26

Carl Thorsen war ein reizender blonder Engel, wie die meisten seiner Vorgänger. Carl war kein kleiner Junge – er war ziemlich hoch aufgeschossen, aber schlank und zartknochig. Bei seiner Einschätzung hatte ich einen Vorteil, den ich zuvor noch nicht gehabt hatte: Ich sah ihn als lebendigen Menschen. Fotos sind einfach nicht das Wahre und auch Videos nur ein schwacher Ersatz, wenn es darum geht, sich ein Bild von dem Opfer zu machen. Carl war athletisch und viel anmutiger, als man erwarten würde; auf jeden Fall bewegte er sich viel weniger unkoordiniert als die meisten Jungen seines Alters, meinen Sohn Evan eingeschlossen. Er wurde für mich zum Symbol, ein Amalgam aller verschwundenen Jungen. Ich beobachtete, wie er mit den Leuten in seiner Umgebung interagierte, vor allem mit seiner Mutter. Von den anderen hatte ich nichts als die von Hoffnung gefärbten Erinnerungen, die ihre Lieben mir lieferten, um zu einem Verständnis des Wesens des jeweiligen Jungen zu kommen. Nicht so bei Carl und seiner Mutter – sie präsentierten mir ein erlesenes kleines Spiel familiärer Vertrautheit. Er wechselte hin und her zwischen kindlicher Nähe und pubertärer Verschlossenheit. Sie war zuerst fast sprachlos vor Wut, doch dieses Gefühl versteckte sie ziemlich gut, bis es sich schließlich in tiefer Erleichterung auflöste.

Wir hatten sie in das beste Vernehmungszimmer gebracht, das wir normalerweise für nicht gewalttätige, kooperative Zeugen oder verzweifelte Opfer nutzen. Die Stühle waren gepolstert und das Licht weich. Ich ließ ihnen zuerst ein wenig Zeit für sich, und als sie sich dann einigermaßen beruhigt hatten, unterhielten wir uns eine Weile, vor allem darüber, was für ein Glück Carl gehabt hatte, entkommen zu können. Escobar kam mit Jake herein – wir hatten ein »beiläufiges« Dazukommen vereinbart – und konzentrierte sich auf Carl. Sobald er den Jungen in ein Gespräch verwickelt hatte, nahm ich die Mutter beiseite und fragte sie, ob sie mit mir für ein paar Minuten den Raum verlassen wolle, damit ich ihr ein paar Routinefragen zur Vervollständigung meiner Unterlagen stellen könne. Meine eigentliche Absicht war jedoch, Jake und Carl allein in dem Zimmer zu haben, damit ich sehen konnte, wie Carl auf den Freund ihrer Mutter reagierte, wenn sie nicht dabei war.

Er rannte los, warf sich in die Arme des Mannes und sagte immer wieder seinen Namen.

Ich wusste, dass das nicht du warst, Jake, ich wusste einfach, dass du mir nie was tun würdest.

Diese Szene betrübte mich sehr. Allen diesen Jungs, wo und in welchem Zustand sie jetzt auch sein mochten, war das Vertrauen in einen geliebten Erwachsenen zerstört worden – das verstört ein Kind, wie man es sich nicht vorstellen kann –, und dann wurden sie von einem Fremden angegriffen.

Nach wenigen Minuten brachte ich die Mutter ins Zimmer zurück. Jake hatte dem Jungen den Arm um die Schultern gelegt, und in diesem beruhigenden Körperkontakt entspannte Carl Thorsen sich so sehr, dass er dem Zusammenbruch nahe war. Wahrscheinlich hatte bis jetzt das Adrenalin ihn angetrieben, doch nun brach der Schock durch. Immer wieder musste er kurz innehalten und sich sammeln, während er seine Geschichte noch einmal erzählte, diesmal mit mehr Details.

