Ein Spiel für die Lebenden
Patricia Highsmith
1958
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Inhaltsverzeichnis
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Für meine Lehrerin und Freundin Ethel Sturtevant, von 1911 bis 1948 Assistant Professor of English am Barnard College, in Zuneigung und der Hoffnung, daß dieses Buch ein wenig Zerstreuung in einen langen und glücklichen Ruhestand bringen möge.
Und mein Dank an Dorothy Hargreaves und Mary McCurdy für ihr Verständnis und für ihre Gastfreundschaft.
1
Der Glaube hat alle Zufälle berechnet… und wenn du verstehen willst, daß du lieben sollst, dann ist deine Liebe auf ewig gesichert.
S. Kierkegaard
Theodore sah, daß er recht gehabt hatte mit seiner Annahme: die Hidalgos gaben eine Party. Die vier Fenster im zweiten Stock waren hell erleuchtet, und man hörte angeregte Stimmen und Gelächter. Seine Mappe war schwer; er schob sie etwas zurecht, damit er sie besser tragen konnte, und überlegte noch einmal, ob er jetzt bei den Hidalgos klingeln oder ein Taxi nehmen und direkt nach Hause fahren sollte.
Zu Hause war es sicher kalt, und die Möbel steckten noch in Überzügen. Er hatte Inocenza, dem Dienstmädchen, nichts von seiner Rückkehr geschrieben, zweifellos war sie noch bei ihrer Familie in Durango. Und schließlich war es auch erst Mitternacht; morgen war der fünfte Februar, ein nationaler Feiertag, an dem niemand arbeitete. Andererseits schleppte er einen Koffer, eine Mappe mit Zeichnungen und eine Leinwandrolle mit sich herum. Eingeladen war er auch nicht, aber das spielte bei den Hidalgos keine Rolle.
Oder sollte er doch lieber zu Lelia fahren? Er hatte es schon im Flugzeug von Oaxaca vorgehabt und wußte eigentlich nicht, wieso er jetzt hier vor der Tür der Hidalgos stand. Er hatte an Lelia geschrieben, er komme heute abend nach Mexico City zurück; vielleicht erwartete sie ihn, Telefon hatte sie nicht. Aber zu ihr konnte er gern jederzeit kommen, wenn sie nicht gerade malte. Lelia nahm nie etwas übel. Er entschloß sich, doch bei den Hidalgos hineinzuschauen und anschließend — wenn es nicht zu spät wurde — noch bei Lelia vorbeizugehen.
Er trat an die Tür, stellte seinen Koffer ab und drückte fest auf den Klingelknopf. Es dauerte reichlich zwei Minuten, bis jemand an die Tür kam, aber er klingelte nicht noch einmal. Isabel Hidalgo öffnete.
»Theodore, du bist wieder da!« sagte sie erfreut auf englisch. Dann fuhr sie auf spanisch fort: »Komm doch herein. Schön, daß du da bist — komm rauf, es sind eine Menge Leute da.«
»Danke schön, Isabel. Ich komme gerade aus Oaxaca.«
»Großartig!« Isabel trat in den Wohnraum, schwenkte den Arm und rief: »Theodore ist da! Carlos, hier ist Theodore!«
In der kleinen Vorhalle stellte Theodore den Koffer etwas abseits in eine Ecke, lehnte die Mappe dagegen und stellte auch die Leinwandrolle neben den Koffer.
In der Tür erschien Carlos, ein Glas in der Hand. Er trug eins seiner auffallend gemusterten Tweedjacketts.
»Don Teodoro!« rief er und umarmte Theodore mit einem Arm. »Willkommen! Komm rein und trink einen Schluck.«
Die meisten Gäste waren Männer. Sie standen in kleinen Gruppen in den Ecken und saßen auf den beiden quadratischen Couches, als ob sie sich an der gleichen Stelle schon seit einer ganzen Weile unterhalten hätten. Theodore kannte kaum die Hälfte und hatte auch wenig Lust, jedem einzelnen vorgestellt zu werden, aber Carlos mit seiner ungestümen Energie, die durch Alkohol noch erhöht wurde, schleppte ihn herum und ließ keinen Mann und keine Frau aus. Sogar mit den Kindern — zwei nordamerikanischen blonden Kindern — wollte er ihn bekannt machen; sie saßen, an die Wand gelehnt, hinten auf einer Couch und schliefen fest.
»Nicht aufwecken! Laß sie bloß schlafen«, wehrte Theodore rasch ab.
»Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?« fragte Carlos.
»Ich war doch in Oaxaca«, sagte Theodore und lächelte. »Letzten Monat habe ich ein halbes Dutzend Bilder gemalt.«
»Oh — zeig mal her!« Carlos strahlte über das ganze Gesicht.
»Aber nein, jetzt nicht. Hier ist gar nicht genug Platz. Aber es war wirklich herrlich. Ich hab sogar…« Er hielt inne, denn Carlos war aus dem Zimmer gestürzt. Vielleicht wollte er ihm etwas zu trinken besorgen.
Langsam sah sich Theodore nach einem Stuhl um. Aus der Vorhalle kam eine Frau, und einen Augenblick hoffte er, es sei Lelia, aber sie war es nicht. Jemand stieß ihn an. Der milde Rauch amerikanischer Zigaretten füllte den Raum. Unter den Anwesenden waren fünf oder sechs Amerikaner, vermutlich Lehrer und Dozenten vom Mexico City-College oder von der Ciudad Universidad, wo Carlos Hidalgo Theaterregisseure ausbildete. Auf einem Tischchen neben der Couch standen ein paar Flaschen mit Gin und Whisky und einige benutzte Gläser.
Jetzt kam Carlos aus der Küche quer durch den Raum; in der einen Hand einen frischen Drink, in der anderen sein eigenes halbgeleertes dunkles Glas, steuerte er durch die Menge und warf jedem ein paar aufmunternde Worte zu. Er war neunundzwanzig, sah aber jünger aus; das glatte feste Gesicht erinnerte an einen hübschen Zehnjährigen. Es war wohl dieses Jungenhafte, dachte Theodore, das Isabel, die etwas älter war, damals angezogen hatte. Schade — es war das Gesicht eines recht verzogenen Jungen. Carlos bildete sich einiges auf seine Erfolge bei Frauen ein; vor seiner Heirat mit Isabel — sie war genauso still, wie man es von der Ehefrau eines Lebemanns erwarten konnte — hatte er mindestens ein Dutzend Affären im Jahr gehabt. Damals hatte er Theodore gern davon erzählt. Theodore hätte lieber etwas von seiner Arbeit gehört; er kannte die typische Neigung mexikanischer Theaterleute, sich wahllos für irgend etwas zu begeistern, und hoffte immer, Carlos werde allmählich doch ein höheres, verfeinertes Niveau erreichen. Darauf entgegnete Carlos stets, Mexiko sei nicht der Boden für Kammerspiele, die Zuschauer wollten so etwas nicht und verständen es auch gar nicht. Jetzt hatte Carlos ihn erreicht, schob ihm das Glas mit Whisky und Soda in die Hand, rief nach seiner Frau und stürzte wieder fort.
An einem Fenster sah Theodore zwei Männer stehen, die er flüchtig kannte. Er ging hinüber und sagte: »Guten Abend, Don Ignacio, wie geht es Ihnen?«
Señor Don Ignacio Ortiz y Guzman B. war Leiter einer von der Regierung subventionierten Kunstgalerie. Vor Monaten hatte er sich hier in Carlos’ Haus einmal lange mit Theodore über Malerei unterhalten. Der andere Mann hieß Vicente Soundso. Seinen Beruf hatte Theodore früher einmal gewußt, hatte ihn aber jetzt vergessen.
»Malen Sie gerade etwas?« fragte Ortiz.
»Ja. Ich habe vier Wochen in Oaxaca gemalt und bin eben zurückgekommen«, erwiderte Theodore.
Ortiz sah ihn an, schien ihn jedoch nicht zu hören. Der Mann namens Vicente beugte sich liebenswürdig über die Zigarette einer Dame neben ihm und gab ihr Feuer.
Ein peinliches Schweigen folgte; Theodore fiel nichts ein. Die beiden Männer nahmen ihr Gespräch miteinander wieder auf. So war es schon mehrfach bei Parties und Dinners gewesen, wenn er etwas gesagt hatte — nichts Wichtiges, natürlich — und kein Mensch davon Notiz nahm, als sei das Gesagte entweder unhörbar oder eine unbeschreibliche Obszönität gewesen. Ob das anderen Leuten auch so oft passierte? Leuten, die unbedeutender aussahen als er, hörte man doch wenigstens zu, auch wenn sie die blödsinnigsten Bemerkungen machten. Jetzt sprachen die beiden über irgend jemand, den Theodore nicht kannte; und es fiel ihm zu spät ein, daß Ortiz sich vielleicht dafür interessiert hätte, daß Theodore im Mai vier seiner Bilder in einer Ausstellung der I.N.B.A.-Galerie zeigen sollte.Theodore wartete noch einen Augenblick und trat dann ein paar Schritte zur Seite. Wahrscheinlich wurde er gar nicht häufiger ignoriert als andere Leute.
Theodore Wolfgang Schiebelhut war 33 Jahre alt, groß und schlank, besonders im Vergleich mit den durchschnittlichen Mexikanern. Das dicke blonde Haar war ungescheitelt, es wies hellbraune Strähnen auf und lag an den Schläfen dicht an. Er hielt sich gut, lächelte gern und hatte in Gang und Aussehen etwas Leichtes und Fröhlich-Jugendliches, auch wenn er deprimiert war. Man hielt ihn allgemein für heiter, obwohl er eher zum Pessimismus neigte. Da er aber von Natur und Erziehung aus höflich war, verbarg er seine trüben Stimmungen vor jedermann. Auch hatten sie selten einen erkennbaren Grund, daher zog er vor, seine Umwelt damit zu verschonen. Seiner Ansicht nach hatte die Welt keinen tieferen Sinn, kein Ziel als das Nichts, und was der Mensch vollbrachte, war niemals von Dauer — ein Scherz des Kosmos, wie der Mensch selber auch. Die Konsequenz aus dieser Weltanschauung war die Tendenz, aus der kurzen Spanne Leben, dem bißchen Zeit, das einem gegeben war, das Beste zu machen, so glücklich zu sein wie möglich, und auch andere glücklich zu machen. Er fand, er sei so glücklich, wie das logischerweise möglich war in einem Zeitalter, da die Menschheit von Atombomben und Vernichtung bedroht war. Aber logischerweise — gab es das überhaupt in diesem Zusammenhang? Konnte man logischerweise so glücklich sein? Hatte Glück überhaupt etwas mit Logik zu tun?
»Du, Teo, wir sind so froh, daß du noch gekommen bist«, sagte Isabel Hidalgo. »Carlos hat schon heute früh gesagt, du kämst jetzt bald zurück, und wir wollten so gern, daß du heute abend kämst. Wir hatten auch schon bei dir angerufen.«
»Das muß dann wohl Telepathie gewesen sein«, sagte Theodore lächelnd. »Du, Carlos sieht müde aus. Arbeitet er zuviel?«
»Ach ja, wie immer. Er müßte mal Pause machen, das sagen alle.« Sie lächelte, aber die blaugrauen Augen blickten traurig. »Jetzt haben sie an der Universidad mit den Proben zu Othello angefangen, zusätzlich zu seinen Stunden. Er lädt sich immer mehr auf. Auch heute abend hat er bis spät gearbeitet, ohne Mittagessen, und dann kommt er nach Hause, und natürlich steigt ihm der Alkohol gleich zu Kopf.«
Theodore lächelte freundlich und hob leicht die Achseln. Aber Carlos’ Trinkerei war tatsächlich auf Gesellschaften zum Problem geworden. Die Anwesenheit anderer Leute schien ihn anzuregen, er goß den Alkohol wie Wasser hinunter. Noch war er nicht stark betrunken, aber Isabel wußte, was bevorstand, und suchte schon jetzt nach Erklärungen. Und daß er sich immer mehr auflud: Theodore wußte, das geschah weit mehr aus Egoismus als aus Arbeitseifer. Carlos wollte seinen Namen auf möglichst vielen Programmen und Plakaten gedruckt sehen.
»Lelia kommt wohl nicht heute abend?« fragte er.
»Eingeladen war sie selbstverständlich«, sagte Isabel hastig. »Carlos! Wolltest du Lelia nicht mitbringen?«
»Ja!« rief Carlos mit lauter Stimme durch den ganzen Raum. »Aber sie hat mich mittags angerufen und abgesagt. Vermutlich hat sie dich heute abend erwartet, Teo.« Grinsend blinzelte ihm Carlos zu und wiegte sich im Takt einer kubanischen Tanzplatte, die er gerade aufgelegt hatte.
»Aha. Hat sie denn…« Aber Carlos hatte ihm bereits den Rücken zugewandt und beugte sich über das Grammophon. Theodore hatte ihn fragen wollen, ob Lelia etwas für Carlos gemalt habe. Sie machte manchmal Kulissen für seine Aufführungen. Er wollte Isabel nicht direkt nach Lelia fragen, denn Isabel wußte — oder ahnte zumindest —, daß Carlos für Lelia sehr viel übrig hatte. Er hatte sich mehrmals vor Lelia reichlich dumm aufgeführt; einmal war auch Isabel dabei gewesen, aber sie hatte getan, als merke sie nichts.
»Entschuldige, Teo«, sagte Isabel und legte leicht die Hand auf seinen Arm. »Da ist jemand an der Tür.« Sie ging hinaus.
Theodore beobachtete, wie Carlos einer Dame ein Glas aufdrängte, die energisch, aber vergeblich ablehnte. Vielleicht, dachte er, hatte Lelia aus gutem Grund Carlos vorher angerufen und abgesagt, damit er nicht erst zu ihr in die Wohnung kam, denn es war beinahe unmöglich, daß Carlos sich je mit einem Nein abfand. Theodore blickte auf und betrachtete ein baumelndes Mobile, dessen Einzelteile sich dauernd beinahe berührten. Merkwürdig, daß er sich in einem Raum voller Künstler und Schriftsteller und Lehrer so isoliert vorkam. Selbst die Amerikaner, die nur wenig Spanisch sprachen, schnitten besser ab, das sah er. Noch vor einer Stunde im Flugzeug hatte er sich viel wohler gefühlt, hatte sich auf die Begrüßung gefreut, wenn er Ramón anrief oder bei den Hidalgos oder Lelia hereinschaute. Theodore mochte Carlos ganz gern, aber hatten sie schon jemals eine wirklich erfreuliche, anregende Unterhaltung über irgend etwas gehabt? Irgend etwas? dachte er mit leichter Bitterkeit, als ihm eine Diskussion über die Bedeutung des Glaubens einfiel. Sie hatte genau da geendet, wo Theodore hatte aufhören müssen, weil er versucht hatte, weiter nachzudenken. Es gab wohl Antworten, die nur die Zeit bringen konnte. Carlos war noch jung, aber Theodore meinte, wenn sich zwei Menschen zusammensetzten und nachdachten, so müsse doch etwas dabei herauskommen. Carlos war immer hochgestimmt, übererregt, als habe er gerade ein halbes Dutzend Weckamine geschluckt. Bei keinem Thema blieb er länger . als eine Minute. Er sprang von einer Diskussion über ein Stück von Tennessee Williams ohne Übergang zu den Bühnenbildern eines gewissen Franzosen, zu einer Sarah-Bernhardt-Platte, die er in der Universidad gehört hatte, und zu dem Stück eines Studenten, für das er vielleicht um Subventionsmittel für die Aufführung bitten wollte. Es war vielleicht anregend, aber es war nicht befriedigend. Und diese ganze Hochstimmung: konnte sie überhaupt Kunst hervorbringen? War nicht Kunst — meistens jedenfalls — eine Emotion, die aus der Stille wuchs? Auch für Lateinamerikaner? Theodore lächelte über seine intensiven Überlegungen. Ein Mann mit rötlichem Haar, den er nicht kannte, lächelte zurück und nickte ihm zu. Irgendwie brachte ihn das zu einem Entschluß: er wollte zu Lelia fahren, und zwar jetzt, bevor es noch später wurde. Sie ging gewöhnlich nicht vor eins zu Bett, und auch im Bett las sie noch eine Weile.
Theodore sah sich um. Er wollte sich von Isabel und Carlos verabschieden; sie waren aber nicht zu sehen, und er war eigentlich erleichtert, denn Carlos hätte ihn mit vielen Protestworten aufgehalten. Er ging in den Vorraum, nahm sein Gepäck und verließ das Haus.
Zwei Straßen weit schleppte er die Sachen, dann wartete er eine Weile an der Avenida de los Insurgentés, bis ein Taxi kam. Noch einmal zögerte er kurz, ob er nach Hause — seine Wohnung lag näher — oder doch noch zu Lelia fahren sollte. Dann sagte er rasch: »Granaditas! Numero cien’veint’y siete. Cuatro pesos. Está bien?«
Der Fahrer brummte über den Koffer und die späte Nachtstunde und den Feiertag und verlangte fünf Pesos. Theodore stimmte zu und stieg ein.
Es war eine klare frische Nacht. Normalerweise hätte die Fahrt nicht länger als zehn Minuten gedauert, aber heute waren die Straßen angefüllt mit Fußgängern und Autos, von Juarez bis zum Zócalo, und der Fahrer schien sich auch noch die verkehrsreichsten Straßen auszusuchen, damit es recht lange dauerte.
An einer Ampel drängte sich ein jugendlicher Rowdy ins Wagenfenster und fragte: »Ist hier jemand, der Maria heißt?«
Lautes Lachen von einem halben Dutzend seiner Kumpane folgte, und der Junge wurde zurückgezerrt.
Theodore war von seinem Sitz aufgefahren und schob jetzt lieber das Fenster ein wenig hoch. Heute gab es sicher viele Betrunkene in der Stadt, besonders in dem Viertel, zu dem er unterwegs war, hinter dem Zócalo. Jetzt fiel ihm auch das Geschenk ein, das er für Lelia mitgebracht hatte. Er dachte an die vielen Skizzen und Zeichnungen, die er ihr gleich zeigen wollte. Lelia war eine sehr gute Zuhörerin, eine ausgezeichnete Kritikerin — und eine herrliche Geliebte. Sie war alles, was ein Mann brauchte, dachte Theodore, und was er so selten fand: eine hübsche Frau und ein guter Kamerad, sie hörte zu und feuerte an, sie konnte gut kochen, und vor allem nahm sie nichts übel, weder Launen noch den Wunsch nach Einsamkeit oder das Verlangen, das ihn um vier Uhr morgens in ihre Wohnung trieb. Es gab wohl niemand auf der Welt, der so war wie sie.
Vielleicht war auch Ramón da, möglicherweise sogar über Nacht, dachte Theodore. Aber heute abend war das eigentlich nicht sehr wahrscheinlich. Jedenfalls würde er vorher anklopfen.
Das Taxi hielt, Theodore bezahlte und stieg aus. Er stand vor einem Häuserblock,der jetzt zur Nachtzeit reichlich düster aussah, alle Läden und auch die hohen Türen der alten Häuser waren fest verschlossen. Lelias Haustür war nur von innen zu öffnen; aber wer den Trick kannte, konnte sie mit Hilfe eines Stocks auch von außen aufmachen. Zu diesem Zweck lehnte gewöhnlich ein Stock — es war eine Stange aus einem alten Vogelkäfig — in der Ecke zwischen Tür und Hauswand. Er stand auch jetzt dort, und Theodore nahm ihn, öffnete, und trat in einen kleinen vollgestopften Patio, der nur von einigen erleuchteten Fenstern von oben erhellt wurde. Auch in Lelias Schlafzimmer brannte Licht. Durch einen offenen steinernen Torbogen gelangte er zur Treppe und begann, die Stufen hinaufzusteigen. Lelias Wohnung lag im dritten Stock. Er ging den Flur entlang und klopfte an ihre Tür.
Niemand antwortete.
»Lelia?« rief er. »Ich bin’s, Theodore. Mach bitte auf!«
Besuchern, die sie nicht sehen wollte, öffnete sie nicht, aber zu denen gehörte Theodore nicht. Zuweilen war sie in ein Buch vertieft, und wenn er dann allein oder zusammen mit Ramón vor der Tür stand, ließ sie sich ein paar Minuten Zeit, da sie wußte, sie würden warten.
Theodore klopfte noch einmal, lauter. »Ramón? Ich bin es, Theodore!«
Er versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Dumm, daß er den Schlüssel nicht bei sich hatte. Immer trug er ihn sonst in der Tasche, aber aus irgendeinem Grunde — vielleicht, um sich eine Weile ganz frei zu fühlen — hatte er ihn vor seiner Reise nach Oaxaca vom Schlüsselring abgenommen. Die obere Klappe in der Tür war angelehnt, er stellte sich auf die Fußspitzen und stieß sie weiter auf.
»Lelia?« rief er noch einmal.
Vielleicht war sie bei einer Nachbarin oder war irgendwohin gegangen, um zu telefonieren. Er setzte seinen Koffer gegen die Tür, stellte den Fuß darauf und zog sich vorsichtig hoch. Er steckte den Kopf durch die Klappe, um festzustellen, ob er durchklettern konnte und worauf er landen würde. Im Schlafzimmer war Licht, und er sah, daß der rote Lederpuff etwa einen halben Meter von der Tür entfernt stand. Einen Augenblick horchte er, ob noch jemand im Treppenhaus war; er wäre sich zu albern vorgekommen, wenn ihn jemand bei dieser Kletterei erwischt hätte, aber alles, was er hörte, war irgendein Radio. Er stemmte die Hände auf den staubigen unteren Rand, steckte den Kopf durch die Klappe und schob sich nach oben. Der Klappenrand schnitt ihm in den Leib; er überlegte, ob er sich lieber wieder zurückfallen lassen sollte, aber der Schmerz zwang ihn weiter und er schob sich vorwärts, bis die Hände flach an der Innenseite der Tür lagen und die Schuhe oben die Klappe berührten. Er fühlte, wie ihm das Blut zu Kopf schoß, und versuchte verzweifelt, das rechte Knie durch die Klappe zu zwängen, aber es ging nicht. Mühsam gelang es ihm nach einer Weile, sich durch die Öffnung zu zwängen; er landete auf dem Lederpuff und ließ sich zu Boden fallen.
Einen Augenblick später stand er auf, wischte sich die Hände ab und sah sich erleichtert um in dem großen vertrauten Raum mit den immer wechselnden Gemälden und Zeichnungen an den Wänden. Dann schloß er die Tür auf und holte sein Gepäck herein. Am Fuß der Couch stand eine Lampe, die er jetzt anzündete. Auf dem langen Tisch lag ein Strauß weißer Nelken, die sicher in eine Vase gehörten. Auf dem Tisch stand auch eine Flasche Bacardi, sein Lieblingsgetränk; vielleicht hatte Lelia sie für ihn gekauft. Er ging den kleinen Flur entlang, an der Küche vorbei, bis zum Schlafzimmer. Dort lag sie und schlief.
»Lelia?«
Mit dem Gesicht nach unten lag sie im Bett. Das Kissen war voller Blut, ein tiefroter Kreis zeichnete sich um den dunklen Kopf ab.
»Lelia!« Er lief auf sie zu und zog die leichte rosa Decke weg. Blut färbte die weiße Bluse und den rechten Arm, der eine tiefe und noch nasse Wunde aufwies. Keuchend und zitternd ergriff Theodore vorsichtig ihre Schultern und drehte sie um, ließ sie aber entsetzt in die Kissen zurückfallen. Das Gesicht war verstümmelt.
Er sah sich im Zimmer um. An einer Ecke war der Teppich umgeschlagen, das war das einzige Zeichen von Unordnung. Das Fenster stand weit offen, was nicht Lelias Gewohnheit war. Er warf einen Blick hinaus. Das Fenster ging auf den Patio, von dort unten konnte kein Mensch heraufgeklettert sein; aber vom Dach, ein Stockwerk weiter oben, führte ein Wasserrohr nur wenige Zentimeter entfernt bis fast zum oberen Rand des Fensters im unteren Stockwerk. Immer wieder hatte Theodore Lelia gebeten, das Fenster vergittern zu lassen. Alle anderen Fenster der Wohnungen auf diesem und dem oberen Stock hatten Gitter. Jetzt war es zu spät. Einen Augenblick später versank er in Entsetzen und Verzweiflung. Er setzte sich auf einen Stuhl und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Und plötzlich wußte er: Ramón hatte es getan. Ganz sicher. Ramón war sehr jähzornig. Theodore war mehrfach dazwischengetreten, wenn Ramón im Begriff gewesen war, Lelia in einem Wutanfall zu schlagen. Und heute abend hatten sie sicher wieder eine ihrer sinnlosen Streitereien gehabt, oder Lelia hatte sich nicht genügend über irgendein Geschenk gefreut, das Ramón ihr mitgebracht hatte. Nein, es mußte doch wohl etwas Schlimmeres gewesen sein, etwas so Ernstes, wie er es sich im Augenblick nicht vorstellen konnte. Aber er war ganz sicher, daß Ramón es getan hatte. Ramón besaß auch einen Schlüssel, er konnte also einfach heraufgekommen sein.
»Ai-i-i-yai-i-i-i-!« schrie eine Falsettstimme im Treppenhaus, und jemand hämmerte im gleichen Augenblick gegen die Tür.
Theodore rannte hin und riß die Tür auf . Eilige Füße liefen nach unten, er stürzte hinterher und kam unten an, als die Holztür zum Hof gerade über die Steinplatten des Fußwegs kratzte. Er lief hinaus und blickte sich nach links und rechts um, aber er sah nur zwei Männer, die langsam im Gespräch die Straße überquerten. Er warf einen Blick in den dunklen Patio. Er hatte doch die Holztür knarren gehört! Mit einem Gefühl der Zwecklosigkeit — tat er vielleicht gerade das Falsche? — ging er zurück ins Haus und stieg die Treppe hinauf. Wenn das der Mörder gewesen war, so war es sinnlos, ihm auf der Straße nachzulaufen — es stand ja nicht einmal fest, welche Richtung er eingeschlagen hatte. Vielleicht war es auch gar nicht der Mörder gewesen, sondern irgendein Subjekt von der Straße oder von der Party, die da oben in dem Stockwerk über Lelias Wohnung stattfand. Wenn es aber doch der Mörder gewesen war und er ihn hatte entkommen lassen…
Er war wieder in Lelias Wohnung angekommen und hielt einen Augenblick inne. Er mußte jetzt logisch vorgehen. Erstens, die Polizei benachrichtigen. Zweitens, die Wohnung bewachen, damit niemand Fingerabdrücke beseitigen konnte. Drittens, Ramón aufsuchen und dafür sorgen, daß er mit dem Leben für seine Tat bezahlte.
Theodore ging hinaus; er wollte in eine nahe Wirtschaft gehen, wo es ein Telefon gab. Als er jedoch zwei Treppen hinabgestiegen war, begegnete ihm die Frau, die nebenan von Lelia wohnte.
»Ah, Don Teodoro! Guten Abend«, sagte sie. »Haben Sie…«
»Lelia ist tot«, unterbrach Theodore sie atemlos. »Sie wurde ermordet — oben in ihrer Wohnung.«
»Aaaaah!« schrie die Frau und hielt sich die Hand vor den Mund.
Sofort öffneten sich zwei Türen, und Stimmen riefen: »Was ist los?« »Was gibt es?« »Wer ist ermordet?«
Theodore sah sich umringt und kämpfte sich die Treppe wieder hinauf, die er eben heruntergekommen war, zurück in die Wohnung, denn die Tür war nicht verschlossen, und schon liefen zwei Männer hinein.
»Nein — bitte!« schrie Theodore. »Sie dürfen nicht hinein! Es darf nichts angerührt werden! Es können doch Fingerabdrücke da sein!« Alles vergebens. Zwölf oder fünfzehn Menschen warfen einen Blick ins Schlafzimmer, schrien und rannten, die Hand entsetzt über die Augen gelegt, wieder hinaus.
»Ihr benehmt euch wie die Kinder!« schrie Theodore erzürnt auf englisch.
Señora de Silva erbot sich, von ihrer Wohnung dus die Polizei anzurufen. Bevor sie ging, sagte sie zu Theodore: »Ungefähr um elf, oder vielleicht auch etwas früher, habe ich auf dem Dach etwas klappern gehört. Es klirrte. Aber das war alles — ich habe nicht gehört, daß es Scherben gab.«
»Es hat auch keine Scherben gegeben«, sagte Theodore schnell. »Was haben Sie noch gehört?«
»Gar nichts.« Mit weit geöffneten Augen starrte sie ihn an. »Bloß Geklapper. Als ob jemand versuchte, über das Dach zu klettern. Jedenfalls war es oben auf dem Dach. Aber ich habe nicht hinausgeschaut. Ich hätte es natürlich tun sollen, heilige Mutter Maria!«
»Haben Sie irgendwas in der Wohnung gehört — so etwas wie einen Kampf?«
»Nein. Oder vielleicht doch, ich weiß nicht mehr. Ja, vielleicht doch!«
»Bitte gehen Sie und rufen Sie die Polizei an«, bat Theodore. »Ich muß hier bleiben, damit niemand hereinkommt.«
Im Treppenhaus vor der Wohnungstür hatte sich eine halblaut redende Menschenmenge eingefunden, meist Jugendliche von der Straße, dachte Theodore. Einige hatten getrunken. Er hatte einige Mühe, sie wegzuschieben und sich Einlaß zu verschäffen.
