass er nach einem Glas Wein griff.
»Vor ein paar Tagen«, begann sie zögernd, »veränderte sich die Resonanz einer Stadt in einer meiner Landschaften, etwas passte nicht mehr zusammen. Ich konnte nicht erkennen, ob diese Unstimmigkeit von ein paar Herzen herrührte, die in eine andere Landschaft ziehen mussten, oder ob sich die Stadt selbst verändert hatte. Also habe ich den Marktplatz dieser Stadt aufgesucht.
Unruhe und Sorge hallten aus den Herzen vieler Menschen, die ihrem täglichen Leben nachgingen, aber es war das bösartige Vergnügen einiger weniger, nur schlecht als Entsetzen oder Ekel getarnt, das mich beunruhigte. Selbst in Landschaften des Tageslichts gibt es Herzen, die sich an dunklen Gefühlen laben. Sie sind wie Unkraut in einem Blumenbeet, nur dass man sie nicht ausreißen kann. Es ist eher so, als schneide man sie zurück, damit die guten Pflanzen um sie herum groß und stark genug werden, sie zu überschatten.«
»Ich glaube, ich verstehe. Wenn man jeden, der betrogen, gelogen oder etwas Gemeines getan hat, in eine dunkle Landschaft schicken würde, gäbe es niemanden mehr in den Landschaften des Tageslichts.«
»Genau. Ein Herz ist zu den edelsten Gefühlen fähig, aber auch zu den boshaftesten. Die Voraussetzungen stecken in jedem von uns. Es sind die Gefühle, die uns zu dem machen, was wir sind.«
»Also was ist auf dem Marktplatz geschehen, das dich so beunruhigt hat?«
Nadia nippte an ihrem Kaffee. »Geschichten über schlimme Dinge, die in der Nachbarstadt vor sich gehen. Ein Junge, der seine Schwester mit einer Axt erschlagen und dabei geschrien hat, dass sie sich jede Nacht in eine riesige Spinne verwandeln und auf ihn klettern würde, während er schlief. Ein Mann, der seine Frau zu Tode geprügelt hat, weil sie sein Abendessen zu spät auf den Tisch gestellt hatte. Gerüchte über Familien, die in einer Pechsträhne gefangen sind. Ich fühlte mich, als beschmierten mich die Worte mit etwas Bösartigem und als ich den Marktplatz verließ, um einen ruhigen Ort zu finden, an dem ich die Resonanz der Gefühle aufnehmen konnte, die dem Licht angehören, erkannte ich, dass ich die Resonanz dieser Bösartigkeit teilte. Ich verlieh ihr Kraft, half ihr, stärker zu werden.«
Sebastian legte seine Hand auf ihre. Sie hielt sich an seiner Wärme, an seiner Berührung fest.
»In dieser Nacht begannen die Träume«, sagte sie, ihre Stimme kaum lauter als ein Flüstern. »Keine Träume im üblichen Sinne. Fast, als würde jemand im Dunkeln flüstern. Aber ich wollte nicht zuhören, und das einzige Bild, an das ich mich aus diesen Träumen erinnern kann, ist, wie ich mich immer wieder gegen eine schwere Holztür werfe, darum kämpfe, sie zu schließen. Was auch immer auf der anderen Seite ist, ich muss es aussperren. Aber ich habe den Schlüssel verloren, und die Tür bleibt einfach nicht zu.«
Sebastian lehnte sich zurück, nahm seinen Wein und leerte das Glas. »Klingt, als versuche etwas, dich durch das Zwielicht des Halbschlafes zu erreichen.«
»Das was?«
Er schenkte ihr ein grimmiges Lächeln. »So jagen die Inkuben und Sukkuben ihre Beute. Wir müssen nicht in eine andere Landschaft übertreten, brauchen keinen Körperkontakt. Oh, wir mögen wirklichen Sex, aber es sind die Gefühle, an denen wir uns eigentlich laben. Also lassen wir auf der Suche nach einem empfänglichen Geist eine Ranke unserer Macht austreiben und weben eine Fantasie - oder haben an einer Fantasie teil. Wir sind Liebhaber der Träume, die in der Lage sind, einen Traum so wirklich werden zu lassen, dass es zu körperlicher Befriedigung kommt.«
Nadia räusperte sich. »Ich verstehe. Ich habe dich nie … Ich habe dich nie nach diesem Teil deines Lebens gefragt.«
»Und ich hätte es dir nicht erzählt, selbst wenn du gefragt hättest.«
»Ich glaube … ich bin verseucht worden. Vielleicht ein Wächter der Dunkelheit. Vielleicht der Weltenfresser. Deshalb bin ich hier, Sebastian. Ich habe Gloriannas Gründe, den Pfuhl zu schaffen, nie angezweifelt. Bis die Träume begannen.«
»Was glaubst du, tun zu müssen, Tante Nadia?«, fragte Sebastian. Seine Stimme verriet keine Emotion.