»Ich konnte das Auto schon hören, als es um die Kurve kam. Ich drehte den Kopf nach links und schaute irgendwie so über die Schulter. Es sah ein bisschen aus wie Jakes Auto, aber seins sieht aus wie ein Haufen anderer Autos, heller Lack, kein Offroader. Und nach ein paar Sekunden hörte ich, dass es langsamer wurde. Sie wissen schon, man kann hören, dass Reifen langsamer über irgendwelches Zeug auf der Straße knirschen. Das machte mich ein bisschen nervös.

Das Auto fuhr dann ganz dicht an den Bürgersteig, so dass die Reifen ihn fast berührten, und wurde so langsam, dass es auf gleicher Höhe mit mir blieb. Dann fuhr es ein Stück voraus. Die Beifahrertür ging auf – der Kerl hat wahrscheinlich mit der rechten Hand über den Sitz gelangt und sie aufgestoßen –, aber die Stimme kam mir nicht bekannt vor. Als ich ins Auto schaute, sah ich einen Typ, von dem ich dachte, es ist Jake, also ging ich näher ran. Ich fragte ihn, was mit seiner Stimme los ist, und er räusperte sich laut und sagte, er sei erkältet. Dann sagte der Typ, ich soll ins Auto einsteigen, weil meine Mutter mich jetzt gleich zu Hause braucht.

Ich dachte mir, dass zu Hause irgendwas nicht stimmt, und wäre schon fast eingestiegen. Aber irgendwie glaubte ich dann doch nicht, dass es Jake ist. Der Kerl hat wohl gemerkt, dass ich das dachte, weil er mich plötzlich am Arm packte. Ich zog ihn weg. Er riss dann die Tür richtig fest zu – ich hatte Angst, dass er meinen Ärmel eingeklemmt hatte und ich jetzt mitgeschleift würde. Aber das war nicht so. Er fuhr richtig schnell davon und ließ mich da stehen. Ich fing an zu weinen.«

Und genau das tat er jetzt auch in dem Vernehmungszimmer, als er das Ende seines Berichts erreicht hatte. Ich fand das gut. Er sollte sich ruhig all diesen Mist an einem Ort von der Seele flennen, wo er wusste, dass niemand ihm etwas tun würde.

Ich ging gerade zur Tür hinaus, um dem Jungen eine Cola und der Mutter Kaffee zu holen, als Spence mit ziemlich schlimmem Gesichtsausdruck den Gang entlanggerannt kam.

»Es hat noch einen gegeben. Wieder misslungen.«

 

»Sieht als, als wären aus Ihrem einen Kerl Zwillinge geworden«, knurrte Vuska.

Schreien war die einzige Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, und das tat ich auch, obwohl ich in diesem Augenblick den Klang meiner Stimme hasste. »Es könnte immer noch nur ein Täter sein«, kreischte ich in das Chaos hinein.

Frazee und Escobar waren still und hielten sich abseits.

»Langsam, Leute, überlegt doch mal«, rief ich in die Runde. »Soweit wir wissen, ist ihm bis heute noch nie was misslungen. Er hat sich bisher jeden Jungen geschnappt, den er haben wollte. Versteht ihr denn nicht? Er spielt mit uns.«

Polizisten lassen nicht gern mit sich spielen. Aber es war offensichtlich, dass Verbrecher das auch nicht mögen – zumindest Wilbur Durand nicht. Es war, als hätten wir in Frankensteins Labor das Licht angedreht, als wir anfingen, offen gegen ihn zu ermitteln. »Gerade jetzt müssen wir diesem Kerl auf den Fersen bleiben, weil er uns jetzt wirklich die Chance dazu gibt, und die kriegen wir vielleicht nicht wieder«, argumentierte ich. »Bis jetzt war er doch fast unsichtbar. Er zeigt sich uns, springt uns fast ins Gesicht. Er fordert uns heraus, weil der Hurensohn glaubt, er ist gerissener als wir.«

In meinem Kopf pochte es, und meine Hände wurden feucht. Doch während die Versammlung sich langsam auflöste, konnte ich einen Meinungsumschwung erkennen.

Carl Thorsen und seine Mutter waren noch immer in dem Vernehmungszimmer. Ich schnappte mir eine Sekretärin und sagte: »Könnten Sie ihnen bitte sagen, dass ich von einem anderen Fall aufgehalten wurde?«

Die Sekretärin machte zwar ein verdrießliches Gesicht, nickte aber.

