DREIUNDZWANZIG
Die harte Arbeit der folgenden Tage brauchte Nessys gesamte Aufmerksamkeit auf. Es war viel zu tun. Zu ihren gewöhnlichen Aufgaben, die nicht einfach verschwunden waren, nur weil Margle tot war, kam noch die Spur der Verwüstung, die Tiama hinterlassen hatte. Die jetzt wieder unbelebten Rüstungen mussten repariert und in die Waffenkammer zurückgebracht werden - die abgestaubt und geputzt werden musste. Gnicks Hingabe an seine Pflicht als Silbergnom hatte nachgelassen, und so half sie ihm nur zu gern bei seiner monumentalen Aufgabe.
Gnick prüfte einen leeren Helm auf Anzeichen von nachklingendem Leben. »Hallo? Jemand da drin?« Er klopfte zweimal mit den Knöcheln gegen die glänzende Oberfläche, bevor er den Helm auf den Wagen stapelte. »Ich weiß nicht, wie ich die jemals wieder alle zusammenbekommen soll.«
»Wir werden das schon schaffen. Irgendwann eben.« Sie musterte einen Speer, dessen Spitze rot mit Blut verkrustet war - mit ihrem eigenen Blut. Sie beschloss, ihn für sich zu behalten. Als Andenken. Einen weiteren reichte sie einer Schar Staubelfen. Die kleinen Elementargeister huschten zur Waffenkammer davon, wobei sie winzige Schmutzspuren hinterließen. Sie ignorierte es. Eine Aufgabe nach der anderen.
Neugierig hob das Nurgax den Kopf. Das bedeutete: Echo war da.
»Die Hochzeit fängt gleich an.«
Das hatte Nessy beinahe vergessen - was doch ein Beweis dafür war, wie viel sie zu tun hatte. Sie legte einen Schild auf einen Stapel anderer Schilde und fragte Gnick, ob er mitkommen wolle. Der murmelte etwas davon, zu beschäftigt zu sein, und überhaupt hasse er Hochzeiten. Also überließ sie ihn seiner Arbeit.
Das Schloss besaß keine richtige Kapelle, deshalb hatte man die Vorbereitungen in der Sternwarte getroffen. Sie war zwar ein bisschen abgelegen, für die Zeremonie aber ein hübscher Ort. Es war einer der wenigen Räume mit Sonnenlicht, und Ivy hatte es geschafft, einen Regenbogen bunter Rosen an den Wänden entlangsprießen zu lassen. Es sah wirklich schön aus. Es gab keine Stühle, also saßen alle auf dem Boden. Nur eine kleine Auswahl der Schlossbewohner hielt sich hier auf, da die Sternwarte nicht sehr groß war. Der Krötenprinz und die Puppenprinzessin hatten sich eine intime Trauung gewünscht.
Nessy schlüpfte an einem Geist und einer Schlange vorbei, um sich auf einen freien Platz zwischen Yazpib dem Prächtigen und Fortune zu setzen.
»Ich dachte schon, du kämst zu spät«, flüsterte Yazpib.
»Bist du blöd?« Sir Thedeus flog von irgendwo herab und landete auf der Schulter des Kobolds. »Nessy kommt nie zu spät.«
Sie sah zu dem Brautpaar hinüber, das ins goldene Nachmittagslicht getaucht war. Der Prinz trug eine kleine Krone auf dem Kopf und die Prinzessin einen Schleier, den Nessy ihr gestrickt hatte.
»Ich liebe Hochzeiten«, sagte Echo.
»Hochzeiten bringen mich immer herzlich haltlos zum Heulen«, stimmte Olivia, die Eule, zu, die ihre Tagesruhe geopfert hatte, um dem Ereignis beiwohnen zu können.
»Es wird nie funktionieren«, sagte Yazpib. »Die Flüche meines Bruders lassen sich nicht so leicht brechen.«
Der Farn, der die Trauung vornehmen würde, schüttelte seine Blätter und die Zeremonie begann.
»Den Text für die Trauzeremonie habe ich geschrieben«, sagte Echo.