Dann setzte er sich gegenüber der Tür auf den roten Lederpuff und wartete auf die Polizei. Er dachte an Ramón, der katholisch war und sich in die Leidenschaft zu Lelia verstrickt hatte. Es lastete schwer auf seinem Gewissen, daß er sie weder heiraten noch aufgeben konnte. Theodore hatte ihn mehrfach in einem Reueanfall oder vielleicht auch im Zorn über ein unbedachtes Wort von Lelia sagen hören: »Ich schwöre dir, Teo, wenn ich sie jetzt nicht sofort aufgebe, bringe ich mich um!« Und der Unterschied zwischen einem Selbstmord und dem Mord an dem geliebten Menschen war nicht allzu groß. Psychologisch kam es beinahe auf das gleiche heraus. Und nun hatte das Scheusal die Frau anstatt sich selbst umgebracht.
2
Die Polizei erschien mit heulenden Sirenen. Es hörte sich an, als ob eine ganze Armee die Treppe heraufgetrapst kam, dabei waren es nur drei Männer: ein dicker, untersetzter Polizeiinspektor von etwa fünfzig Jahren, mit Schultergurt und großer Pistole an jeder Seite, und zwei hochgewachsene junge Polizisten in hellem Khaki. Der Dicke zog den einen Revolver und richtete ihn beiläufig auf Theodore.
»Stellen Sie sich da an die Wand«, sagte er. Dann gab er einem der Polizisten einen Wink und trat ins Schlafzimmer, um sich die Leiche anzusehen, während der Polizist Theodore nicht aus den Augen ließ. Die Menschen im Vorraum drängten ins Zimmer, sahen sich um und murmelten halblaute Worte.
Die beiden jungen Polizisten betrachteten nacheinander — damit immer einer Theodore im Auge behalten konnte — Lelias Schlafzimmer. Einer kam erstaunt pfeifend wieder heraus. Beide starrten Theodore entsetzt, mit steinernem Gesicht, an.
»Ihr Name?« fragte der Inspektor und zog Bleistift und Block aus der Tasche. »Wie alt?… Sind Sie mexikanischer Staatsangehöriger?«
»Ja, naturalisiert«, erwiderte Theodore.
»Haltet doch die Leute da raus! Niemand darf irgendwas anfassen!« rief der Dicke den Polizisten zu.
Die Menschen schoben sich noch immer ins Schlafzimmer.
»Geben Sie die Tat zu?« fragte der Beamte.
»Nein! Ich habe Sie ja gerufen! Ich habe dies — sie zuerst gefunden.«
»Ihr Beruf?«
»Maler«, sagte Theodore nach kurzem Zögern.
Der andere sah ihn prüfend an und wandte sich dann an einen dunklen untersetzten Mann, den Theodore bisher nicht bemerkt hatte, obgleich er vorn in der Menge stand.
»Capitán Sauzas — wollen Sie jetzt weitermachen?«
Der Mann trat heran. Er trug einen dunklen offenen Mantel und dunklen Hut, eine Zigarette hing ihm zwischen den Lippen. Er blickte Theodore mit intelligenten Augen unpersönlich an. »Wie kommt es, daß Sie heute abend hier sind?«
»Ich wollte sie besuchen — wir sind befreundet«, sagte Theodore.
»Wann sind Sie gekommen?«
»Ungefähr vor einer halben Stunde. Etwa gegen eins.«
»Hat sie Ihnen aufgemacht?«
»Nein. Es war noch Licht bei ihr. Ich habe geklopft, aber es hat niemand geantwortet.« Theodore warf einen Blick auf den Revolver, der etwas weiter gerückt und wieder auf ihn gerichtet wurde. »Ich dachte, sie sei vielleicht eingeschlafen, oder sie sei eben mal hinausgegangen, um zu telefonieren. Deshalb bin ich oben durch die Klappe in der Tür eingestiegen. Als ich sie fand, bin ich sofort los und wollte die Polizei benachrichtigen. Da traf ich Señora… Señora…«
»Señora de Silva«, half ihm Sauzas.
»Ja. Ich hab ihr erzählt, was geschehen war, und sie sagte, sie wolle die Polizei für mich rufen.«
Die Menschen draußen hatten sich so aufgestellt, daß sie Theodore und Sauzas gleichzeitig sehen konnten. Sie standen mit untergeschlagenen Armen und milde erstaunten Mienen da, aber Theodore hatte lange genug in Mexiko gelebt, um genau zu wissen, was von den äußerlich unbeteiligten Gesichtern zu halten war. Die Leute waren im Grunde alle überzeugt, daß er die Tat begangen hatte. Und die gleiche Ansicht las er in den Gesichtern der beiden jungen Polizisten, die noch immer die Revolver auf ihn gerichtet hatten.
»In welcher Beziehung standen Sie zu der Ermordeten?« fragte Sauzas. Er machte sich keine Notizen.
»Wir waren gute Freunde«, sagte Theodore. Das amüsierte Gemurmel ringsum war nicht zu überhören.
»Wie lange kannten Sie sie?«
»Drei Jahre oder etwas mehr.«
»Haben Sie sie oft nachts um eins besucht?«
Erneutes allgemeines Feixen.
Theodore richtete sich auf. »Ich habe sie oft spätabends besucht, ja. Sie ging immer erst spät zu Bett.« Er bemühte sich, das Grinsen und die halblauten Sätze zu ignorieren. Es war aber unvermeidbar, daß er ein paar Worte mit hörte — die Umstehenden nannten Lelia una puta, eine Hure.
Und dann kam das Gespräch auf sein Gepäck. Wollte er hier einziehen? Nein? Was denn? Warum war er nach Oaxaca gefahren? Er war also, als er vom Flughafen kam, zu einem Freund gefahren und dann erst hierher. Konnte er das beweisen? Ja. Wer war dieser Carlos Hidalgo? Und wo wohnte er? Sauzas schickte einen der Polizisten fort, um Carlos Hidalgo zu holen.
Ein Tumult entstand, als gleich darauf zwei Männer in Zivil hereinkamen und mit lauter Stimme die Leute zum Gehen aufforderten. Sie schoben einige der Jugendlichen aus der Tür. Señora de Silva protestierte dagegen, hinausgeschickt zu werden, und erhielt Erlaubnis zum Bleiben, nachdem sich Sauzas für sie eingesetzt hatte. Sauzas wiederholte in wenigen Worten Theodores Bericht darüber, wie er hereingekommen war, und wies die beiden Männer an, im Schlafzimmer nach Fingerabdrücken zu suchen.
»Ich glaube, ich weiß, wer sie umgebracht hat«, sagte Theodore.
»Ja — wer?«
»Ramón Otero. Ich weiß es natürlich nicht, aber ich halte es für möglich.« Theodore gab sich Mühe, ruhig zu bleiben, aber seine Stimme bebte.
»Wissen Sie, wo wir ihn finden können?«
»Er wohnt Calle San Gregorio 37. Nicht weit von der Kathedrale und dem Zócalo.«
»Aha. Und in welcher Beziehung steht er zu der Ermordeten?«
fragte Sauzas und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Er war auch ein Freund von ihr.«
»A—haa. Ist er eifersüchtig auf Sie?«
»Nein, absolut nicht. Wir sind alle gute Freunde. Nur — Ramón ist sehr gefühlsbetont, das weiß ich. Wenn er böse ist, kann er sehr heftig werden. Aber ich muß Ihnen noch etwas sagen: ich hörte, wie jemand an die Tür klopfte und die Treppe hinunterrannte — das war etwa zwei oder drei Minuten nach meiner Ankunft. Ich lief ihm nach und versuchte, ihn einzuholen, aber er ist mir entwischt.«
»Wie sah er aus?« fragte Sauzas.
»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte Theodore, und im Geist sah er, wie ein Junge in schmutzig-weißem Hemd und Hosen die Treppe hinunterjagte, aber er wußte, das lag nur daran, weil so viele junge Halbstarke, die auf diese Art an die Tür gehämmert hätten, weiße Hemden und Hosen trugen. »Nein, es tut mir leid, ich habe ihn nicht gesehen. Es schrie nur jemand ‘Ai-i’, ganz laut, und dann klopfte es, und er lief weg.«
»Hm…« machte Sauzas nicht übermäßig interessiert. »Sie scheinen aber anzunehmen, daß es Ramón war.«
»Der da geklopft und geschrien hat war nicht Ramón, es ist aber gut möglich, daß Ramón sie umgebracht hat.«
»Wissen Sie, ob er heute abend hier war?«
»Das kann ich nicht sagen.« Theodore blickte zu Señora de Silva hinüber. »Wissen Sie, ob Ramón hier war heute abend?«
Señora de Silva schob die Augenbrauen hoch und hob die Hände. »Quién sabe?«
»Nun, aus den Fingerabdrücken wird man es ja sehen«, sagte Theodore. Er war plötzlich ganz sicher, daß man Ramóns Abdrücke im Schlafzimmer finden werde.
»Schön, machen Wir uns also auf die Suche nach Ramón. Ramón Otero, Calle San Gregorio 37«, sagte Sauzas zu dem zurückgebliebenen Polizisten, der salutierte und die Treppe hinunterpolterte.
»Sie waren ihr Freund«, sagte Sauzas, wieder zu Theodore gewandt. »Vielleicht auch ihr Liebhaber?«
»Nun — ja, doch. Manchmal.«
»Und Ramón? War der nicht auch ihr Liebhaber? Na, kommen Sie — Señora de Silva hat gesagt, Sie wären es beide gewesen.«
Theodore warf ihr einen Blick zu. Sie mußte sich ziemlich beeilt haben, wenn Sie Sauzas das alles erzählt hatte, bevor sie mit ihm ins Zimmer kam. Theodore hatte sich längst daran gewöhnt, Lelia mit Ramón zu teilen, aber er war nicht daran gewöhnt, vor anderen Leuten darüber zu sprechen. »Ja, das stimmt.«
»Und es gibt keine Eifersucht zwischen Ihnen? Sie sind alle gut Freund miteinander?«
»Ja, so ist es«, sagte Theodore und erwiderte den ungläubigen Blick des Beamten mit Gelassenheit. Er sah ihm an, was er dachte. Fast täglich brachten die Titelseiten der Boulevardblätter blutrünstige Fotos von Mätressen und Ehefrauen und Freundinnen, die von den Ehemännern oder Liebhabern umgebracht worden waren. Na ja, vielleicht war es hier ebenso, nur war gewiß nicht Eifersucht der Anlaß gewesen.
»Welche Waffe haben Sie benutzt, Señor Schiebelhut?« fragte Sauzas. »Wo ist das Messer?«
Theodore schüttelte müde den Kopf, wurde aber im nächsten Moment hellwach, als Sauzas ihm auf die Taschen klopfte und das Innere und Äußere seiner Schenkel abfühlte. Er klappte sogar die Hosenaufschläge herunter und blickte oben in die Socken. Sauzas trug einen silbernen Ring mit großem Totenschädel und gekreuzten Knochen. Ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, sagte er jetzt: »Señora de Silva hat gesehen, wie Sie in großer Hast die Treppe herunterkamen. Sie wollten sich wohl davonmachen — oder?«
»Mein Gott, nein — ich hatte sie doch gerade gefunden — und war auf dem Weg zu einem Telefon!« Theodore warf Señora de Silva einen kurzen, vorwurfsvollen Blick zu. »Sie müssen doch feststellen können, wann sie gestorben ist. Warum holen Sie keinen Arzt?«
»Ein Arzt ist schon unterwegs. Außerdem hab ich die Leiche selber gesehen und würde sagen, daß der Tod vor ein, zwei Stunden eingetreten sein muß.« Etwas spitz fügte er hinzu: »In etwa kann ich das auch beurteilen.« Dann lief Sauzas im Zimmer auf und ab und besah sich Lelias Tisch mit den vielen Farbflecken, den weißen Nelken und der Flasche Rum, die zwar geöffnet, aber noch nicht angebrochen war, denn der Rum stand noch bis oben in dem Flaschenhals. »Haben Sie diese Blumen mitgebracht?«
»Nein«, sagte Theodore. »Die waren schon hier.« Es sah Ramón gar nicht ähnlich, Blumen mitzubringen, dachte er. Lelia mußte sie gekauft und dann aus irgendeinem Grunde vergessen haben, sie in eine Vase zu stellen. »Lassen Sie doch die Rumflasche untersuchen. Die hat Lelia immer für mich gekauft. Bestimmt werden ihre Fingerabdrücke darauf sein, vielleicht auch noch ein paar andere.«
Sauzas nickte und rief zu einem der Detektive, die noch im Schlafzimmer waren, hinüber: »Enrique! Kommen Sie her und nehmen Sie die Fingerabdrücke des Señors hier!«
Der Detektiv kam sofort und folgte der Anordnung, wobei er Lelias Arbeitstisch als Stütze benutzte. »Señora de Silva«, fragte Sauzas, »wie oft haben Sie Señor Schiebelhut hier angetroffen?«
Verlegen wie ein Schulmädchen zuckte sie die Achseln.
»Nun, gesehen hab ich ihn vielleicht einmal in der Woche. Aber Lelia hat mir erzählt, daß er öfter kam.«
»Sie wohnen nebenan, nicht wahr? Haben Sie jemals einen Streit zwischen den beiden gehört?«
»Ja, ein paarmal«, sagte sie mit einem schnellen Blick auf Theodore. »Aber nichts Ernsthaftes, glaube ich. Das weiß ich nicht.«
»Und wie oft kam Ramón immer?«
Wieder zuckte sie die Achseln. »Ebensooft. So wie Don Teodoro.«
»Und wie ist er so? Mögen Sie ihn?«
Señora de Silvas Augen suchten in den Zimmerecken nach einer Antwort. »Doch — ja. Er ist nett. Sieht gut aus, Ja, er ist wirklich nett.«
»Und wen hatte sie lieber?«
Langes Zögern.
Da öffnete sich plötzlich die Tür, ein kleiner, dicklicher Mann mit einer Tasche betrat den Raum, nickte Sauzas kurz zu, und dieser deutete wortlos auf das Schlafzimmer.
»Nun, wen mochte sie lieber?« wiederholte er dann.
»Ich glaube… ich kann es nicht genau sagen, Señor. Ich glaube, sie hatte beide gern. Sonst hätte sie sie ja nicht so oft kommen lassen. Lelia hatte viele Freunde, die haben oft bei mir angerufen, wenn sie sie sprechen wollten. Ich habe auch oft gehört, wenn sie telefonierte. Sie hatte keine Angst, jemand abzuweisen, den sie nicht sehen wollte«, schloß Señora de Silva mit einem Anflug von Stolz.
»Von diesem Mann da haben wir Fingerabdrücke auf der Fensterbank gefunden«, sagte einer der Detektive zu Sauzas.
Theodore fluchte innerlich über seine Ungeschicklichkeit. »Ich habe mich sicher aus dem Fenster gelehnt und in den Patio hinuntergeschaut«, sagte er.
»Zeigen die Spuren nach außen«, fragte Sauzas. Der Detektiv wußte keine Antwort und ging mit den Abdrücken ins Schlafzimmer zurück.
Jetzt erschien Carlos Hidalgo, begleitet von einem der beiden Polizisten. Er war betrunkener als zuvor — Theodore kannte die Anzeichen, obwohl er für einen Fremden eher betroffen und überrascht wirkte. Als er Theodore erblickte, stürzte er auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Theodore, mein Alter! Was um Gottes willen ist geschehen? Lelia ist ermordet worden?«
Theodore wollte sprechen, aber die Stimme versagte ihm. Carlos hätte auch nichts verstanden, denn der junge Polizist rief jetzt Carlos’ Namen und Adresse so laut aus, als verkünde er seine Ankunft auf einem Ball. Carlos trat auf das Schlafzimmer zu, wo die Detektive sich immer noch zu schaffen machten; aber der dicke Inspektor hielt ihn am Arm zurück. Carlos taumelte umher und sah mit aufgerissenen, erschrockenen Augen bald auf die Polizisten, bald auf die Gegenstände im Zimmer.
»War dieser Mann hier heute abend in Ihrem Hause?« fragte Sauzas.
Carlos nickte heftig. »Ja. Er kam gerade vom Flughafen. Seinen Koffer hatte er bei sich.«
»Von wann bis wann war er bei Ihnen?«
Carlos warf einen vorsichtigen Blick auf Theodore. Trotz seiner Trunkenheit war er auf der Hut und mißtraute den Motiven der Polizei. Aber Theodore reagierte nicht.
»Ich würde sagen; etwa von zwölf bis eins«, sagte Carlos. Überraschend genau, dachte Theodore.
»Sie wissen nicht genau, wann er gegangen ist?«
»Ich habe gar nicht gesehen, daß er ging. Wir hatten sehr viele Leute bei uns. Vielleicht hat er sich von meiner Frau verabschiedet…« Aus Carlos’ argwöhnischen Blicken hätte man schließen können, daß er log.
»Ich habe mich gar nicht verabschiedet«, sagte Theodore. »Als ich gehen wollte, war keiner von euch zu sehen, deshalb bin ich einfach hinausgegangen und habe ein Taxi zu Lelia genommen.«
»Ein Taxi zu Lelia«, wiederholte Carlos, als präge er sich ein schwieriges Detail ein.
»Aha«, sagte Sauzas, zu Theodore gewandt. »Ein Taxi zu Lelia haben Sie genommen, nachdem Sie wahrscheinlich allen Anwesenden gesagt hatten, Sie führen nach Hause. Sie wollten hierherkommen, sie so schnell wie möglich umbringen und dann wieder mit einem Taxi nach Hause fahren, nicht wahr? Auf diese Weise hätten Sie ein Alibi.«
»Oh-h neiin!« sagte Carlos mit lauter Bühnenstimme. »Hier dieser Mann —«
»Vielleicht sind Sie auch direkt vom Flughafen hierhergekommen, haben sie umgebracht und sind dann zu der Party gefahren? Aber wozu sind Sie dann wieder hergekommen? Haben Sie etwas vergessen?«
»Die Maschine aus Oaxaca ist um 23.05 Uhr gelandet«, sagte Theodore. »Das können Sie ja leicht nachprüfen lassen. Der Weg in die Stadt hat bei dem herrschenden Verkehr mindestens vierzig Minuten gedauert, und ich bin sofort zu den Hidalgos gegangen.«
»Und warum haben Sie sich dann aus Hidalgos Haus fortgeschlichen, ohne sich von jemand zu verabschieden?«
»Ich habe mich nicht fortgeschlichen. Sie hatten eben alle zu tun.«
Carlos lachte auf. »Ja, das stimmt, wir hatten zu tun! Sehr viel sogar!« Er sah, daß Theodore und Sauzas ihn anstarrten, und nahm sich zusammen. »Ach, Teodoro«, sagte er teilnahmsvoll. »Kann man denn hier nicht mal was zu trinken haben?« Er ging auf die Küche zu, und Theodore sah, wie er stehenblieb, als er im Nebenraum die Leiche liegen sah. Dann schritt er mit Entschlossenheit des Trunkenen weiter in die Küche.
»Fassen Sie da drinnen nichts an!« rief der dicke Inspektor, der ihm nachblickte.
Theodore hörte Stimmen, dann wurde etwas in ein Glas gegossen. Er wußte, das war Lelias gelber Tequila.
»Mein Freund braucht etwas zu trinken«, sagte Carlos gemessen und kam mit Glas und Flasche auf Theodore zu. Theodore nahm das Glas dankbar entgegen. Beim Trinken stieß es gegen seine Zähne.
Weiter gingen die Fragen. Wie lange war Carlos mit Señor Schiebelhut befreundet? Hatte er auch Lelia Ballesteros gekannt? Wie lange? Hatte sie viele Freunde? Sie hatte viele Freunde, Männer und Frauen. Wie hatte Theodore ausgesehen, als er heute abend bei Carlos erschien? »Ausgezeichnet«, sagte Carlos. »Ganz ausgezeichnet.«
Er nahm Theodores Glas und füllte es von neuem.
»Das reicht jetzt!« sagte der Dicke.
»Das ist für mich«, erwiderte Carlos, trank einen Schluck aus dem Glas und reichte es Theodore weiter, bevor der Beamte es ihm aus der Hand nehmen konnte.
Theodore war plötzlich erschöpft. Er ging zu der Couch hinüber, setzte sich und lehnte sich an einer Seite auf den Ellbogen.
Jetzt kam der dicke Arzt herein, und Sauzas wandte sich ihm zu. »Sie ist seit — na, zwei bis drei Stunden tot. Notzucht«, sagte er müde und schloß den letzten Riegel an seiner Tasche.
Notzucht. Theodore fühlte, wie Entsetzen in ihm aufstieg. Er beugte sich vor und preßte die Unterarme auf die zitternden Knie. Sein Puls jagte. Er schob die Manschette zurück und sah, daß es 01.50 Uhr war.
Der Detektiv fragte Carlos nach Ramón.
»So gut kenne ich Ramón nicht. Er arbeitet auf einem völlig anderen Gebiet als ich«, sagte Carlos etwas überheblich. »Ich habe ihn vielleicht dreimal im Leben gesehen.«
Er hat ihn sehr viel öfter gesehen, dachte Theodore, aber das war ja nun egal. Es war alles egal, solange Ramón nicht da war. Er hob den Kopf, als Carlos bestürzt »Verstümmelt?« ausrief.
Carlos sah Theodore verständnislos an. »Verstümmelt ist sie?« fragte er, als ändere das die Sachlage von Grund auf.
Und dann trat Ramón ins Zimmer. Theodore stand auf.
Ramón sah sich erstaunt um und blickte dann Theodore an. Er war mittelgroß, mit schwarzen Augen und Haaren; die Figur war stark und fest und besaß eine gewisse Vitalität, oder vielleicht auch nur Proportionen, die Frauen enorm anziehend fanden. Das Gesicht konnte blitzschnell den Ausdruck wechseln, sah jedoch immer gut aus, sogar unrasiert, selbst wenn das Haar zu lang oder zerzaust war.; Es war ein Gesicht, das Frauen faszinierte; und als er jetzt mit wirrem Haar und in seinem billigen Anzug im Zimmer stand, mußte eigentlich jeder annehmen, daß Lelia ihn vorgezogen hatte.
»Wo ist sie?« fragte Ramón.
Der Polizist, der ihn am Arm festhielt, zog ihn mit sich ins Schlafzimmer, und die Detektive folgten, um seine Reaktion zu beobachten. Auch Theodore ging mit. Lelia lag auf dem Rücken, den Kopf auf dem Kissen, die furchtbar zugerichteten Arme lang ausgestreckt. Es sah entsetzlich aus — als habe sie sich nur für einen Augenblick hingelegt, voll angekleidet, und dann sei etwas Fürchterliches geschehen. Theodore konnte nicht mehr klar denken. Es schien ihm, als sei das Blut nichts als dunkelrote Farbe, die man einfach abwaschen konnte. Nur wenn man näher trat, sah man, daß Lelia keine Nase mehr hatte.
Ramón hielt sich die Hand vor den Mund. Er fiel in sich zusammen und gab einen seltsam erstickten Laut von sich. Der Detektiv zog ihn an der Schulter, aber Ramón riß sich los und warf sich auf das Bett. Er packte Lelias Knie unter der rosa Decke, preßte das Gesicht an ihre Beine und schluchzte. Theodore blickte weg; ihm fiel ein, daß Ramón katholisch war — deshalb mußte er jetzt etwas berühren und umarmen, das nicht mehr am Leben war. Theodore war sich gleichzeitig bewußt, daß er selbst Lelia nicht berührt hatte, jedenfalls nicht mit Zuneigung. Er hatte sie einfach umgedreht, wie es jeder Fremde getan hätte. Warum, als er noch mit ihr allein war, hatte er sie nicht angerührt, nicht ein einziges Mal die blutverschmierte Stirn geküßt?
»Ramón Otero, wo waren Sie heute abend?« Wie eine Maschine begann der kleine dicke Inspektor mit dem Verhör.
Ein Detektiv durchquerte den Raum mit zwei großen Schritten und zog Ramón weg vom Bett. Die Frage mußte mehrmals wiederholt werden. Ramón schien nichts zu hören oder zu sehen. Er starrte Theodore bewegungslos an.
»Wo warst du heute abend?« Diesmal war es Theodores tiefe Stimme.
»Zu Hause. Ich war zu Hause.«
»Den ganzen Abend?« fragte Sauzas.
Ramón sah ihn mit stumpfen Augen an. Die eine Gesichtshälfte war naß von Tränen. Er hielt die rechte Hand gegen den Magen.
»Hier warst du nicht?«
»Doch. Ich war hier.«
»Um welche Zeit?« fragte Sauzas.
Ramón sah aus, als greife er tief in die Zeit zurück. Plötzlich beugte er sich nach vorn und hielt sich den Kopf.
»Was fehlt ihm?« fragte Sauzas Theodore ungeduldig.
»Sicher Kopfschmerzen. Die hat er sehr oft«, sagte Theodore. »Komm, Ramón, setz dich hin.«
Einer der Detektive zog Ramón an den langen Tisch, an dem ein Stuhl stand. Ramón setzte sich; ein Detektiv ergriff seine rechte Hand und begann mit dem Färben der Fingerspitzen.
»Wann waren Sie hier, Ramón?« fragte Sauzas etwas freundlicher. »Haben Sie hier zu Abend gegessen?«
»Ja.«
»Und dann? Wie lange sind Sie geblieben?«
Ramón erwiderte nichts.
»Haben Sie sie umgebracht, Ramón?« fragte Sauzas.
»Nein.«
»Nein?!« sagte Carlos Hidalgo herausfordernd.
Sauzas winkte Carlos ab. »Wann sind Sie zum Essen hergekommen?« Er wartete einen Moment, dann fuhr er plötzlich auf Ramón los, als wolle er ihn durch einen Schlag zur Besinnung bringen, hielt jedoch inne, als Ramón, noch immer mit dem gleichen verwirrten Ausdruck, zu reden begann.
»Ich bin ungefähr um acht gekommen. Dann haben wir gegessen. Wir dachten, Teo käme noch, und wir wollten eine Party veranstalten. Ich hatte Rum mitgebracht. Aber dann war mir nicht wohl, und ich bin nach Hause gegangen.«
»Wann war das?«
»Vielleicht um halb elf oder etwas später.«
»Hatten Sie heute abend Streit mit Lelia?«
»Nein.«
»Sie haben sich nicht mit ihr gezankt wegen Teodoro? Sie hofften, er werde kommen?«
»Ja«, sagte Ramón und nickte.
»Ich hatte Lelia eine Postkarte geschickt, daß ich heute abend käme«, sagte Theodore, aber Sauzas schien seine Worte nicht zu hören.
»Haben Sie ihr diese Blumen mitgebracht, Ramón?«
»Nein«, sagte Ramón mit einem Blick auf die Blumen.
»Waren die Blumen schon hier, als Sie kamen?« fragte Sauzas und befühlte die Blumenstiele.
»Das weiß ich nicht mehr«, sagte Ramón.
»Haben Sie an diesem Tisch gegessen?«
»Ja.«
»Dann müssen die Blumen gekommen sein, nachdem Sie schon weg waren. Hat sie etwas davon gesagt, daß sie ausgehen und Blumen kaufen wollte?«
Wieder dachte Ramón angestrengt nach. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte er verzweifelt und schüttelte den Kopf.
»Sehen Sie mal in der Küche nach, ob das Einwickelpapier noch irgendwo rumliegt«, sagte Sauzas zu einem der Detektive. »Aber bitte überall nachsehen.«
Theodore starrte die Blumen an und wußte nicht, was er davon halten sollte. Er hatte nicht angenommen, daß Ramón sie mitgebracht hatte. Vielleicht war Lelia nachher noch ausgegangen, um die Blumen zu kaufen, aber warum hatte sie sie dann nicht in eine Vase gestellt? Hatte der Mörder sie in die Wohnung zurückbegleitet? Das konnte Theodore sich einfach nicht vorstellen.
Der Detektiv trat wieder ein und meldete, es sei kein Blumenpapier zu finden.
Mit gerunzelter Stirn wandte sich Sauzas an Ramón. »Sie hat doch nach dem Essen das Geschirr abgewaschen, nicht wahr?«
»Ja, und ich habe abgetrocknet.«
Auf einen Wink von Sauzas nahm einer der Detektive ein nasses Handtuch und kühlte Ramón damit die Stirn.
»Nimmt er irgendwelche Tabletten gegen die Kopfschmerzen?« wandte sich Sauzas an Theodore.
»Nein. Er hat nichts eingenommen, er ist einfach erschlagen.« Wenn das stimmte, dachte Theodore, sobald er die Worte ausgesprochen hatte, dann konnte Ramón die Tat nicht begangen haben.
»Auf dem Dach war heute abend ein Geräusch«, sagte Sauzas zu Ramón. »Señora de Silva meint, daß es sich wie laufende Schritte auf dem Dach angehört habe. Waren Sie zu der Zeit noch da, als das passierte?«
»Schritte auf dem Dach?« wiederholte Ramón.
»Ramón, wach auf! Wir können doch nicht die ganze Nacht hier sitzen und ein paar Informationen aus dir herausholen!« sagte Theodore ungeduldig.
»O doch, das können wir«, meinte Sauzas mit kurzem Lachen und zündete sich eine neue Zigarette an. Er rauchte Gitanes; der starke, bittersüße Duft des Caporal-Tabaks begann den Raum zu füllen. »Nun, wie ist es mit den Schritten — haben Sie sie gehört?«
»Ich weiß es nicht mehr. Nein, ich glaube nicht.« Ein Detektiv erhob sich plötzlich. »Seine Fingerabdrücke sind auf der Flasche«, sagte er und zeigte auf die Bacardi-Flasche auf dem Tisch. »Ein Abdruck ist auch auf der Bettstelle und auf dem Nachttisch.«
»Und wie ist es mit der Fensterbank und den Messern in der Küche?« fragte Sauzas.
»Nur auf einem Messer sind Abdrücke, und die sind von der Frau«, erwiderte der Detektiv.
