VIERZEHN
Trotz der gefährlichen Natur ihres Zuhauses war Nessys Job nicht immer anregend. Vielleicht galten außerhalb dieser Mauern wandelnde Leichen, schwatzhafte Wasserspeier und körperlose Stimmen als Kuriositäten, aber Nessy arbeitete schon lange genug für Zauberer, um solche Eigentümlichkeiten nicht weiter bemerkenswert zu finden. Und auch wenn sie nichts gegen ein wenig Aufregung hier und da hatte - weil das Unerwartete ihren Beruf so interessant machte -, genoss sie doch genauso die ruhigen Zeiten, wenn sie allein mit ihrer Arbeit war. Nach den letzten Tagen wusste sie diese Augenblicke umso mehr zu schätzen.
Alle waren anderswo mit anderen Dingen beschäftigt. Sie hatte keine Ahnung, womit. Es war ihr auch egal. Sie wollte nur ihren Augenblick der Ruhe und des Friedens genießen, solange er anhielt. Lediglich das Nurgax blieb an ihrer Seite, aber es war so empfänglich für ihre Stimmung, dass es schwieg wie ein Grab. Es schleppte den Wagen mit stiller Effizienz. Das Quietschen der Wagenräder und das Knarzen und Ächzen des Schlosses waren die einzigen Geräusche.
Sogar der Höllenhund, der immer noch im Teppich gefangen war, blieb friedlich. Er schlief am Tag, ob nun zusammengerollt in einem Schatten oder im Sehr Hungrigen Teppich, das war ihm gleich. Die Bestie hatte es geschafft, eine ihrer großen, schwarzen Tatzen zu befreien. Ein weiterer Riss im Teppich ließ ein einzelnes, geschlossenes Auge erkennen. Sein rhythmischer Atem wurde durch den Teppich gedämpft.
Nessy ging zu ihrem Wagen und griff in einen Eimer voller sich windender, zombifizierter Anatomie. Sie zog eine Hand heraus. Um genau zu sein, sie zog ihren Arm heraus, an dessen Handgelenk sich eine zombifizierte Hand klammerte. Es war eine kleine Hand. Wahrscheinlich hatte sie einmal einem Zwerg gehört. Sie hoffte, sie würde ihrem Bedarf entsprechen.
Die Zombies schienen ihr ein geeigneter Köder für ihren Plan zu sein, aber nur, wenn der Höllenhund darauf reagierte. Sie wusste, sein Appetit verlangte nach untoten Dingen. Aber diese Zombies waren nicht ganz dasselbe wie der Vampirkönig oder die Ertrunkene Frau. Diese hier besaßen keine Seelen. Es war totes Fleisch, das durch schwarze Magie animiert worden war. Nichts weiter als eine nekromantische Neuheit. Aber sie waren untot, und sie hoffte, dem Hund werde der Unterschied egal sein.
Sie hielt die Zwergenhand nahe an den Hund heran. Er rührte sich. Ein Auge ging auf, dann knurrte er ausgehungert.
Zufrieden begann Nessy mit ihrer Aufgabe. In einfachen Tätigkeiten lag die wahre Schönheit, dachte sie oft. Nichts fühlte sich so befriedigend wie ein gutgefegter Flur oder das Glänzen polierten Messings oder ein Regal voller Bücher in der richtigen Reihenfolge an. All ihre Meister hatten solch mühevolle Arbeit für unter ihrer Würde gehalten. Immer waren sie zu sehr mit anderen Angelegenheiten beschäftigt gewesen, mit ihrer Magie eben. Hatten diese studiert. Hatten darüber geschrieben. Hatten wie Kinder mit ihr gespielt, vollkommen vertieft. Ein Zauberer konnte möglicherweise eine Stadt schrumpfen. Ein anderer schrumpfte dann ein ganzes Königreich und steckte es in eine Flasche, die er auf seinen Kaminsims stellte. Ein Dritter tat dasselbe und brachte die winzigen Leute dazu, ihn als Gott zu verehren. Und so weiter und so weiter, bis die Absurdität den Aberwitz überstieg. Und der Aberwitz sie verschlang. Das war das wahre Geheimnis der Magie, wie sie wusste. Sie war fast völlig sinnlos.
Vielleicht ließ sie eine einfache Aufgabe leichter werden, das musste sie zugeben, aber auch nur ein wenig. Das Einzige, wozu Magie wirklich gut war, waren großartige Kunststücke von vollständiger Wertlosigkeit. Dieses Schloss war doch das beste Beispiel dafür: Jeder Fluch, der durch seine Flure streifte, war ein Meisterwerk grandioser Nutzlosigkeit. Natürlich hatte Margle eine unglaubliche Macht besessen. Menschen hatten beim Klang seines Namens gezittert, und viele bewunderten und beneideten ihn. Doch nicht Nessy, denn sie wusste das Einzige, was alle Großen (und alle, die Größe erlangen wollten) niemals lernten.