»Sagen Sie ihnen, dass ich so bald wie möglich zurück bin. Wenn sie was zu essen wollen, besorgen Sie ihnen was in einem unserer Stammläden, und wenn nicht genug in der Portokasse ist, zahle ich es aus meiner Tasche.«

Ich fühlte mich völlig erschöpft, als ich an meinen Schreibtisch zurückkehrte, wusste aber, dass ich jetzt gleich eine neue Runde Durand-Wahnsinn einläuten würde. Die Blicke meiner Detective-Kollegen ruhten sämtlich auf mir. Fred saß mit ein paar hohen Tieren in seinem Büro und kaute die neue Entwicklung durch, als der nächste Anruf kam.

Er hatte es schon wieder getan, kaum eine Stunde nach dem letzten Mal.

Niemand wusste, was er sagen oder tun sollte, und unsere so genannten Vorgesetzten am allerwenigsten.

»Es ist eine Botschaft«, sagte ich. Doch bis auf Escobar und Spence schien mir keiner zuzuhören.

»Er sagt: Fangt mich doch, wenn ihr könnt.«

Und genau das hatte ich vor, ob mit oder ohne Hilfe. Falls ich dann noch Detective war.

 

Obwohl ich Errol Erkinnens Piepser-Nummer kannte, hatte ich sie noch nie benutzt. Aber das hier war ein Notfall. Er rief mich fast sofort zurück.

»Ich habe drei Jungs, die diesem Kerl entwischt sind, und sie sind im Augenblick alle hier auf dem Revier.«

»Moment mal«, sagte er, als hätte er mich missverstanden. »Sie sind ihm alle entwischt?«

»Ja. Alle drei. Ob Sie es glauben oder nicht.«

»Das ist eine echte Eskalation seines Verhaltens – er spielt mit Ihnen, schickt Ihnen eine Botschaft.«

Es tat so gut, dass jemand mir glaubte. »Ich habe das kapiert, aber sonst offensichtlich keiner. Allmählich glaube ich, dass aus dieser ganzen Geschichte etwas zwischen ihm und mir geworden ist. Es geht gar nicht mehr um die Jungs.«

»Da haben Sie wahrscheinlich Recht. Er hat sein Verhaltensmuster aufgegeben und kommuniziert mit Ihnen über diese Variation. Ich würde jede Wette eingehen, dass er eine Reaktion von Ihnen erwartet.«

»Ich werde reagieren, darauf können Sie sich verlassen. Aber im Augenblick muss ich diese Jungs befragen. Ich möchte mit allen dreien gemeinsam reden, weil ich glaube, dass sie, wenn sie untereinander reden können, sich eher öffnen und mehr preisgeben, als sie es sonst tun würden. Dazu brauche ich Ihre Hilfe, weil der Lieutenant will, dass ich ›einen Mediziner‹ dabeihabe.«

»Ich bin kein Mediziner.«

»Man nennt Sie doch ›Doc‹, oder? Das genügt für diesen Zweck vollkommen.«

»Okay«, sagte er. »Ich bin gleich da. Aber lassen Sie sich von dieser kleinen Abweichung in seinem Verhalten nicht in die Irre führen. Er wird es auch wieder richtig machen, und wahrscheinlich bald.«

»Bis dahin habe ich ihn im Gefängnis.«

»Glauben Sie?«

»Ich weiß es.«

 

Wie versprochen traf Doc ungefähr fünfzehn Minuten später ein.

Wir hatten jede der drei Gruppen in einem separaten Zimmer untergebracht. Die Sekretärinnen beklagten sich, dass sie Getränke und Essen für die Jungen und ihre Familien besorgen mussten, was ich, die unsensible Detective, ihnen so gedankenlos angeboten hatte. Der Laden ist schon bald ein verdammtes Holiday Inn, hörte ich eine von ihnen sagen.

Was, wenn es ihr Sohn gewesen wäre?