»Hm, hm«, machte Sauzas ungerührt. »Haben Sie Lelia geliebt, Ramón?«
»Ja.«
»Wollten Sie sie heiraten?«
Ramón preßte die Lippen zusammen, sprang vom Stuhl auf und ging mit großen Schritten zur Tür. Einer der Detektive und die beiden Polizisten liefen hinter ihm her und rissen ihn zurück. Sie drehten ihn um, und Theodore sah sein entsetztes und erschöpftes Gesicht, bevor sie ihn auf den Stuhl zurückdrängten. Er sprang wieder auf. »Ich hab’s nicht getan!« schrie er. »Ich hab’s nicht getan!«
»Niemand hat das behauptet.«
Ramón stand aufgerichtet und wollte sich nicht wieder setzen. Rechts und links von ihm stand ein Polizist und hielt ihm die Arme fest. »Hast du es getan, Teo?«
»Nein, Ramón. Ich habe sie gefunden. Ich bin hierhergekommen und habe sie gefunden«, sagte Theodore.
»Das glaube ich dir nicht! Sind das deine Blumen? Gibst du zu, daß du sie hergebracht hast?« Ramóns Stimme klang hysterisch.
»Das werden wir noch feststellen, Ramón«, sagte Sauzas. »Señor Schiebelhut sagt, er sei hergekommen und durch die Luftklappe der Haustür gekrochen, weil er keinen Schlüssel hatte.«
»Er hat aber einen Schlüssel!« unterbrach ihn Ramón und versuchte, sich von den Polizisten loszureißen.
»Den hatte ich zu Hause gelassen. Ich habe keinen Schlüssel bei mir. Ich sah das Licht, und da habe ich sie gerufen.«
»Durchsuchen Sie ihn nach dem Schlüssel«, sagte Sauzas zu einem der Detektive.
Geduldig leerte Theodore seine Taschen und legte den Inhalt auf den Tisch: Brieftasche, Schlüsselring mit je zwei Schlüsseln, für den Wagen und für das Haus, dazu ein Schlüssel für den Briefkasten, Zigaretten, Feuerzeug, Kleingeld, ein Knopf von seinem Regenmantel — der Detektiv suchte selbst in jeder Tasche nach. Die Schlüssel am Ring wurden gleich ausprobiert, ob sie zur Tür paßten. Sauzas wandte sich an Ramón. »Haben Sie Ihren Schlüssel bei sich?«
Ramón nickte, langte in die Hosentasche und zog einen Schlüsselring mit mehreren Schlüsseln hervor.
»Welcher ist es?« fragte Sauzas. Ramón nahm ihn in die Hand und gab ihn Sauzas, der ihn gleich ins Türschloß steckte. Der Schlüssel paßte. »Haben Sie die Tür verschlossen, als Sie gingen, Ramón?«
»Nein, natürlich nicht. Sie war ja hier.«
»Haben Sie gehört, daß sie hinter Ihnen abgeschlossen hat?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Hat sie die Tür meistens verschlossen gehalten?« Ramón zögerte, und Theodore wußte, die Frage war nicht zu beantworten, denn solche Gewohnheiten hatte es bei Lelia gar nicht gegeben. Mal verschloß sie die Tür, mal ließ sie sie offen.
»Die Schlüssel der Señorita«, sagte Sauzas plötzlich. »Enrique, sehen Sie doch mal zu, ob Sie sie finden.« Der Detektiv ging ins Schlafzimmer zurück, und Sauzas folgte Theodore blickte in die farbige Tonschale auf dem Bücherbort, in der Lelias Schlüssel oft gelegen hatten. Sie war jetzt leer.
Die Schlüssel waren nicht zu finden. Die Polizisten suchten überall, auch in der Küche. Sie waren in keiner Handtasche, in keinem Mantel, in keiner Schublade. Theodore und Ramón wurden gefragt, wo Lelia sie gewöhnlich aufbewahrte, und beide gaben die farbige Tonschale an.
»Sie war nicht sehr ordentlich«, sagte Theodore, »aber wenn die Schlüssel hier sind, müßten wir sie finden.« Warum sollte Ramón sie genommen haben, dachte er. Oder ob vielleicht jemand anderes sie mitgenommen hatte und auf diese Weise jetzt Zutritt zur Wohnung hatte?
»Warum haben Sie die Schlüssel mitgenommen, Ramón?« fragte Sauzas plötzlich.
»Ich hab sie nicht mitgenommen.«
»Was haben Sie dann damit gemacht?«
Ramón starrte ihn an und griff zu einer Zigarette.
Nachdenklich schritt Sauzas im Zimmer auf und ab. »Vielleicht sind sie noch hier — vielleicht auch nicht.« Er hob die Schultern. »Damit würde der Fluchtweg über die Regenrinne wegfallen. Der Mörder könnte die Tür von außen abgeschlossen haben, als er die Wohnung verließ. Wir werden Ihre Wohnung durchsuchen müssen, Ram’on, das hat aber noch etwas Zeit. Jetzt…« er hielt inne, entzündete eine neue Zigarette und blickte, tief inhalierend, Ramón prüfend an. »Würden Sie sagen, daß Señor Schiebelhut ein guter Freund von Ihnen ist, Ramón?«
Darauf verweigerte Ramón die Antwort.
»Wie lange kennen Sie Señor Schiebelhut?«
»Drei Jahre«, half Theodore aus.
»Und wie lange kannten Sie Lelia?«
»Fast vier Jahre«, sagte Theodore, als Ramón nicht antwortete.
»Aha!« sagte Sazuas. »Ramón hat sie also zuerst kennengelernt.«
»Ja«, gab Theodore zu. »Aber wir waren bald alle zusammen gute Freunde.«
»So, das ist ja schön. Und es gab keinen Streit, obwohl Sie doch beide ihre Liebhaber waren?«
»Nein«, sagte Theodore.
»Stimmt das, Ramón?«
»Du weißt, daß das stimmt, Ramón«, sagte Theodore.
»Lassen Sie ihn bitte selbst antworten, Señor Schiebelhut.«
Ramón schien sich plötzlich zu entspannen. Vorsichtig ließen ihn die Polizisten los.
»Wo haben Sie sie kennengelernt, Ramón?«
»In der Kathedrale«, erwiderte Ramón.
Die Polizisten und die Detektive lachten.
»In der Kathedrale also. Sie haben sie angeredet, ja? Warum?«
Ramón setzte sich auf den Stuhl und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Ich hab sie angeredet«, murmelte er vor sich hin.
»Und Sie wurden dann sofort ihr Liebhaber?«
»Ja«, gab Ramón zu, aber Theodore wußte, daß er log. Die beiden hatten sich monatelang gekannt, bevor es zu intimen Beziehungen kam.
»Haben Sie ihr Geld gegeben, Ramón? Wenn Sie mit ihr geschlafen haben?«
»Nein«, murmelte Ramón durch die Hand.
»Haben Sie ihr Geld gegeben, Señor Schiebelhut?«
»Ich hab ihr öfters Geschenke mitgebracht. Geld nie.«
»Und wie haben Sie sie kennengelernt?«
»Ich habe sie zufällig getroffen. Im Chapultepec-Park, an einem Sonntag.« Die Erinnerung wurde in ihm wach — sie hatte mit dem Zeichenblock auf einer Steinbank unter den riesigen Ahuehuetebäumen gesessen und ihm, als er vorbeiging, ein abwesendes Lächeln zugeworfen. So hätte sie auch einen Charro beim Reiten, einen Bauern in Sandalen, einen streunenden Hund angelächelt. Theodore hatte gesagt: »Ein schöner Tag zum Zeichnen heute.« Es war ein banaler Anfang, aber er erinnerte sich gern daran.
»Und dann?« fragte Saüzas weiter.
»Dann haben wir uns kennengelernt.«
Wieder feixten die Zuhörer.
Jetzt klopfte jemand an die Tür.
»Haben Sie sie gebeten, Ihre Frau zu werden, Señor Schiebelhut?«
»Nein.«
»Er hält nichts von der Ehe«, warf Ramón ein.
»Haben Sie ihr jemals einen Heiratsantrag gemacht, Ramón?«
»Nein«, entgegnete Ramón.
Das war glatt gelogen. Theodore wußte, daß Ramón ihr mehr als einen Antrag gemacht hatte. Aber vielleicht gelangte man durch Lügen zur Wahrheit.
»Und warum nicht?« fragte Sauzas.
»Weil ich nicht genug Geld hatte, um sie zu ernähren.« Stolz hob Ramón den Kopf und lächelte.
Wieder klopfte es, und eine Frauenstimme sagte: »Machen Sie doch bitte auf.« Niemand kümmerte sich darum. Theodore entsann sich, daß Ramón um Lelia angehalten hatte, kurz nachdem er, Theodore, sie kennengelernt hatte. Und das war wohl auch nicht das erste Mal gewesen. Vielleicht hatte Ramón sie heute abend wieder gebeten — kurz bevor Theodore ankommen sollte —, und Lelia hatte ihn abgewiesen. Es war nicht etwa anzunehmen, daß Ramón die Sache so weit im voraus geplant hatte, daß Theodore dann hereinkommen und mit der Leiche gefunden werden sollte. Nein, bei Ramón geschah alles impulsiv. Aber er war vielleicht zornig geworden, weil sie ihn abgewiesen hatte.
»Hat Ramón sie heiraten wollen, Señor Schiebelhut?«, fragte Sauzas.
»Es lag an Lelia. Sie wollte nicht heiraten.«
Sauzas ging zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Sofort setzte ein schrilles Duett aus Frauenstimmen ein; er schloß die Tür schnell wieder und lehnte sich dagegen. »Wie viele Freunde hatte sie außerdem noch, Señor Schiebelhut?«
Sauzas wollte sie zu einer Hure stempeln, dachte Theodore, weil er mit dieser Gattung vertraut war. »Sie hatte viele Freunde. Meistens Künstler— Maler wie sie selbst.«
»Und mit all denen schlief sie?«
»Mein Gott nein. Mit keinem.«
»War jemand darunter, der oft herkam? Der sie vielleicht liebt?«
Ein junger Anfänger fiel Theodore ein, ein Maler aus Puebla. Aber er schob den Gedanken von sich. Eduardo konnte es unmöglich getan haben.
»Andere Männer gab es nicht«, sagte Ramón langsam. »Nur wir waren ihre Freunde, Theodore und ich. Die anderen waren bloß…«
»Boyfriends«, schob einer der Detektive ein, und alle Männer bis auf Sauzas und Theodore grienten.
»Gab es vielleicht frühere Liebhaber? Sie beide waren wohl nicht die ersten, was?«
Sekundenlanges Schweigen, dann sagte Theodore:
»Ich jedenfalls habe nie einen kennengelernt.«
»Kennen Sie welche mit Namen?«
»Nur einen — Cristóbol Wagner. Sie hat mir erzählt, daß er jetzt in Kalifornien wohnt.«
Ramón hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Vielleicht war Cristóbol wirklich ihr erster Liebhaber gewesen, auf jeden Fall zählte er am meisten. Sie hatte Theodore — und wohl auch Ramón — erzählt, er sei der einzige gewesen, bei dem sie je an Heirat gedacht habe. Sie sprach nicht oft von ihm, aber jedesmal gab es Theodore einen kleinen eifersüchtigen Stich, und sicher ging es Ramón ebenso. Cristóbol hatte Lelia in den Jahren gekannt, als sie zwanzig bis dreiundzwanzig war. Theodore beantwortete Sauzas Fragen nach ihm, so gut er konnte. Ja, er mußte jetzt etwa vierzig sein, er war Architekt, war vor sieben Jahren nach Nordamerika gegangen und wohnte jetzt in Kalifornien. Nach Mexiko war er, soviel Theodore wußte, nie wieder gekommen, und Lelia schrieb ihm auch niemals. Er war ja auch jetzt verheiratet und hatte Kinder. Von anderen Liebhabern in Mexiko wußte Theodore nichts, wie sehr ihn auch Sauzas bedrängte.
»Sie war eine Künstlerin!« schrie Ramón. »Hier sind ihre Bilder — sehen Sie sie doch an!« Mit einer Armbewegung wies er auf die vier Wände.
Mit wissendem Lächeln sahen sich die Männer an.
»Sie war ebenso gut wie er da oder noch besser«, sagte Ramón herausfordernd mit einer Kopfbewegung zu Theodore.
Jetzt klopfte es lauter an die Tür. Langsam ging Sauzas hinüber und öffnete. Eine Frauenstimme sagte:
»Ich bin Señorita Ballesteros’ Tante.«
Sofort erhob sich Theodore und ging zu ihr. »Tía Josefina!« Er umarmte sie und küßte sie auf die Wange.
Lelias Tante Josefina, eine Fünfzigerin mit glänzend schwarzem Haarknoten, der mit einem Silberkamm am Hinterkopf gehalten wurde, und bläulichen Lidschatten, lehnte einen Augenblick ihre Wange an Theodores Schulter. Dann hob sie den Kopf und fragte Sauzas: »Wo ist sie, bitte?«
»Im Schlafzimmer«, erwiderte Sauzas.
Theodore nahm ihren Arm und ging mit. Er hätte auch ihrer dreiundzwanzigjährigen Tochter Ignacia, die mit ihr gekommen war, den Arm gegeben, aber für alle drei war der Korridor zu schmal. Ignacia ging hinterher, zusammen mit drei oder vier Männern, die mit Josefina aus dem Vorraum gekommen waren. Theodore kannte nur einen, einen Ladeninhaber aus der Nachbarschaft, den Lelia manchmal grüßte, wenn sie ihn auf der Straße traf.
Josefina stockte der Atem. Aus dem starken Busen kamen erstickte Töne unterdrückten Schluchzens.
»Komm, du brauchst nicht hinzusehen, Tía Josefina«, sagte Theodore und klopfte ihr leicht den Arm. Er versuchte, auch Ignacia am Zuschauen zu hindern, aber sie blieb mit ihrer Mutter auf der Schwelle stehen und hielt sich am Arm der Mutter fest.
Theodore ging wieder ins Wohnzimmer. »Warum können wir sie nicht mit dem Laken zudecken?« fragte er Sauzas und den dicken Offizier. »Ist das verboten?«
Jetzt stieß jemand gegen die Tür. »Presse hier! Wollen Sie aufmachen oder sollen wir die Tür einschlagen?«
»Wir sind noch bei den Fingerabdrücken!« schrie Sauzas zurück. »Sie können noch nicht herein. Bleiben Sie draußen und seien Sie still! Und wer sind Sie überhaupt?« fragte er die Männer, die mit Josefina hereingekommen waren.
»José Garvez, bitte schön«, sagte ein großer breiter Mann, der seinen Hut in der Hand hielt. »Ich bin der Weinhändler der Señorita.«
»Hm, hm«, sagte Sauzas und rieb den schwarzen Schnurrbart. »Und Sie?«
Der nächste Mann hob verlegen die Schultern. Tränen standen ihm in den Augen, er konnte kaum sprechen. Es war der Bäcker, den Theodore kannte.
»So, jetzt setzen Sie sich erst mal alle hin«, sagte Sauzas.
»Es gibt da noch einige Fragen.«
3
Um sieben Uhr morgens waren sie immer noch nicht fertig. Nur Carlos Hidalgo und drei der Männer hatten nach Hause gehen dürfen. José Garvez, der Weinhändler, hatte bleiben dürfen. Die Presse war jetzt zugelassen; ein halbes Dutzend Männer waren mit Blitzlicht und Kameras durch die Wohnung getrampelt und hatten Lelia aus jedem erdenklichen Winkel aufgenommen, trotz Theodores Protesten und seiner Bitte an Sauzas, den Leuten Einhalt zu gebieten. Theodore begann, eine Abneigung gegen Sauzas zu entwickeln.
Auf dem Dach war nichts Nennenswertes gefunden worden, und an der Regenrinne hatte man keine Fingerabdrücke festgestellt.
Einer der Polizisten hatte Kaffee und Brötchen besorgt, und es wurde ein provisorisches Frühstück auf dem Tisch angerichtet, auf dem schon alles mögliche lag: Die Fingerabdruckproben, Zeitungen, Jacken, Aschbecher, sogar ein Revolver schaute aus dem Durcheinander hervor, nur wenige Zentimeter entfernt von Ramóns schlaffer Hand. Ramón hatte den Kopf auf den Tisch gelegt; ob er schlief oder nicht, kümmerte niemand.
Josefina wurde gefragt, ob sie etwas von irgendwelchen Feinden wisse, die Lelia gehabt haben könnte. Nein? Dann vielleicht Schulden? Auch da wußte Josefina nur eine vage Möglichkeit, vielleicht einen kleinen Betrag, den sie einem Arzt schuldete für die Behandlung eines Ausschlags, den sie sich im letzten September am Pátzcuaro-See geholt hatte. Aber auch das war eigentlich keine Schuld, denn der Arzt hatte sie so gern gemocht, daß er gesagt hatte, sie brauche ihm nichts zu bezahlen.
Die Polizisten und Detektive brachen bei diesem Bericht in Gelächter aus. Josefina blickte sich um; ihre Augen funkelten empört. »Ich weiß, was ihr alle denkt! Was ist dabei, wenn eine Frau gern malt? Wenn sie Phantasie hat? War sie etwa keine Künstlerin? Seht doch ihre Bilder hier an. Es hängen sogar welche von ihr in der Galerie Bellas Artes! Und wenn sie nicht heiraten will, ist das nicht ihre eigene Angelegenheit? Und wenn sie zwei so gute Freunde hat« — sie tätschelte Theodores Hand, die auf dem Tisch lag — »ist das nicht ebenfalls ihre eigene Sache? Und wenn sie sie mitten in der Nacht besuchen, ist das ein Grund für so ein dreckiges Grinsen? Bloß weil ihr alle, wie ihr da seid, nur einen einzigen Grund kennt, aus dem man eine Frau nachts besuchen kann, was?«
»Mama«, sagte Ignacia leise.
Das Porträt des kleinen Jungen — er hieß José —, das Lelia in lichten melancholischen Blau- und Grüntönen gemalt hatte, blickte mit kindlicher Würde auf sie herab.
»Als Lelia neunzehn war, hat sie mit mir und meinem Mann eine große Reise durch Nordamerika gemacht. Sie hat in New York studiert. Sie ist keine Provinzlerin. Ich war selbst eine Konzertpianistin«, berichtete Josefina, warf den Kopf zurück und setzte sich noch gerader auf. »Aber ich habe meine Karriere aufgegeben und geheiratet. Lelia hat ihre Karriere nicht aufgegeben. Und noch eins«, fügte sie hinzu und blickte erst den dicken Inspektor und dann Sauzas an, »sie bekam seit Jahren von meinem Mann ein monatliches Stipendium von vierhundert Pesos. Sie hatte es nicht nötig zu betteln, das kann ich Ihnen sagen. Und auch nicht, sich zu verkaufen!«
Sauzas nickte zustimmend. Kühl wandte er sich an Ramón.
»Ramón Otero, haben Sie schon jemals früher mit der Polizei zu tun gehabt?«
Langsam hob Ramón den Kopf.
Sauzas wiederholte die Frage.
»O ja«, sagte Ramón. »Die großartige Polizei von Chihuahua hat mich fälschlich beschuldigt und dann beinahe totgeschlagen. Ich schlief in einem Lastwagen an der Straße, da kam die Polizei und verhaftete mich wegen Raubmord.« Mit Abscheu blickte er auf den dicken Inspektor und zog seine Packung Carmencitas — sehr kleine billige Zigaretten — aus der Tasche.
»Wann war das?«
»Vor fünf Jahren. Oder sechs, kann auch sein.«
»Wie alt sind Sie?«
»Dreißig.«
»Und Sie wurden für nicht schuldig befunden?«
»Den Schuldigen fanden sie ein paar Tage später. Sonst hätten sie mich vielleicht doch noch umgebracht. So…« er wollte lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus.
»Sie haben ihn mit einer Metallstange über den Kopf geschlagen«, sagte Theodore zu Sauzas. »Er hatte eine Gehirnerschütterung. Das hat ihn verändert.« Theodore hob die Schultern.
»Aha«, sagte Sauzas. »War er mal in einer Anstalt?«
»Nein«, erwiderte Theodore. »Aber er leidet oft unter schweren Kopfschmerzen.«
»Sie treten für ihn ein, Señor Schiebelhut?«
»Nein, ich trete nicht für ihn ein«, sagte Theodore stirnrunzelnd.
»Und er hat Anfälle von schlechter Laune oder von Zorn?«
»Ja«, sagte Theodore fest.
»Glauben Sie, er könnte heute abend den Kopf verloren und die Frau ermordet haben?«
»Ich hab sie nicht ermordet!« schrie Ramón. »Ach, schlagt mich doch bloß tot! Macht, was ihr wollt. Aber ich hab sie nicht ermordet!« Er war schon wieder halb aus dem Stuhl.
»Gut, Ramón. Wir sind ja nur hier, um die Wahrheit festzustellen; Haben Sie ein Messer? Zu Hause vielleicht?«
»Ich habe mehrere Messer, in der Küche«, sagte Ramón.
»Bei sich haben Sie keins?«
»Nein. Halten Sie mich für einen Straßenräuber?«
Plötzlich redeten alle auf einmal.
»Sie waren der letzte, der hier in der Wohnung war!« schrie Sauzas. »Wieso sollten wir Sie nicht verdächtigen? Halten Sie uns für Idioten?«
»Los, machen Sie doch!« schrie Ramón wild.
Sauzas warf die Arme hoch und wandte sich an Theodore. »Señor Schiebelhut, warum sind Sie nach Mexiko gekommen?«
»Weil ich Mexiko sehr gern habe.«
»Wie lange haben Sie in den Vereinigten Staaten gelebt? Sind Sie amerikanischer Bürger?«
Theodore hatte Sauzas längst berichtet, daß er in der Nähe von Hamburg geboren wurde, daß seine Eltern ihn mit elf Jahren in die Schweiz brachten, daß er dort und in Paris zur Schule ging und mit zweiundzwanzig in die Vereinigten Staaten kam.
»Ich habe Amerika verlassen, bevor meine Einbürgerungspapiere durchkamen«, sagte er müde.
»Und was haben Sie dann gemacht?«
»Ich bin gereist — hauptsächlich in Südamerika, drei oder vier Jahre lang. Ich habe an verschiedenen Orten gewohnt. Ist das wirklich alles so wichtig?«
»Ja. Warum haben Sie sich für Mexiko entschlossen?«
»Weil es mir am besten gefiel. Da ich ein eigenes Einkommen habe, ist es gleichgültig, wo ich wohne.«
Jetzt wurde etwa fünfzehn Minuten lang über Theodores Einkommen verhandelt, das sehr einfach war: es stammte aus Grundstücken in Deutschland, die seiner Familie gehörten, und aus Aktien, die durch Deutschlands Wiederaufstieg nach dem Krieg an Wert gewonnen hatten. Im ganzen betrug sein monatliches Einkommen etwa fünfundzwanzigtausend Pesos, auf die er natürlich die normale mexikanische Einkommensteuer entrichtete. Das alles war leicht zu beweisen, wenn man seine Papiere prüfte. Das Thema langweilte und ermüdete ihn sehr. Es kam ihm vor, als sei die Polizei dabei, ihn und Ramón absichtlich wach zu halten, in einer verlangsamten Version der Zermürbungstaktik in Nordamerika. Nicht mit grellem Licht und Gummiknüppeln, aber auf die Dauer war die Methode die gleiche: durch Erschöpfung, durch geistigen Kollaps ein Geständnis zu erzwingen. Er war müde und verärgert, und vor allem irritierte ihn die stupide Neugier der Polizisten und Detektive, die es kaum fassen konnten, daß jemand ein monatliches Einkommen von fünfundzwanzigtausend Pesos besaß.
Wie konnte einer soviel Geld ausgeben? Was machte er bloß damit? Je kürzer er antwortete und je mehr er auswich, desto mehr bedrängten sie ihn. Als er erklärte, er habe ein Haus in Cuernavaca und eins in der Stadt, starrten sie ihn verwundert und erfreut an wie die Zuschauer bei einem Hollywood-Film.
»Ich kann nur sagen, daß es durchaus möglich ist, in Mexiko fünfundzwanzigtausend Pesos auszugehen, wenn man ein Haus hat, ein Dienstmädchen, einen Wagen, Reparaturen am Haus, wenn man Bücher und Noten kauft…« Theodore hatte das Gefühl, er spreche im Schlaf und unterhalte sich mit unwirklichen Traumgestalten.
»Und eine Geliebte, was?« Der gummikauende Detektiv neben ihm stieß ihn in die Rippen.
Theodore rückte etwas ab, der abgestandene Pfefferminzgeruch des Atems verursachte ihm Übelkeit. Er trank einen Schluck von dem widerlichen mausgrauen Kaffee, der hauptsächlich aus gekochter Milch bestand. Der Rand des Papierbechers war nahezu aufgeweicht. »Entschuldigen Sie«, sagte er und stand auf. Er ging in Lelias Badezimmer, das vom Vorraum abging. Aber er konnte doch nicht erbrechen, er hatte nichts im Magen. Benommen und schwindlig stand er minutenlang über die Toilette gebeugt und hielt mit der großen blassen Hand den Schlips fest. Danach wusch er sich Gesicht und Hände. Die Haut fühlte sich ganz taub an. Einen Augenblick starrte er all die Parfüms und Toilettewasser auf dem kleinen Wandbrett an, den unebenen weißen Fliesenboden und die ovale blaue Badematte, auf der seine nackten Füße so oft gestanden hatten. Wie viele glückliche Tage und Nächte…vielleicht war es alles gar nicht wahr, daß Lelia tot war, vergewaltigt, mit abgeschnittener Nase. Es rauschte in seinen Ohren, und die Fliesen verschwammen ihm vor den Augen. Lächerlich. Er verwünschte sich und seine Schwäche.
»Señor Sehiebelhut!« Schritte näherten sich.
»Ich komme!« rief er zurück und richtete sich auf. Er fuhr sich mit der Hand über das Haar und öffnete die Tür.
Sie waren jetzt dabei, Ramón nach seiner Arbeit und seinem Einkommen zu fragen. Er antwortete kurz und einsilbig. Ramón arbeitete nicht weit von der Kathedrale entfernt in einer Reparaturwerkstatt für Möbel. Die Werkstatt gehörte ihm und seinem Teilhaber Arturo Baldin, und sie hatten zwei Gehilfen. Sein Einkommen schwankte zwischen dreihundert und sechshundert Pesos wöchentlich, aber Theodore wußte, daß es oft nur hundert Pesos oder noch weniger betrug, vielleicht sechzig Pesos, so viel, wie der einfachste Arbeiter in Mexiko verdiente. Theodore hatte durch Lelia von Ramóns geringem Einkommen gehört und hatte ihm oft einen Hundertpesoschein in die Jackentasche gesteckt; manchmal hatte er auch einfach darauf bestanden, daß Ramón ein paar hundert Pesos von ihm annahm. Ramón hatte Sinn für soziale Gerechtigkeit, und es machte ihm nichts aus, von Theodore Geld anzunehmen, da Theodore soviel mehr besaß und nichts tat, um es zu verdienen. Er nahm das Geld ohne jede Scham oder Arroganz an. Er zeigte nicht einmal Freude. Das schätzte Theodore sehr an ihm. Er hörte jedoch jetzt, daß Ramón von diesen häufigen Geldzuwendungen kein Wort sagte. Nun, das war sicher gut so, es hätte die Sache nur kompliziert. Sie fragten Ramón immer noch, wie er es fertigbringe, von so wenig zu leben. Hatte er nicht noch andere Einnahmequellen? Nein, Ramón hatte bestimmt keine anderen Einnahmequellen, nicht mal die Loteria Nacional. Er lebte einfach und beklagte sich nicht. Das Verhör ging ganz unsystematisch vor sich; wer Lust hatte, stellte ihm Fragen. Als der Polizeiinspektor sagte, Ramón habe vermutlich Lelia als Zuhälter gedient, antwortete Ramón in dem gleichen stumpfen Ton: »Nein.« Wie oft besuchte er Lelia? Vielleicht zwei- oder dreimal in der Woche, manchmal auch jeden Abend.
Und manchmal, das wußte Theodore, kam er auch zwei oder drei Wochen lang nicht. Aber irgendwann kam er immer zurück, schluckte seinen Stolz hinunter oder verbarg doch jedenfalls mit guter Miene, daß sein Stolz von neuem tief getroffen war.
Das Trillern eines Kanarienvogels kam durch das offene Fenster. Ein Zeitungsjunge rief : »Excelsior! Novedades!«, und ein Lastwagen donnerte vorbei. Es war ein weiterer wunderschöner, sonniger Tag.
»Señor Schiebelhut, glauben Sie, daß er sie umgebracht hat?« fragte Sauzas plötzlich.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Theodore.
»Vor ein paar Stunden haben Sie es noch geglaubt«, sagte der Dicke.
Ja, das stimmte, und er konnte nicht einmal sagen, warum er jetzt Zweifel hatte. Er wußte es nicht.
»Ramón, was glauben Sie, wer Lelia umgebracht hat?« fragte Sauzas. »Er vielleicht«, sagte Ramón gleichgültig und heftete die dunklen Augen auf Theodore. »Schließlich hat man ihn ja hier mit ihr gefunden, nicht wahr? Er kann nicht erklären, wie er hereingekommen ist. Sicher hat sie ihn hereingelassen.«
»Ramón!« sagte Josefina mahnend.
Theodore erschrak nur ganz leicht, doch sein Herz begann laut zu klopfen. Einmal, das fiel ihm jetzt ein, hatte Ramón eine Platte mit Entenbraten aus dem Küchenfenster in den Patio geworfen, weil Theodore etwas zu spät zum Essen gekommen war und Ramón keine Lust hatte zu warten. Dieser Jähzorn — wenn Ramón wirklich ihn für den Mörder hielt, so würde er ihn sicherlich umbringen, ihn mit seinen starken Händen erwürgen, bevor ihn jemand hindern konnte.
