EINUNDZWANZIG
Nessy wusste, dass sie tot war. Sie hatte es allerdings erst richtig erkannt, als es längst schon so weit war. Es schien so plötzlich geschehen, und der lebende Verstand war offenbar nicht dafür geschaffen, die Sterblichkeit wirklich anzuerkennen. Doch jetzt, da es einmal passiert und ihre Seele aus der zerbrechlichen, sterblichen Hülle befreit war, hatte sie kein Problem, ihr Hinscheiden zu verstehen.
Noch hatte sie große Schwierigkeiten, Rückschlüsse zu ziehen, wo ihr Geist im Augenblick weilte. Sie musste nur die Ziegelwände des Schlosses ansehen. Aber da war noch etwas anderes. Sie spürte die Wärme von Lebendigkeit unter ihren Füßen, den Puls eines lebenden Wesens, der in den Fluren auf und ab schlug.
»Was tust du hier, Hund?« Margle stand vor ihr.
Sie verbeugte sich vor ihrem ehemaligen Herrn, hauptsächlich aus Gewohnheit. »Dasselbe wie Ihr, nehme ich an.«
Eine Stimme ergriff das Wort, und Nessy wusste sofort, dass sie dem Schloss selbst gehörte. »Nichts verlässt meine tröstliche Umarmung ohne die Erlaubnis meines Herrn.« Die Stimme klang sanft und zart, nicht so wie die Stimme einer verfluchten Festung, sondern wie die eines entzückenden, heimeligen Häuschens. »Nicht einmal Seelen. Das ist dein Werk, Margle. Oder hast du die unermessliche Gier vergessen, die dein Leben so sehr bestimmt hat und es selbst jetzt im Tod noch tut?«
Der Zauberer antwortete nicht. Er starrte Nessy nur kalt an.
»Du hast mich umgebracht.«
Das Schloss lachte. »Du hast dich selbst umgebracht. Schieb jetzt nicht ihr die Schuld zu. Aber ich schätze, deine Arroganz war genauso grenzenlos wie deine Gier.«
Margle warf böse Blicke um sich, ohne etwas Bestimmtes anzusehen. Er stieß mit dem Finger nach Nessy und murmelte eine Beschwörung, die sie von innen heraus rösten sollte. Aber er rief Magie an, die er jedoch nicht länger besaß - also geschah nichts.
»Wenn ich meine Rache mit meinen eigenen bloßen Händen üben muss, so unangenehm das auch sein mag, dann sei es eben so.«
Er warf sich auf sie, sie grub ihre Zähne in das weiche Fleisch seiner Hände und biss ihn beinahe blutig.
Auch wenn sie nicht ganz sicher war, ob Geister überhaupt bluten konnten.
Er wich zurück. Seine Augen wurden groß. »Du hast mich gebissen!«
Das Schloss lachte. »Sehr gut! Obwohl ich persönlich ja ein oder zwei Finger abgebissen hätte.«
»Du kannst mich gar nicht beißen!« Margle rieb sich die Wunde. »Ich bin dein Meister!«
»Du warst mein Meister.« Sie entblößte ihre scharfen Zähne zu einem freundlichen Lächeln.
Die Fackeln um Nessy herum brannten heller, während die anderen erloschen. Dunkle Dinge, man konnte es nicht anders beschreiben, glitten aus den Schatten und schlangen sich um Margle, zerrten ihn in die Dunkelheit, wo seine Schreie bald verklangen. Das Licht kehrte zurück, und dann war er fort.
»Was hast du mit ihm gemacht?«, fragte Nessy.
»Nicht mehr, als er verdient hat.« Die Stimme war jetzt tiefer, härter, mit grimmigem Humor gefärbt. »Gönn es ihm, eine Weile mit meinen Schatten zu ringen. Dann sind sie eine Zeitlang beschäftigt.«
Entfernte Schreie und Geheul, die Margle und etwas anderem gehörten, drangen an Nessys Ohren, und sie verzog das Gesicht.
»Wo nimmst du das Mitleid für solch eine verdorbene Seele her?«, fragte das Schloss. »Dein Mitgefühl ist unangebracht. Meine Dunkelheit ist Margles eigene Schöpfung. Er erntet nur, was er selbst gesät hat.«
Sie zuckte die Achseln. Mit Grausamkeit hatte sie nie etwas anfangen können - auch nicht, wenn man sie gegen die Grausamen selbst richtete.