Nadia zitterte. »Ich glaubte, zu den Zauberern gehen zu müssen und ihnen zu sagen, wie man sie findet. Sie in die Heiligen Stätten führen - an einen Ort, den keiner von ihnen von sich aus erreichen kann.«
»Aber du hast es nicht getan.« Jetzt klang seine Stimme scharf, alarmiert.
»Nein, habe ich nicht. Stattdessen bin ich hierher gekommen. Glorianna kann Dinge tun, zu denen kein anderer in der Lage ist. Sie heißt das Dunkel willkommen und wandelt trotz allem im Licht. Ich musste diesen Ort sehen … um mein Vertrauen in Belladonna wieder zu stärken.«
Sebastian atmete tief ein und langsam wieder aus. »Ich möchte dir von den Träumen erzählen, die Lynnea in letzter Zeit hatte.«
Sie konnte spüren, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Oh nein, Sebastian. Ich glaube nicht, dass -«
»Sie räumt Möbel um. Oder besser gesagt, sie deutet irgendwohin, und ich räume Möbel um, schleppe Dinge, die ich in Wirklichkeit niemals tragen könnte. Und es ist eine Mischung aus Möbelstücken. Einige aus unserem Zimmer im Bordell und ein paar aus dem Cottage. Also verschiebe ich das Bett und die Couch und Tische und Stühle, während Lynnea immer wieder sagt: ›Nein, dort gehört es nicht hin‹. Jeden Morgen steht sie auf und sieht sich mit diesem Glanz in den Augen die Möbel an, und ich wache mit Rückenschmerzen auf.
Letzte Nacht habe ich die Fenster neu angeordnet. Ich habe jedes Mal den hölzernen Rahmen gepackt und das ganze Fenster herausgehoben. An der Stelle, an der es gewesen war, entstand nie ein Loch in der Wand, und jedes Mal, wenn ich es gegen eine Wand drückte, erschien eine Öffnung, die genau die richtige Größe für das Fenster hatte.
Aber Lynnea hat immer wieder gesagt, es sei nicht dort, wo es sein sollte. Dann wollte sie von mir, dass ich es an eine Innenwand halte. Ich habe ihr gesagt, dass wir außer der Person im Nebenzimmer nichts sehen würden, aber es war ihr Traum und ich nur der Arbeiter, also tat ich, was mir gesagt wurde.«
Nadia legte den Kopf schief. »Und habt ihr in den nächsten Raum gesehen?«
»Nein«, erwiderte er leise. »Ich konnte gar nichts sehen. Das Fenster war erfüllt von Sonnenlicht. Der ganze Raum war in Licht getaucht. Und als ich mich zu Lynnea umdrehte, war es Glorianna, die da stand. Sie lächelte und sagte: ›Ja. Jetzt ist alles, wo es hingehört. ‹«
Er griff über den Tisch, nahm ihr Weinglas und trank es zur Hälfte aus. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, oder warum ich es dir überhaupt erzählt habe.«
»Ich weiß, warum du es mir erzählt hast«, antwortete Nadia sanft. »Du glaubst an Glorianna - und du vertraust Belladonna. Ich werde alles daran setzen, mein Vertrauen zurückzugewinnen.«
Sebastian schob seinen Stuhl zurück. »Komm mit. Teaser hatte genug Zeit, Jeb bis zu den Fußspitzen erröten zu lassen, und ich glaube, es ist das Beste, wenn ihr nach Hause zurückkehrt. Und zu Hause bleibt.«
Nadia erzitterte. »Du hältst mich für eine Gefahr, nicht wahr?«
»Ich glaube, du bist vergiftet worden.« Er klopfte leicht an seine Brust. »Hier drin.«
Er hatte recht. Sie konnte die Resonanz seiner Worte spüren und wusste, dass er recht hatte.
»Ja, wir sollten zurückgehen.« Sie straffte die Schultern. »Und der Spaziergang wird mir gut tun.«
Sebastian legte ihr einen Arm und die Schulter. »Das ist zu dumm, weil ihr nämlich auf Dämonenrädern zurückfahren werdet.«
»Dämonen … Oh, nein ich …«
Ohne auf ihren Protest zu achten, rief er Teaser und Jeb herüber, gab ihr einen Augenblick, um sich von Lynnea zu verabschieden und ließ sie hinter sich auf einem Gefährt aufsteigen, das von einem Dämon mit vielen scharfen Zähnen und bösartig gekrümmten Klauen angetrieben wurde.
Auf der Hauptstraße des Pfuhls war es nicht allzu schlimm, aber als sie erst einmal den Schotterweg erreicht hatten, der zum Cottage führte …
»Du kannst jetzt loslassen, Tante Nadia.«
Dieser Meinung war er jedenfalls. Sie fühlte, wie er ihre Hände tätschelte und versuchte, ihre Fäuste zu öffnen, mit denen sie sich in Todesangst an seinem Hemd festklammerte.
»Wir bewegen uns nicht mehr.«
»Dann warte ich jetzt einfach darauf, dass meine Eingeweide mich wieder einholen.«
Sebastian lachte. Der unverschämte Junge lachte einfach. Das ärgerte sie so sehr, dass sie es schaffte, sein Hemd loszulassen und von dem Rad zu steigen.