Bevor wir in die einzelnen Zimmer gingen, nahm Doc mich beiseite. »Die Jungs sollten sich so wohl fühlen, wie es nur geht, wenn wir das jetzt machen«, sagte er. »Muss einer von ihnen gesäubert werden?«

Ich verstand nicht.

»Zeigte einer von ihnen eine körperliche Reaktion auf den Entführungsversuch, nicht kontrollierbare Darmentleerung oder unvorhergesehenes Urinieren zum Beispiel?«

»Nicht, soweit ich das feststellen konnte, als sie reinkamen.«

»Schön. Das ist ein gutes Vorzeichen.«

Wir stellten uns vor und sprachen kurz mit jedem Kind getrennt. Zurück an meinem Schreibtisch hatte ich das Gefühl, mit Steinmauern gesprochen zu haben.

»Sie sagen nicht viel«, bemerkte ich ziemlich unglücklich.

»Wahrscheinlich machen sie zu, weil ihre Eltern dabei sind. Also müssen wir ohne Eltern mit ihnen reden«, schlug Doc vor.

»Wäre das im Augenblick vernünftig? Sie haben alle viel durchgemacht. Man sollte doch meinen, dass sie sich sicherer fühlen, wenn ihre Eltern dabei sind und sie unterstützen.«

»Sie befinden sich im Augenblick in einem Zustand äußerster Verletzlichkeit, und der ist dem posttraumatischen Stresssyndrom sehr ähnlich. Diese Jungs sind keine starken Soldaten. Sie haben bei weitem nicht die Bewältigungsmechanismen, wie Erwachsene sie haben.«

»Warum sollten wir sie dann von etwas trennen, das ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt? Würde es ihnen ohne die Eltern denn nicht noch schlechter gehen?«

»Vielleicht. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber eins weiß ich sicher: Sie nehmen alle an, dass ihre Eltern wegen dieser Geschichte wütend auf sie sind. Was meinen Sie, wie oft jeder von ihnen schon gehört hat: Rede nicht mit Fremden. Wahrscheinlich schon hundert Mal. Und wie kam es zu dieser ganzen Sache? Durch einen Fremden.«

Er hatte Recht. Evan wäre gedemütigt, wenn er einer Sache zum Opfer gefallen wäre, vor der ich ihn immer wieder gewarnt hatte; er würde sich völlig vor mir verschließen.

»Sie sind allerdings alle zu jung, um die typische Schuld von Überlebenden zu empfinden«, fuhr er fort. »Vielleicht später, aber im Augenblick ist das, glaube ich, irrelevant. Oft gibt es verzögerte Auswirkungen; manchmal zeigen Sie sich jahrelang nicht. Natürlich gibt es Behandlungsmethoden …«

Ich bremste ihn. »Die Lehrstunde später, Errol. Im Augenblick brauche ich Sie in dieser Sache an meiner Seite, aber überlassen Sie mir die Führung. Ich könnte allerdings ein paar Vorschläge gebrauchen, wie wir die Theorie in die Praxis umsetzen können.«

Ein bisschen eingeschüchtert, sagte er: »Vielleicht sollten wir einfach mit allen dreien in einem Zimmer, aber ohne Eltern, anfangen und schauen, was dabei herauskommt. Wir müssen allerdings aufpassen, dass sie nicht das Gefühl bekommen, sie würden verhört.«

Die Eltern hatten nichts dagegen, aber mit den Jungs lief es nicht so gut, wie wir es gern gehabt hätten. Alle drei zappelten, als hätten sie Frösche in den Taschen; ihre Beine baumelten und zuckten. Sie schmollten, als wäre dies eine Art Gruppenbestrafung.

Erkinnen nahm mich beiseite und flüsterte: »Wir müssen irgendwie diese Klassenzimmer-Atmosphäre beseitigen. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen pervers, aber wir müssen es so hinbiegen, dass es ihnen Spaß macht.«

Was mochten Jungs außer Monstern?

Autos.