»Die Liebe ist wie eine Blume«, begann der Farn. »Wenn sie aus dem Brunnen der Zärtlichkeit gegossen, vom Licht der Großzügigkeit beschienen und in der Erde eines zugewandten Herzens genährt wird …«
Hinter einem Räuspern kaschierte Sir Thedeus ein Kichern. »Schön, Mädel. Wirklich schön.«
»Schützt euch unter den Blättern eurer Liebe vor den kalten Regengüssen der Unzufriedenheit …«, fuhr der Farn fort.
Sir Thedeus unterdrückte ein Prusten, doch als der Geistliche vor dem Holzfäller der Eifersucht warnte, schaffte es der Flughund nur, einen hysterischen Lachanfall zurückzuhalten, indem er sich mit den Reißzähnen auf die Lippen biss. Die Zeremonie war kurz, was Nessy sehr entgegenkam, denn sie hatte noch so viel zu tun. Der Farn erklärte den Prinzen und die Prinzessin nach den Gesetzen des Himmels und der Erde zu Mann und Frau, und sie neigten sich einander zu, um sich zu küssen.
»Es wird nicht funktionieren«, sagte Yazpib wieder.
Und das tat es auch nicht. Für einen kurzen Augenblick entstand eine enttäuschte Pause im Publikum, doch der Moment verging. Glückwünsche und Hochrufe erfüllten die Sternwarte. Sir Thedeus jauchzte und flog Salti in der Luft. Das Nurgax, ganz im Geist des Anlasses, tanzte mit überraschender Anmut herum und pfiff dazu vergnügt. Sogar Nessy warf den Kopf zurück und stieß ein freudiges Heulen aus.
Die Flickenpuppe schleuderte ihren kleinen Blumenstrauß in die Menge. Olivia segelte durch die Luft und fing ihn in ihren Krallen. Dann umkreiste sie den Raum.
Morton, die Maus, sah zu ihr hinauf. »Sie wäre eine schöne Braut.«
Nessy lächelte. Vielleicht nahte schon eine weitere Hochzeit.
»Ich hab euch doch gesagt, dass es nicht funktionieren wird«, sagte Yazpib.
Sir Thedeus landete auf Nessys Schulter. »Glückwunsch, mein Alter. Endlich hattest du auch mal mit etwas recht.«
Nessy stand auf.
Fortune streckte sich. »Wo gehst du hin?«
»Ich habe Dinge zu erledigen.«
»Aber dann verpasst du die Feier!«, protestierte Dodger zwischen Nessys Füßen.
»Ich habe wirklich keine Zeit.« Sie machte einen Schritt, aber da behinderte sie etwas. Das Nurgax hielt sie am Ärmel fest.
»Ich sollte wirklich nicht.«
Sir Thedeus schüttelte den Kopf. »Du solltest. Wenn jemand ein bisschen Spaß verdient hat, mein Mädchen, dann bist du das.«
Der Jubel der Hochzeitsgesellschaft verebbte. Der Krötenprinz hopste vor. »Es wäre uns eine Ehre, wenn du dabei wärst.«
»Ja, Nessy«, stimmte die Puppenprinzessin zu. »Bitte, komm.«
Das Nurgax jaulte ausgelassen und leckte mit seiner nassen Zunge über Nessys Gesicht.
In Gedanken ging sie die Liste ihrer Pflichten durch. Nichts davon war furchtbar eilig. Nichts, was nicht bis morgen warten konnte. Und obwohl es ihrer Natur widersprach, Dinge aufzuschieben, entschied sie sich, dass das Schloss, wenn es nach den vergangenen Tagen nicht auseinandergefallen war, gewiss auch noch eine verschwendete Nacht lang stehenbliebe.
»Also gut, vielleicht eine halbe Stunde.«
Und die Versammlung jubelte.