»Señor Schiebelhut hat erklärt, wie er hereingekommen ist«, sagte Sauzas über die Schulter gewandt. »Enrique, holen Sie noch mal ein nasses Handtuch. Ramón, Sie haben ja den Schlüssel zu dieser Wohnung. Sie haben ihn bei sich. Es ist kein automatisches Schloß, die Tür mußte also von außen abgeschlossen werden — vielleicht von Ihnen. Die Regenrinne würde Sie nicht tragen, das haben wir ausprobiert. Die Staubschicht oben an der Luftklappe zeigt, daß dort etwas durchgeschoben wurde. Wollen Sie jetzt, daß wir Sie verdächtigen?«
Ramón zuckte die Achseln, und zwar so gleichgültig, daß man die absichtliche Beleidigung sah.
Jeder wartete unbehaglich, bis der Detektiv mit dem nassen Handtuch zurückkam. Er legte es Ramón auf die Stirn und wischte ihm das Gesicht ab, wie man einem Baby die Nase abwischt. Ramón fuhr auf und stieß mit der Faust nach dem Detektiv. Sofort waren die Polizisten auf den Füßen. Ramón schlug immer weiter um sich, auch als er in die Knie sackte. Ein Polizist fiel lang hin, als Ramóns Arm ihn traf. Dann gab es ein krachendes Geräusch, und Ramón lag auf dem Boden. Über ihn gebeugt stand ein Polizist mit entblößten Zähnen, den Lauf des Revolvers in der Hand, mit dem er ihn geschlagen hatte.
»Eine schöne Bescherung!« sagte Theodore, der sich Vorwürfe machte, weil er nicht eingegriffen hatte. »Sechs starke Männer, und dann müssen Sie mit dem Revolver auf ihn einschlagen. Da haben Sie was Schönes angerichtet!«
Josefina kniete neben Ramón und netzte ihm die Stirn mit dem nassen Handtuch. Er machte schwache Bewegungen, als kämpfe er im Traum, aber die Augen blieben geschlossen. Der starke Mund sah still und friedlich aus, wie der eines Kindes.
Als Ramón langsam wieder zu sich kam, stellte ihm Sauzas weitere Fragen, die Ramón mit keinem Wort oder Blick beantwortete.
Plötzlich wurde die Tür so schnell geöffnet, daß Theodere zusammenfuhr. Ein Polizist, den er bisher nicht gesehen hatte, trat vor und salutierte. »Die Blumen sind an einem vier Straßen weiter entfernten Stand gekauft worden«, berichtete er etwas atemlos. »Zwischen halb elf und halb zwölf. Ganz genau kann der Mann es nicht sagen.«
»Von wem gekauft?« fragte Sauzas.
»Von einem kleinen Jungen. Vielleicht — so groß, meint der Mann. Es sind die einzigen weißen Nelken, von denen gestern abend hier in der Gegend zwei Dutzend auf einmal verkauft wurden, Señor Capitán.« Das angespannte Gesicht sah den Vorgesetzten ausdruckslos an.
»Ein kleiner Junge«, sagte einer der Männer am Tisch und lachte auf.
4
Kurz vor elf stieg Theodore vor seinem Haus aus dem Taxi und trug Koffer, Mappe und Leinwandrolle zur Eingangspforte. Der dicke Polizeiinspektor und einer der Detektive begleiteten ihn. Ramón war ins Polizeigefängnis gebracht worden, wo ihn Sauzas weiter verhören wollte.
Die Anwesenheit der beiden Männer irritierte Theodore. Sie hatten zugehört, als er mit Josefina die Beisetzung besprach, und hatten ihm keinerlei Hilfe angeboten, als er auf der Straße nach einem Telefon suchte, um das Beerdigungsinstitut anzurufen. Das war alles sehr schwierig gewesen, denn die Polizei hatte die Leiche noch nicht freigegeben. Sie wollten die Tiefe und Breite der Stichwunden ausmessen und außerdem eine Autopsie vornehmen.
Theodore schloß seinen Briefkasten auf, nahm einige Briefe heraus, ohne sie anzusehen, und steckte sie in die Tasche. Señora Velasquez, die Nachbarin, hatte ihm alles Wichtige nach Oaxaca nachgeschickt.
Über dem Gartentor hingen Efeuranken; die Hälfte, die seinem Hause am nächsten lag, brauchte dringend Wasser. Das Dienstmädchen der Velasquez, Constancia, hätte sie vom ersten Stock seiner Wohnung aus gießen können, aber er hatte ihr den Schlüssel nicht gegeben. Er trat mit den beiden Männern in einen Patio, der mit rosa Fliesen ausgelegt war; hinten, unter dem zweiten Stockwerk, lag eine Garage. Er ging durch eine Seitentür ins Haus. Der Wohnraum lag im Halbdunkel, doch seine Augen sahen alles und erfaßten zuerst die Pflanzen — die große Begonie sah verdorrt aus, ein Jammer — und dann die Möbel, die Inocenza seiner Weisung gemäß zugedeckt hatte. Er zog an einer Schnur, und helles Sonnenlicht flutete herein. Er kümmerte sich nicht um die beiden Männer und trug die Begonie nach hinten in die Küche.
Vor seiner Abreise hatte er die Pflanze gründlich getränkt und in eine Schüssel mit Wasser gestellt, aber es war eine große Semperflorens, die täglich einen halben Liter Wasser verbrauchte. Und als er jetzt die trockene Erde tränkte, machte er sich Vorwürfe, daß er sich wegen der Pflanzen anstellte wie eine alte Jungfer— jetzt, da Lelia erst seit zwölf Stunden tot war.
Er wandte sich um und sah, daß die beiden Männer ihn von der Küchentür her anstarrten. »Ja, dies ist also mein Haus. Sie sehen jedenfalls, daß ich eins habe.«
»Warum sind Sie nach Oaxaca gefahren, Señor?« erkundigte sich der dicke Inspektor.
»Weil ich dort malen wollte, Señor.«
»Sie müssen sehr plötzlich abgereist sein — Sie haben Ihre Pflanzen nicht mehr versorgt.«
»Ich pflege oft spontane Entschlüsse zu fassen.«
»Sie sind ein sorgsamer Hausvater«, erwiderte der Beamte kopfschüttelnd. »Sie hätten Ihr Haus nicht ohne Vorbereitungen verlassen, wenn Sie nicht in Eile gewesen wären.«
»Sie haben doch Ramón Otero festgenommen. Warum gehen Sie nicht hin und vernehmen den?« Er kam mit der Begonie zur Tür, und die beiden Männer machten ihm Platz und folgten ihm dann durch den Eßplatz in den Wohnraum, wo sie sich wieder hinstellten und die Treppe anstarrten, die ohne sichtbare Stütze in Windungen nach oben führte.
»Wollen Sie das obere Stockwerk sehen?« fragte Theodore kurz.
Der Detektiv war gerade über eine kleine Aktskizze von Lelia gebeugt, die Theodore gemalt hatte, und gab keine Antwort. Der Dicke gähnte, wobei mehrere Goldzähne sichtbär wurden. Dann trampelten sie die teppichbelegten Stufen hinauf in Theodores Schlafzimmer, sein Bad, das Gästezimmer mit Bad, in das kleine vordere Eckzimmer, wo er malte, und schließlich in Inocenzas Zimmer mit Bad, das als einziger Raum im dritten Stock lag.
»Eine Menge Badezimmer«, bemerkte der Inspektor, danach gingen sie wieder nach unten.
Die kleine rote Birne brannte noch unter der Jungfrauenstatuette aus Muscheln und rosa und weißen Korallen, die Inocenza von einer Freundin in Acapulco erhalten hatte. An der Wand hing die Reproduktion eines billigen Gemäldes vom Abendmahl: eine Werbung für Bayers Aspirin und gleichzeitig ein Kalender mit den Namen sämtlicher Heiliger des Tages mit Glückwünschen für Prosperidad y Bienestar para al Año 1957. Sie gingen nach unten.
»Sie dürfen das Haus nicht verlassen«, bemerkte der dicke Inspektor, »ohne uns zu benachrichtigen.«
»Ich habe nicht die Absicht, das Haus zu verlassen«, erwiderte Theodore.
Sie schrieben sich seine Telefonnummer von dem Apparat im Wohnraum ab und schlenderten dann nach draußen. Im Vorbeigehen beugten sie sich über eine der blühenden Kakteen, die den Patio einfaßten. Theodore vergewisserie sich, daß die eiserne Eingangspforte zugefallen war, und schloß dann die Haustür.
Er brachte seinen Koffer nach oben und ließ ihn zunächst stehen, weil er ein Bad nehmen wollte, aber das Wasser war kalt, weil die Heizung nicht angestellt war. Er ging in die Küche hinunter, stellte die Heizung an, holte die andern Pflanzen und stellte sie in den Küchenausguß und ins Waschbecken, dann ging er nach oben, um den Koffer weiter auszupacken, Er hatte für Lelia ein kleines Pferd aus glasiertem schwarzem Ton mitgebracht und für Ramón eine Meerjungfrau mit Gitarre aus grauem unglasiertem Ton, außerdem für Lelia ein Armband aus antikem Silber mit Granatsteinen und für Ramón ein halbes Dutzend handgewebte Krawatten. Er warf alles auf sein Bett mit dem Gefühl, den besseren Teil seines Lebens verloren zu haben. Dann badete er, bevor das Wasser richtig heiß war; das Verlangen, sich gründlich zu waschen, war so groß, daß es ihm nichts ausmachte. Er rasierte sich und zog sich um: saubere Wäsche, eine blau-rot gestreifte Krawatte und einen frischgebügelten grauen Anzug.
Darin verließ er das Zimmer, ging die Treppe hinunter, nahm die Schlüssel vom Tisch und ging hinaus. Er klingelte am Haus nebenan.
Constancia, dick und braun und in einer rosa Uniform, öffnete die Tür.
»Aahh, Señor Schie—beel—huu!«, rief sie schrill. »Pase Usted! Benvenido! Com’ está Usted?«
An ihrem halben Lächeln erkannte er, daß sie Bescheid wußte. »Danke, gut, Constancia. Und Sie?«
»Gut, danke schön«, sagte sie mechanisch.
»Und Señora Velasquez?«
»Auch gut, und Leo geht’s auch gut. Sie werden staunen! Leo! Leo!« Sie ging vor ihm durch den weinüberrankten Patio und rief nach dem Kater, in der sicheren Annahme, trotz des Mordfalles könne Theodore es kaum erwarten, seinen Kater wiederzusehen. »Wir lassen ihn nicht auf die Straße — seine Freundinnen haben ihn schon vermißt«, sagte sie mit breitem Lächeln.
Die Haustür stand offen, und im Vorraum kam ihm Olga Velasquez schnell entgegen. Sie war etwa vierzigjährig, zierlich und elegant mit kurzem blondgetöntem Haar und winzigen hochhackigen Sandalen. »Theodore! Ich hab’s gerade gelesen. Entsetzlich. Ist es wirklich wahr?«
»Ja, es ist wahr.«
»Sie waren auf der Polizei?«
»Ja, die ganze Nacht, ich bin erst vor einer Stunde gekommen.« Er erschrak, als jetzt Leo hinter einem ausgehöhlten, mit blühenden Orchideen gefüllten Holzklotz hervorkam: es war wie ein naher Freund, den er nach langer Zeit wiedersah. Einen Augenblick freute er sich an dem farbigen Bild: das Orange der Orchideen mit Leos hell- und dunkelbraun geflecktem Fell und den klaren hellblauen Augen. Er beugte sich nieder und streichelte den braunen Kopf. »Leo — wie geht’s uns denn?« Der Kater — beleidigt, weil Theodore ihn vier Wochen alleingelassen hatte — wandte den Kopf ab und heuchelte Interesse am anderen Ende des Zimmers. Als dann Olga Velasquez zu sprechen begann, blickte er zu Theodore hinüber, öffnete den Mund und stieß einen langen monotonen Klagelaut aus, wobei er den Ton wie ein Operettensopran auf der Höhe einer Arie anhielt und ihn noch verstärkte, um Olga zum Schweigen zu bringen, die sich gar nicht darum kümmerte.
»Sieht er nicht gut aus? Mindestens sechs Eidechsen hat er gefangen, und eine Schlange! Stellen Sie sich vor, eine so lange Schlange hier in unserem Patio!«
»Er ist böse mit mir, weil ich fortgegangen bin und ihn hiergelassen habe«, sagte Theodore. Er war plötzlich zum Umfallen müde.
Olga Velasquez sah bekümmert aus. »Sie müssen völlig erschöpft sein, Don Teodoro. Kommen Sie, nehmen Sie Platz, und wir trinken eine Tasse Kaffee; ich war gerade dabei. Denken Sie, ich mußte heute morgen um acht Uhr aufstehen und zur Verkehrspolizei gehen, weil mich einer aufgeschrieben hatte wegen Geschwindigkeitsüberschreitung auf der Autopista nach Guernavaca. Und das auf der Autobahn! Deshalb habe ich die Zeitungen erst jetzt gelesen, als ich zurückkam. Ich konnt’s kaum glauben. Sie nehmen doch Zucker, nicht wahr?«
»Ja, Olga, vielen Dank.« Er nahm die Tasse aus durchsichtigem blauem Glas mit Spiralmuster; das kühle Blau erinnerte ihn ans Meer, an einen Kopfsprung ins frische Wasser. Mit halbem Ohr hörte er auf Señora Velasquez’ Stimme, die sich weiter und weiter über Lelia ausließ. War es wirklich wahr? War es wahr, daß er hingekommen war und sie tot gefunden hatte?
»Und Sie glauben, Ramón könnte es getan haben?« fragte sie atemlos flüsternd.
Constancia, die die zweite Tasse gebracht und den Raum noch nicht verlassen hatte, stand nur wenige Schritte entfernt und horchte mit offenem Mund.
»Ich weiß es nicht. Es ist sicher besser, nichts zu sagen, bevor wir nicht etwas Konkretes wissen. Die Polizei verhört ihn noch.«
»Haben Sie irgendeine Idee, wer es sonst getan haben könnte?«
»Nein.«
»Ich hab Ramón nie für ganz richtig im Kopf gehalten.«
»Ja, er ist launisch, er ist jähzornig — aber für wahnsinnig halte ich ihn nicht«, sagte Theodore und sah sie an.
Olga warf den Kopf ein wenig zurück, als wollte sie sagen, na ja, er hielt ihn vielleicht nicht für wahnsinnig.
»Ein so schönes Mädchen! Ein so liebes Mädchen, Lelia! Ich hatte sie sehr gern, das wissen Sie, Teo.«
Sie wußte, daß Lelia seine Geliebte war, aber ihre Reaktion wäre die gleiche gewesen, wenn Lelia nur eine gute Freundin von Theodore gewesen wäre. Theodore und sie waren Nachbarn, wahrten aber eine gewisse Distanz. Señor Velasquez, nach außen hin ein Anwalt, hatte seine Hände in vielerlei Geschäften, das wußte Theodore, aber er kümmerte sich nicht darum und war auch nicht neugierig auf die Geschäftspraktiken.
»Wie geht es Ihrem Mann?« fragte er jetzt, wie er es stets tat.
»Oh, ausgezeichnet. Aber sagen Sie, hat man wirklich keinen Verdächtigen außer Ramón?«
»Liebe Olga — ich bin ein Verdächtiger.« »Sie?«
»Ja, weil ich ebenfalls dort war. Ich darf mein Haus nicht verlassen.«
»Ach, Sie hat man bestimmt nicht wirklich in Verdacht, sonst säßen Sie im Gefängnis«, sagte sie obenhin. »Hören Sie, Teo, Inocenza ist doch noch nicht zurück, nein?«
»Nein. Ich muß ihr Bescheid geben.«
»Dann gebe ich Ihnen heute Constancia mit, damit sie Sie versorgt und erst mal saubermacht und einkauft — alles. Sie müssen sich nach diesem Schlag erst einmal ausruhen.«
»Ich danke Ihnen sehr, Olga, wirklich. Und auch für all die Post, die Sie mir nachgeschickt haben.«
»Ach, gut, daß Sie mich daran erinnern — ich habe noch einen Haufen Post für Sie; hier. Ich hatte Ihnen nur das Wichtigste nachgeschickt, wissen Sie.« Sie sprang auf. »Aber das hat ja Zeit.« Sie setzte sich wieder; »Ramón hat sie auch sehr gern gehabt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und Sie haben auch Ramón gern, ja?«
»Ja. Er war mein bester Freund — bis jetzt jedenfalls.«
»Dann glauben Sie also doch, daß er es getan hat!« rief sie.
»Ich weiß es nicht. Der Verdacht ist da. Die Tatsachen…«
»Das meine ich ja, Don Teodoro.«
Sie stand auf und machte ihm noch eine Tasse Kaffee. Das Glas mit dem Pulverkaffee stand in einem handgetriebenen Filigransilberbehälter auf dem Kaffeetischchen. Der Kaffee war gut, viel stärker als amerikanischer Pulverkaffee, aber es wunderte Theodore immer wieder, daß ein Land, das erhebliche Mengen an Bohnenkaffee exportierte, fast ausschließlich Pulverkaffee trank und ihn sogar lieber mochte als Filterkaffee. Die Silberschmiede stellten für die verschiedenen Pulverkaffeegläser wunderschöne Gefäße her, die in jedem Hause einen Ehrenplatz einnahmen.
Theodore blieb noch eine Viertelstunde; er rief, da Señora Velasquez darauf bestand, von hier aus in Durango an und ließ Inocenza, die nicht da war, ausrichten, gleich mit dem Flugzeug zurückzukommen. Er war froh, daß die Schwester nichts von Lelia erwähnte. Wahrscheinlich hatten sie die Zeitungen noch nicht gelesen. Dann ging er mit Constancia nach Hause zurück; er trug den Kater und sie trug zwei gebackene Tauben, einen Liter Milch und in einem Topf ein Gericht aus Auberginen und Käse, das er unbedingt — auf Olgas Drängen — hatte mitnehmen müssen. Constancia brauchte nicht vor vier Uhr zurück zu sein, dann mußte sie ein paar Vorbereitungen für eine kleine Cocktailparty treffen, zu der Olga auch Theodore eingeladen hatte, aber er hatte abgesagt.
Er zeigte Constancia, was im Hause zu tun war, zog dann seinen Pyjama und Hausmantel an, goß sich eine Kanne Tee auf und trug sie in sein Zimmer. Er fühlte sich schwach und leicht übel, er hatte auch Hunger und mochte doch nichts essen. Er gab Constancia zehn Pesos und sagte, sie solle Brötchen und Obst und Zeitungen holen, ihn aber nicht stören, wenn sie zurückkam, weil er vielleicht schlafen werde. Sie war noch nicht fort, er hörte, wie sie unten bei der Arbeit ein bekanntes Lied trällerte:
…mein Herz ist schwer… es ruft nach dir… wie kannst du mich verlassen… mein Herz… ich bringe dir mein ganzes Herz… mein Herz in meinen Händen…
Mi corazón. Immer wieder kam das Wort corazón in mexikanischen Schlagern vor. Theodore versuchte, nicht hinzuhören, aber Constancia sang immer wieder denselben Vers, und jedesmal bei der letzten Zeile sah sich Theodore im Geist auf jemanden zustolpern, sein blutendes Herz in der Hand und ein blutendes Loch in der Brust. Er sah jetzt die Post durch, die ihm Olga mitgegeben hatte. Bankauszüge. Die Telefonrechnung. Ausstellungskataloge und die Anzeige einer Aufführung von Lysistrata an der Ciudad Universidad unter der Leitung von Carlos Hidalgo, mit Bühnenbildern von Lelia Ballesteros. Vorbei, vorbei. Aus der Jackentasche zog er die Post von heute morgen, darunter war ein quadratischer blauer Umschlag, den er hastig ergriff und aufriß, während die anderen Briefe zu Boden fielen.
Der Brief war datiert mit Freitag.
Amor mio,
ich habe das Gefühl, Du kommst dieser Tage zurück, und wollte Dir doch vorher noch einen kleinen Gruß schicken. Willkommen daheim! Hast Du Schönes gemalt? Du hast uns gefehlt.
Bitte sag mir doch gleich, wenn Du zurück bist, und komm zu mir und bring Deine Sachen mit, oder wenn es zu viele sind, dann komme ich zu Dir, ja?
Ich glaube, der Mann aus San Francisco will ein Bild von mir kaufen — oder vielmehr ein Mann, den er kennt.
Weißt Du noch, der Händler aus S. F., der von meinen Bildern aus Veracruz Fotos gemacht hat? Ich hab Dir so viel zu erzählen.
Ramón geht es gut. Du fehlst uns sehr.
Todo mi amor,
L.
Der Brief trug den Poststempel des Freitag, 1. Februar. Heute war der fünfte. Unsinnig und vergeblich suchte er nach irgendwelchen Spuren und sah doch nichts als Lelias gute Laune, die Energie in den t-Strichen, die zum nächsten Wort hinüberführten und das leichte Legato ihrer Sprache unterstrichen. Er trug den Brief zum Schreibtisch und legte ihn behutsam nieder. Darüber hing ein Bild von einem Mädchen in der Hängematte in Pie de la Cuesta, ein Bein mit nacktem Fuß hing herunter, im Schoß lagen ein paar grüne Kokosnüsse. »Eine kleine Indianerin, die Kokosnüsse feilbot. Tut mir leid, Señor, aber ich verkaufe es nicht. Ich habe es einem Freund versprochen.« Und Lelia hatte dabei gelacht. Theodore hörte noch ihr Lachen: Freude war darin, weil dem Manne das Bild gefiel, und auch liebenswürdige Entschuldigung.
Theodore blieb davor stehen, bis er in den Stuhl sank und endlich die Tränen kamen, schwer und unaufhaltsam. Er weinte, ohne nachzudenken, wie ein Kind bei einer unbegreiflichen und unverdienten Enttäuschung.
Wie mochte José es aufnehmen? Der Junge war etwa neun; Lelia hatte vier oder fünf Bilder von ihm gemacht, obgleich er durchaus imstande war, hinter ihrem Rücken ein Schmuckstück zu mausen oder eine Handvoll Kleingeld, das sie hatte liegenlassen. »Ach, er kann doch nichts dafür, Teo. Und an der Nadel lag mir ja gar nicht so viel!« protestierte sie, wenn Theodore sich erbot, sich den Jungen mal energisch vorzunehmen, um die Nadel wiederzubeschaffen. Lelia liebte alles Unschuldige, deshalb war sie den meisten Kindern so zugetan und nur wenigen Erwachsenen. Sie sagte immer, das Ideal müsse es sein, wenn man immer unschuldiger und nicht immer klüger werden könnte; und wenn Theodore irgend etwas getan hatte, ohne es zu wissen, einfach geistesabwesend, oder wenn ihn in einem Laden jemand reingelegt hatte, dann neckte sie ihn und sagte, er werde offenbar mit jedem Tage unschuldiger. Er sah Lelia vor sich, wie sie lächelnd die Tür für ihn weit öffnete, wie sie spät abends weinte und untröstlich war, weil ihr eine Arbeit am Tage mißlungen war; er sah, wie sie sich zu einem Kinde niederbeugte, einem andern Süßigkeiten in die Hand drückte und noch ein anderes küßte, weil es ihr gesessen hatte. Er hatte sich so oft den Kopf zerbrochen, weil sie ihn und Ramón gleichermaßen liebte, immer hatte er neue komplexe Gründe dafür gefunden, und dabei war es einfach ein Teil ihrer Natur. Einem Menschen allein zu gehören, das hätte alle anderen ausgeschlossen.
Nach einer Weile ging er zum Bett hinüber und legte sich hin, unentspannt wie eine Grabfigur. Keine Gespräche mehr mit Lelia; nie mehr die geteilten Freuden, wenn sie ein Bild verkauft hatte oder wenn ein Kritiker sie lobte. Als Malerin würde sie nun immer nach dem beurteilt werden, was sie bis gestern geschaffen hatte, bis zum Alter von dreißig Jahren und einem Monat. Theodores Blut begann sich zu regen, als ihm Gedanken an Rache kamen. Wer immer es getan hatte, sollte mit dem Leben dafür bezahlen — dafür würde er sorgen, selbst wenn es in Mexiko keine Todesstrafe gab. Dies war kein normaler Mord, mit einer Kugel oder einem Messerstich. Er hörte Leos Krallen an den Efeuranken kratzen, der Kater erschien auf dem Fenstersims und setzte sich hin, den Schwanz um die Vorderpfoten gelegt; die Augen, dem dämmerigen Licht angepaßt, starrten ins Zimmer. Theodore ließ die Hand an der Bettseite herunterhängen; lautlos kam der Kater heran und rieb das Gesicht gegen die Finger, dann sprang er hinauf und legte sich auf Theodores Brust, laut schnurrend und mit einem so objektiven Blick, als sei er nichts als ein Bild an der Wand.
Noch im Einschlafen dachte Theodore an Ramón, aber er wurde sich nicht schlüssig über ihn, so wie es ihm auch mehrfach bei dem Verhör ergangen war. Ramón hatte irgendwo einen grausamen Zug, das konnte Theodore nicht vergessen, und eben deshalb wurde er auch nicht ganz Herr über seine Verachtung und leise Furcht vor Ramón. Der Papagei, den er in seinem Zimmer hielt! Ein dutzendmal schon hatte Theodore einfach zum Käfig laufen wollen, ihn öffnen, den Vogel herauslassen und dann das Fenster aufmachen, damit er hinausfliegen konnte — aber getan hatte er es niemals. Soviel er wußte, ließ Ramón den Vogel niemals aus dem Käfig, ständig kratzte und krallte er an den Stäben, um die Tür aufzukriegen. Er hatte nicht mal einen Namen. Ramón hatte sicher mehr Spanisches als Indianisches an sich. Ihm, Theodore, hielt er vor, auf die Spanier herabzusehen; aber Theodore blickte weder hinab noch hinauf, er versuchte einfach, sie zu verstehen, und weil ihm das nicht gelang, faszinierten sie ihn. Ramón faszinierte ihn wegen seiner Mischung aus Katholizismus und Grausamkeit und wegen des zusätzlich Rätselhaften an ihm als Folge der vier oder fünf Tage Demütigung und der Schläge im Gefängnis von Chihuahua. Diese Schläge waren über ein bloßes Versehen hinausgegangen und über die Schande, ein Mörder geheißen zu werden: für Ramón schlossen die Schläge eine Vorstellung von Strafe für all seine begangenen »Sünden« ein, wie sie ihm von der katholischen Kirche auferlegt und von ihm selbst erdacht worden waren. So daß Ramón auf merkwürdige Weise die Prügel und die Demütigung genossen hatte, so sehr er auch die Polizei dafür haßte, daß sie sie ihm verabreicht hatte. Theodore wollte nicht glauben, daß Ramón Lelia getötet hatte, aber die Tatsachen und auch Ramóns Charakter ließen es denkbar erscheinen.
Die ganze Unschlüssigkeit machte ihn schläfrig; es war ein Phänomen, das ihm vertraut war. Manchmal, wenn ihm daran lag, etwas zu Ende zu denken, ärgerte ihn diese Müdigkeit, das Ausweichen; dann ging er im Zimmer auf und ab oder trank Kaffee, um klarer denken zu können. Und manchmal gab er der Versuchung nach und döste ein bißchen, mitten am Vormittag oder am Nachmittag; das genoß er sehr, weil er wußte, es lag an seiner chronischen Unfähigkeit, Entschlüsse zu fassen. (Er wollte gern noch weiterleben, aber lohnte es sich wirklich für ihn oder für die Welt? Hatte er irgend etwas zu geben außer seinen Bildern, die wenige Leute betrachteten, und dem Geld, das er an Schulen und Krankenhäuser zahlte und an Leute wie Inocenzas Familie in Durango? Sollte er die Feststellung, daß er ein guter Maler war, dazu benutzen, ein noch besserer zu werden? Müßte er sich aktiv an der Politik beteiligen, auch wenn ihn die Mexikaner auslachten? Müßte er sich nicht die Mumien in Guanajuato ansehen — wozu ihn Ramón oft gedrängt hatte —, anstatt nur zu sagen, er wisse, wie sie aussahen und wie er reagieren würde? Wäre das Land Mexiko glücklicher, wenn es protestantisch wäre anstatt katholisch? Zuweilen wachte er auf und hatte geradezu brillante Antworten auf solche Fragen gefunden, aber meistens hatte er keine.)
Um vier Uhr wurde er von Constancia geweckt, die an die Tür klopfte und rief, sie müsse jetzt gehen. Theodore dankte ihr und ließ den Kopf auf die Kissen zurückfallen. Dann sprang er plötzlich auf, noch benommen, ging ans Telefon und wählte die Nummer seines Anwalts, Roberto Martinez. Er erzählte ihm von Ramón und bat ihn um den Namen eines guten Anwalts, der ihm helfen könnte. Señor Martinez nannte ihm einen Namen und bot sich an, den Kollegen selbst anzurufen.
»Ja, gern«, sagte Theodore, »aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es jetzt sofort tun könnten.« Er fügte noch hinzu, Ramón befinde sich in dem großen Gefängnis nahe dem Zócalo, und hängte dann ein. Es war 16.05 Uhr. Schade, daß er so lange gewartet hatte. Schuldig oder nicht: Ramón hatte ein Anrecht auf einen guten Anwalt.
In der nächsten Stunde klingelte das Telefon mehrere Male. Einmal war es Antonio Cortés, Theodores Nachbar in Cuernavaca, das zweitemal Mabel van Blarcom in Coyoacán, einem Vorort der Stadt. Der dritte Anruf kam von Elissa Straeter, einer unverheirateten Amerikanerin, die Theodore manchmal auf Parties traf und nicht besonders schätzte. Sie alle stellten die gleichen Fragen: wie ging es ihm, konnten sie ihm irgendwie helfen, wollte er zu ihnen kommen? Theodore hatte Mabel van Blarcom und ihren holländischen Mann sehr gern, aber er hatte keine Lust, irgend jemanden zu besuchen. Elissa trank viel, hörte sich allerdings jetzt ganz nüchtern an und erzählte ihm ruhig und höflich wie immer von einer Party am 4. März — das war die Karnevalswoche — in Pedregal, einem vornehmen Viertel im Norden der Stadt.