»Sie bleiben hier«, sagte ich ihm. »Ich glaube, ich kenne den Trick.«

 

Spence borgte sich eine Kappe von einem der Streifenpolizisten und spielte den Chauffeur. Doc und ich stiegen zusammen mit den drei Jungen in den Fahrgastraum. Die konfiszierte Mercedes-Stretch-Limousine, ein glänzendes schwarzes Ungetüm, das über die Straßen glitt wie ein Tragflächenboot, war unser Fahrzeug für eine Tour zu den Schauplätzen der drei misslungenen Entführungen.

Es gab einen Augenblick nervösen Zögerns, bis ich auf die Waffe in meinem Schulterhalfter klopfte.

Nach einigen Minuten hatten sich alle drei ziemlich beruhigt. Es gab einen Videorecorder und eine PlayStation und all den neuesten technischen Schnickschnack in diesem Fantasieauto, das demnächst versteigert werden sollte, wie das Gesetz es vorschrieb. Wir kreuzten ein wenig durch den Neonwald und trafen die gemeinsame Entscheidung, dass wir chronologisch vorgehen sollten, was mich freute, weil ich so zu sehen bekam, was Wilbur hatte auf sich nehmen müssen, um von einem Ort zum anderen zu kommen. An allen drei Tatorten wurde die Unterhaltung nach anfänglicher Stille ziemlich lebhaft und anschaulich. Ich stand genau hier, und er hielt hier, und dann ging die Tür auf und …

In der Sicherheit geteilter Erlebnisse wurden ihre Beinahetragödien fast zu etwas, dessen man sich brüsten konnte. Nur der jeweils betroffene Junge konnte an den einzelnen Tatorten sagen, was genau hier passiert war, aber wie ich es erhofft hatte, reagierten die anderen, indem sie enthusiastisch das Gesagte mit eigenen Erlebnissen verglichen, dabei allerdings auch versuchten, einander zu übertrumpfen.

Die ganze Tour dauerte etwa drei Stunden und endete mit einem Abstecher in eine berühmte Eisdiele in Santa Monica und einem kurzen Aufenthalt am Pier, wo die Jungen sich die vom vielen Sitzen und den Süßigkeiten angestaute Energie abliefen. Doc und ich lehnten am Geländer und sahen zu, wie sie am Strand nördlich des Piers herumtollten. Allen dreien war es nur knapp erspart geblieben, zu einem Opferfoto auf meiner Schautafel zu werden, doch jetzt waren sie hier und rannten quicklebendig im Sand herum, so wie mein eigener Sohn es getan hätte, wäre er hier. Ich überlegte, ob es vielleicht doch einen Gott gab.

»Alle jung und hübsch«, bemerkte ich.

»Ja, so ist es. Sein Fetisch, nackt und schutzlos«, sagte Doc. »Bei Serienverbrechen ist es nicht ungewöhnlich, dass der Täter von Kräften, die er gar nicht versteht, dazu getrieben wird, sich Opfer mit bestimmten Merkmalen auszusuchen. Wenn wir diesen Kerl schnappen, möchte ich ihn danach fragen. Diese Eigenschaften können eine tiefe Bedeutung haben.«

Wenn wir diesen Kerl schnappen. Es war ein sehr schöner Traum, aber die Verwirklichung rückte näher. Ich fragte mich, ob ich bei meiner Rückkehr einen unterschriebenen Haftbefehl für Wilbur Durand auf meinem Schreibtisch finden würde.

Möwen kreischten gegen den Lärm der Brandung an. Der westliche Himmel war über dem grauen Ozean noch leuchtend orange, obwohl die Sonne bereits untergegangen war. »Schauen Sie sich diesen Himmel an«, sagte ich und seufzte vor Staunen. »Wie kann so etwas Hässliches wie Wilbur Durand nur in einer so wunderschönen Welt existieren?«

Doc legte mir die Hand auf die Schulter. Es war eine herzliche und tröstende Geste. »Ich dachte, wir hätten das schon durchgekaut«, sagte er ziemlich mitfühlend. »Das Überleben der Tüchtigsten. Der Letzte, der übrig bleibt, zeugt die meisten Nachkommen, und wenn dazu Böses nötig ist, wird Böses passieren. Ich weiß nicht, ob wir wirklich in der Lage sind, das ganz zu verstehen.«