Die Feier war eine richtige Gala. Jeder, der konnte, tauchte auf. Es gab eine Menge Freude und Jubel. Es wurde getanzt und gegessen, und Nessy hatte absolut nichts mit der Organisation zu tun. Ein einziges Mal durfte sie sich einfach nur amüsieren, ohne sich darum sorgen zu müssen, alles in Ordnung zu halten. Zwar war es eine seltsame Erfahrung, aber nicht unangenehm. Sie ließ sich sogar dazu hinreißen, mit Sir Thedeus zu tanzen, wenn er sich auch permanent beschwerte, dass sie führte. Es war andererseits auch nicht zu ändern, denn seine Füße reichten gar nicht bis zum Boden.
Die Feier dauerte bis spät in die Nacht, doch Nessy entschied, sich früh zurückzuziehen. Sie entschuldigte sich, dann machten sich sie, das Nurgax und Sir Thedeus auf den Weg zu ihrem Schlafzimmer. Sie gingen nur auf einem kurzen Umweg über die Küche, um ihren Bewohnern eine gute Nacht zu wünschen.
Mister Bones hatte sich freiwillig wieder dort angekettet, wo er hingehörte, und der Demontierte Dan hatte einen neuen Platz neben dem Spülbecken gefunden. Der geistesgestörte Schädel ruhte bequem auf einem Kissen, das ihm Nessy besorgt hatte. Er hatte zwar beinahe die Welt zerstört, das stimmte schon, aber am Ende hatte er sich doch als hilfreich erwiesen. Damit hatte er sich zumindest ein bequemes Kissen verdient. Auf dem Tisch, in einem kleinen Glasbehälter, summte ein dämonisches Glühwürmchen herum. Es war nur eines von vielen solcher Glühwürmchen, die überall im Schloss verteilt waren. Die Dämonin war zwar nicht frei, aber zumindest war sie auch nicht mehr allein.
»Angenehme Träume«, sagte sie.
»Ja, ja«, stimmte Dan zu. »Nur die süßesten Träume für das süßeste Mädchen.«
Die Dämonin und der Schädel kicherten boshaft.
»Ich weiß nicht, ob es so ‘ne gute Idee ist, die beiden zusammen zu lassen«, bemerkte Sir Thedeus.
Ihr Verstand sagte Nessy dasselbe, aber sie hatte ihr Wort gegeben, was ihr sehr wichtig war. Und falls ihr Schloss der Mühe wert werden sollte, musste sie mit gutem Beispiel vorangehen.
Ihr Schloss.
Der Gedanke brachte sie jedes Mal zum Lächeln. Das blaue Licht funkelte in ihren Augen. Natürlich war es nicht mehr nur ihr Schloss. Es gehörte allen, die es ihr Zuhause nannten. Auf diese Art wurden ihre Flüche zumindest ein wenig gelindert.
Das Schloss hatte sich schon auf viele kleine Arten verändert. Seine Fackeln brannten heller, seine Luft war frischer und sein Knarren und Ächzen wirkte weniger unheilvoll. Sogar Die Tür Am Ende Des Flurs blieb an ihrem Platz.
»Nessy, Mädel, ich hab nachgedacht«, sagte Sir Thedeus. »Ich kann mir nicht helfen, ich mache mir immer noch Gedanken wegen Margle. Bist du dir sicher, dass er ganz und gar tot ist?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Und die Seele des Schlosses. Wie können wir Gewissheit haben, dass nicht ein Teil davon herausgeschlüpft ist, als wir Die Tür geschlossen haben? Ich bin mir fast sicher, dass ich danach etwas in die Dunkelheit habe davonkriechen sehen. Und selbst wenn ich es mir nur eingebildet haben sollte, so halte ich es nicht für zu weit hergeholt, dass in diesen Fluren immer noch andere böse Magie herumschleicht.«
»Das könnte sein«, gab sie ihm recht.
»Und unsere Flüche. Wir haben noch keinen einzigen gebrochen.«
»Das werden wir schon noch.«
Nessy drückte die Tür zum Gästezimmer auf. Zwar hatte es eine Weile gedauert, aber sie hatte es am Ende doch geschafft, den Raum bewohnbar zu machen. Hier und da waren noch ein paar Flecken Zipferlak-Schleim zurückgeblieben, außerdem hing nach wie vor ein gewisser Geruch darin, aber das konnte noch bis morgen warten. In dieser Nacht würde sie endlich in ihrem neuen Zimmer schlafen. Das grauäugige Monster war schon eingezogen. Seine zottelige, grüne Gestalt versteckte sich in der Dunkelheit unter dem Bett. Es passte unmöglich darunter, aber auch nicht weniger als in seinem vorherigen Zuhause.