Die Korridore verdüsterten sich, und mehrere Fackeln flackerten hell auf. »Geh ein Stück mit mir, Nessy. Aber bleib in meinem Licht. Meine Seele ist ein aufgewühltes Meer, und viele der weniger angenehmen Dinge, die darin schwimmen, sind in letzter Zeit unruhig geworden. Im Gegensatz zu Margle hast du nicht die nötige magische Ausbildung, um solchen geistigen Qualen widerstehen zu können.«
Die Fackeln führten sie die Flure entlang, und Nessy hörte sich an, was das Schloss ihr erklärte.
»Um die Lage zu verstehen, musst du die grundsätzliche Philosophie von Zaubersprüchen begreifen. Das ist ein Geheimnis, das nicht viele kennen, denn Zauberer und ihresgleichen sprechen nicht gern darüber. Sie tun lieber so, als seien sie Herr über die Magie, während sie in Wirklichkeit wenig mehr als Schneider und Näherinnen sind, die ihre Zauber aus einem wesentlich größeren Webteppich nähen und knüpfen. Sie schneiden hier ein bisschen ab, verknüpfen dort zwei Teile miteinander und kappen ein paar unerwünschte Stücke. Dieses verworfene Material wird weggeschmissen und auf natürliche Weise wieder in diesen Webteppich absorbiert.
Doch hier hat Margle in seiner zerstörerischen Gier seinen Fehler gemacht. Denn der habgierige Narr, der er war, weigerte er sich, diese Stücke freizulassen. Er warf sie hinter eine besondere Tür in seinem Schloss, und zwar aus keinem anderen Grund, als dass er den Gedanken nicht ertragen konnte, sie loszulassen. Sie nützten ihm nichts, diese kleinen Stückchen unfertiger Magie. Also ruhten sie sehr lange Zeit unbeachtet hinter dieser besonderen Tür. Bis etwas Unvorhergesehenes begann.
Diese Stücke von Zaubersprüchen und Fetzen von Hexerei begannen sich jedoch zu entwickeln, zuwachsen und sich zu verändern, gewissermaßen zu gedeihen. Jeder Zauber, der gewirkt wurde, trug zu der explosiven Mischung, zu diesem neuen Leben bei. Und das ging eine ganze Weile so, bis Margle es endlich bemerkte.
Damals hätte er es ungeschehen machen können. Aber in seiner Arroganz erkannte er es nicht als das, wozu es werden konnte. Stattdessen war er neugierig. Und so bekam es die Möglichkeit, seine Evolution unter Margles Beobachtung fortzusetzen. Doch irgendwann konnte selbst sein Dünkel die Wahrheit nicht mehr verbergen. Dass nämlich dieses Experiment hinter Der Tür zu mächtig, zu gefährlich und auch zu unberechenbar geworden war. Bis dahin war es jedoch längst zu spät, es zu zerstören. Magie ist rohe Möglichkeit, aber aus zu viel Möglichkeit entsteht nur Chaos. Meere hätten kochen können. Kontinente hätten versinken können. Monster hätten aus Höllenwelten fallen können. Katzen hätten anfangen können zu tanzen, und Gänse hätten für den Winter nach Norden fliegen können als in einer Jahreszeit, die nur drei Minuten lang gewesen wäre. Und das sind lediglich Beispiele. Wenn aber solch beispiellose magische Energien dermaßen plötzlich entfesselt würden, könnte dies den Wahnsinn in die Welt bringen.
Margles einzige Alternative war, das Experiment einzudämmen. Er versteckte es hinter starken Zaubern, um zu verhindern, dass es jemals entkam. Und dort wartete es, veränderte sich ständig, wuchs und gestaltete sich. Und mit der Zeit entwickelte es ein eigenes Bewusstsein. In seinem Inneren wurde es sich aller Dinge gewärtig. Und es lernte.«
Das Schloss wurde still. Die Fackeln wurden dunkler.
»Ich habe schreckliche Dinge gelernt, Nessy.«
Eine frostige Brise fegte durch den Saal, und sie zitterte. Lange Zeit herrschte Schweigen.
»Du musst das verstehen«, sagte es leise. »Ich wurde von Margles verdorbener Zauberei genährt. Schwarze Magie erzeugt schwarze Magie. Und ich wurde seit meiner Geburt mit Grausamkeit aufgezogen. Ich kannte wenig anderes. Was hätte ich denn sonst werden können? Was denn anderes als ein entsetzliches, missgestaltetes Grauen?«
»Ich verstehe.« Nessy rieb mit der Hand in kleinen, tröstenden Kreisen über eine Wand, und dies schien das Schloss aufzumuntern.