»Er wird keine Chance bekommen, Nachkommen zu zeugen.«

Sie tollten, sie rannten, sie bewarfen sich mit Sand. Irgendwann würde die Realität wieder auf sie einstürzen, aber im Augenblick waren sie nur Figuren in einem Gerade-noch-mal-Davongekommen-Film mit gutem Ausgang. »Schauen Sie sie an. All diese wunderbare frühpubertäre Vitalität.«

»Ja. Wirklich beneidenswert.« Er sah mir direkt in die Augen. »Irgendjemand muss Durand diesen Teil seines Lebens gestohlen haben. Er versucht, ihn sich zurückzuholen, indem er ihn anderen stiehlt. Schauen Sie sie noch genauer an – beinahe Klone. Er sucht sich seine Opfer nach einem ganz bestimmten Vorbild aus.«

Michael Gallaghers älterer Bruder Aiden. Ich würde Moskal früher anrufen, als ich dachte, und ihn um noch ein Foto bitten. Ich hätte gleich die Gallaghers um eins bitten sollen, als ich bei ihnen war.

»Wir sollten sie zurückbringen«, sagte ich. »Die Eltern drehen inzwischen wahrscheinlich durch.«

»Ja, ich weiß. Aber ich mag eigentlich nicht weg. So ruhig und gelassen habe ich mich seit Wochen nicht gefühlt.«

»Ich auch nicht.«

Er pfiff auf zwei Fingern. Alle drei Jungs drehten sich um, und auf sein Winken hin kamen sie zu uns gelaufen. Der universelle Papa, ein sicherer Hafen.

»Ach, übrigens«, sagte er, »gute Arbeit.«

Ich kehrte nur ins Revier zurück, um die Jungs bei ihren besorgten Eltern abzuliefern. Zwar hatte ich allen drei Familien Folgegespräche angekündigt, wusste jedoch, es würde eine Weile dauern, bis ich dazu kam – es war noch so viel anderes zu erledigen. Aber bevor ich irgendetwas tat, musste ich nach Hause. Dort würde ich Normalität finden, von der Art, wie man sie nur als Mutter erlebt. Kevin war mehr als einverstanden, sie zurückzubringen, was mir die Mühe ersparte, zu seinem Haus zu fahren. Er hatte auch seine guten Seiten. Ich musste unbedingt in der süßen, warmen, chaotischen Normalität meiner zwei Töchter und meines Sohnes baden. Sie wussten über meine Arbeit Bescheid und über die Auswirkungen, die sie manchmal auf mich hatte; an so vielen Abenden war ich, besudelt mit der Schlechtigkeit dieser Welt, nach Hause gekommen. Sie schlichen auf Zehenspitzen um mich herum, wenn ich völlig verzweifelt war nach der Verhaftung eines Jugendlichen für ein Verbrechen, das die meisten Erwachsenen sich kaum vorstellen konnten, ein Ereignis, das sich allzu oft wiederholte.

Frannie, meine Sensible, war die Erste, die meine Niedergeschlagenheit spürte.

»Alles in Ordnung, Mom?«, fragte sie.

Ich strich ihr einige Haarsträhnen aus der Stirn. Sie ließ sich gerade einen Pony wachsen, und das war zu einem kleinen Spiel zwischen uns geworden.

»Alles in allem, Liebling, bin ich ganz okay.«

Sie war noch nicht überzeugt. »Hast du in der Arbeit viel zu tun?«

»Dir kann man nichts vormachen, was?«

»Warum solltest du mir was vormachen wollen?«

Ja, warum – um ihr Dinge zu ersparen, die sie noch nicht verstehen müssen sollte. »Leider«, sagte ich ihr, »wird es erst noch schlimmer, bevor es besser wird.«

»Ich kann dir bei der Hausarbeit helfen«, bot sie an. In ihrer lieben Stimme war echtes Mitgefühl.