Jeb, bemerkte sie, sah keineswegs mitgenommen aus. Sie konnte ihn nicht deutlich erkennen, da einzig die Sterne die Nacht erhellten, aber er rieb sich das Kinn, wie er es immer tat, wenn etwas sein Interesse geweckt hatte.
Teaser grinste Jeb an und legte den Kopf schief.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Jeb. Er ging zu ihr hinüber und umfasste ihren Ellbogen mit einer seiner großen, starken Hände. »Komm mit, Schatz. Wenn wir zu Hause sind, mache ich dir eine Tasse Tee, und du kannst dich ein wenig hinlegen.«
»Sprich nicht mit mir, als sei ich alt und gebrechlich«, fuhr Nadia ihn an. Da die Dämonenräder sie bis an den Rand des Waldes hinter Sebastians Cottage gebracht hatten, war es nicht mehr als ein Fußmarsch von wenigen Minuten, bis sie zu Hause sein würde.
Sie drehte sich zu Sebastian um. »Wenn du mich das nächste Mal besuchen kommst, hoffe ich, dass Sparky dir auf den Kopf macht.«
Jebs unterdrücktes Lachen konnte Sebastians Gestammel nicht übertönen. Damit ging es ihr schon wieder besser, also hakte sie sich bei Jeb ein, und die beiden folgten dem Pfad, der sie nach Hause bringen würde.
Sebastian starrte auf den dunklen Waldpfad und verspürte einen Stich im Herzen.
»Möchtest du nach dem Cottage sehen, wenn wir schon hier sind?«, fragte Teaser.
Er schüttelte den Kopf. »Es ist niemand hier gewesen.« Dessen war er sich sicher, weil er jeden Tag am Cottage vorbeischaute, wenn er die Brücken überprüfte, die in den Pfuhl führten. »Lass uns zurückfahren.«
»Jeb hat gesagt, er denkt über meine Idee nach.«
»Wo will er denn einen Künstler finden, der erotische Bilder malt, aus denen er dann ein Puzzle anfertigt?«
»Na ja, er meinte, das könnte ein Knackpunkt sein.« Teaser hielt inne und fragte dann: »Wer ist Sparky?«
Auf dem Weg zurück in den Pfuhl grübelte Sebastian über Nadia nach. Warum sollte sie jetzt an Glorianna zweifeln? Warum darüber nachdenken, den Zauberern zu verraten, wo Belladonna sich aufhielt? Es sei denn, sie war tatsächlich von einem Geist vergiftet worden, der mächtig genug war, Zweifel und finstere Gedanken zu säen, wo es vorher keine gegeben hatte. Wie sollte er Glorianna und Lee beibringen, dass in Nadias Landschaften vielleicht etwas Gefährliches eingeschlossen worden war, wenn Glorianna Ephemera doch verändert hatte, um diese Orte abzuschotten und ihre Mutter in Sicherheit zu bringen?
Und wie sollte er seiner Cousine und ihrem Bruder beibringen, dass man ihrer Mutter nicht länger vertrauen konnte?
Schatten im Garten.
Die härteste Lektion, die eine Landschafferin lernen muss.
Die Gärten sind nicht nur Zugangspunkte, die man hübsch zusammengestellt hat. Sie enthüllen auch das Herz der Landschafferin, ihre Signaturresonanz, die über allen Landschaften in ihrer Obhut liegen wird. Eine Spiegelung dessen, was die Landschafferin ist. Ihr innerstes Wesen wird Gestalt annehmen in Pflanzen und Steinen und Wasser, so dass jeder es sehen kann.
Versucht das Herz zu lügen, wird der Garten dies ebenfalls offenbaren.
Aber der erste Versuch einer jeden Schülerin neigt dazu, eine hübsche Lüge zu sein. All ihre Pflanzen sind Symbole der Güte und Großzügigkeit, der Geduld und des Verständnisses. Der Liebe. Trotz größter Bemühungen der Schülerin ringt der Garten ums Überleben, denn die dunklen Gefühle, die sie leugnet, hallen ebenso in diesem begrenzten Raum wider und haben kein Fleckchen Erde, das sie ihr Eigen nennen können. Also mischen sie sich ein, bringen die Strömungen der Macht durcheinander, brechen durch die Erde, wo sie nicht hingehören. Und der Garten misslingt.
Es braucht Zeit, bis man den Mut findet, die Züge seines Wesens darzustellen, die nicht hell und strahlend sind. Aber man muss sie erkennen, muss wissen, dass man sie in sich trägt, denn die Landschaften, die man kontrolliert, werden ihre Resonanz tragen. Denn man selbst ist als Landschafferin das Sieb, durch das alle menschlichen Herzen der eigenen Landschaften zu Ephemera sprechen - und keines dieser Herzen lebt einzig im Licht.
So muss jede Landschafferin die dunkle Seite ihres eigenen Herzens erkennen und annehmen, um unsere Welt im Gleichgewicht zu halten.
Schatten im Garten.
Sie sind Teil von uns allen.
Das Buch der Lektionen