»An dieser Stelle kamst du ins Spiel. Du warst die Erste, die die Tugend des Mitgefühls zeigte. Dieses Mitgefühl lebt nun in mir, auch wenn es sehr klein ist und meine Grausamkeit und der Wahnsinn stärker sind. Aber ich bin immer noch auf der Suche nach meiner endgültigen Form, und meine vielen Facetten kämpfen alle um die Vorherrschaft. Es ist zwar ein schwieriger Kampf, aber meine Hoffnung ist, dass der fertige Entwurf die Mühe wert war. An diesem Tag in ferner Zukunft kann Die Tür vielleicht endlich geöffnet werden.«
Die Seele des Schlosses schwieg, damit Nessy verarbeiten konnte, was sie gesagt hatte. Die Fackeln führten sie eine Treppenflucht hinauf - bis zum höchsten Turm. Das Geisterschloss glich vollständig dem realen, bis auf die fehlenden Möbel und Fenster. Aber in diesem Raum gab es noch einen Unterschied. Ein kleiner Tisch stand in der Mitte des Raums, und ein geschlossenes Buch lag darauf.
Der Raum verdunkelte sich. Margle wurde durch die Türöffnung hereingespuckt. Er landete ungraziös auf dem Gesicht, wo er stöhnend eine Weile liegen blieb.
»Steh auf!«, befahl das Schloss. »Sei nicht so theatralisch.«
Langsam stand er auf, und Nessy wurde bewusst, was für eine jämmerliche Gestalt aus ihm geworden war. Ohne seine Magie schien er nur ein kleiner, unscheinbarer Mann zu sein. Und seine blanke Seele war nichts als ein bedauernswertes Ding. Sie nahm seinen Arm, um ihn zu stützen.
»Geh weg, Hund!« Er zuckte zurück und verlor stolpernd fast das Gleichgewicht. »Deine Berührung widert mich an!«
»Armer, armer Margle«, sagte das Schloss. »Du wirst es nie lernen. Und ich denke, dasselbe kann man von dir sagen, Nessy. Seltsam, wie sich dieselbe Eigenschaft bei einem so verwerflich und beim anderen so lobenswert auswirken kann.«
Die Stimme seufzte.
»Erzähl ihr von Tiama, Margle.«
Margle knurrte: »Was faselst du da? Es gibt keine Tiama. Sie ist nur eine Gruselgeschichte, die man sich unter Zauberern erzählt.«
»Das war sie. Bis du sie Wirklichkeit werden ließest.«
»Tiama ist ein Zauber«, begriff Nessy und sprach es laut aus. »Sie ist ein Zauber, um Margles Tod zu rächen.«
»Ja, ja, das war der Zweck«, sagte Margle. »Aber er war nicht nach meinem Geschmack. Also habe ich ihn verworfen.«
»Und wo geht all deine ungewollte Magie hin?« Das Schloss lachte laut und anhaltend. »Sie kommt zu mir. Und auch wenn die Befestigungen, die mich hinter Der Tür einschließen, mächtig sind, bin ich doch stark genug geworden, um aus meinem Gefängnis zu sickern. Als Margle starb, fand mein dunkleres Selbst die Kraft, sie zu erwecken. Aber mit einem neuen Ziel. Trotzdem konnte sie ohne ein abschließendes Element nicht entkommen: Damit ist deine Erlaubnis gemeint, Nessy. Die du - ahnungslos - erteilt hast.«
Nessy runzelte die Stirn. Hätte sie Tiama nur am Hauptportal abgewiesen, dann wäre nichts von alledem geschehen.
»Du konntest es nicht wissen. Du hast nur getan, was du für das Beste hieltest. In meiner Seele gibt es ein Gleichgewicht, auch wenn es äußerst schwach ist. Als ein Teil meiner Bosheit ausbrach, schlüpfte mit ihm auch ein Splitter meiner Güte mit hinaus. Es war ein winziges Stück Magie. Gerade genug, um die verzauberte Rüstung des Blauen Paladins und seine Armee zu wecken. Meine gute Hälfte hoffte, Tiama mit diesen Mitteln zerstören zu können, aber ihre physische Gestalt ist lediglich Zweckmäßigkeit. Die bösartige Magie, die sie erweckt hat, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Man muss sie dorthin zurückschicken, wo sie herkam. Als meine gütige Seite das erkannte, traf sie sie an ihrem einzigen schwachen Punkt, dem Einzigen, was sie tun konnte, um zu verhindern, dass Die Tür geöffnet wurde.«
Die Fackeln flackerten und verdüsterten sich.