Das Schicksal des Universums lag nicht in den Händen von Riesen. Dagegen konnte man es viel eher in den kleinsten Dingen finden. Alles, was gut gemacht wurde, war eine würdige Leistung, ob man nun arkane Geheimnisse enthüllte oder Flure fegte, Königreiche aus dem Ozean hob oder Teller spülte. Alle Aufgaben, groß oder klein, galten am Ende gleich viel. Ohne Bauern konnte es keine Könige geben. Ohne Soldaten gab es keine Armeen. Ohne Nessy gab es ein sehr staubiges, unordentliches Schloss. Und auch wenn keiner ihrer Herren sich die Hände damit schmutzig machte, um zu tun, was getan werden musste, hatte sie doch noch keinen Zauberer getroffen, der auf seinen geschrumpften Städten gerne Staub hatte.
Ein grüngoldener Kolibri flitzte an ihre Seite. »Was machst du?«
»Hallo, Humbert.«
»Hallo, Nessy. Was machst du da? Was ist das? Sind das Leichenteile? Ist das ein Finger? Sind das Augen?«
Er schoss die Fragen fast genauso schnell ab, wie seine winzigen Flügel schlugen. Sie hatte keine Ahnung, wo er die Energie hernahm. Oder wie er im Schloss überhaupt genug Nektar zum Überleben fand. Solche kleinen Mysterien kümmerten sie allerdings wenig.
Humbert schwirrte um ihren Kopf herum. »Sie bewegen sich! Sie bewegen sich! Warum bewegen sie sich?«
»Sie sind zombifiziert.« Sie hielt den Wagen an und griff in den Eimer mit den Organen.
»Das ist ekelhaft! Ist es schleimig? Ich wette, es ist schleimig.«
»Eigentlich sind sie alle ausgetrocknet.« Sie zog ein kurzes Stück Darm heraus. Er ringelte sich ihren Arm hinauf und gab sich die größte Mühe, sich um ihre Kehle zu wickeln. Da warf sie ihn auf den Boden und hielt ihn mit dem Fuß dort fest, während sie eine Kelle in einen Kübel mit brackiger Jauche tauchte.
»Was ist das?« Humbert flog so nahe an ihr Ohr heran, dass sein Summen ihren Kopf erfüllte. Sanft schob sie ihn beiseite.
»Flusstrollschleim.« Sie schleuderte ihn auf den Darm, der sich wand. Der geschwärzte Fleischschlauch drehte und kringelte sich, blieb aber, wo er war.
»Warum tust du das?«
»Damit er sich nicht davonschlängelt.«
»Warum Trollschleim?«
»Weil er sehr klebrig ist, man ihn aber mit Seife und Zitronensaft leicht wieder wegputzen kann.«
»Warum klebst du tote Dinge auf den Boden?«
»Um den Höllenhund dort hinzulocken, wo ich ihn hin haben will.«
»Wo willst du ihn hin haben?«
Bevor sie antworten konnte, schoss Humbert den Flur entlang, um drei Augäpfel zu inspizieren, die in zwanzig Fuß Entfernung klebten. Dann schwirrte er weiter, um sich ein paar Finger noch einmal zwanzig Fuß weiter genauer anzusehen. Er kam nicht zurück, doch das überraschte sie nicht. Er ließ sich leicht ablenken.
Nessy hielt in ihrer Tätigkeit inne, um sich neu zu orientieren. Sie wusste nicht, wie viel ein Höllenhund auf einmal fressen konnte. Sie hinterließ nur kleine Stücke, aber es war ein langer Weg zu ihrem Ziel. Der Vampirkönig hatte aus wenig Fleisch bestanden, hauptsächlich aus Haut und Knochen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie viel verrottetes, zappelndes Fleisch sie auf ihrem Weg hinterlegt hatte.
Das Nurgax knurrte.
Nessy drehte sich, um nachzusehen, was es erschreckte, und fand sich Auge in Auge mit der Rüstung des Blauen Paladins wieder. Die unbemannte Rüstung war groß und schimmerte, als hätte man den Ozean in Stahl gegossen. Wenn man den Legenden glauben wollte, war das gar nicht weit von der Wahrheit entfernt.
Der leere Helm nickte ihr zu.
»Hallo«, sagte Nessy.