»Ich kann mir vorstellen, daß Ihnen jetzt nicht nach Parties zumute ist«, sagte sie teilnahmsvoll, »aber vielleicht in vier Wochen — Sie können ja sehen. Die Party ist bei Johnny Doolittle, und ich soll irgend jemand mitbringen, das heißt natürlich nicht, daß Sie mit mir kommen müssen, aber wir würden uns alle freuen, wenn Sie kämen. Ich jedenfalls.«
Theodore dankte ihr und sagte, er werde es behalten und versuchen zu kommen.
Er ging nach unten und machte sich einen starken Whisky mit Soda zurecht, nach dem er hoffte, wieder schlafen zu können, aber als er ihn ausgetrunken hatte, war er nicht müder geworden. Er nahm den Telefonhörer und rief das Gefängnis an.
»Kann ich bitte Capitán Sauzas sprechen?« fragte er.
Es knackte, rauschte, eine andere Leitung kam dazwischen. Er hörte eine Unterhaltung über das Parken von Fahrrädern an einem für die Motorräder von Verkehrspolizisten reservierten Stand. Einer der Teilnehmer sprach sehr heftig.
»Capitán Sauzas ist nicht da«, meldete sich die Stimme schließlich.
Wahrscheinlich schlief er, dachte Theodore. »Kann ich dann mit Ramón Otero sprechen?«
»Mit wem?«
»Mit Ramón Otero. Er ist bei Ihnen in Haft in der Sache — im Mordfall Ballesteros«, stammelte Theodore. Es war ja doch aussiehtslos.
»Häftlinge dürfen nicht telefonieren, Señor«, sagte der Mann, und man hörte das Lächeln in seiner Stimme.
»Können Sie mir wohl sagen, was mit ihm geschieht? Ich will gern warten, wenn Sie das feststellen könnten.«
»Bedaure, Señor, solche Informationen können wir nicht geben.«
Es war jetzt fast sieben. Theodore rief noch einmal Señor Martinez an, der ihm berichtete, der Kollege, den er beauftragt habe, sei sofort ins Gefängnis gefahren, er habe aber noch nichts weiteres von ihm gehört. Theodore ließ sich die Büro- und Privatnummer des Strafverteidigers, Señor Pablo Castillo Z., geben und rief beide an. Im Büro erhielt er keine Antwort, in der Wohnung kam ein Dienstmädcherran den Apparat, das ihm nichts mitteilen konnte. Mit schwerem Kopf und schweren Gliedern ging er zu Bett.
5
Am nächsten Morgen um Viertel nach neun wurde Theodore durch einen Anruf von Señor Castillo Z. geweckt.
»Also«, sagte der Anwalt mit leichtem Triumph in der Stimme, »Ihr Freund ist frei. Sie haben ihn die ganze Nacht verhört, ich bin noch gar nicht ins Bett gekommen. Aber jetzt ist er frei.«
»Man hält ihn also für nicht schuldig?«
»Ja, doch. Und ich auch. Die Beweise reichen nicht aus —«
»Hat man feststellen können, um welche Zeit er nach dem Essen nach Hause gegangen ist?«
»Nein, das nicht. Aber nach allem, was sich mittlerweile ergeben hat, sieht es nicht so aus, als ob Ramón Otero der Täter sei. Señor Otero gibt selber an, vor halb elf zu Hause gewesen zu sein, und der Arzt meint, daß sie nicht vor elf getötet wurde. Frühestens um elf.«
»Das freut mich für Señor Otero. Wie geht es ihm übrigens?«
»Nun, er ist ziemlich erschöpft, Señor. Zwei Nächte hintereinander ohne Schlaf — ein Schuldiger wäre bestimmt zusammengebrochen. Aber Ihr Freund hat bis zum letzten seine Unschuld beteuert. Sie haben ihn ja auch nicht für schuldig gehalten, Señor.«
»Wo ist er jetzt?«
»Er wird heut morgen noch entlassen. Man hat gerade nach seinem Teilhaber geschickt, Señor Baldin. Er wird sich um ihn kümmern. Eh — an wen soll ich die Rechnung schicken, an Sie oder Señor Otero?«
»Schicken Sie sie an mich«, sagte Theodore.
Er legte den Hörer auf. In Mexiko ging es nicht immer logisch zu, aber auch der geschickteste Strafverteidiger hätte einen Schuldigen nicht so schnell aus den Fängen der Polizei loseisen können. Man mußte also annehmen, daß Ramón nicht schuldig war. Vielleicht. In Mexiko ging man nicht immer logisch vor. In Amerika hätten sie vielleicht eine Woche gebraucht, um sämtliche Freunde und Bekannten von Ramón aufzutreiben und jeden Schritt festzustellen, den er irgendwann und irgendwo vor und nach der Mordzeit gemacht hatte. Aber in Mexiko…
Theodore machte sich von neuem an das Auspacken seines Koffers, aber seine Gedanken schweiften ab. Er war immer noch nicht überzeugt, daß Ramón unschuldig war. Vor Polizeibeamten, das wußte Theodore, konnte Ramón, wenn er wollte, eine steinerne Maske aufsetzen und auch sein Herz zu Stein werden lassen. Es war immerhin denkbar, daß er die Polizei zum Narren gehalten hatte.
Um halb elf versuchte er noch einmal, Sauzas zu erreichen, was ihm nach zehn Minuten Warten auch gelang.
»Haben Sie schlüssige Beweise für seine Unschuld?« fragte Theodore.
»Beweise?« Sauzas zögerte. »Nein, das nicht. Nur benimmt er sich nicht wie ein Schuldiger, Señor. Er verhielt sich wie ein Mann, der seine Frau verloren hat. Wir nehmen an, daß sich der Mörder durch den Trick mit den Blumen Einlaß verschafft hat und daß er sie von einem kleinen Jungen kaufen ließ, damit der Händler ihn nicht erst sah. Wir sind dabei, den Jungen hier in der Gegend ausfindig zu machen, leider hat der Blumenhändler nur eine sehr unvollständige Beschreibung von ihm geliefert.«
»Ja, dann gibt es also nichts Neues.«
»Nein, Señor, aber unsere Arbeit beginnt jetzt erst richtig. Und Sie darf ich bitten, sich bis auf weiteres zu unserer Verfügung zu halten.«
»Soll das heißen, daß ich das Haus nicht verlassen darf?«
»Das nicht, nur versuchen Sie bitte nicht, die Stadt zu verlassen. Wir werden uns noch einmal unterhalten müssen.«
»Schön. Und — Capitán Sauzas, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich auf dem laufenden halten würden, falls sich etwas Neues ergibt. Wollen Sie das tun?«
»Ja, Señor, gern.«
Theodore überlegte einen Augenblick und rief dann Ramóns Nummer an. Das Telefon klingelte etwa zehnmal, und er wartete geduldig. Endlich hörte er ein Durcheinander von zwei Stimmen und dann Arturo Baldin, der sagte: »Bueno?«
»Bueno, Arturo. Hier ist Theodore Schiebelhut. Wie geht’s?«
»Danke, Don Teodoro, gut. Und Ihnen?«
»Danke. Ich möchte mich nach Ramón erkundigen.«
»Ach, er ist sehr müde, Señor. Ich versuche gerade, ihn zum Schlafen zu bringen«, sagte Arturo mit seiner freundlich-väterlichen Stimme.
»Ja, das verstehe ich. Kann ich irgend etwas…« Theodore zögerte; er mochte sich nicht aufdrängen.
»Ich glaube nicht, Don Teodoro. Schlafmittel hat er genommen, die werden sicher bald wirken.«
Man hörte Ramón im Hintergrund etwas murmeln.
Theodore hatte mit ihm sprechen wollen; jetzt plötzlich mochte er nicht mehr. »Ich bin froh, daß Sie sich um ihn kümmern, Arturo.«
»Es ist nur schwer, ihn stillzuhalten. Er will immer ausgehen und — und Josefina aufsuchen.«
Mich also nicht, dachte Theodore. »Ja, es ist sicher besser für ihn, wenn er erst mal schläft«, sagte er und hängte nach einigen weiteren Worten ein.
Um drei Uhr nachmittags kam Inocenza. Sie hatte die Zeitungen gelesen, war voller Teilnahme und brachte Fragen, Grüße und Teilnahme von der ganzen Familie in Durango, bis Theodore endlich freundlich sagte: »Bitte, Inocenza — könnten Sie still sein?«
»Aber Sie glauben doch nicht, daß Don Ramón sie umgebracht hat, Señor?« Sie mochte Ramón gern.
»Er ist heute morgen entlassen worden.«
»Oh!« sagte sie erleichtert. »Dem Herrn sei Dank! Dann ist er unschuldig.«
»Ja. Und nun kommen Sie, ich helfe Ihnen mit Ihren Sachen. Was ist das denn alles?«
»Meine Eltern schicken Ihnen die Ente hier, mit den besten Wünschen. Und meine Tante Maria hat eine Bettdecke für Sie gemacht — hier.« Sie klopfte auf ein verschnürtes Bündel, das auf dem Boden lag. »Sehr hübsch, aber ich wollte nicht, daß sie auf dem Flug schmutzig wird. Überhaupt der Flug, Señor! So hoch ist die Suppe geschwappt, mal nach der einen und dann nach der anderen Seite. Ich hatte wirklich Angst um mein Leben, vor allem wenn ich an die Señorita Lelia dachte — la pobrecita. Nein, tragen Sie das nicht — es gehört sich nicht, daß Sie meinen Koffer tragen. Möchten Sie Tee haben oder sonst etwas, Señor?«
»Nein, danke schön, Inocenza. Ich freue mich, daß Sie wieder da sind.« Er trat ans Fenster, das auf den Patio hinausging, und zündete sich eine Zigarette an. Es war gut, sie wieder im Hause zu haben, die eiligen Schritte und das halblaute Singen in der Küche zu hören — nur heute würde sie vermutlich nicht singen. Sie hatte Lelia sehr gern gehabt und war keineswegs auf sie eifersüchtig gewesen, wie Ramón ein paarmal angedeutet hatte. Ramón hatte ihn manchmal damit zu hänseln versucht, daß er behauptete, Inocenza sei Theodores »richtige Frau«. Natürlich setzte sie meistens ihren Willen durch, aber welchem Mädchen gelang das nicht? Inocenza war seit fast vier Jahren bei ihm. Für Ramón mußte ein Dienstmädchen unterwürfiger sein, als sie es war, aber weder er noch sonst jemand konnte irgend etwas an ihr aussetzen. Sie blieb abends zu Hause, sie bügelte gut und kochte gut, und sie war immer nett anzusehen mit dem glänzend schwarzen Haar, das sie in einem starken Knoten im Nacken aufgesteckt trug. Sie trug Schuhe mit kleinen Absätzen und unterschied sich dadurch von den vielen plattfüßigen Köchinnen, die man auf dem Markt traf, und sie benutzte einen diskreten Lippenstift. Sie war erst zweiunddreißig und eigentlich auf der Höhe ihrer Anziehung, meinte Theodore; aber der einzige Mann, aus dem sie sich etwas machte, war anscheinend Ricardo, ein stiller, zurückhaltender Typ, der in Toluca arbeitete und selten in die Stadt kam. Sie hatte einen unehelichen Sohn von acht oder neun Jahren, Pepe; er lebte bei ihrer Familie in Durango. Ab und zu schickte ihm Theodore Spielzeug und kleine Geschenke.
Jetzt endlich war er, zum erstenmal seit seiner Rückkehr, imstande, seine Bilder auszupacken, die noch in einer wasserdichten Hülle verpackt waren. Er breitete jede Leinwand aus und legte sie auf die Couch und auf den Fußboden in seinem Arbeitszimmer; eine war noch nicht ganz trocken, war aber nicht verschmiert. Er vermied es auch jetzt, sie anzusehen; es war ihm, als brächten sie Lelia nahe. Er rief die Mercedes-Benz-Garage an und bat, ihm seinen Wagen so bald wie möglich zu schicken.
Um sechs Uhr ging Theodore hinaus, um einen Spaziergang zu machen, und kam um sieben zurück. Inocenza hatte ein Gedeck aufgelegt und auf dem Bartischchen einen Teller mit Mandeln bereitgestellt für seinen Aperitif. Er schenkte sich ein Glas Fernet-Branca ein. Dann begann Inocenza von neuem mit vielen schnellen Fragen, weil sie wußte, beim Aperitif unterhielt er sich gern, während er beim Essen lieber las.
»Jetzt werden Sie aber sehr einsam sein«, sagte sie immer wieder und schüttelte betrübt den Kopf. »Und der arme Don Ramón auch. Wollen Sie ihn nicht besuchen?«
»Ich glaube, er braucht jetzt Ruhe.«
»Ja, aber Sie auch. Sie haben Ringe unter den Augen. Und Sie müssen erst mal was essen — ich habe Hühnersupper gemacht, das Huhn essen wir morgen, und dazu ein Lammkotelett und Salat.« Sie lächelte und wartete auf ein Zeichen der Zustimmung.
»Sehr schön, Inocenza. Und wo ist die Bettdecke? Die habe ich noch gar nicht gesehen.«
Inocenza lief ins Wohnzimmer, wo die Decke auf dem Sofa lag; Theodore war daran vorbeigegangen, ohne sie zu sehen. Sie war in grün-rosa Papier eingepackt und bestand aus vielen zusammengenähten Häkelquadraten: eine lange Geduldsarbeit.
»Wunderschön!« sagte Theodore und befühlte die Häkelei. »Sie müssen sie gleich auf mein Bett legen, ja? Ich werde Ihrer Tante Maria schreiben und mich bedanken — es ist wirklich sehr nett von ihr. So eine große Arbeit.«
»Ah, sie würde alles für Sie tun!«
Theodore bezahlte für die beiden Kinder der Tante das Studium an der Universitát von Durango.
Er nahm jetzt Platz zu seiner einsamen Mahlzeit. Eine neue Ausgabe von TIME lag neben seinem Teller, und er schlug sie ohne großes Interesse auf. Nächste Woche würden sie sicher über den Fall Ballesteros berichten — vielleicht mit einem Foto von Lelia — und sich darüber amüsieren, daß sie die Geliebte von zwei Männern gewesen war, die gute Freunde waren. Theodore hatte keinen Appetit, und das Lammkotelett schob er gleich beiseite.
Später am Abend rief ihn ein Polizeibeamter an und teilte ihm mit, daß Lelias Leiche in das Beerdigungsinstitut gebracht worden sei, das Theodore ausgesucht hatte. Die Autopsie, so hieß es, habe ergeben, daß die Stiche mit einem Messer von mindestens fünfzehn Zentimeter Länge — wahrscheinlich länger — ausgeführt worden seien, der breiteste Stich sei viereinhalb Zentimeter breit. Viele seien zwölf Zentimeter tief.
Theodore rief Josefina an und bat um ihr Einverständnis, die Beerdigung für den folgenden Nachmittag anzusetzen.
»Würden Sie bitte Ramón benachrichtigen, Josefina?« bat er. »Ich glaube, mit mir möchte er im Augenblick nicht so gern sprechen.«
6
Die Beisetzung fand am nächsten Nachmittag um drei Uhr auf einem Friedhof statt, der zwanzig Meilen von der Stadt entfernt war. Ein Zug von etwa dreißig Wagen kroch auf der langen, von Autobussen verstopften Avenida Guatemala entlang, schaukelte und kroch dann wieder ostwärts auf der Landstraße, die nach Pueblo und Veracruz, Lelias Geburtsort, führte. Große Lastwagen von Pemex-Benzin und Carta Blanca-Bier schoben sich auf die Fahrstraße und versuchten ungeduldig, den Leichenzug zu überholen; es gelang niemals, und sie mußten zwischen zwei der schwarzen Wagen zurückfallen. Theodore hatte zwölf Wagen gemietet für Lelias Freunde und Nachbarn und für die Verwandten, die aus Veracruz gekommen und sich in Josefinas Haus eingefunden hatten. Er selber steuerte seinen grauen Mercedes mit Carlos und Isabel Hidalgo im Rücksitz und Olga Velasquez neben ihm. Vor sich hatte er auf fast dem ganzen Weg Josefinas Familienauto mit ihrem Ehemann Aristeo, ihrer Tochter Ignacia und deren Verlobten Rodolfo und mit zwei weiteren Leuten, die Theodore nicht kannte. Der Friedhof war ein dürres flaches Stück Land, umgeben von einer geweißten Mauer, hinter der verschieden hohe Zypressen wuchsen. Am Tor stand auf jeder Seite in blassen schwarzen Buchstaben die Inschrift:
POSTRAOS! AQUI LA ETERNIDAD EMPIEZA
Y ES POLVO AQUI LA MUNDANAL GRANDEZA!
Es war ein Spruch, der sich auf fast jedem mexikanischen Friedhof fand und der Theodore immer noch einen Schauer einjagte, obwohl er nicht an eine Nachwelt glaubte. Aber es war kein Zweifel, daß weltliche Größe hier nichts als Staub war.
Theodore blickte sich um und sah Ramón, der in der dritten oder vierten Reihe der Menschenmenge nahe dem Grabe stand. Ramón wandte die Augen nicht ab vom Sarg; sie waren voller Tränen, und doch sah er seltsam ruhig aus. Neben ihm stand, freundlich-rundlich, Arturo Baldin und hielt seinen Hut respektvoll gegen den Bauch gepreßt.
Jetzt wurde der Sargdeckel festgemacht. Natürlich hatte man Lelias Gesicht nicht wieder herstellen können; die Leiche wurde daher nicht zur Besichtigung freigegeben, und Theodore war froh gewesen, daß der Deckel geschlossen blieb. Und doch: als er den schimmernden dunkelbraunen Holzdeckel mit den häßlich verzierten Scharnieren sah, wußte er, daß der Anblick ihres Gesichts trotz der gräßlichen Verstümmelung ihm nicht schmerzlicher gewesen wäre als dieser endgültig geschlossene und befestigte Deckel. Die Trauergäste stellten sich um das Grab herum auf, traten auf die benachbarten Gräber oder standen mit gesenktem Kopf auf den kleinen Seitenwegen, wo sie kaum noch etwas sehen oder hören konnten. Es waren junge Maler, Kunsthändler mittleren Alters, ein paar Leute von der Galerie Bellas Artes, ein paar Ladenbesitzer, Lelias Apotheker, zwei Verwandte aus Guadalajara, die Josefina mit Theodore bekannt machte. Und überall gab es Blumen: Kränze, die hintereinander am Grabstein lehnten, Rosen und Lilien und Chrysanthemen und Gladiolen in Händen und Armen, meterlange Girlanden aus roter und weißer Bougainvillea, die einige Familien aus Guernavaca trugen. Das Kind José war da mit vielen Brüdern und Schwestern. Ein etwa sechzigjähriger Mann mit grau herabhängendem Schnurrbart war ebenfalls gekommen, er hielt seinen Hut über den Magen und glich, dachte Theodore, dem Bild eines französischen Staatspräsidehten im Ruhestand. Der Priester war ein schmaler, besorgt aussehender Mann mit gelblichen Händen. Das Gesicht drückte weltliche Sorge aus. Er redete von Lelias großer künstlerischer Laufbahn, die so jäh und grausam abgeschnitten worden war. Vielleicht hatte er Lelia gekannt, vielleicht auch nicht. Sie war nicht regelmäßig zur Kirche gegangen. Einmal blickte Josefina zu Theodore hinüber und schüttelte langsam den Kopf, als wolle sie sagen, daß der Priester seine Aufgabe nicht gerade hervorragend erfüllte. Aber was war dabei schon zu machen?
Es war ja auch nicht so wichtig, dachte Theodore. Auch die Nähe zu Lelias Leiche war nicht mehr so wichtig; ihm war jetzt nur noch still und feierlich zumute, wie in der Kirche oder beim Anhören sakraler Musik. Mehrere Augenblicke lang hatte er nicht an die Frage gedacht, die ihn die letzten sechzig Stunden sogar im Schlaf gemartert hatte: wer hatte sie umgebracht? Er ließ die Augen über all die Menschen wandern, die er vor sich und etwas seitwärts sehen konnte: er wollte feststellen, ob man einem der Gesichter die Gedanken ablesen konnte. Nein, keinem. Er blickte zum Himmel: oben flog ein Zopilote, der sich um die Toten auf dem Friedhof nicht kümmerte, sondern das benachbarte Feld prüfte, wo vielleicht ein totes Tier noch unbegraben lag.
Theodore kam etwas zu sich, als jetzt der Priester eine Schaufel voll Erde auf den Sarg fallen ließ. Die vertrauten lateinischen Worte flossen weiter, die Totengräber machten sich an die Arbeit. Einen Augenblick kam es Theodore so vor, als zuckten die Umstehenden bei jeder Schaufelvoll zusammen, doch der Eindruck verschwand. Sie standen reglos, jeder offenbar in die eigenen Gedanken vertieft, vielleicht nicht einmal in Gedanken an Lelia, auch wenn sie sie sehr gern gehabt hatten. Blumen und Kränze türmten sich auf dem frischen Grab, höher als der Grabstein daneben, der auf den endgültigen Platz wartete. Josefina hatte ihn ausgesucht, es war ein flaches Rechteck aus fast weißem Stein, oben kniete ein Engel mit weit ausgebreiteten Armen. Wie der Priester: nicht gerade ideal, aber es mochte angehen; Theodore gefielen sogar die ausgebreiteten Arme, denn das war Lelias Haltung dem Leben gegenüber gewesen. Doch dann traf ihn der Anblick des steinern kalten Engels und seine Bedeutung mitten ins Herz, und die Augen füllten sich mit Tränen. Er sah Ramóns ernstes doch gefaßtes Gesicht an und horchte auf seinen eigenen Herzschlag, der ihn zum Handeln zu drängen schien, bevor es zu spät war. Notzucht- und Verstümmelung. Da stand der Schuldige, dachte er. Ramón, den die mexikanische Justiz soeben freigelassen hatte, konnte niemals genügend bestraft werden. Plötzlich kamen ihm Lelias letzte furchtbare Augenblicke in den Sinn. Er versuchte nachzuempfinden, was sie durchgemacht haben mußte. Eine Woge aus Zorn und Haß ergriff ihn — Haß gegen ihren Mörder, der nun, da er ihn anblickte, niemand anders sein konnte als Ramón.
Olga Velasquez berührte ihn leicht am Arm. Die Menschen brachen auf. Die Beisetzung war vorüber.
»Da ist Ramón«, sagte Olga. »Wollen Sie nicht mit ihm reden?«
Ramón hielt sein Gesicht in den Händen verborgen. Arturo stand neben ihm und versuchte ihn zu trösten.
Theodore preßte die Lippen zusammen; er konnte kein Glied rühren. Eine Frau, die er nicht kannte, berührte ihn am Arm und sagte etwas zu ihm. Er machte einige Schritte in Richtung auf seinen Wagen und kam dabei näher zu Ramón. Olga ging neben ihm. Ein paar Leute hielten ihn an, ergriffen seine Hand und sagten einige teilnehmende Worte — wie bei einem Ehemann, dachte er.
»Ich schreibe Ihnen bald«, sagte der Mann mit dem Seehundsschnurrbart und drückte ihm die Hand, und plötzlich wußte Theodore, wer es war: Sanchez-Schmidt, ein wohlhabender Kunstsammler und Kurator mehrerer Museen.
Zuletzt stand Theodore kaum noch einen Meter von Ramón entfernt. Er wollte nicht sprechen, aber man erwartete es wohl von ihm. Er ging auf ihn zu. »Ramón?« sagte er.
Ramón sah ihn unbewegt mit tränenerfüllten Augen an. »Ich wollte mit ihren Eltern sprechen. Wo sind sie?«
Automatisch blickte sich Theodore um, obgleich er nicht sicher war, daß er sie erkennen würde. Er hatte sie nur einmal in Veracruz gesehen.
Ramón ging schon auf den großen grauhaarigen Mann in schwarzem Mantel zu, der zusammen mit seiner kleineren Frau von Freunden umringt war. Theodore warf noch einen Blick auf Olga und die Hidalgos, die auf ihn warteten, und folgte dann Ramón und Arturo Baldin. Er mußte wohl ebenfalls ein Wort zu ihren Eltern sagen.
»Ich hab es nicht getan«, hörte er Ramón in verzweifeltem Flüsterton zu dem ältlichen Paar sagen. »Ich wollte nicht, daß Sie denken, ich war es.«
Theodore blickte Ramón prüfend an. War er vielleicht betrunken? Nein. »Señora und Señor Ballesteros«, unterbrach ihn jetzt Theodore, ergriff die Hände der Eltern und beugte sich leicht darüber. »Wir sind alle tief erschüttert. Bitte betrachten Sie mich als Freund. Ihre Tochter hat mir sehr nahegestanden.« Er war sich bewußt, daß sein Spanisch hier nicht ausreichte, daß seine einfachen Worte vielleicht unpassend waren. Die grauen braungefleckten Augen des Mannes, die denen Lelias so sehr glichen, standen voller Tränen.
»Gracias«, sagte der Mann.
»Ich möchte, daß Sie wissen, daß ich unschuldig bin«, sagte Ramón drängend.
»Oh, Ramón«, schob Theodore hastig ein, »ich glaube nicht…«
»Ich will aber, daß man mir glaubt!« Ramón schüttelte Arturos Hand von seinem Arm.
»Es hat ihn mehr mitgenommen als uns alle«, sagte Arturo leise zu den Eltern, und Lelias Vater, der offensichtlich gern gehen wollte, nickte schweigend.
»Lelia hat mich sehr gern gehabt«, fuhr Ramón fort. »Man hat mich fälschlich beschuldigt. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«
»Aber ja, natürlich«, sagte Lelias Vater, dessen Freunde ihn jetzt fortzuziehen begannen.
»Das verstehen wir«, sagte Señora Ballesteros dumpf, als sei es völlig gleichgültig — jedenfalls im Augenblick —, wer ihre Tochter umgebracht hatte; wichtig sei nur, daß sie tot war. Sie hatten noch ein Kind, ebenfalls eine Tochter, die aber in Südamerika verheiratet war. Lelia war ihr Lieblingskind gewesen.
Ramón war noch nicht zufriedengestellt und starrte sie an. »Darf ich Sie in Veracruz besuchen?«
Mit einem Seufzer nahm sich Lelias Mutter zusammen. »Wir werden uns stets freuen, Sie zu sehen, Ramón.«
»Und Sie glauben mir doch, daß ich unschuldig bin, ja?« fragte Ramón noch einmal und hielt Señor Ballesteros an der Schulter fest.
»Ganz gewiß glauben sie dir, Ramón.« Theodore versuchte, der peinlichen Situation ein Ende zu machen, obgleich ihm einfiel, daß ein Unschuldiger seine Unschuld nicht derartig beteuerte und daß das auch den Ballesteros merkwürdig vorkommen mußte.
»Ich werde Sie in Veracruz besuchen«, sagte Ramón jetzt. »Auf Wiedersehen. Adiós.«
»Adiós, Ramón«, sagte Señora Ballesteros.
Ramón starrte ihnen nach, als sei er im Begriff, hinterherzustürzen. Die Menge hatte sich verlaufen. Theodore und Arturo blickten sich an.
»Wollen Sie sich um ihn kümmern?« fragte Theodore.
»Sí. Soweit ich kann. Und auch meine Frau. Er kann nachts immer nicht schlafen.«
»Ich nehme an, die Polizei hat ihn hart angefaßt?«
»Selbstverständlich«, sagte Arturo. »Ramón hat keine Ahnung, wie man mit der Polizei redet. Aber die wissen, wie man mit ihm redet, das steht fest.«
Olga Velasquez und die beiden Hidalgos standen in der Nähe, sahen zu Ramón hinüber und unterhielten sich.
»Und ich hab’s doch nicht getan, was ihr auch denkt!« sagte Ramón plötzlich, zu allen gewandt.
Niemand rührte sich oder sagte etwas.
»Sehe ich Sie zu Hause, Teo?« fragte Josefina. Sie hatte Lelias Verwandte und Freunde zu sich gebeten.
»Nein, Josefina, ich glaube nicht, wenn Sie mich entschuldigen wollen«, erwiderte Theodore.
»Oh, das tut mir leid. Ich wollte natürlich auch Ramón fragen, aber er scheint nicht in der Verfassung zu sein, da lasse ich es lieber«, sagte sie mit schwachem Lächeln, und nur wer sie so gut kannte wie Theodore, hörte den kühlen Ton. »Dann adiós, Teo.«
Theodore beugte sich über ihre Hand und ging dann mit Olga und den Hidalgos weiter.
»Wenn er’s nicht getan hat, warum meint er dann, daß jeder es glaubt?« fragte Carlos Hidalgo mit unverblümtem Widerwillen. »Er sollte lieber den Mund halten.«
»Carlos…« sagte Isabel mahnend.
»Na, hast du das nicht selbst schon gesagt?« erwiderte Carlos. Er gestikulierte mit zitternder Hand und steckte sie eilig in die Manteltasche. »Bis er es nicht mehr aushält! und dann ein richtiges Geständnis ablegt…« Carlos schnaubte.
»Und wenn er unschuldig ist?« fragte Olga erstaunt.
»So benimmt sich kein Unschuldiger. Er hat sie geliebt, und sie hatten Streit. Ganz klar, so ist es gewesen«, sagte Carlos.