»Es tut mir leid, Nessy.«
Sie lächelte. »Es musste sein.«
»Du bist wirklich eine versöhnliche Seele.« Die Fackeln flammten wieder auf. »Ich habe noch einen Zauber übrig, eine einzige Zauberformel, die von Margle in mich hineingelegt wurde. Mit ihr kann ich meinen Herrn wieder zum Leben erwecken. Mit ihr kann ich mich meiner dunklen Seite in den Weg stellen.«
»Dann bring mich ins Leben zurück, damit ich das tun kann!«, rief Margle und klang dabei ziemlich kindlich.
»Ich kann aber nur einen Herrn haben.« Die Stimme wurde hart und kühl. »Und wer von euch beiden das sein wird, muss noch festgelegt werden.«
Die Fackeln flackerten. Ein Grollen rollte die Treppen herauf und Schatten krochen über die Wände.
»Meine dunkle Seite ist zwar stärker, aber dieser Zauberspruch ist ein Zauber des Lebens und der Heilung. Dadurch fällt er in den Bereich meiner menschlicheren Seite. Und so stehe ich vor einer Art Dilemma.
Margle besitzt als großer Zauberer die Macht und das nötige Wissen, Tiama ganz einfach in ihr Gefängnis zurückzuwerfen. Aber er ist auch eine unrettbar verdorbene Seele und besitzt keine einzige bewundernswerte Eigenschaft. Zumindest keine, die meine freundlichere Hälfte bewundernswert findet.
Nessy dagegen ist ein wunderbares Wesen und jemand, von dem ich glaube, sie kann noch viel mehr lernen. Aber ihr fehlt die Macht, und auch wenn ich auf ihr Können vertraue, muss ich mich fragen, ob dieses Problem über ihre Fähigkeiten geht.«
Die Wände bebten. Die Steine unter ihren Füßen verschoben sich. Ein schauriger Klagelaut erfüllte das Schloss.
»Meine dunkle Seite wird langsam ungeduldig. Tiama könnte in ihrer blinden, unkontrollierten Wut das Schloss und alles, was darin ist, vernichten, sich selbst eingeschlossen.« Das Stöhnen kühlte die Luft ab und bösartige Schatten schlängelten sich durch die Risse in den Wänden. »Vielleicht wäre das auch das Beste.«
Nessy trat vor, obwohl die große Seele überall um sie herum war, sodass es eher eine Geste für sich selbst als für das Schloss war. »Ich kann sie aufhalten.«
Margle lachte. »Sei nicht albern.«
»Ich kann sie aufhalten.«
»Das ist lächerlich!«, schrie Margle jetzt. »Du willst das doch nicht wirklich diskutieren? Ich bin dein Meister! Ich habe dich geschaffen! Du würdest ohne mich gar nicht existieren! Was hat dieser Hund getan? Ein paar Flure gefegt? Ein paar Bücher alphabetisch geordnet? Selbst diese einfachen Aufgaben wurden kein einziges Mal zu meiner Zufriedenheit erledigt, und ich werde mich nicht mit diesem … Ding messen!« Dann trat er Nessy, die nicht darauf vorbereitet war und hinfiel. Noch zweimal trat er sie, und zwar so fest es seine dünnen Beine erlaubten. Die verzerrten, dunstigen Ghule kicherten. Er zog seinen Fuß für einen vierten Tritt zurück, als Nessy wegsprang.
Sie biss in seinen Knöchel, er schrie. Und sie entdeckte, dass Geister tatsächlich bluten können. Sein gallebitteres Blut brannte auf ihrer Zunge und reizte ihren Gaumen. Doch sie versenkte ihre Zähne noch tiefer. Margle heulte und versuchte vergeblich, sie abzuschütteln, bis sie von sich aus losließ.
Sie blieb auf allen vieren und knurrte, unterbrochen nur von angriffslustigem Bellen. Sie fletschte die Lippen und gab den Blick auf scharfe, blutbefleckte Reißzähne frei, die viel länger und spitzer waren, als es Margle je bewusst gewesen war. Ihre Augen, sonst leuchtend und aufgeweckt, waren jetzt zwei schwarze Perlen der Verachtung.
»Selbst die geduldigste Seele hat ihre Grenzen, Meister«, sagte das Schloss. Seine ghulischen Schatten lachten auch darüber.
Nessy rückte vor. Margle wich auf seinem verletzten Bein hinkend zurück. Sie war zwar nur ein kleines Wesen, aber ohne seine Zauberkunst hatte er wenig Chancen, ihre Bisse zu verhindern. Als er mit dem Rücken an der Wand stand, kauerte er sich zusammen, die Arme und Beine eng an den Körper gezogen. Und er zitterte in einer Pfütze seines eigenen Blutes.