Nessy lehnte den Speer, der sie getötet hatte, in eine Ecke und schüttelte neben dem Kamin ein dickes Kissen für das Nurgax auf. Unaufgefordert setzte es sich. Sie streichelte es noch eine Weile, bis es aufhörte zu schnurren und schließlich einschlief.
Das Monster unter dem Bett zappelte und rutschte herum, grummelte und grunzte.
»Nicht bequem?«, fragte sie.
Die drei Augen blitzten zornig aus den Schatten. »Ich habe Jahre gebraucht, um es mir unter der Pritsche einigermaßen bequem zu machen.«
»Zumindest ist dieses Bett größer.«
»Zu groß. Die Pritsche war gemütlich. Hübsch behaglich und passend.«
»Du kannst gern zurückgehen.«
Es schnaubte. »Ich werde mich daran gewöhnen.«
Im Flur war Geklapper zu hören. Ein grauer Nebel trieb durch die Tür und ließ Steine und Kiesel auf den Boden fallen.
»Der Gorgonendunst«, sagte Sir Thedeus. »Verfluch mich für dämlich, aber den hatte ich ganz vergessen.«
Nessy aber nicht. Sie pflückte einen Beutel von ihrem Gürtel, goss das Pulver darin in ihre Hand und blies. Weißer Frost entwickelte sich und verschlang den Dunst innerhalb von Sekunden. Er verwandelte sogar die Steine wieder in Luft.
Sie murmelte leise und ließ sich selbst aufs Bett schweben. Sie hätte zwar auch einfach hinaufspringen können, aber sie übte gern, wann immer sie konnte. Die Magie erschien ihr jeden Tag einfacher.
» So viele Probleme«, fragte Sir Thedeus, »wie kannst du da nicht besorgt sein, Mädel?«
Sie legte ihn auf das Kissen neben sich. »Schlaf jetzt. Wir haben morgen viel zu tun.«
Er legte den Kopf aufs Kissen, und bald war auch er fest eingeschlafen. Offenbar war er müder gewesen, als er hatte zugeben wollen. Sie selbst dagegen war nicht so müde, wie sie gedacht hatte.
»Nessy?«, fragte das Monster unter ihrem Bett.
»Ja?«
»Möchtest du heute Abend ein bisschen lesen?«
»Nicht heute Abend.« Es seufzte.
»Aber ich kenne eine Geschichte. Ich erzähle sie dir morgen, wenn du möchtest«, schlug Nessy vor. »Wovon handelt sie?«
»Von einem Schloss. Einem Schloss voller Magie und Wunder.«
»Und Flüche?«, fragte das Monster. »Allerdings.«
»Ach, ich weiß nicht. Klingt nicht besonders interessant. Gibt es auch Barbaren darin?«
»Nein, aber es gibt ein Monster«, sagte sie. »Es wohnt unter einem Bett.«
»Ist es wichtig?«
»Sehr. Man könnte sogar sagen, es ist ein Held.«
Das Monster lachte. »Oh, ich kann es kaum erwarten.«
Nessy ließ sich auf ihr neues Bett sinken und horchte auf das Knistern des Feuers. Sir Thedeus hatte unrecht. Sie machte sich Sorgen. Über all die kleinen Dinge, die morgen getan werden mussten. Und all die anderen Dinge, von denen sie noch nicht einmal wusste, die da draußen aber auf sie warteten.
Sich Sorgen zu machen, das war ihr Job.
Mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht schlief sie ein.
»Gute Nacht, Nessy.« Das Monster schloss die Augen und verschwand in der tiefen, wohligen Dunkelheit.
Die Schlafzimmerfackeln verdunkelten sich, und mit einem sanften Grollen schlief das Schloss mit seiner Herrin zusammen ein.
ENDE