So klar war es nicht, dachte Theodore, und ein solcher Mord paßte auch nicht zur Liebe. Théodore hörte zu, während er den Wagen steuerte, und sagte nichts. Es war ja wahr, Ramóns Verhalten mußte Verdacht erregen, wenn man ihn nicht gut kannte und von seinen Sünden- und Schuldgefühlen nichts wußte. Theodore wollte fair sein: schon normalerweise hatte Ramón eine Tendenz zur Selbstzerfleischung, die dem Durchschnittsmenschen merkwürdig vorkommen mußte. Als junger Mann hatte er vielen Versuchungen widerstanden — für ihn war jede Versuchung Sünde. Mit sechzehn hatte er einen Job als Hotelpage gehabt und hatte Theodore einmal, im Scherz, von den vielen Avancen erzählt, die Frauen ihm gemacht hatten. Er war ernsthafter und aufrichtiger als die meisten so gut aussehenden jungen Männer; auch das bewunderte Theodore an ihm: daß ihm sein Äußeres einfach selbstverständlich war und er nie im mindesten versuchte, daraus Kapital zu schlagen. Er hatte sich mit sechsundzwanzig zum erstenmal verliebt — in eine Frau, die nicht heiraten wollte. Das wurde für ihn zu einem schweren Problem. Das Leben mit Lelia wurde zu einem selbstquälerischen Zustand, in dem »Sünde« und »Buße« eine große Rolle spielten. Jeder andere junge Mann hätte sich für seine Zuneigung eine Frau gesucht, die ihn heiratete. Ramón hätte auch nach Buenos Aires gehen können, wo ein Onkel ihm eine Stellung in seiner Firma versprochen hatte. »Dahin will er immer gehen, wenn er sagt, er will mich nicht mehr sehen«, hatte Lelia berichtet. »Aber als ich es ihm gestern abend vorschlug, tobte er. Manchmal habe ich richtig Angst vor ihm, Teo…«
Lelia hatte blaue Flecken am Arm, als sie das erzählte. Theodore entsann sich daran und konnte es nicht vergessen.
An der Avenida Madero stiegen die Hidalgos aus — Carlos schien etwas trinken zu wollen —, und Theodore fuhr mit Olga weiter nach Hause. Sie bat ihn, bei ihr eine Tasse Tee zu trinken, aber er lehnte ab.
»Sie wollen nicht versuchen, Ramón zu sehen, nein?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie halten ihn doch auch für unschuldig, nicht wahr, Teodoro?«
»Ach — ich weiß es wirklich nicht, Doña Olga. Manchmal ja und manchmal nein.«
»Ja, ich verstehe.« Sie blickte ihn nachdenklich durch den kleinen schwarzen Schleier an. Selbst auf einer Beerdigung sah sie elegant aus. »Bitte kommen Sie herüber, wenn Sie sich einsam fühlen, ja?«
Theodore schloß seine Haustür auf. Das Haus war sehr still. Inocenza war einkaufen gegangen oder besuchte Constancia. Sie hatte Theodore um Verständnis gebeten, weil sie nicht mit zur Beerdigung gekommen war; sie glaubte, das brächte Unglück.
Das Telefon weckte ihn aus seinen Träumen.
»Bueno, Teo, hier ist Ramón. Kann ich dich sprechen?« fragte Ramón mit angespannter düsterer Stimme.
»Ja, selbstverständlich. Jetzt gleich?«
»Ich muß erst noch jemand aufsuchen, das wird eine Weile dauern.«
»Wie lange?«
»Das kommt drauf an — zwei bis drei Stunden.«
»Ist gut. Ich bin jedenfalls hier.«
Ramón legte auf.
Theodore überlegte, ob Ramón vielleicht mit ihm zu Abend essen wollte, beschloß aber dann, sich nicht darauf einzurichten. Es war ja ganz unsicher, wann er kam.
Inocenza erschien und brachte die Abendzeitungen. Beide enthielten mehrere Todesanzeigen von Lelia, mit schwarzen Kreuzen versehen.
LELIA EUGENIA BALLESTEROS 1927–1957. Möge ihre Seele den ewigen Frieden finden.
Das Hinseheiden von LELIA EUGENIA BALLESTEROS hinterläßt in den Herzen ihrer zahlreichen Freunde eine Lücke, die auf Erden nicht zu schließen ist.
Alejandro Nuñez, Bäcker, wünscht seiner lieben Freundin LELIA BALLESTEROS eine frohe Reise in die Ewigkeit.
Auch Xavier Sanchez-Schmidt, der Kunsthändler, hatte eine kleine Traueranzeige eingesetzt, ebenso ein Klub in Veracruz.
Es klingelte, und Theodore sprang auf. »Wenn das Ramón ist, können Sie noch ein Gedeck auflegen, Inocenza.«
Vor der Gartenpforte stand ein junger Mann. Theodore zögerte und ging ihm dann über den Patio entgegen.
»Ja, bitte?« sagte er fragend.
»Buenas tardes, Señor. Señor Schiebelhut?« sagte der junge Mann mit leichtem Lächeln. »Ich glaube, ich habe hier etwas, das Ihnen gehört.« Er wies auf eine flache Tragetüte, die er unter dem Arm festhielt.
»Was denn?«
»Einen Schal.« Die Augenbrauen hoben sich erwartungsvoll. »Haben Sie keinen Schal verloren?«
»Nein.« Theodore schüttelte den Kopf.
»Ich glaube doch. Denken Sie einmal nach. Vor ein paar Tagen?«
»Ich habe keinen Schal verloren. Wo haben Sie ihn gefunden?«
Der junge Mann sah enttäuscht aus. »Hier.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Auf dem Gehweg, hier. Ein schöner Schal. Ich dachte, er gehört Ihnen. Adiós, Señor.« Er wandte sich um und ging schnell davon.
Hausierertrick, dachte Theodore. Wenn er sich den Schal angesehen hätte, dann hätte der Junge wahrscheinlich gesagt: »Na schön, für zehn Pesos können Sie ihn haben. Sie sehen selbst, er ist das Doppelte wert.« Theodore öffnete die Pforte und blickte sich in beiden Richtungen nach Ramón um, der nicht zu sehen war; aber der junge Mann mit der Tüte ging gerade an der Ecke über die Straße und sah sich jetzt über die Schulter nach Theodore um. Die billige Hose beutelte und hing ihm über die knochigen Hüften wie bei einer Vogelscheuche, und einen Augenblick lang dachte Theodore an die kleinen Strichfiguren, die er so oft auf Postkarten und Briefen an Lelia auf den Rand gezeichnet hatte.
7
Ramón mochte nichts trinken und wollte auch seinen Mantel nicht ablegen. Er saß zitternd auf der Sofakante, die Hände fest auf den Knien. Es war fast Mitternacht. »Teo, ich war bei Eduardo Parral und bei Carlos. Ich habe ihnen gesagt, ich sei unschuldig, aber ich weiß nicht, ob sie mir glauben. Wie kann man wissen, ob einem einer glaubt?« Die Worte überstürzten sich, aus der Stimme klang fast Hysterie. »Und du, Teo? Glaubst du mir?«
»Ja, Ramón, ich glaube dir.« Wer weiß, wozu Ramón imstande war, dachte Theodore, wenn er ihm die Wahrheit sagte: daß er nämlich nicht wußte, was er glauben sollte. Was wohl Eduardo dachte? Eduardo war ein fleißiger junger Maler, ein freundlicher Junge, der Lelia vielleicht selbst gern gehabt hatte, obwohl er mit Ramón und Theodore stets gut ausgekommen war. Theodore konnte sich nicht vorstellen, daß Eduardo die Geduld riß, aber was konnte er zu all diesen Beteuerungen gesagt haben? Theodore ging an das Bartischchen, füllte zwei Gläser mit Whisky und brachte das eine zu Ramón.
»Komm, Ramón, trink dies, das wird dir gut tun. Du hast doch nichts getrunken, nicht wahr?«
»Nein. Nein, danke schön, Teo. Keinen Whisky.«
»Lieber Tee?«
»Nein.« Ramón rieb sich die Hände an den Schenkeln.
»Was hat Carlos gesagt?«
»Er war sehr still. Ich weiß nicht, was er gesagt hat. Er hat dann ein paar starke Whiskies getrunken und gesagt, ich sollte den Mund halten. Es sei beschämend für Lelias Andenken, sagte er. Hör dir das an. Isabel hat dann versucht, ihn zu beruhigen und ihn zu entschuldigen; er muß schon eine Menge getrunken haben, bevor ich kam, und er war bestimmt nicht mehr bei sich, als ich dann ging.«
»Ja, weißt du — Carlos hat sie auch sehr gern gehabt.«
Ramón lachte. »Gern gehabt? Lelia? Carlos hat jedes hübsche Gesicht gern. Aber mir den Mund zu verbieten, dazu hat er weiß Gott kein Recht. Ich bin als Freund zu ihm gegangen, und ich denke, ich werde ihn von der Liste meiner Freunde streichen. Seit er an der Universidad unterrichtet, ist er wieder zum dummen Jungen geworden. Er ist kein Mann, er ist ein kleiner Junge, dem seine Frau die Nase putzt. Und der will mir den Mund verbieten!«
Einen Augenblick schwieg Theodore. Dann sagte er: »Ich ärgere mich auch manchmal über Carlos. Schade, daß du hingegangen bist, Ramón — das war doch wirklich nicht nötig. Ich weiß — wir alle wissen, daß dich das Verhör auf der Polizei sehr mitgenommen hat. Sie haben dich beschuldigt und beleidigt, und nun findest du, du müßtest alle überzeugen, daß du nicht schuldig bist. Wenn du aber so weitermachst, wirst du nur das Gegenteil erreichen.« Er lächelte ganz leicht.
Ramón sah ihn zornig an. »Du scheinst das für komisch zu halten. Wenn man dich so ansicht — dich regt gar nichts auf, was? Du hast bestimmt keine Träne um Lelia vergossen!«
»Ramón, ich wollte dir nur sagen, daß ich dich verstehe. Arturo sagt, du schläfst nicht gut. Wenn du Schlaftabletten brauchst: ich habe welche hier.«
»Ich will keine Schlaftabletten.«
Was wollte er sonst, dachte Theodore. Wollte er, daß sie einander um den Hals fielen und sich ausweinten und klagten, was sie mit Lelia verloren hatten? Er schob ihm die Packung amerikanischer Zigaretten hin, aber Ramón schüttelte den Kopf.
»Schläfst du bei dir in der Wohnung oder bei Arturo?«
»Bei mir. Arturo hat letzte Nacht bei mir geschlafen.«
Wenn Theodore an Ramóns Wohnung dachte, überlief ihn ein gelinder Schauder. Sie bestand aus einem hohen Raum mit einer Kochnische in der Ecke. Die Toilette war hinten auf dem Flur. An der Wand hingen ein paar helle Bilder von Lelia, und wenn Ramón guter Laune war, so sah auch der Raum freundlich aus, aber er wurde düster, sobald Ramóns Laune sank. Dann sah man vor dem Fenster die graue Mauer, die schreckliche Birne hoch oben an der Decke und die altgekauften schäbigen Möbel.
»Dich regt nichts auf, nicht wahr?« fragte Ramón und blies den Rauch seiner kleinen Carmencita-Zigarette durch die Nase.
»Man braucht seine Gefühle nicht unbedingt vor allen Leuten zu zeigen«, gab Theodore zurück.
»Zählst du mich auch zu den Leuten? Hast du nicht immer gesagt, ich sei dein bester Freund?«
»Du bist noch immer mein Freund. — Hoffentlich hat der Anwalt dir helfen können.«
»Ach, der Anwalt, du liebe Zeit. Er stand da herum und hörte zu, bis sie mit mir fertig waren.«
»Nun, es hat ja immerhin nicht allzu lange gedauert, Ramón.«
Mit bitterem Lächeln blickte ihn Ramón aus rotgeränderten Augen an.
Theodore zerbrach sich den Kopf, was er sagen könnte, damit Ramón seine feindselige Haltung aufgab. Er hatte Angst, das sah man deutlich. Deshalb war er zu allen Leuten hingegangen mit seinen Beteuerungen, er habe Lelia nicht umgebracht. Er hatte Angst, denn in seinem Zorn auf Lelia mußte er im Geist sehr oft genug das getan haben, was der Mörder getan hatte — oder auch Ramón selbst. Theodore hätte ihn jetzt, während er ihn ansah, gern ganz ruhig gefragt, ob er die Tat begangen habe, aber er hatte Angst vor der Frage. Er blickte zur Treppe hinüber. Eine Weile war Inocenza aufgeblieben, um Ramón noch zu sehen, aber schließlich war sie dann doch hinaufgegangen und war jetzt sicher schon im Bett.
»Ich freue mich, daß du die Sache so ruhig aufnimmst, Teo. Aber du hast sie ja auch niemals heiraten wollen, nicht wahr?«
»Ich wollte überhaupt nie heiraten. Aber das heißt doch nicht, daß ich sie weniger liebte«, erwiderte Theodore.
»Lelia war für dich nichts als ein reizendes Mädchen, das du auf deinen Reisen kennenlerntest. Eine schöne Mexikanerin, die gut malte.«
»Lelia hat mir viel mehr bedeutet. Du weißt wohl nicht, was du da redest, Ramón.«
Ramóns Zittern hatte sich gelegt, obgleich er seinen Drink noch nicht angerührt hatte. »Vielleicht kannst du dir sogar vorstellen, daß sie dir jetzt näher ist, wo sie nicht mehr da ist. Alles existiert in der eigenen Vorstellung, das sagst du doch immer. Du bist anders als wir, nicht wahr, Teo.«
Theodore hatte keine Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen über das katholische gegenüber dem protestantischen Gewissen oder — noch schlimmer — über das katholische Gewissen gegenüber Ramóns Idee vom Gewissen eines Existentialisten, was für Ramón überhaupt kein Gewissen war. Und das alles nur deshalb, weil er sich nicht — wie Ramón — schlimmste Vorwürfe wegen einer außerehelichen Beziehung machte!
»Immer diese Reisen ohne sie«, fuhr Ramón fort, als spräche er zu sich selbst.
»Und sehr oft mit euch beiden, Ramón. Ich habe sie auch geliebt.«
»Ich glaube es dir, Teo — nur war es eine seltsame Liebe. Du hast mir zugeredet, sie zu heiraten, und ihr, mich zu heiraten, weißt du noch?«
»Das war doch, als ich euch beide gerade erst kennengelernt hatte, Ramón. Bevor ich wußte, daß Lelia gar nicht heiraten wollte. Ich kam mir damals ein bißchen wie ein Eindringling vor — ich sah noch gar nicht klar. Und ich bedaure, daß ich mich in eure Privatdinge eingemischt und euch zur Heirat geraten habe. Es ging mich gar nichts an.«
»Ja, das stimmt. Aber du wolltest doch gern, daß wir heiraten, nicht wahr?« sagte Ramón und wies mit dem Finger auf ihn.
»Ich dachte, ihr paßtet gut zusammen und ihr liebtet einander.« Theodore betrachtete das kleine Whiskyglas, das er starr in der Hand hielt. Er merkte, daß er rot geworden war. Es war, als habe Ramón ihn bei einer Phantasterei ertappt — einer törichten romantischen Phantasterei. Theodore hatte sich damals immer ausgemalt, wenn er der Heirat der beiden positiv gegenüberstand, so werde er »gewinnen«, und wenn er sich von Lelia fernhielt, so könnte er ihre Erinnerung an ihn behalten, ohne die Schatten, die mit dem Eheleben kommen mußten. Wenn Lelia Ramón wählte, hatte er sich vorgestellt, so werde sie Ramón schließlich nicht mehr so gern haben, wie sie ihn, Theodore, als Ehemann gehabt hätte. Sicher war auch das christliche Motiv — »Geben ist seliger als nehmen« — mit im Spiel. Bei allem hatte er sich ausgemalt, er werde »gewinnen«. Er wäre bitter enttäuscht gewesen, hätte Ramón Lelia geheiratet, und doch hätte er auf irgendeine perverse Weise die Enttäuschung vermutlich genossen.
Theodores kleine französische Uhr auf dem Kamin schlug zwölf zarte Schläge.
»Warum hast du ihr nie einen Antrag gemacht? Vielleicht hätte sie ihn angenommen.«
»Dafür hatte ich zwei Gründe. Der erste warst du: dich hätte es sehr geschmerzt, nicht wahr? Der zweite Grund war, daß ich mich selbst nicht für unbedingt treu hielt — nicht treu genug für eine Ehe jedenfalls. Früher, als ich jünger war, verliebte ich mich fast jeden Monat in eine andere, je nachdem woran ich arbeitete. Ein neues Bild, ein neuer Malstil — und dazu kam dann immer ein neues Mädchen. Es hätte ja ähnlich gehen können, wenn ich Lelia geheiratet hätte. Daß es dann anders kam und ich sie drei Jahre lang wirklich geliebt habe — ich glaube, es war gut. Es war schön für uns beide.« Er runzelte die Stirn und leerte sein Glas mit einem Zug. »Ich möchte jetzt nicht darüber sprechen, Ramón. Ich bin sehr müde und du auch.«
Ramón erhob sich sofort. »Dann will ich dich nicht aufhalten. Wir sind alle müde. Dann gehen wir also jetzt in die Heia.« Er blickte Theodore von oben herab an, und in seinem Blick lag immer noch die Verachtung, die Theodore ärgerte und ihm gleichzeitig weh tat.
»Ramón — gut, bleiben wir dabei, daß du sie mehr geliebt hast und länger, daß du ihr ein guter Ehemann gewesen wärst. Aber auch ich habe sie geliebt.« Er legte die Hand auf Ramóns Schulter und erwartete, daß der andere sich ihm entziehen werde, aber er blieb bewegungslos stehen. Theodores Finger schlossen sich fester um Ramóns Schulter. »Es tut mir leid, Ramón. Herrgott, es tut mir so leid.«
»Was?« kam die ungeduldige Frage.
Theodore zog die Hand weg. »Soll ich mitkommen? Willst du ein Taxi haben?«
»Nein danke, ich möchte zu Fuß gehen.«
Theodore ging mit ihm hinaus und öffnete die Gartenpforte. Er wollte noch sagen, daß Inocenza ihn grüßen lasse, aber er sagte nichts mehr. »Versuch auszuruhen, Ramón, bitte.«
»Aber natürlich«, sagte Ramón spöttisch und verschwand in der Dunkelheit.
8
Eine Woche verging. Eines Nachmittags rief Sauzas bei Theodore an und bat ihn, ins Gefängnis zu kommen und sechs »Verdächtige« anzusehen, die er dort versammelt hatte. Theodore hatte, soviel er wußte, keinen von ihnen je gesehen, obwohl der eine, ein übel aussehender skrofulöser Kerl von fünfunddreißig, schon einmal ein Notzuchtsverbrechen begangen hatte.
Theodore nahm seine Malerei wieder auf, aber es gelang ihm nichts, und er hörte auf. Wie oft bei ihm kam die Reaktion auf das Geschehene erst jetzt, und in der dritten Woche nach dem Mord fühlte er sich weitaus deprimierter als in der ersten. Er schlief schlecht und stand oft in der Nacht auf, schrieb etwas in sein Tagebuch und las durch, was er früher geschrieben hatte. Er suchte auch nach Namen von Leuten, die Lelia vielleicht in der Unterhaltung einmal erwähnt haben konnte; aber er fand keinen einzigen, denn gewöhnlich notierte er solche Einzelheiten nicht.
Eines Abends wollte er die Hidalgos besuchen und rief vorher an. Carlos war am Telefon und sagte, er habe den ganzen Abend zu arbeiten.
»Und morgen?« fragte Theodore. »Könnt ihr nicht morgen abend zum Essen zu mir kommen?«
»Diese Woche geht es schlecht, Teo«, sagte Carlos. »Weißt du, ich werd dich anrufen, wenn es nächste Woche…«
»Ich wollte dich noch etwas fragen, Carlos. Dir ist nichts mehr eingefallen, nein? Wegen Lelia? Ich meine irgendein Name, den sie mal erwähnt hat, irgendeine Art Angst — oder sonst etwas?«
»Teo, ich tappe genauso im dunkeln wie du.«
»Ja, aber du warst wenigstens im Januar hier und ich nicht.«
»Aber ich habe sie gar nicht gesehen.«
»Auch nicht, als sie die Bühnenbilder für Lysistrata machte?«
»Es war nur ein Bild. Nein, das war nicht viel. Sie ist einen Nachmittag gekommen…« Carlos brach ab.
»Na schön«, sagte Theodore seufzend.
Sie vereinbarten eine Verabredung für die nächste Woche.
Theodores Unruhe wurde noch verstärkt durch verschiedene geheimnisvolle Anrufe; wenn er dann den Hörer aufnahm, meldete sich niemand. Er erzählte es Sauzas, der es nicht übermäßig wichtig nahm, aber doch mehrfach darauf zurückkam. Hatte Theodore im Hintergrund irgendwelche Geräusche gehört? Wer hatte zuerst aufgelegt. Theodore; aber beim zweitenmal hatte er ungefähr drei Minuten gewartet. Warum nicht länger? Na, es schien keinen Zweck zu haben, länger zu warten, nicht wahr? Vielleicht hatten die Anrufe ja auch gar nichts mit dem Mord zu tun.
War es möglich, daß es Ramón war? Ramón benahm sich sehr merkwürdig, er ging nicht zur Arbeit und blieb einfach in seiner Wohnung sitzen oder jagte durch die Stadt und suchte Bekannte von sich oder Theodore oder Lelia auf, um ihnen seine Unschuld zu beteuern. Sauzas ließ ihn noch immer überwachen.
Vielleicht war der Anrufer auch Elissa Straeter, denn sie hatte das früher schon ähnlich gemacht; sie rief dann einen Augenblick später nochmals an und sprach mit ihm. Das geschah aber nur, wenn sie getrunken hatte. Sie flirtete auch manchmal mit ihm, wenn sie sich auf Parties sahen, und beteuerte, er sei für sie der einzige Mann in Mexiko. Theodore mochte sie nicht, er hatte sie nie gemocht. Da er sie etwas kurz abgefertigt hatte, als sie ihm nach Lelias Tod einen Besuch gemacht und ihr Beileid ausgesprochen hatte, war es immerhin möglich, daß sie sich auf diese Weise revanchierte. Vielleicht war sie auch zu betrunken, um etwas zu sagen am Telefon. Er hatte einmal »Elissa… Elissa?« in den Apparat gesagt und dann aufgehört, weil er sich zu dumm vorkam. Es wäre sicher schwierig gewesen, Sauzas das alles zu erklären; aber Theodore war auch felsenfest überzeugt, daß Elissa Straeter Lelia weder selber umgebracht noch durch einen andern hatte umbringen lassen. Sie stammte aus einer der »guten« Familien Amerikas, höfliche Liebenswürdigkeit war untrennbar von ihr und war ihr längst zur zweiten Natur geworden, so wie jetzt der Alkohol. »Aber selbstverständlich« und »Vielen Dank« waren ihre häufigsten Worte. Theodore hatte einmal gesehen, wie jemand versehentlich seinen Drink über ihr Kleid goß, und Elissa hatte mit ihrer sanften alkoholischen Stimme gesagt: »Oh, das tut mir aber leid.« Er hätte es nicht ertragen, wenn Sauzas sich sofort zu Elissa auf den Weg gemacht hätte mit der Idee, sie habe ein Mordmotiv gehabt, weil sie ihn liebte; deshalb erwähnte er kein Wort von ihr. Sie war eine der Frauen — in Theodores Leben nicht die erste —, deren Aufmerksamkeiten so peinlich sind, daß man sie besser nicht bemerkt. Selbst der häßlichste Mann, dachte er, machte irgendwann solche Erfahrungen; derart war die Vielfalt sexuellen Verhaltens.
Eines Morgens, als Theodore in seinem Atelier zu arbeiten versuchte, erschien Inocenza mit der ersten Post. Darunter war eine Rechnung des Anwalts Castillo, ein Prospekt des Kunstinstituts in San Miguel de Allende und eine bunte Postkarte mit der Ansicht eines Flughafens. Auf dem Hangar flatterte die amerikanische Flagge. Theodore drehte die Karte um und las:
Montag
Amados mios,
hier ist es herrlich, ich male etwas und Inéz fährt mich; durch Florida. Land und Wetter ist wunderschön. In zwei Wochen bin ich wieder da. Alles Liebe für Euch beide.
Eure Lelia
Die Karte war am 18. Februar in Tampa, Florida, abgestempelt. Inéz war eine Kusine von Lelia, die mit einem Amerikaner verheiratet war und in Orlando wohnte.
»Was ist?« fragte Inocenza mit großen Augen.
Theodore schüttelte benommen den Kopf; sprechen konnte er zuerst nicht. »Ein Scherz — jemand hat sich…« Er gab ihr die Karte. Inocenza war nicht sehr geübt im Lesen, aber die Karte war mit der Maschine getippt und spanisch geschrieben. Merkwürdigerweise war es genau, was Lelia auch geschrieben hätte, aber Lelia hätte mit der Feder »L.« unterzeichnet und wahrscheinlich noch ein paar Kreuze dazugemalt.
»Von der Señorita Lelia?« »Die Karte ist eine Woche alt, Inocenza! Und in Florida eingesteckt!«
»Heilige Mutter Gottes — es ist ihr Geist!« rief Inocenza aus und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Nein, es hat sich jemand einen Scherz erlaubt«, sagte Theodore zornig und ging ins Schlafzimmer ans Telefon.
Er konnte Sauzas nicht erreichen, hinterließ aber mit Nachdruck, es sei »muy — muy importante«, worauf man ihm sagte, man werde Sauzas, der sich in einem Polizeiwagen befand, sofort über Funk suchen. Theodore ging im Schlafzimmer auf und ab und starrte die Postkarte an. Ob sich die Schreibmaschine feststellen ließ? War es überhaupt eine spanische Maschine? Über dem einen n fehlte die Tilde. Oder der Absender war so schlau gewesen, die Akzente absichtlich auszulassen, damit es nach einer nordamerikanischen Maschine aussah. Aber Theodore hatte deutlich das Gefühl, der Schreiber der Karte sei in Mexico City. Der Scherz kam von jemand, der die Reaktion darauf selbst beobachten wollte.
Carlos Hidalgo vielleicht? Er hatte schon mal Leute zu einer Party eingeladen und ihnen eine falsche Adresse angegeben; später hatte er sie dann unter großem Gelächter aufgesammelt und zu der richtigen Adresse — seiner neuen Wohnung — gebracht. Aber daß er sich diese Art Scherz leisten würde, konnte sich Theodore kaum vorstellen.
Nach einer knappen Viertelstunde rief Sauzas an, und Theodore las ihm die Postkarte vor.
»Haben Sie irgendeine Idee, wer der Absender sein könnte?«
»Absolutemente no!«
»Hm, hm«, sagte Sauzas nachdenklich. »Señor Schiebelhut, ich bin jetzt ganz in der Nähe von Ramón Otero. Ob Sie mich dort in ein paar Minuten treffen könnten?«
»Ja. Gut. In der Wohnung?«
»Nein, auf der Straße. An der Ecke rechts vom Eingang, wenn man mit dem Gesicht zum Haus steht. Etwa in zehn Minuten, geht das?«
»Ich werd vielleicht fünfzehn Minuten brauchen, aber ich komme, so schnell ich kann.«
»Und bringen Sie die Postkarte mit!«
9
Sauzas war schon da, als Theodore ankam; er ging rastlos an der Ecke auf und ab und rauchte. Theodore war, da es hier keinen Parkplatz gab, mit dem Taxi gekommen; er ging über die Straße und schob sich vorsichtig zwischen Radfahrern und Lastwagen hindurch, da ihm die Sonne in die Augen schien. In der Innentasche des Jacketts hatte er die Postkarte verwahrt, die er jetzt herauszog.
»Buenas«, sagte Sauzas beiläufig und hielt die Karte beim Lesen nahe an die Augen. Er drehte sie um, nahm die Zigarette aus dem Mund und roch an der Karte. »Kennen Sie irgend jemand, der jetzt in Florida wohnt?«
»Nein. Lelia hat dort eine Kusine, Inéz Jackson, sie wohnt in Orlando. Ich kenne sie nicht, aber ihr Name wurde von einigen Zeitungen als eine der Hinterbliebenen erwähnt.«
»Aha. Ja. Stand Lelia gut mit ihr?«
»Doch ja, soviel ich weiß. Nicht gerade sehr nahe, aber…«
»Okay, vamonos«, sagte Sauzas, drehte sich um und machte sich auf den Weg zu Ramóns Haustür.
Die schmale Tür stand offen. Auf den schmutzigen Fliesen spielten zwei barfüßige kleine Mädchen mit Flaschenkapseln. Sauzas drückte auf den Knopf unter Ramóns Namen, aber die Klingel funktionierte nie, das wußte Theodore, und sie stiegen die Treppe hinauf. Im zweiten Stock ging man einen Flur entlang bis zu einer breiteren Steintreppe und stieg dann noch einmal drei Treppen hinauf. Hier schritten sie den Korridor hinunter bis zu einer hohen grauen Tür und klopften.
»Ramón? Aufmachen, bitte! Hier ist Capitán Sauzas.«
Sie hörten, wie Ramóns Füße in Pantoffeln näher schlurften. Die Tür öffnete sich, und Ramón stand im Türrahmen, in gestreiftem Pyjama, unrasiert, abgemagert und leicht überrascht bei Theodores Anblick. Sauzas stieß die Tür weiter auf und trat ein.
Ramón war offenbar noch im Bett gewesen. Das Bett war ungemacht, ein Aschbecher stand darauf und ein zweiter daneben. Eine Hose lag über einen Stuhl geworfen. Der Raum war sinnlos hoch, als habe man ihn — wie viele Wohnungen in diesem Teil der Stadt — von einer ehemals eleganten Gouverneurswohnung abgetrennt. In der Ecke neben der Kochnische kratzte der kleine blasse blaue Papagei unermüdlich an der Käfigtür, die unregelmäßige blecherne Töne von sich gab. Theodore konnte es nie mit ansehen.