»Nicht. Tu mir nichts.«
Doch sie wollte es so gern. Ein Biss für jede Beleidigung. Ein Hieb mit ihren Krallen - für jede zugefügte Verletzung. Ein Tropfen Blut für jedes fluchbelegte Opfer seiner Grausamkeit. Nicht weniger hatte er verdient. Vielleicht lag am Ende doch ein Sinn in der Grausamkeit gegen den Grausamen. Vielleicht würde Margle, blutbefleckt und gedemütigt, doch noch den Reiz der Barmherzigkeit lernen. Wahrscheinlich war es allerdings nicht. Aber in einer Welt ohne Gerechtigkeit war Rache das Einzige, worauf man hoffen konnte.
Sie legte die Ohren an. Speichel tropfte von ihren Lippen. Die Schatten zupften schalkhaft an den Haaren und Kleidern des Zauberers. Sie flüsterten in seine Ohren, sannen laut über den süßen Schmerz nach, den er bald erleiden würde. Und Margle weinte. Er schluchzte und zitterte. Rotz tropfte ihm über die Lippe.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er fuhr zusammen. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Doch Nessy biss nicht. Sie wischte sich die Spucke von den Lippen und lächelte sanft. Dann verscheuchte sie die Schatten, indem sie sie wie summende Insekten wegfegte. Danach half sie ihm auf. Sie bemerkte die Verwirrung in seinem Blick. Er verstand nicht, warum sie ihn nicht in Stücke riss, und er würde es wohl auch nie verstehen. Sie staunte, wie jemand gleichzeitig so viel und so wenig wissen konnte.
Die Stimme des Schlosses war dunkel und leise. »Er hat dein Mitleid nicht verdient.«
Nessy antwortete: »Mitleid verdient man sich nicht. Man bekommt es geschenkt.«
»Das kann ich schwer nachvollziehen. Ich habe zu viel Bosheit in mir.« Die Stimme veränderte sich. Sie blieb zwar schroff, doch nicht mehr so sehr. »Aber ich habe recht, was dich angeht, Nessy. Du kannst mir viel beibringen. Und Margle, dieses alberne, jämmerliche Ding, hat seine Lektionen aufgebraucht.«
Der Zauberer protestierte nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich die Tränen abzuwischen.
»Bevor ich dich ins Leben zurückschicke, Nessy, stelle ich dir diese Rätselfrage: Es gibt eine Tür, die nicht geöffnet werden darf, und ein Ding auf der falschen Seite der Tür. Wie bekommst du es wieder dorthin, wo es hingehört?«
Nessy dachte nur kurz nach, bevor sie ihre Antwort fand. Als sie sie hörten, lachten die gute und die schlechte Hälfte des Schlosses gemeinsam. Das Buch schwebte vom Tisch in Nessys Hände.
»Lies es, und mach dich auf den Weg. Aber sei vorsichtig. Ich habe nicht die Macht, einen zweiten Tod zu durchkreuzen.«
Nessy warf einen Blick auf Margle, der seine Fassung wiedergewonnen hatte, wenn seine Arroganz auch offensichtlich nachgelassen hatte. »Und was ist mit ihm?«
»Was mit ihm ist? Er verdient jede Qual, die er erleidet. Und noch mehr.« Das Schloss seufzte tief. »Aber ich werde ihm Gnade gewähren, selbst wenn ich nicht einsehe, warum ich das tun sollte. Er wird vor meinen Schatten sicher sein, geschützt in der Wärme meiner Barmherzigkeit. Und jetzt geh. Möge das Glück dir hold sein, meine Herrin.«
Nessy öffnete das Buch. Eigenartige Buchstaben tanzten auf den Seiten. Sie funkelten in weichem Licht. Nessy verschwand. Das Buch fiel zu Boden und überließ Margle der Gnade des Schlosses. Er humpelte auf seinem blutigen Bein und klaubte das Buch auf. Doch seine Seiten waren leer.
»Der Zauber ist fort«, sagte das Schloss, und seine finsteren Phantome heulten vor Vergnügen.
Margle zuckte zusammen. Er war jetzt ein Geist, seine Wunde konnte für immer bluten, ohne ihn zu töten. Ihm stand zwar keine Ewigkeit in Höllenqualen bevor, dafür aber eine endlose, lästig brennende Verletzung. Und zum ersten Mal in seinem Leben und Tod kam ihm ein Gedanke. Der Gedanke, dass er sich das vielleicht - nur vielleicht - selbst zuzuschreiben hatte. Doch es war nur eine leise Ahnung, und er verwarf sie schnell wieder.
»Hör auf zu winseln«, seufzte das Schloss. »Setz dich.«
Ein Stuhl erschien an dem kleinen Tisch, und er benutzte ihn. Er war nicht im Geringsten bequem, entlastete aber seinen Knöchel.