Ich hasste es, wenn mein Stress in der Arbeit ihr das Gefühl gab, sie müsse Erwachsenenpflichten übernehmen, obwohl sie noch ein Kind war.

»Keine Hausaufgaben heute Abend«, sagte ich zu ihnen allen. »Ich schreibe euch Entschuldigungen für eure Lehrer. Heute Abend spielen wir.«

Jubel wurde laut. Videospiele, Popcorn, Eiscreme, laute Musik, Kissenschlachten; wir taten alles, was für jene Dekadenz bedeutet, die einfach noch zu unschuldig sind, um zu wissen, was das wirklich ist. Mein mürrischer Sohn, der so distanziert sein konnte, wenn die Laune ihn überkam, war unerklärlich freundlich.

Die Mädchen gingen gegen zehn ins Bett. Evan schien noch aufbleiben und mit mir herumhängen zu wollen, was mich fast zu Tränen rührte. Wir legten Apollo 13 ein, spulten bis zu den guten Stellen vor und hörten im Hintergrund Frannie und Julia durch die geschlossene Tür ihres gemeinsamen Zimmers kichern. Manchmal hatte ich den Eindruck, Evan fühlte sich aufgrund seiner Chromosomen ausgeschlossen. Heute schien es ihm nichts auszumachen. Er hatte die Mutter ganz für sich allein.

Es war kaum zu glauben, dass er sich bei der dramatischen Wiedereintrittsszene an mich kuschelte.

»Mom«, sagte er zaghaft.

»Ja, Liebling …«

Ich spürte, wie seine Schultern sich verkrampften. Er mochte es nicht, wenn ich ihn Liebling nannte. Ich drückte ihn kurz an mich und sagte: »Tut mir Leid, Evan. Ich vergesse es, wenn ich abgelenkt bin. Was ist denn?«

»Du bist nicht mehr viel zu Hause.«

Ein Messerstich ins Herz. »Ich weiß, und das tut mir Leid. Ich habe im Augenblick einen Fall, der mich viel länger in der Arbeit hält, als mir lieb ist.«

Er wurde neugierig. »Worum geht’s denn?«

Sollte ich es ihm sagen? Immerhin konnte ich nicht voraussehen, was mein Bericht bei ihm bewirken würde. Ich beschloss, so allgemein wie möglich zu bleiben. »Es ist ein sehr schlimmer Fall, Sohn. Einige Jungs sind verschwunden. Alle ungefähr in deinem Alter. Einige sind schon sehr lange weg, und ich habe die Befürchtung, dass sie tot sind.«

Er überlegte einige Augenblicke und fragte dann: »Und wie geht’s voran?«

Die Frage überraschte mich, aber ich antwortete ihm, wie ich einem Erwachsenen geantwortet hätte. »Es ist sehr frustrierend«, sagte ich ihm. »Das kommt in meinem Job allerdings manchmal vor. Ich habe schon eine ganze Weile einen Verdächtigen, aber bis vor kurzem hatte ich nicht genügend Beweise, um ihn zu verhaften. Ich warte auf einen Haftbefehl für diesen Verdächtigen, aber ich habe keine Ahnung, ob er ausgestellt wird oder nicht. Es ist ja nicht so, dass ein Polizist einfach einen Richter anrufen und sagen kann: Ich glaube, das ist mein Kerl. Ich brauche einen dringenden Tatverdacht, wie man das nennt. Und was ein dringender Tatverdacht ist, ändert sich von Richter zu Richter. Manchmal gibt mir ein und derselbe Richter einen Haftbefehl in einem Fall, und in einem anderen, ganz ähnlichen nicht. Schwer zu erklären.«

»Das ist doch beschissen.«

Viel zu erwachsen. Aber ich korrigierte ihn nicht – das hatte Zeit bis zum nächsten Mal, wenn wir nicht gerade einen unserer »Augenblicke« hatten. »Ja, das ist wirklich beschissen. Ich rate dir, wenn du keine Lust auf Frust hast, dann werde kein Polizist.«

»Ich finde deinen Job cool, Mom. Ich gebe bei meinen Freunden immer damit an.«

Ich hätte am liebsten geweint. »Evan, das ist wirklich lieb von dir.«

»Mir gefällt, dass du Polizistin bist. Mir gefällt, dass du die bösen Jungs einsperrst.«

Ich hatte immer gehofft, ich könnte meine Kinder so erziehen, dass sie den Wert bedeutungsvoller Arbeit begriffen. Offensichtlich hatte ich es.