»Wir haben da am recht interessante Postkarte«, sagte Sauzas zu Ramón. »Möchten Sie sie sehen?«
Ramón saß auf dem ungemachten Bett. Er nahm die Postkarte und runzelte die Stirn, als er den Inhalt las. »Wer hat das geschrieben?«
»Das wissen wir nicht. Wir wollten Sie fragen, ob Sie etwas davon wissen.«
Ramón sah Theodore böse an. »Einer deiner amerikanischen Freunde, was?«
»Er sagt, er kennt niemanden in Florida. Wie ist es mit Ihnen, Ramón? Sie sehen das Absendedatum, den 18. Februar. Kennen Sie irgend jemand, der sich diesen Scherz erlaubt haben könnte? Wenn wir ihn finden, haben wir vielleicht den Mörder«, sagte Sauzas eindringlich.
Ramón blickte mit rotgeränderten Augen auf den Fußboden, dann schloß er die Augen und schwankte zur Seite, bis er auf dem Bett lag. Er hatte stark abgenommen, das sah Theodore an seinem Gesicht und den Schultern. Theodore war entsetzt, wie verfallen er aussah.
»Ramón, setzen Sie sich auf!« Sauzas ging auf ihn zu, und Theodore wandte sich ab. Er hörte einen Laut, als habe Sauzas Ramón ins Gesicht geschlagen. Auf einem Tischchen stand, gegen eine offenbar russische Christusikone gelehnt, ein Foto von Lelia im Badeanzug in Acapulco. Theodore wußte nicht, ob er das Bild schon mal gesehen hatte. Es war an den Ecken eingeknickt und umgebogen, als habe Ramón es in der Brieftasche bei sich getragen. Christus blickte, so schien es, direkt auf sie herab.
»Ramón! Kennen Sie jemand, der nach Florida fahren wollte?«
Theodore hörte, wie Sauzas aufseufzte. Er wandte sich um und sah Sauzas an, der hilflos die Arme hob.
»So ist er nun seit zwei Wochen. Man kriegt kaum ein Wort aus ihm heraus.« Sauzas nahm den Hut vom Kopf und ließ ihn auf einen Stuhl fallen. »Ramón, wollen Sie uns helfen, den Mörder zu finden oder nicht?«
»Ich hab sie umgebracht«, sagte Ramón erstickt.
»Was? Sie haben sie umgebracht? Ramón! Ist es wahr, daß Sie sie umgebracht haben?«
»Ja.«
»Dann erzählen Sie uns, wie es war. Wo ist das Messer?«
»Hinter dem Herd«, murmelte Ramón.
Sauzas riß ihn an der Schulter hoch. »Welcher Herd? Lelias?«
»Ja.«
Theodores Kehle schmerzte, er merkte, daß er den Atem angehalten hatte. »Du Hund!« Er machte eine Bewegung auf Ramón zu, und Sauzas’ Arm traf ihn vor die Brust.
»Das werden wir bald haben, Señor Schiebelhut«, sagte Sauzas. »Jetzt bitte Ruhe! Ich muß mal telefonieren.«
Ramón sah Theodore aus trüben Augen starr an.
»Bitte Apparat acht vier sieben«, sagte Sauzas. »Bueno, Enrique? Enrique, por favor.« Er griff nach einem Päckchen Zigaretten und Streichhölzern und zündete sich die Zigarette mit einer Hand an.
Theodore fühlte sich so abgestoßen, daß er Ramón nicht mehr anfassen mochte. Ramón war doch schon tot, dachte er dumpf. In diesen drei Wochen seit dem Mord war er gestorben.
»Bueno, Enrique. Hör zu: Ramón Otero sagt, in der Ballesteros-Wohnung ist in der Küche hinter dem Herd ein Messer… Sí!« Die Stimme wurde aufgeregt. »Sofort! Jetzt sofort! Ich bin in Oteros Wohnung. Hast du die Nummer?… Ja, so schnell wie möglich!« Er legte auf und sah die beiden Männer lächelnd an. »Nun, wie ist es, Ramón, wollen Sie jetzt reden? Was ist also geschehen?«
Ramón schauerte zusammen und hielt die Handballen gegen die Stirn. »Wir hatten Streit.«
»Ja? Worum ging es?«
»Ich wollte — ich wollte, daß sie mit mir wegging.«
»Wohin?«
Kurzes Zögern. »Ich wollte sie heiraten.«
»Und sie hat nein gesagt? Hat sie vielleicht gesagt, sie liebte Theodore?«
»Nein«, sagte Ramón entschieden. »Aber sie wollte mich nicht heiraten, und da habe — da habe ich sie umgebracht. Ja. Ich hab sie umgebracht.« Er starrte vor sich hin, die Hände auf den Knien, der Rücken war gekrümmt wie der eines sehr alten Mannes. »Ich hab sie erstochen«, flüsterte er dann.
»Und dann?« fragte Sauzas, der aufmerksam zuhörte.
»Ich hab sie erstochen«, wiederholte Ramón.
Sauzas ließ ihn nicht aus den Augen. »Und dann haben Sie die Blumen geholt?«
»Das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, ich bin hinausgegangen und habe sie geholt — und nach Hause gebracht. Und dann bin ich wieder hinausgegangen und habe die Tür abgeschlossen, das weiß ich noch.«
»Die Blumen wurden zwischen halb elf und halb zwölf gekauft. Sie haben sie geholt, nachdem Sie Lelia umgebracht hatten?«
»O ja«, sagte Ramón. »Das weiß ich sicher, weil…«
»Weiter, Ramón.«
Aber Ramón sprach nicht weiter. Er starrte in die Luft, als bemühe er sich, dort etwas zu sehen. Die Zeit war richtig, dachte Theodore, es stimmte, wenn er die Blumen nach dem Mord geholt hatte. Und eine so verrückt-zynische Tat sähe ihm auch ganz ähnlich — Blumen zu holen nach einem solchen Verbrechen und sie auf dem Tisch liegen zu lassen.
Sauzas ging ruhelos im Zimmer auf und ab. Theodore wartete auf das Klingeln des Telefons; er ging auf die Kochnische zu, die ohne Vorhang und Trennwand nur aus einem Ausguß und einem Zweiflammen-Gaskocher bestand, der in der Zimmerecke auf einer kleinen Eisbox war. Auf dem Gaskocher stand eine Schüssel mit einem Löffel und einem angetrockneten Rest Tomatensuppe, der sich am Rand dunkel färbte. Im Ausguß lag eine Konservendose mit ausgezacktem Deckel. Über dem Ausguß war mit einer Reißzwecke Lelias Karikatur von Ramón beim Geschirrspülen angebracht, das hübsche mexikanische. Gesicht mit dem schimmernden Haar lächelte strahlend, während das Wasser nach allen Richtungen spritzte. Theodore hörte Sauzas’ Schritt und wandte sich um.
Sauzas beobachtete den Papagei. Der Vogel arbeitete jetzt langsamer; wie immer versuchte er, sich mit den kleinen Krallen an den beiden glatten Stangen festzuhalten, während er die Tür mit dem Schnabel anhob. Er bekam sie jetzt fast zehn Zentimeter weit auf — weit genug, um hinauszukommen, wenn er auf dem Käfigboden gewesen wäre; aber sobald die Füße nach unten glitten, mußte der Schnabel die Tür loslassen und sich an der anderen Stange festhalten, dann schlug die Tür wieder zu. Clang. Und so fing er von neuem an und krümmte die Krallen, um die Tür hochzuziehen. Theodore drehte sich heftig um, ärgerlich, weil er hingesehen hatte. Auch dies hier war zweideutig: versuchte der Vogel wirklich hinauszukommen, oder war die Tür einfach sein Lieblingsspielzeug? Zweideutigkeit war das Geheimnis des Lebens, der Schlüssel zum Universum! Warum hatte Ramón Lelia umgebracht? Weil er sie liebte. Theodore hatte das dumpfe Gefühl, er werde Ramón niemals genug hassen für das, was er getan hatte.
»Soviel Hartnäckigkeit müßte belohnt werden.« Sauzas beugte sich näher zu dem Käfig, und auch Theodore blickte wieder hin.
Clang… Clang—clang. Sekundenlange Pause, während der Vogel sich ausruhte oder vielleicht den kleinen Kopf anstrengte, um sich eine bessere Methode des Festhaltens auszudenken. Dann kam wieder das Clang—clang… clang.
Jetzt klingelte das Telefon, und Sauzas stürzte an den Apparat. »Aha. Aha, ja. Schön«, sagte er. »‘Ja, das wird stimmen. Er hat es abgewaschen.« Seine Augen glitten hinüber zu Ramón, der noch immer starr vor sich hinblickte. »Gut. Ja. Auf der Wache.« Er legte auf, runzelte die Stirn, tat einen langen Zug an seiner Zigarette und sagte zu Theodore: »Das Messer war da. Sie mußten den Herd abrücken. Es war dahinter eingeklemmt. Und sein Daumenabdruck ist darauf.« Er blickte zu Ramón. »Sie haben das Messer abgewaschen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Ramón und nickte mechanisch.
»Gut, Ramón. Los, stehen Sie auf und ziehen Sie sich an. Sie kommen ins Gefängnis, und diesmal geht’s nicht so schnell wieder heraus.«
Ramón erhob sich langsam und ging auf den Schrank zu.
»Was für ein Messer?« fragte Theodore.
»Eins der Küchenmesser. Die Klinge paßt zu den Stichwunden. Enrique sagt, es war ein langes Messer, das ziemlich abgeschliffen war«, erwiderte Sauzas, die Augen auf Ramón gerichtet.
Plötzlich erinnerte sich Theodore an das Messer. Es war wie ein Schlachtermesser, mit breiter geschwungener Klinge. Lelia hatte es benutzt, so lange er sie kannte. Theodore sah Ramón zu, der sich langsam vor dem offenen Kleiderschrank anzog. Was tat man mit so einem Mann? Welche Strafe war da gerecht? Man müßte mit ihm tun, was er Lelia angetan hatte: und statt der Vergewaltigung müßte er kastriert werden.
»Lassen Sie nur«, sagte Sauzas zu Theodore, als ob er seine Gedanken lesen könne.
Ramón hatte ein weißes Sporthemd angezogen und darüber seine blaßblaue Jacke und dunkle Hosen. Es war, als habe er alles im Schlaf angelegt, und mit der gleichen halben Bewußtlosigkeit kam er jetzt auf sie zu. Sauzas zog ihn am Arm zur Tür.
Theodore blickte sich um, sah den Vogel und nahm den Käfig vom Haken. Er nahm auch das grüne Tuch, mit dem Ramón den Papagei immer zudeckte, und eine Schachtel mit Vogelfutter. Ohne auf Sauzas leichtes Lächeln zu achten, folgte er den beiden nach draußen.
Ramón wandte sich von der Treppe weg und ging den Gang hinunter.
»Ramón!« rief Sauzas.
»Er geht nur zur Toilette«, sagte Theodore, aber Sauzas folgte ihm argwöhnisch ein paar Schritte den Gang hinunter, wo Ramón hinter einer schmalen Tür verschwand.
»Gibt’s da drinnen ein Fenster?« fragte Sauzas zweifelnd.
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Na, wenn es eins gibt, wäre er ja doch tot — bei dieser Höhe«, meinte Sauzas und hob uninteressiert die dichten Brauen.
Sie warteten auf dem Gang. Theodore wußte, daß das kleine WC weder Licht noch Papier und häufig nicht mal Wasser hatte, aber schließlich hörten sie hinter der Tür ein lautes Rauschen, dann trat Ramón heraus und sie gingen nach unten: Ramón voran, dann Sauzas und als letzter Theodore. Ramón schien gar nicht zu sehen, daß Theodore den Käfig trug.
»Ich möchte in die Kathedrale«, sagte er plötzlich, als sie ein paar Schritte gegangen waren.
»In die Kathedrale? Auf dem Zócalo?«
»Ja, nur einen Augenblick. Es ist ja nicht weit.«
Sauzas sah verärgert aus, aber Theodore merkte, wie der Katholik in ihm nachgab. »Gut, dann kommen Sie, aber bitte nicht so lange. Und keine dummen Sachen, hören Sie, Ramón?«
Sie gingen weiter und sahen schon nach wenigen Schriten die gelben Türme der Kathedrale gegen den Himmel. Die Häuserblocks in Ramóns Gegend waren lauter riesige düstere Kästen mit dem trüben Glanz früherer Großartigkeit, umgewandelt in schäbige Lädchen und heruntergekommene Wohnungen. Eine alte barfüßige Frau mit dem runzligen Gesicht eines Affen trat auf sie zu und erbat um Jesu willen ein paar Centavos. Die krallenartigen Finger glitten von Ramóns Jacke ab und hielten sich an Theodore fest. Er fuhr verstört zurück, als habe ihn eine Schlange berührt, griff aber mit der gleichen Bewegung in die Tasche, holte etwas Kleingeld heraus und ließ es in die verrunzelte Hand fallen. Ramón trat vom Kantstein hinunter unmittelbar vor einen Wagen, der eben in voller Fahrt um die Ecke schoß, und Theodore packte ihn unwillkürlich am Arm und riß ihn zurück.
Ein leichter Schweiß brach in ihm aus; er war gereizt, weil er Ramón zurückgerissen hatte, und sagte zwischen den Zähnen: »Du hast ja wirklich Mut, jetzt in die Kirche zu gehen nach dem, was du getan hast!«
Grollend und mit leichter Angst sah ihn Ramón an, aber er erwiderte nichts.
An der Fassade derKathedrale hing noch eine Kette von Glühbirnen, Überreste einer Fiesta oder eines Feiertags; die weißen und farbigen Lämpchen schwangen sich schaukelnd inmitten der elektrischen Drähte von einer Turmspitze zur andern. Die Kathedrale sah herrlich aus mit den von Zeit und Regen verwitterten Schnitzereien und den von Kugeln durchlöcherten Mauern, verblieben zu blassem staubigem Gelb. Vor den Toren stand ein Karrenhändler mit Popcorn. Kinder spielten und lärmten, Männer lungerten redend und rauchend im Vorhof herum, wo kleine Jungens Chiclets und Süßigkeiten verkauften. Sechs oder acht Frauen und Mädchen mit farbigen, unter dem Kinn gebundenen Halstüchern kamen aus der Kathedrale. Die Mädchen schwatzten laut.
»Laß uns ins Café Tacuba gehen!«
»Nein, da sind zu viele Leute.«
»Aber die Schokolade ist da so gut, und die Waffeln!«
»Schau mal, Dolores — mein Absatz ist abgerissen!«
Lautes Gelächter.
Im Innern der Kathedrale ging es fast ebenso chaotisch zu. Im Zentrum wurde anscheinend eine Messe gelesen; mehrere Leute saßen, ins Gebet vertieft oder schlafend, im Dunkel der Kirchenbänke. Eine Gruppe Touristen — ihre neuen Kleider fielen auf in dem allgemeinen Grau der Umgebung — trottete in einem der breiten Seitengänge hinter einem Manne her, der mit dem Finger in die Luft zeigte. Theodore blickte zu dem grauen Turm auf, der sich nach oben verengte und jetzt von einem Kranz elektrischer Birnen erhellt war. Die große Höhe und der Staubgeruch in der Kirche verursachten ihm leichte Übelkeit.
Ramón hatte sich auf seinen Knien vor einer Nische eingerichtet, einer Nische, die möglicherweise nur ihm zukam, da einige der andern mit Heiligenfiguren darin erleuchtet waren. Sauzas setzte sich am Ende einer Reihe, etwa drei Meter entfernt, und Theodore nahm auf der andern Seite des Gangs Platz. Er überlegte, ob Ramón jetzt wohl den Mord beichtete oder etwas mechanisch herunterleierte, das er auswendig gelernt hatte. Der Geruch in der Kathedrale irritierte Theodore: Kerzenwachs, Weihrauch, der abgestandene Geruch eines Grabes, aber ohne erfrischende Kühle und Stille, der Geruch nach alten Kleidern und altem Holz, nach dem Schweiß zerknüllter Pesoscheine, und über allem wie ein Bindemittel der Geruch nach Menschenleibern und Atem. Vermutlich reagierte Ramón wie der Pawlowsche Hund auf diesen Geruch und seine Varianten in anderen Kirchen. Heilige. Kniebeuge. Belereuzigen. Leise — dies ist ein geweihter Ort. Die Luft ist seit vierhundert jahren nicht mehr gewechselt worden — oder was immer zutraf. Diese Kathedrale hier war fast vierhundert Jahre alt. Und hierher kam er mit seiner fürchterlichen Tat, breitete sie einfach aus und hatte gar keinen Zweifel, daß irgendeine unsichtbare oder allmächtige Kraft ihm vergeben würde!
Theodore wand sich auf der harten Holzbank. Schließlich unterschieden sich Ramóns Sünden nur graduell von anderen. Manchmal kamen hier Leute in die Kathedrale mit der Absicht, andere zu bestehlen. Ein Schild vorn an der Tür warnte die Besucher auf englisch und spanisch vor Taschendieben innerhalb der Kathedrale. Es war unmöglich, nicht an Geld zu denken; überall standen Opferstöcke mit kleinen Schildern und baten um Geld für Kinder, für die Armen, für die Erhaltung der Kirche, und an jedem war ein starkes Vorhangschloß befestigt, damit die ganz Armen sich nicht das nahmen, was ihnen so gut wie jedem andern gehörte. Unzusammenhängende Gedanken fluteten in ihm gleich Gefühlen, wärmten die Wangen und beschleunigten den Puls, als ob der Körper sich auf einen Kampf vorbereitete oder schon mitten im Kampf sei.
Das Dutzend weißgekleideter Männer inmitten der Kathedrale rezitierte lateinische Sätze; eilig wurden die Worte wiederholt, als habe man nicht viel Zeit.
Plötzlich bekreuzigte sich Ramón, stand auf und ging auf den Ausgang zu, wo er noch einmal das Zeichen des Kreuzes schlug.
»Haben Sie diesem Heiligen gebeichtet, Ramón?« fragte ihn Sauzas, als sie auf die Straße traten.
»Ja.«
»Sie haben die Tat gestanden?«
»Ja«, sagte Ramón. Er trug den Kopf hoch, schien aber nichts zu sehen, denn sie mußten ihn dauernd beiseite ziehen, damit er nicht mit anderen Leuten zusammenstieß.
An der Ecke winkte Sauzas ein Taxi heran.
Ramón stieg zuerst ein. Und nun, dachte Theodore, glich er trotz seines guten Aussehens eigentlich doch jedem anderen Mörder auf der Titelseite der Boulevardblätter. Einmal, das wußte Theodore noch, hatte er in Ramóns Augen etwas Aufrechtes, Gutes gesehen, etwas, das nie vergehen würde.
»Wollen Sie nicht mit?« fragte Sauzas Theodore. »Sie können gern mit, wenn Sie wollen.«
»Nein, danke«, sagte Theodore.
10
Ramóns Geständnis erschien in beiden Zeitungen, dem Excelsior und dem Universal, die Inocenza am nächsten Morgen heraufbrachte. Theodore hatte ihr erzählt, daß Ramón ein Geständnis abgelegt hatte, und sie konnte es nicht glauben, aber das Foto von Ramón auf dem Polizeirevier, mit dem Küchenmesser, das er zwischen den Handballen hielt, schien sie zu überzeugen. Sie fing an zu weinen; zum erstenmal setzte sie sich in Theodores Gegenwart auf einen Stuhlrand im Wohnzimmer und hielt den Kopf gesenkt.
Auf dem Foto im Excelsior sah er hager und widerspenstiger aus — wie jeder andere Mörder. Leider konnten sie ihn nicht hängen, dachte Theodore, aber fünfzehn Jahre würde er mindestens kriegen, vielleicht in irgendeinem scheußlichen übelriechenden Gefängnis. Und sein Gewissen würde vielleicht noch härter mit ihm verfahren als die Justiz.
Am Nachmittag kam wieder einer der geheimnisvollen stummen Telefonanrufe.
»Elissa?« fragte er. »Elissa, wenn Sie es sind — bitte sagen Sie einfach Ja.« Er meinte einen Seufzer zu hören, aber sicher war er nicht. Und woher sollte man wissen, ob der Seufzer männlich oder weiblich war? Er strengte sich an, um noch irgend etwas zu hören, und legte dann zornig den Hörer auf.
Er wählte Sauzas’ Nummer, verlangte Apparat 847, und nach minutenlangem Warten kam Sauzas ans Telefon.
»Bueno. Hier ist Theodore Schiebelhut«, sagte Theodore. »Ich hatte eben wieder so einen Anruf, wo niemand ein Wort sagt. Ich wollte es Ihnen nur sagen, denn wir wissen jetzt jedenfalls, daß es nicht Ramón sein kann.«
»Hm, hm«, sagte Sauzas nachdenklich.
Theodore wußte nicht, was er noch sagen sollte. »Was wird nun mit Ramón geschehen?« fragte er.
»Geschehen? Hm. Wenn er schuldig ist, zwanzig Jahre.«
»Wieso — wenn?«
»Er ist doch ein merkwürdiger Vogel. Ich glaube, er hat’s getan, ja, aber jetzt sagt er, er habe auch die Postkarte geschickt. Und das glaube ich einfach nicht…« Sauzas gab ein paar zweifelnde Laute von sich.
»Aber das spielt doch keine Rolle mehr, oder? Wahrscheinlich findet er, da er nun einmal gestanden hat, müsse er alles zugeben.«
»Ja — aber ganz sicher bin ich nicht. Ich lasse ihn noch psychiatrisch untersuchen.«
»Wenn die Ärzte ihn für geisteskrank erklären — das stimmt nicht«, sagte Theodore hastig. »Er hat Anfälle, ja — Wutanfälle oder Kopfschmerzen, aber er ist nicht geisteskrank.«
»Na ja, das werden wir ja alles sehen«, unterbrach ihn Sauzas. »Sind Sie beunruhigt? Möchten Sie einen Wachtposten vor Ihrem Hause haben?«
»Nein, wieso?« protestierte Theodore. »Warum meinen Sie?«
»Ach, aus keinem bestimmten Grunde. Nur um Ihretwillen. Es ließe sich leicht machen, aber wenn Sie es für überflüssig halten…«
Theodore war unzufrieden mit dem Verlauf der Unterhaltung. Natürlich war es leicht, einen Wachtposten in Mexiko zu stellen, das wurde für die reichen Leute oft getan, aber Theodore hielt nicht viel von einem System, bei dem er selbst zu entscheiden hatte, ob er einen Wächter brauchte oder nicht. Die Polizei müßte selbst wissen, ob ein Posten notwendig sei, und wenn ja, müßte sie einfach einen stellen.
Am meisten irritierte ihn Sauzas’ Zweifel. »… ganz sicher bin ich nicht…« Psychiater! Na ja, die Polizei war eben vorsichtig. Die Gerechtigkeit würde schon den Sieg davontragen, selbst in Mexiko. Schließlich waren ja Ramóns Fingerabdrücke auf dem Messer.
Wieder kamen die Anrufe — von Isabel Hidalgo, von Olga, aber nicht von Elissa Straeter. Vielleicht hatte sie lange geschlafen und die Zeitungen noch nicht gesehen.
»Ja, eine schreckliche Überraschung«, sagte Theodore jedesmal. »Nein… nein, ich hatte keine Ahnung, daß er es getan hat…«
Aber natürlich hatte er eine Ahnung gehabt, von Anfang an.
Eines Nachmittags erschien der Rechtsanwalt Castillo, um sich zu erkundigen, ob Theodore jetzt noch einmal seine Dienste für Ramón Otero benötige.
»Nein, ich glaube nicht. Man wird ihm ja einen Anwalt stellen«, sagte Theodore.
»Ein merkwürdiger Fall. Ich hätte ihn nicht für schuldig gehalten. Aber jeder kann mal Fehler machen, nicht wahr?«
»Ja, gewiß«, sagte Theodore.
»Ganz gewiß. Nun wird er aber einen sehr guten Anwalt brauchen, wenn er da einigermaßen davonkommen will.«
»Sicher, Sie haben recht, nur— das geht mich im Augenblick nichts an, Señor.«
»Ja, ich verstehe. Nun, dann also — alles Gute. Adiós, Señor.«
»Adiós.«
Ein guter Anwalt — den konnte sich Ramón allein bestimmt nicht leisten. Theodore mußte bitter lächeln bei dem Gedanken, daß er vor knapp drei Wochen einen guten Anwalt für den armen Ramón genommen hatte. Der arme Ramón! Schlimmer noch war der Gedanke, daß er ihn für seinen besten Freund gehalten hatte. Trotz der Unterschiede im Temperament — Lateiner und Angelsachse, Nord und Süd, verschiedene Erziehung, Umgebung, Religion, alles — hatte er an Ramón wie an einen Bruder gedacht. Nie war er wegen Lelia eifersüchtig auf ihn gewesen, und auch Ramón schien auf ihn nicht eifersüchtig zu sein. Vielleicht gab es überhaupt keinen logischen Grund dafür, daß Ramón sie umgebracht hatte. Vielleicht war es ganz unvorbedacht geschehen, in einem schrecklichen Anfall von Wahnwitz.
Bei diesem Gedanken legte sich ein Teil seines Zorns auf Ramón. Was blieb, war tiefe Trauer darüber, daß ein Wutanfall ihm die Frau, die er liebte, und auch seinen Freund genommen hatte.
In den nächsten Tagen durchforschte Theodore die Zeitungen nach Meldungen von Ramóns Vernehmung, aber er fand nur, daß die Untersuchung »fortschreite« und, daß die Psychiater Tests anstellten, nicht aber, ob sie an seiner Schuld zweifelten oder nicht. Am zweiten Tag nach Ramóns Festnahme versuchte Theodore, Sauzas zu erreichen, er war aber nicht da und Theodore konnte nur hinterlassen, Sauzas möchte ihn anrufen, aber der Mann am Telefon klang gleichgültig, und es schien Theodore nicht sicher, daß Sauzas die Nachricht erhalten werde.
Er versuchte ein Porträt von Inocenza, er hatte es vorher erst einmal versucht, und auch diesmal fand er das Resultat weder sehr gut noch sehr schlecht, was ihn mehr irritierte, als wenn es völlig danebengegangen wäre. Ramón ging ihm nicht aus dem Kopf; was ihn erfüllte, war eine Mischung aus Haß und Angst, er stellte sich sogar vor, die Polizei werde Ramón entlassen. Und dann? Er wußte, was ihn beunruhigte: er konnte nicht an Ramóns Unschuld glauben, egal was die Polizei davon hielt. Wenn die Polizei ihn für schuldig und unzurechnungsfähig hielt, so wäre das auch unbefriedigend, aber so weit war es ja auch noch nicht. Vermutlich wurde Ramón doch wohl für schuldig und so weit zurechnungsfähig erklärt, daß er für die Tat verantwortlich war.
Er ging hinüber zu Olga Velasquez. Sie war erfüllt von den Plänen für ihre Karnevalsparty und unterhielt ihn mit den Beschreibungen der Dekorationen für Haus und Garten.
»Sie müssen mir versprechen zu kommen, Teodoro. Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, aber es sind ja noch drei Tage bis dahin. Vielleicht macht es Ihnen dann Freude, zu einer Party zu kommen.«
Sie hörte sich an wie Elissa Straeter. Theodore schob die Hand durch sein blondes Haar und versuchte zu lächeln.
»Sie halten mich bestimmt für töricht, weil ich seit Tagen von nichts anderem spreche als von der Party, nicht wahr?« fragte sie mit fröhlichem Lachen.
»Das habe ich ja gerade so gern an Ihnen!« Theodore meinte es aufrichtig, aber es schien, als habe er auf spanisch etwas Ungehöriges gesagt, denn Olga sah ihn erstaunt an, sie lächelte und legte leicht den Kopf auf die Seite. Als sie sich vor etwa drei Jahren kennenlernten, hatte Theodore sie gebeten, ihn stets zu verbessern, wenn er im Spanischen einen Schnitzer machte, und das tat sie zuweilen auch jetzt noch. Aber sein Akzent war im Spanischen wohl besser als im Englischen. Er schrieb sein Tagebuch auf englisch und las häufig englische Texte laut, um die Aussprache zu verbessern. »Meinen Sie, daß ich für einen guten Anwalt für Ramón sorgen muß?« fragte Theodore plötzlich.
Sie setzte sich überrascht ein wenig auf. »Sie? Warum! gerade Sie?«
»Einen Anwalt muß er haben, das ist Gesetz, ob er schuldig ist oder nicht. Und es gibt große Unterschiede bei den Anwälten.«
»Aber wieso verdient er einen Anwalt?« rief Olga impulsiv aus. »Teo, ich verstehe gar nicht, wie Sie daran überhaupt denken können! Und um seinen Vogel kümmern Sie sich auch! Sie sollten ihn Ihrer Katze vorwerfen!« Sie schlug sich leicht mit der Hand auf den Schenkel und lächelte.
Theodore lächelte nicht. »Ach, Olga, vielleicht bin ich einfach zu erschöpft, um zu hassen. Wenn ein Mann ein solches Verbrechen begeht, dann ist er nicht bei sich, jedenfalls in dem Augenblick nicht. Nachher tut es ihm dann leid. Nach dem ersten Schock legt sich der Haß.« Er sah, daß sie ihm nicht folgen konnte.