»Verbinde das, sei so gut«, sagte das Schloss. »Du blutest mir den ganzen Boden voll.«
Eine Verbandsrolle lag auf dem Tisch, und Margle verband seine Wunden. Als er fertig war, lehnte er sich auf seinem unbequemen Stuhl zurück und fühlte sich ein klein wenig besser.
Im höchsten Turm der Seele des Schlosses brannten die Fackeln ein kleines bisschen heller, und die Schatten wurden ein kleines bisschen ruhiger. Und irgendwo in seiner vielschichtigen, gigantischen Seele lächelte das Schloss, auch wenn es nicht so genau wusste, warum.
Sir Thedeus wachte über Nessys Leichnam. Sie war ein so kleines Wesen, nicht besonders anzusehen, aber es schien, als habe ihr Tod auch etwas in ihm sterben lassen. Er war immer ein Kämpfer gewesen, also keiner, der die Waffen streckte und aufgab. Aber jetzt…
Jetzt fragte er sich, ob er je wieder die Stärke aufbringen würde.
Es war nicht der Fluch des Flughundkörpers, der ihn einschränkte. Nessy hatte ihm mehr als einmal gezeigt, dass Stärke nicht nur in der körperlichen Kraft lag, aber jetzt war doch alles anders. Er blickte auf den toten Kobold und verzog das Gesicht.
Doch keiner nahm ihr Ableben schwerer als das Nurgax. Das violette Tier hatte aufgehört zu wehklagen. Jetzt lag es nur noch in einer trostlosen Imitation des Todes neben ihr. Es hatte sich schon über eine halbe Stunde nicht bewegt, und nur sehr wenig deutete darauf hin, dass die Kreatur überhaupt noch atmete.
»Ich kann es auch nicht fassen, dass sie fort ist«, sagte Echo leise. »Was sollen wir bloß tun?«
»Nichts. Wir tun gar nichts, Mädel.«
Der Demontierte Dan gluckste.
Sir Thedeus knurrte: »Kann mal jemand diesen verdammten Irren zum Schweigen bringen?«
»Wenn der Tod den alten Dan nicht mundtot machen konnte«, antwortete dieser, »wüsste ich nicht, was einer von euch da machen könnte.«
Mister Bones ließ Dan auf den Boden fallen und setzte sich auf den Schädel. Doch Dan ließ sich nicht so leicht zum Verstummen bringen. Er wand sich auf seinem Unterkiefer und nuschelte mit zusammengebissenen Zähnen.
»Was würde die liebe, gute Nessy denn nur sagen, wenn sie euch alle so düster Trübsal blasen sähe? Sie wäre enttäuscht, jawohl. Schließlich war sie bereit, ihr Leben für Leute wie euch hinzugeben, und jetzt sitzt ihr nur herum und zieht Schnuten.« Er heulte schrill auf und warf Mister Bones ab. »Oh, wir Armen! Wir Armen! Nessy ist tot, aber wir sind die Unglücklichen, jawohl!«
Mister Bones schnappte ihn und mühte sich ab, seinen wackelnden Kiefer zuzuhalten.
»Du verbietest mir nicht den Mund, mein lieber Körper! Ich habe von Nessy gelernt, niemals zu schweigen! Ich habe nämlich dazugelernt, im Gegensatz zu euch winselnden fleischigen Typen!«
Das Skelett hielt Dan fest umklammert, aber Dan nuschelte einfach weiter.
»Warte«, sagte Sir Thedeus. »Lass ihn reden.«
Der Demontierte Dan heulte. »Oh ho ho! Jetzt wollt ihr den alten Dan anhören! Bin wohl doch nicht so verrückt, was?«
Sir Thedeus flog auf Mister Bones’ Schulter. »Du bist irre, Mann. Aber du hast nicht unrecht.«
»Ich habe immer recht, auch wenn es die meisten normalerweise nicht wahrhaben wollen!«
»Warum solltest du uns zum Kämpfen ermutigen wollen?«, fragte Sir Thedeus. »Ich dachte, du willst, dass die Tür geöffnet wird?«
»Oh, das wollte ich in der Tat.« Der Demontierte Dan pfiff. »Aber der Vorteil des Wahnsinns ist, dass ich meine Meinung ändern kann, wann immer mir verdammt noch mal danach ist. Und jetzt, da der alte Dan ein bisschen Zeit zum Nachdenken hatte, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das Ende der Welt heute will. So viele interessante Wendungen gab es schon an diesem Tag. Hat meine Neugier angestachelt, ja, das hat es. Hat mir eine neue Perspektive eröffnet.«
»Und das ist alles?«, fragte Echo.