Die Rüstung blieb vor ihr stehen, die eiserne Brust vorgereckt, den rechten Handschuh um eine riesenhafte Streitaxt geschlossen. Ein Schlag konnte sie in zwei Hälften spalten, aber Nessy hatte keine Angst. Hätte er sie töten wollen, wäre sie schon tot. Doch dies war die legendenumwobene Rüstung des Blauen Paladins, ein Kämpfer von einigem Ruhm, einer der wenigen Feinde, die Margle nur getötet hatte, weil er zu gefährlich war, um am Leben zu bleiben, selbst wenn er nur in einen verschlafenen Hasen verwandelt worden wäre. Aber der Paladin war bloß ein Feind der Mächte des Bösen gewesen, und mit seiner Rüstung verhielt es sich ebenso. Wie beim Schwert Im Kohl hatte es Margle nie geschafft, sich seine Macht anzueignen. Sehr zum Ärger des Zauberers.
Nessy war ebenfalls verärgert. Verärgert, dass die Rüstung nicht dort war, wo sie hingehörte.
»Du solltest eigentlich nicht hier draußen sein.«
Der Blaue Paladin nickte wieder.
»Ich nehme an, es ist eine sehr wichtige Angelegenheit, in der du unterwegs bist.«
Diesmal nickte er feierlich, so schwer das bei einem Ding ohne Gesicht auch zu beurteilen sein mochte. Sie beschloss, dass die Rüstung bisher immer artig gewesen war und es deshalb ihr gutes Recht war, sich alle paar Jahrzehnte die Hosenbeine zu vertreten, wenn ihr danach war.
»Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen möchtest, ich habe selbst ein paar wichtige Dinge zu erledigen.« Sie schritt an der Rüstung vorbei. Das Nurgax folgte ihr mit dem Wagen im Schlepptau.
Hinter ihnen machte der Paladin schwere Schritte. Sie warf einen Blick über die Schulter. Er folgte ihnen. Dabei verursachte er eine Menge Lärm, klapperte und schepperte. Der Blaue Paladin musste wirklich ein großer Kämpfer gewesen sein, entschied sie. Er hatte das Böse sicherlich nicht besiegt, indem er sich an es heranschlich.
Siebenundzwanzig Fuß später hielt sie wieder an. Der Paladin tat es ihr nach.
»Folgst du mir aus irgendeinem bestimmten Grund?«, fragte sie.
Der Anzug nickte weder, noch schüttelte er seinen Helm. Er stand nur da.
»Wenn du schon darauf bestehst, könntest du dich wenigstens nützlich machen.«
Der Paladin hob einen Handschuh und stützte das Kinn seines nichtexistenten Trägers darauf. Dann nahm er sich die Kelle vom Wagen und schöpfte ein wenig Schleim aus dem Kübel. Mit der Hilfe des Paladins war die Ruhe, die sie so genossen hatte, vorbei. Dafür erreichte sie aber ihr Ziel, die Waffenkammer, viel schneller. Während sie den letzten Klumpen Fleisch auf den Boden warf, einen violetten Brocken, von dem sie annahm, dass es sich dabei um eine zombifizierte Rinderzunge handelte, dankte sie dem Paladin für seine Unterstützung.
Er tat die Dankbarkeit mit einer Bewegung seines Handschuhs ab, als wäre es gar nicht der Rede wert.
In diesem Augenblick erschien Gnick, der Gnom.
»Da bist du ja, du ungehorsame Rüstung. Geh zurück auf deinen Platz! Aber sofort!«
Der Paladin machte jedoch keine Anstalten zu gehorchen.
»Vielen Dank noch mal«, sagte Nessy. »Lass dich von uns nicht aufhalten.«
Die Rüstung verbeugte sich und stapfte geräuschvoll um eine Ecke. Doch sobald sie außer Sicht war, hörte der Lärm auf.
»Warum hast du ihn gehen lassen?«, fragte Gnick.
»Es ist ja nicht so, dass ihn einer von uns hätte aufhalten können. Und er hat gesagt, er habe etwas Wichtiges zu erledigen.«
»Und du hast ihm geglaubt?«
»Ich glaube jedem, bis er mir einen Grund gibt, es nicht zu tun. Mir ist es lieber, wenn ich feststelle, dass jemand mein Vertrauen nicht verdient hat, als immer schon davon auszugehen, dass überhaupt keiner es verdient.«
»Das ist nicht sehr weise.«
»Nein, ist es nicht, aber es ist besser, von jedem das Beste anzunehmen und sich zu irren, als vom Schlimmsten auszugehen und damit recht zu haben.«
Gnick zupfte an seinem wenig elastischen Bart. »Diese Art von Idealismus bringt dich noch um.« Sie zuckte die Achseln. »Vermutlich.«