 

Wohl zum ersten Mal seit Jahren deckte ich meinen Sohn zu und schaltete das Licht in seinem Zimmer aus. In der Einsamkeit, die mir nun blieb, ging ich zu meinem Computer und schrieb den Bericht über die bedeutungsvolle Arbeit dieses Nachmittags, da mir die Ereignisse noch frisch im Gedächtnis waren. Es wurde ein sorgfältig verfasstes Schriftstück, mit dem ich meine Position stützen wollte, die ich in diesem Fall eingenommen hatte: Wilbur Durand war der einzige Täter und hatte all diese Jungen entführt. Außerdem war da noch das kleine Problem der unberechtigten Spritztour in einem konfiszierten Fahrzeug, das jetzt dem Steuerzahler gehört, und hier gab es Erklärungsbedarf.

Alle drei Jungen wurden von einem Mann angesprochen, der sich als Vertrauensperson des jeweiligen Opfers verkleidet hatte. Die Versuche fanden ungefähr im Stundenabstand statt; im Verlauf unserer Rekonstruktion der Ereignisse bestätigten wir, dass die Strecken zwischen den Tatorten auch bei dichterem Verkehr problemlos in weniger als fünfzehn Minuten bewältigt werden konnten, was dem Täter genügend Zeit gab, die Verkleidungen zu wechseln, sofern sie im Hinblick auf einen schnellen Wechsel vorbereitet wurden. Alle drei Jungen sind von ähnlicher Größe, ähnlichem Gewicht, ähnlicher Hautfarbe und ähnlichem Alter, entsprechend einem Opfermuster, das wir in einer Vielzahl von anderen Fällen, die vermutlich ebenfalls auf das Konto dieses Täters gehen, herausgearbeitet haben.

Meine Ausbildung und meine Berufserfahrung haben mich zu dem Schluss geführt, dass dem Täter deutlich bewusst ist, von uns verfolgt zu werden, und dass er diese drei Opfer mit Absicht entkommen ließ, um die Ermittlungsbeamten zu verwirren und in die Irre zu führen. Die Versuche fanden in Gegenden statt, wo Zeugen eher unwahrscheinlich sind: Allerdings gab es in einem Fall eine Zeugin, die sich jedoch als unkooperativ erwies und vor Gericht als unzuverlässig erachtet werden könnte. Keins der Opfer war kräftig genug, um einem wirklich entschlossenen Entführer Widerstand leisten zu können, doch alle konnten sich dem Griff des Täters relativ problemlos und ohne großen Kampf entwinden, was die Theorie eines beabsichtigten Misslingens stützt.

Er hätte sich zumindest einen schnappen können, wenn er wirklich gewollt hätte – falls er als Verkleidungen nur Masken und Perücken benutzt hatte, hätte er mehr als genug Zeit dafür gehabt. Die Jungen hatte übereinstimmend angegeben, dass er sie gezogen hatte, aber nicht fest genug, um sie ins Auto zu zerren, und dass sie den Eindruck gehabt hätten, der Mann hätte die Entführung nur gespielt und gar nicht die Absicht gehabt, sie zu vollenden.

Ich wünschte mir, ich hätte das alles in meinen Antrag auf den Haftbefehl hineinschreiben können.

Als ich am nächsten Morgen aufs Revier kam, sah ich, dass es keinen Unterschied gemacht hätte. Spence und Escobar standen links und rechts neben meinem Tisch und grinsten von einem Ohr zum andern.

Ich hatte wieder mal den guten Richter bekommen.

»Wir können uns auf die Socken machen«, sagte Spence.

»Sieht so aus«, erwiderte ich ungläubig. »Die Frage ist jetzt nur: wohin?«

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