»Tja, der alte Dan langweilt sich auch ein bisschen. Dürfte für ein bis zwei Lacher gut sein, euch zuzusehen, wie ihr euer Leben für eine hoffnungslose Sache wegwerft. Hoffnungslose Sachen waren schon immer mein Ding. Und Massaker umso mehr.«
»Er hat recht«, sagte Echo. »Was haben wir für eine Chance?«
»Keine.« Sir Thedeus richtete seinen winzigen Körper hoch auf. »Wir haben überhaupt keine. Aber wir kämpfen trotzdem. Und wenn wir sterben, tun wir das mit Ehre und Tapferkeit.«
Dan lachte gackernd. »Und mich nennen sie verrückt.«
Der Blaue Paladin sprang scheppernd auf. Ein Wirbel von Farben senkte sich auf Nessys Körper, und einen Moment lang strahlte sie so hell, dass es schmerzte hinzusehen.
»O verdammt«, sagte Dan. »Ich hatte gehofft, sie würde wenigstens noch ein kleines bisschen länger weg sein.«
Das Glühen verblasste, sie setzte sich auf und blickte stirnrunzelnd auf den Speer, der in ihrem Herz steckte. »Würde es dir schrecklich viel ausmachen …?«, fragte sie den Paladin.
Er zog den Speer aus ihrer Brust. Die Wunde schloss sich und sie holte tief Luft. »Viel besser, danke.«
Das Nurgax heulte vor Entzücken. Es tanzte auf seinen zwei Stummelbeinen um Nessy herum und trällerte misstönend, während es sie ableckte. Sie erduldete seine Freude eine ganze Weile, bevor sie ihm beruhigend die Schnauze streichelte.
»Das ist’n Wunder!« Sir Thedeus flog an ihre Seite und krabbelte über ihre Schultern, um sich zu bestätigen, was ihm seine Sinne sagten.
»Kein Wunder. Nur Magie.«
Sie spitzte die Ohren, denn sie spürte ein unbekanntes Prickeln in der Luft. Etwas Neues geschah. Sie kannte jetzt den Willen des Schlosses. Seine Wünsche. Das war allerdings schon lange so. Aber nun kannte das Schloss auch ihren Willen. Es war eine zarte Verbindung. Die finstersten Begierden des Schlosses trampelten wie eine fürchterliche Bestie dahin. Wohingegen ihr Wille ein subtiles Ding war, das rittlings auf den Schultern des Monsters saß und versuchte, diese Begierden in positivere Richtungen zu lenken. Oder zumindest in weniger gefährliche.
Es war zwar eine schwierige Aufgabe, aber sie konnte es schaffen, denn sie war die Herrin des Schlosses. Ihre Methoden waren ganz andere, als es Margles gewesen waren. Aber sie würde lernen. Und mit ihr das Schloss.
In der Säulenhalle grollte das Schlagen von tausend winzigen Flügeln. Die Türflügel flogen auf, und ein Schwarm von dämonischen Glühwürmchen flutete den Raum. Sie schwirrten herum, lachten, griffen aber noch nicht an. Ein Insekt mit einem flammend blauen Schwanz setzte sich auf Nessys Nase. Es sprach, kaum hörbar über dem donnernden Lärm.
»Hallo, Nessy. Ich habe gehört, du seiest tot.« Der Schwarm kicherte und wiederholte das letzte Wort wieder und wieder. »Ich bin froh zu sehen, dass es nicht so ist. Wie könnte ich deine Seele sonst abholen?«
»Ich habe keine Zeit für so etwas.« Sie wischte das Glühwürmchen weg.
Der Schwanz des Dämons wurde hellorange. »Nessy, du hast dich verändert. Etwas ist anders an dir. Ich weiß nicht, ob es mir gefällt.«
»Fort mit dir«, befahl Sir Thedeus. »Wir müssen uns um eine Hexe kümmern.«
Die Glühwürmchen landeten. Sie krabbelten wie ein lebendiger Teppich über den Boden. »Ich bin gekränkt. Ich bin viel gefährlicher als eine dürftige Hexe.«
»Nicht diese Hexe.«
Der Schwarm wirbelte in einem feurigen Zornesausbruch herum. »Ich bin die Königin der Unterweit! Ich werde dieses Schloss und alles darin zerstören, seine Seelen sollen meinen unheiligen Appetit sättigen!«
»Heute stirbt niemand«, sagte Nessy mit fester Stimme.
Die Dämonin lachte. »Und was lässt dich glauben, du könntest mich aufhalten?«
Nessy lächelte. »Ich kenne deinen wahren Namen.«
Die Glühwürmchen surrten wütend. »Du lügst!«
»Möglich, aber ich war schon immer eine furchtbar schlechte Lügnerin.«
Ein Trupp Insekten löste sich aus dem Schwarm und untersuchte Nessys Gesicht. Sie starrte in die Dutzende winziger roter Augen zurück, und sie blinzelte nicht.
»Meine liebe kleine Nessy, ich frage mich: Hast du die Kunst der Täuschung gelernt? Ist das aus deiner schönen Seele geworden?« Die Dämonin ließ es sich durch den Kopf gehen und flüsterte dabei mit ihrem multiplen Ich. »Und angenommen, es stimmt, wo hast du diese Information bekommen, von der kein lebender Sterblicher weiß?«
»Margle hatte es in ein Buch geschrieben, und ich habe es nachgelesen. Nur für den Fall, dass ich es einmal brauchen kann.«
»Soll ich dir wirklich glauben, dass Margle eine so wertvolle Information einfach herumliegen ließe?«
»Sie lag nicht einfach herum, sodass jeder sie finden konnte, aber ich kenne dieses Schloss eben sehr gut.« Sie zuckte die Achseln. »Auf alle Fälle liegt es an dir, was du glauben willst.«
»Du weißt aber schon, dass jeder Sterbliche, der es wagt, meinen wahren Namen auch nur zu flüstern, neben mir zugrunde gehen wird, sobald er die gottlose Silbe ausgesprochen hat?«
Nessy nickte. »Ich bin heute schon einmal gestorben, der Tod ist kein besonders furchterregendes Schicksal für mich.«
»Sie lügt!«, sagte ein Insekt.
»Will ich dieses Risiko eingehen?«, fragte ein zweites.
»Aber ich kann unmöglich in mein violettes Gefängnis zurück!«
Der Schwarm toste unisono: »Das werde ich nicht! Lieber krümme ich mich bis in alle Ewigkeit in der Grube, als noch eine Minute allein in diesem Raum eingesperrt zu sein!«
»Vielleicht könnten wir ein anderes Arrangement treffen.«
»Willst du mit mir verhandeln?« Die Flammen des Schwarms blitzten in allen Regenbogenfarben auf. »Nur arrogante Narren machen Geschäfte mit Dämonen.«
»Das ist kein Handel«, sagte Nessy, die nicht einen Moment lang aufhörte zu lächeln. »Es ist ein Kompromiss.«
Die tausend Gesichter der Dämonin verzogen sich finster. »Es gibt kein schmutzigeres Wort. Ich wäre die Lachnummer der Unterwelt. Nein, Nessy. Ich lasse es darauf ankommen. Schick mich von mir aus in die Hölle zurück. Aber verlang nicht von mir, diese Blasphemie zu begehen.«
»Wenn du darauf bestehst.« Der Kobold räusperte sich.
»Warte!«, brüllte die Dämonin. Das Schlagen ihrer Flügel wurde zu einem Flüstern. »Du würdest wirklich, oder?«
»Sie würde«, sagte ein Glühwürmchen, das neben Nessys Ohr summte.
»Ohne zu zögern«, fügte ein anderes Insekt hinzu, das auf ihrem Kopf herumkrabbelte.
»Dann muss ich mich folgender Frage stellen: Falls du nicht lügst« - sie hielt inne, um den Kobold fast eine Minute lang von oben bis unten zu mustern -, »falls du nicht lügst, dann muss ich entweder sterben oder einen Kompro…« Das Wort blieb ihr in den Hälsen stecken. »Das tun, was Dämonen so hassen. Lass mich einen Moment mit mir selbst darüber diskutieren.«
»Natürlich, aber nur einen Moment«, willigte Nessy ein. »Ich habe schließlich nicht die ganze Nacht Zeit.«
Der Schwarm flog in eine Ecke und schnatterte gedämpft. Alle anderen warteten schweigend. Sie wagten es nicht zu sprechen. Sir Thedeus wanderte auf Nessys Schultern auf und ab, und Echo pfiff, wie sie es manchmal tat, wenn sie besonders nervös war.
Ein einzelnes Glühwürmchen löste sich aus dem Schwarm und landete auf der Nase des Kobolds. »Ich habe meine Meinung geändert, Nessy.« Ihr Schwanz schimmerte sanft rot. »Ich glaube, ich mag deine neue Art doch. Ich mag sie sogar sehr.«
Und die Dämonin lachte ein leises, eiskaltes Kichern, das alle im Raum erschaudern ließ, inklusive Dan und den Paladin. Alle außer Nessy, die nicht mal mit der Wimper zuckte und weiterhin unverändert lächelte.