»Er hat es aber doch getan, und er muß bestraft werden. Ich habe ihn ja nie für ganz normal gehalten, Teo. Sehr reizend, ja, das schon, und mit Frauen kann er gut umgehen. Aber manchmal hat er so etwas im Blick… Eine entsetzliche Tat! Nein, dafür muß er büßen, schon allein, damit er es nicht ein zweites Mal tut.«
»Oh, ich meinte ja auch nicht, daß er nicht dafür büßen müßte. Ich wollte nicht sagen, daß der Anwalt ihn freikriegen sollte«, protestierte Theodore und hielt dann inne, denn die Unterhaltung kam ihm plötzlich sinnlos vor. Er war auch seiner eigenen Motive nicht ganz sicher. Es war ein Fluch, beide Seiten — und manchmal sogar drei — gleichzeitig sehen zu können. Er und mit ihm die Mehrheit der Mexikaner waren gegen die Todesstrafe, und doch — wenn es einen selbst betraf, so wachte der alte Gedanke wieder auf: Auge um Auge. »Ja, Olga, Sie haben ganz recht. Es geht mich nichts an.«
»Was machen sie jetzt mit ihm? Kommt es nicht zu einer Verhandlung?«
»Doch, ich denke wohl. Wenn die Voruntersuchung abgeschlossen ist. Er wird noch immer verhört, schon seit fünf Tagen.«
Eine halbe Stunde später erhielt Theodore die Antwort auf die Frage, was jetzt mit Ramón geschehe. Sauzas rief ihn an und sagte, Ramón werde jetzt auf freien Fuß gesetzt. Seine Geschichte stimmte nirgends. Das Messer wies keinerlei Blutspuren auf, selbst unter dem Mikroskop nicht, und ebensowenig fand sich Blut auf Ramóns Kleidern und Schuhen.
»Er kann ja seine Kleidung weggeworfen haben«, sagte Theodore.
»Hm… Nun, ich meine, und die Ärzte teilen meine Ansicht, daß Ramón ein psychiatrischer Fall ist — ein pathologischer Geständiger«, betonte Sauzas, wie um dem Satz Gewicht zu verleihen, der für Theodore gar nichts bedeutete. »Ich sagte zu Ramón, er habe das Messer sicher versehentlich hinter den Herd fallen lassen, als er abends Lelias Geschirr abtrocknete. Er gibt zu, daß sie das Messer an dem Abend benutzt haben. Daher auch sein Fingerabdruck. Sehen Sie? — Sind Sie noch da, Señor Schiebelhut?«
»Aber ja, ich höre.«
»Es waren auch noch Spuren von Fett an dem Messer, aber sonst nichts. Nein, ich denke, wir müssen jetzt wieder auf die Postkarte zurückkommen und vielleicht auch auf die stummen Telefonanrufe bei Ihnen, aber die wird man schwer feststellen können. Erst mal müssen wir es mit der Schreibmaschine versuchen. Aber der Grund, warum ich Sie anrufe ist, daß ich Sie gern sprechen möchte. Paßt es Ihnen jetzt?«
»Ja«, sagte Theodore.
»Gut. Ich bin in zwanzig Minuten da.«
11
Sauzas kannte Theodores Haus noch nicht. Er sah sich anerkennend um, stellte ein paar Fragen zu einem hölzernen Heiligen, den Theodore in San Miguel de Allende gekauft hatte, und besah sich eingehend eins von Theodores Bildern, das seine linke Hand darstellte; Daumen und Zeigefinger waren kreisförmig gebogen und umschlossen die Fassade einer fiktiven Kathedrale.
»Sie führen eigentlich ein schönes Leben, Señor Schiebelhut. Ganz anders als Ramón Otero. Huh.« Sauzas griff nach seinen Zigaretten, bevor er noch den Mantel abgelegt hatte. »Eine elende Existenz, nicht wahr.«
»Ja. Und Sie sind völlig sicher, daß er es nicht war? Alle, die ihn untersucht haben, sind überzeugt davon?«
»Ja«, nickte Sauzas. »Einige mehr, andere weniger, aber überzeugt sind sie alle.« Er lächelte. »Wissen Sie, so was kommt bei der Polizeiarbeit häufig vor, aber meist handelt es sich um völlige Außenseiter. Ich habe Ihnen gar nicht erzählt, daß ein alter Mann zu uns kam — er war zu alt, um ein Mädchen auch nur anzusehen, von Notzucht ganz zu schweigen. Ja, der kam vor ein paar Wochen und behauptete, er habe die Tat begangen. Er hatte etwas darüber in den Zeitungen gelesen. Es ist ein alter Mann ohne Familie und Arbeit — ganz mittellos.« Sauzas zuckte die Achseln. »Nein, Señor, Ramón hat das nicht getan. Sein Verhalten ist nicht das eines Schuldigen, auch nicht in der Mordnacht. Bevor er damals hereinkam, hatte er die Leiche überhaupt noch nicht gesehen.«
Theodore blickte ihn an und versuchte, ihm zu glauben, einfach um zu sehen, was für ein Gefühl es wäre, wenn man wirklich glaubte. Sauzas kannte sehr viel mehr Verbrecher als er selbst, er hatte keinen Grund, Ramón für nicht schuldig zu erklären, wenn er es nicht war.
»Also, Señor Schiebelhut, wir müssen uns etwas näher mit Ihren Freunden befassen. Ich kann verstehen, daß Sie die Namen nicht allzu gern nennen, aber ich möchte der Sache mit der Postkarte auf den Grund kommen.«
»Ja, ich auch. Ich würde sagen, es ist gerade noch denkbar, daß sie von einem Freund oder Bekannten stammt, aber ich kann mir absolut nicht vorstellen, daß einer meiner Bekannten den Mord begangen hat. Das ist denn doch ein Unterschied.«
Jetzt kam Inocenza aus der Küche herein und machte sich am Sideboard neben dem Esstisch zu schaffen.
Sauzas betrachtete sie. »Ist sie verheiratet?«, fragte er, als sie wieder hinausgegangen war und jetzt vermutlich hinter der Schwingtür der Küche stand.
»Nein.«
»Hat sie viele Freunde?«
»Nein, fast gar keine. Sie hat einen Freund in Toluca, Ricardo heißt er. Ein sehr ruhiger Mann, ich glaube, er ist seit Jahren bei dem gleichen Arbeitgeber.«
Sauzas zog Notizbuch und Bleistift aus der Tasche. »Kennen Sie den vollen Namen?«
Theodore wandte sich zur Küche um. »Inocenza — würden Sie bitte mal kommen?«
Sie kam herein und blickte Sauzas aufmerksam an. Bestimmt hatte sie die Frage gehört, dachte Theodore, aber er wiederholte sie.
»Ricardo Trujillo«, erwiderte sie. »Sein Padrón ist José Cerezo, aber die Adresse weiß ich nicht auswendig.«
Sauzas notierte alles. »Haben Sie noch mehr — Freunde?« fragte er dann.
Inocenza blinzelte und lächelte bescheiden. »Nein, keine mehr. Señor.«
Sauzas sah Theodore zweifelnd an.
»Das stimmt ganz sicher«, sagte Theodore.
Sauzas schien das Thema nur ungern fallenzulassen. »Na schön. Also, Señor — ich habe bisher mit etwa zwölf Ihrer Freunde gesprochen, und in den letzten Tagen habe ich einige noch einmal aufgesucht, wegen der Postkarte.«
»Sie können gehen, Inocenza«, sagte Theodore. Inocenza wandte sich um und verließ das Zimmer.
Theodore und Sauzas nahmen auf dem Sofa Platz, und Theodore strengte ein paar Minuten lang sein Gedächtnis nach Namen an und erwähnte schließlich auch Elissa Straeter. Er ging nach oben, um sein Adreßbuch vom Schreibtisch zu holen. Sauzas rief ihm nach:
»Wenn Sie vielleicht ein Fotoalbum hätten, Señor, das wäre ganz nützlich!«
Theodore kam mit dem blauen Adreßbuch und dem dicken, in Antilopenleder gebundenen Fotoalbum zurück. Sauzas bat kurz um Entschuldigung und beschäftigte sich mehrere Minuten mit dem Adreßbuch, das die Namen von Leuten in Europa und in Nordamerika enthielt. Eine ganze Anzahl Namen und Adressen notierte er sich.
»Wissen Sie — wir müssen Geduld haben«, sagte er. »Bei den Leuten, die eine Schreibmaschine haben, müssen wir eine Schriftprobe nehmen und sie mit der Schrift auf der Postkarte vergleichen.«
»Was haben Sie von Inéz Jackson in Florida erfahren?«, fragte Theodore.
»Sie erkennt die Maschinenschrift nicht. Wir haben ihr eine Fotokopie der Postkarte geschickt.« Sauzas zuckte die Achseln. »Sie hat uns einen sehr intelligenten Brief geschrieben. Sie war ganz entsetzt, aber sie hat keine Ahnung, wer der Absender sein könnte.« Sauzas beugte sich beim Sprechen über das Album. »Manchmal frischt ein Fotoalbum das Gedächtnis auf.«
Weiß Gott, das stimmte. Mindestens die Hälfte aller Bilder waren Aufnahmen von Lelia, denn er hatte das Album gekauft, nachdem er sie kennengelernt hatte, und aus Europa, den USA und Südamerika hatte er nicht viele alte Bilder aufbewahrt. Theodore ließ die Augen nicht auf den Fotos von Lelia verweilen, aber Sauzas betrachtete sie prüfend und machte eine Bemerkung über ihr hübsches Aussehen.
»Und wer ist dies hier? … Wer ist das hier?« fragte er weiter, und Theodore gab ihm alle Namen an, bis auf einige Leute auf Gruppenbildern, an die er sich nicht mehr erinnerte.
Sauzas hatte schließlich so viele Namen, daß er wählerischer zu werden begann.
»Was raten die Psychiater nun, was mit Ramón geschehen soll?« fragte Theodore nach einer Weile.
»Ah!« sagte Sauzas seufzend. »Quién sabe? Geisteskrank ist er nicht, aber er ist von irgendeinem Wahn besessen. Und dann ist er ein sehr frommer Mann, nicht wahr? Fast die ganze Zeit hat er in der Zelle auf den Knien gelegen und gebetet.«
»Das wußte ich nicht.«
»Was ist Ihre Religion, Señor?«
»Ich bin protestantisch erzogen worden.«
»Ach ja, natürlich. Nun, dann —« Sauzas zuckte bedauernd die Achseln, als wolle er andeuten, dann könne Theodore unmöglich verstehen, was in Ramón vor sich ging. »Psychiatrische Behandlung könnte ihm vielleicht helfen, aber er mag ja keine Psychiater.«
»Ja, ich weiß.«
»Ich eigentlich auch nicht. Es ist jedenfalls schrecklich, mit einem Mord auf dem Gewissen zu leben, den man gar nicht begangen hat!«
Theodore schwieg, aber er war nicht so sicher, daß ihn Ramón nicht doch begangen hatte. Vielleicht würde er es nie ganz sicher wissen. Das war vielleicht sein Schicksal, alles unentschlossen und mit Zweifeln zu betrachten. Nur war dies doch eine ungeheure Sache — all seine andern ungelösten Probleme waren dagegen nichts als Fragespiele. Er kam sich wie gelähmt vor bei dem Gedanken, daß zweifellos jeder andere Mann im Handumdrehen immer wüßte, was er zu tun und welche Stellung er zu beziehen hatte.
»Sie machen sich Sorgen um ihn, Señor«, sagte Sauzas.
»Ja, wenn er wirklich unschuldig ist… wenn er einfach ein Mann ist, der Hilfe braucht —«
»Ich bin nicht sicher, daß Sie ihm dann helfen könnten. Vielleicht braucht er doch einen Arzt.« Sauzas’ kurzer Daumen fuhr genüßlich über das Antilopenleder des Albums. »Oder er müßte wieder anfangen zu arbeiten — Geld für eine Seereise hat er ja wohl nicht.« Sauzas lachte.
»Warum hat er gestanden, wenn er es gar nicht getan hat? Was glauben Sie, Señor Capitán?«
»Vielleicht um auf sich aufmerksam zu machen. Oder weil er etwas anderes auf dem Gewissen hat.« Sauzas blickte Theodore gelassen an. Es war ihm offenbar gleichgültig, warum Ramón gestanden hatte.
Theodore versuchte, aus irgend etwas in Ramóns früherem Verhalten eine Erklärung für sein Geständnis zu finden. Sauzas’ Anwesenheit irritierte ihn: er saß da mit kühl-professioneller Miene und zerbrach sich nicht den Kopf über irgendwelche Gründe. Theodore wußte, daß Ramón seine wöchentliche Beichte in der Kirche sehr ernst nahm. Ob er vielleicht schon mal im Beichtstuhl Sünden und Vergehen gestanden hatte, die er gar nicht begangen hatte? »Was tat er, als ihm niemand sein Geständnis abnahm?«
»Oh — was sie alle tun. Er blieb einfach dabei. Er denkt, wir irren uns alle. Er betete in seiner Zelle für unsere Seelen.« Sauzas lachte kurz auf.
Theodore versuchte, sich das vorzustellen. Aber das einzige, das er sich vorstellen konnte, war, daß die Polizei und Ärzte sich geirrt hatten. »Wissen Sie — als Laie kann ich nicht begreifen, wieso die Ärzte vollkommen sicher sein können, daß er lügt. Nehmen wir doch mal an, daß er den Blumenhändler vielleicht kannte und nicht wollte, daß der sich daran erinnerte — daß er die zwei Dutzend Nelken bei ihm gekauft hatte. In diesem Fall würde er sicher einen kleinen Jungen damit beauftragen, genau wie es dann geschah.«
»Señor — es ist doch die Art, wie er lügt. Er bekam es nicht mehr zusammen. Es war alles unklar. Einmal sagte er, er habe die Blumen selber gekauft, im nächsten Augenblick hieß es, er habe sie von dem Jungen kaufen lassen. Das einzige, was ganz klar war, ist, daß er sie gar nicht gekauft hat. Und vergessen Sie auch nicht die Postkarte, Señor. Sie wissen doch, was er für ein Gesicht machte, als wir sie ihm zeigten, sofort beschuldigte er irgendeinen amerikanischen Freund von Ihnen. Das kann ja immer noch sein. Moment noch, Señor Schiebelhut! Ramón ist nicht der Mörder, da gibt es keinen Zweifel. Einer der Psychiater kommt aus dem Johns-Hopkins-Institut von Nordamerika. Ein solcher Mann irrt sich nicht.« Er hielt inne und wartete auf ein Anzeichen, daß Theodore ihm glaubte.
Theodore gab kein Zeichen. »Wäre es möglich, daß ich mal mit diesem Arzt spreche?«
»Ja. Ich glaube, er bleibt ein paar Tage hier, dann geht er zurück in ein Sanatorium in Guadalajara. Er heißt Vicente Rojas.« Sauzas suchte in seiner Brieftasche, zog ein Häufchen Papiere und Zettel heraus und gab Theodore zwei Telefonnummern und den Namen des Hotels, in dem Rojas wohnte. »Unter einer dieser Nummern müßten Sie ihn erreichen können, aber er ist natürlich dienstlich hier, und hat sehr viel zu tun.« Sauzas erhob sich. »Ich muß gehen, Señor. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Wir…«, er hielt inne und sah Inocenza an, die gerade hereingekommen war. Er lächelte und dankte ihr, als sie ihm in den Mantel half. »Adio’s, adiós.« Er ging nach draußen, und Inocenza ging vor ihm über den Patio und hielt ihm die Pforte auf.
Theodore war im Wohnraum stehen geblieben. Inocenza kam heiter lächelnd zurück. »Was habe ich gesagt, Señor? Ramón hat es nicht getan. Ich wußte es ja.«
»Ja.«
»Ich freue mich so für ihn. Er war ja ganz durcheinander vor Kummer.«
Sie freute sich wirklich wie ein Kind, ohne einen Gedanken an sein falsches Geständms. Das war sicher nichts als ein grober Irrtum der Polizei gewesen. Ihre Partei — das waren Ramón und Theodore und sie selber — hatte jedenfalls gewonnen.
12
Dr. Vicente Rojas blickte Theodore freundlich durch seine runden schwarzgeränderten Brillengläser an. »Ich verstehe Ihre Zweifel sehr gut, Señor Schiebelhut. Sie möchten gern wissen, wer es getan hat. Aber Sie können sich darauf verlassen — ich würde meinen Ruf als Arzt dafür aufs Spiel setzen, daß er es nicht war.«
Der Mann sah zweifellos intelligent aus und nicht wie jemand, der voreilig ein Urteil fällt. Aber er konnte nicht viel älter als dreißig sein, und wieviel Erfahrung konnte man da schon haben?
»Sie halten viel von Otero, nicht wahr?«
Theodore trank einen Schluck seines schwarzen Kaffees. Er saß mit dem Arzt im Kaffeeraum des Hotels Francis auf dem Paseo de la Reforma. »Ja. Wir waren sehr gute Freunde.«
»Er braucht jetzt einen guten Freund«, bemerkte Rojas und blickte auf die glatte schwarze Tischplatte hinab, die aussah wie polierter Obsidian und Theodore an eine Halskette mit einem ovalen schwarzen Anhänger erinnerte, die Lelia oft getragen hatte.
»Er scheint mir innere Probleme zu haben«, sagte Dr. Rojas weiter. »Schuldkomplexe, wissen Sie.« Er rückte etwas mit dem Stuhl beiseite, um den Mann am Nebentisch durchzulassen.
»Aber jemand, der ein Verbrechen gesteht, das er nicht begangen hat, ist doch irgendwie unnormal, oder?«
Dr. Rojas lächelte und hob die Schultern. »Nun, normal ist das sicher nicht, das ist wahr. Aber er gehört auch nicht in die Kategorie der Geisteskranken. Wir haben mehrere Versuche mit ihm angestellt, die das einwandfrei erwiesen haben. Es könnte also eine vorübergehende Reaktion auf den Schock über den Mord sein — den Mord an der Frau, die er liebte. Und die er überdies nicht heiraten konnte.«
»Wäre es möglich, daß er etwas gestanden hat, womit er sich in Gedanken einmal getragen hat…« Theodore konnte nicht weiterreden, weil Rojas ihn unterbrach.
»Das ist durchaus möglich. Natürlich hat er sich nicht bewußt mit diesem Plan getragen. Und dafür will er jetzt die Schuld auf sich nehmen. Dieses innerliche Schuldgefühl ist so stark, daß nichts ihn davon befreien kann. Nada, nada.«
»Die Intensitát ist es, die ich mir kaum vorstellen kann. Das Volumen der Schuld.«
»Schuld liegt meistens unter der Oberfläche — wie ein Eisberg«, sagte Dr. Rojas lächelnd und schnitt ein Stück seiner Papaya ab. Er aß abends niemals warm, das hatte er Theodore erzählt, höchstens etwas Obst oder Kaffee und Gebäck, und hier hatten sie frische Papaya, die er gern aß. Es war jetzt Viertel vor acht; um acht hatte der Arzt eine Verabredung.
»Sie meinen also, dies ist nur vorübergehend, er wird es überwinden?«
»Ich glaube wohl«, sagte Dr. Rojas nicht allzu überzeugt. »Wissen Sie, eine psychiatrische Behandlung würde ihm sicher guttun. Ich habe versucht, ihm zu helfen, ohne daß er es merkte, Señor. Er will sich aber absolut nicht helfen lassen. Eine schlimme Situation. Es gibt viele solche Fälle, glauben Sie mir.« Dr. Rojas lächelte leicht. »Aber er ist ja erst dreißig, da habe ich Hoffnung. Die Religion kann da oft sehr viel helfen, aber natürlich nicht, wenn man sich noch mehr Schuld aufladen läßt, nicht wahr. Die katholische Kirche ist der beste Psychiater, wenn man sie — wenn man sie richtig nimmt. Und doch fand es der Papst kürzlich notwendig, den Katholiken in Spanien zu raten, es mit den kirchlichen Übungen nicht ganz so streng zu nehmen, damit ihr Geist nicht leide.« Rojas blickte Theodore mit großen Augen an. Theodore nickte. Er hatte Herbert Matthews zu diesem Thema gelesen — vielleicht hatte Dr. Rojas die gleiche Quelle.
»Für die Normalgesunden ist das natürlich in Ordnung«, fuhr Rojas fort, »auch noch für die nur wenig Gestörten. Aber ich habe es erlebt, daß Nervenkranke immer fanatischer wurden, und das ist nicht gut, finden Sie nicht? Hoffen wir, daß Otero kein solcher Typ ist. Er ist ein Mann, der liebt, und die geliebte Frau ist tot. Romeo war auch gestört, als er dachte, daß Julia tot sei. Sie werden sich erinnern, er brachte sich um.« Er lächelte, zufrieden mit sich.
»Halten Sie es für möglich, daß Ramón sich umbringt?«
Dr. Rojas schien zu überlegen. »Nein, im Augenblick nicht. Aber ich bin ja nicht allwissend. Wenn wir jetzt eine unmittelbare Gefahr gesehen hätten, dann hätten wir ihn nicht gehen lassen, Señor. Für die katholische Kirche ist ja auch Selbstmord eine große Sünde, wissen Sie.«
Theodore blickte Rojas in die hellen lebhaften Augen und überlegte, was er noch fragen könne — irgend etwas, das die ganze Sache abrunden und sicher machen würde.
»Wollen Sie Otero besuchen?« fragte der Arzt.
»Ich weiß es nicht.«
Rojas schwieg eine Weile. »Seine Beziehung zu Ihnen ist auch etwas gespannt, aber das geht nicht tief. Es würde ihm sicher guttun, wenn zwischen Ihnen und ihm wieder Frieden herrschte.«
»Halten Sie das für möglich? Jetzt?«
»Sie könnten es versuchen. Vielleicht nimmt er es Ihnen zunächst übel, wenn Sie an seine phantastischen Geschichten nicht glauben, aber das wird nicht lange dauern. Jedenfalls, davon gehen wir aus. Er ist eigensinnig und stolz, und dieses Schuldgefühl könnte bei ihm zur Pose werden. Aber ich rechne eigentlich damit, daß er es irgendwann los wird. So gestört ist er wieder nicht.« Rojas lächelte zuversichtlich und stand auf. »Tut mir leid, aber ich muß gehen. Ich erwarte einen Besucher in der Halle.« Er winkte dem Kellner.
Theodore bestand darauf, die Rechnung zu bezahlen, und die beiden Männer verabschiedeten sich. Theedore wollte gerade fragen, wo er Dr. Rojas in Zukunft erreichen könne, doch dann wurde ihm klar, daß er ihn nicht wieder erreichen wollte, weil er nicht allzuviel von ihm hielt.
Sie trennten sich in der geschäftigen Hotelhalle, inmitten von glitzernden Schaukästen mit Souvenirs und Silberschmuck. Theodore ging die Treppe hinab und trat auf den Gehweg der breiten Avenue. Immer erinnerte sie ihn um diese Stunde kurz vor Dunkelwerden, wenn von den hohen Bäumen am Straßenrand die erste kühle Brise kam, an Paris an einem Vorfrühlingstag. Sein Haus lag nur sechs Querstraßen weit entfernt; er ging zu Fuß. Bei dem Gespräch mit dem Arzt hatte er plötzlich den Impuls gehabt, Ramón anzurufen und ihm ein paar freundliche Worte zu sagen. Der Impuls war vorübergegangen, und jetzt machte er sich Vorwürfe wegen seiner Naivitát; er hatte den Worten des Arztes gelauscht, als ob sie eine Offenbarung wären. Er dachte an die Berichte in den Zeitungen. Der Psychiater hatte sie einfach wiedergegeben. Ein Name für Ramóns abartiges Verhalten war nicht genannt worden. »Emotionaler Stress«, so hieß es.
Theodore hatte sein Haus erreicht und ging weiter, bog um die Ecke find blieb vor einem kleinen Laden stehen, der moderne Möbel im Fenster hatte. Ein ausgehungerter gelblicher Hund, gespenstisch mager, schlich am Hause entlang und blieb vor Theodore stehen, mit flehendem Blick, die Füße zur Flucht bereit. Wäre ein Lebensmittelgeschäft in der Nähe gewesen, dachte er, so hätte er dem Köter ein Wurstbrot gekauft. Er streckte die Hand aus, der Hund fuhr zusammen und schlich eilig weiter, den Schwanz zwischen den Beinen. Er hatte ihn gar nicht anfassen wollen. Und zu fressen hätte er ihm in Wirklichkeit auch nichts gegeben; er hielt nichts davon, das Leben eines unerwünschten Hundes in Mexiko zu verlängern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Hund irgendwo auf dem Marktplatz etwas schnappte, das absichtlich dort hinterlegt und vergiftet war. Und trotzdem hatte Theodore das Gefühl, vor dem Hund versagt zu haben — mindestens vom Standpunkt des Hundes aus.
Tief deprimiert ging er weiter. Wenn er weder von Sauzas noch von den Psychiatern eine befriedigende Antwort bekommen konnte — oder vielmehr: wenn er ihre Antworten nicht akzeptierte —, dann mußte er selber eine Antwort finden. Er mußte einen Entschluß fassen. Er mußte Ramón aufsuchen, das wußte Theodore. Aber heute nicht mehr. Morgen.
13
Theodore hatte vorgehabt, Ramón eine Flasche Strega mitzubringen, den er sehr liebte; aber er beschloß dann, es doch nicht zu tun; Ramón könnte es als versöhnende oder — schlimmer noch — als überhebliche Geste ansehen. Er stieg langsam die Treppenstufen hinauf und horchte schon im dritten Stock auf Ramóns Stimme unter den vielen Geräuschen und Stimmen ringsum. Arturo war wieder bei Ramón; er hatte auch das Gespräch angenommen, als Theodore anrief. »Aber natürlich können Sie kommen. Bitte kommen Sie doch!« hatte Arturo hoffnungsvoll gesagt, aber das widersprechende Gemurmel von Ramón aus dem Hintergrund war nicht zu überhören gewesen.
Er klopfte.
Schritte näherten sich, und Arturo öffnete mit freundlichem Lächeln. »Willkommen, Don Teodoro, willkommen!« sagte er herzlich und strahlte über das ganze, wie üblich seit zwei Tagen nicht rasierte runde Gesicht.
Ramón stand von einem Stuhl auf. Er war sauber angezogen und rasiert, als sei er im Begriff auszugehen. »Hallo, Teo.«
»Guten Rag, Ramón. Du siehst wieder viel wohler aus.« Er hielt ihm die Hand hin.
Höflich schüttelte ihm Ramón die Hand.
»Es geht ihm auch besser. Müde ist er noch, das ja. Aber diesmal haben sie ihm nichts getan — gar nichts«, sagte Arturo und verschränkte nervös die kurzen Finger.
Ramóns besseres Aussehen war aber nur oberflächlicher Natur. Er war dünner geworden, und die Augen lagen in den Höhlen. »Inocenza läßt dich grüßen«, sagte Theodore.
Ramón erwiderte nichts.
»Er war heute noch gar nicht draußen. Seit gestern nicht«, sagte Arturo und stellte den Besen in die Ecke der Kochnische. Das Zimmer sah ungewöhnlich sauber und ordentlich aus.
»Ach verdammt, Ramón, ich habe vergessen, dir den Vogel wieder mitzubringen. Damit du nicht denkst, ich wollte ihn nicht mehr herausrücken.«
»Du hast meinen Vogel?« fragte Ramón überrascht. »Und ich dachte, der Pförtner hätte ihn gestohlen!«
»Ja, hat dir Sauzas das nicht gesagt? Ich habe ihn die ganze Zeit bei mir gehabt.«
Ramón lächelte verwirrt und fuhr sich mit der Hand; über den Kopf. »Der Pförtner hat doch den Schlüssel. Ich dachte, er hätte ihn den Kindern gegeben —«, er machte mit der Hand eine Bewegung zur Tür hin. »Die Kinder hier im Hause, meine ich.«
»Nein, nein, Ramón, dem Vogel geht es sehr gut.« Theodore wußte, daß die lärmenden ungewaschenen Kinder im Haus Ramón oft auf die Nerven fielen, hauptsächlich weil sie ihm leid taten. Sie machten viel dummes Zeug und spielten ihm ärgerliche Streiche — vielleicht nicht nur ihm, sondern auch den anderen Hausbewohnern.
»Siehst du, Ramón?« sagte Arturo eifrig lächelnd. »Da hat er es wirklich sehr gut gehabt.«
»Sie sind jetzt viel hier, Arturo«, bemerkte Theodore. »Wie geht denn das Geschäft so?«
»Oh.« Arturo machte eine entschuldigende Geste und lächelte unsicher, als wolle er nicht gern darüber sprechen.
Es war ein dauerndes Kommen und Gehen von Helfern in Arturos Laden, aber sie waren alle gleich: Taugenichtse, die nicht richtig arbeiteten und sich den ganzen Tag über ihre Freundinnen unterhielten. Früher hatte Theodore oft hineingeschaut; immer war Ramón an der Arbeit, werkelte an einem Stuhl oder Tisch, und Arturo saß gewöhnlich mit der Zeitung auf einem alten Sofa, das ein Kunde vor Jahren gebracht und nie wieder abgeholt hatte. Arturo war ein Meister in seinem Fach, aber von der Arbeit hielt er nicht viel. Er zog es vor, Ramón die Arbeit zu lehren, und das hatte er von Grund auf getan, vor drei oder vier Jahren, als Ramón ihn um Arbeit bat. Ramón besaß nichts als Ausdauer, das schätzte Arturo, und Theodore wußte, er wollte das Geschäft Ramón hinterlassen. Theodore hatte oft gedacht, für einen so gut aussehenden und intelligenten jungen Mann wie Ramón sei es eigentlich merkwürdig, daß er sich diese Arbeit ausgesucht hatte. Erst jetzt erkannte er, was ihm früher entgangen war: es war die Märtyrertendenz, die ihn dazu veranlaßt hatte.
Ramón stand mit erhobenem Kopf an seinem Bett und beobachtete ihn. Auf dem kleinen Nachttisch lag seine alte schwarzeßibel mit Goldschnitt.
»Ich bin froh, daß sie dich nicht schlecht behandelt haben«, sagte Theodore jetzt, zu Ramón gewandt.
»O nein, durchaus nicht«, erwiderte Ramón leicht sarkastisch.
»Ich hab ein paarmal angerufen, um mich nach dir zu erkundigen.«
Ramóns Augen wichen aus. »Na ja — sie haben mir einfach nicht geglaubt.«
Sollte er Ramón erzählen, daß er mit einem der Psychiater gesprochen hatte? Nein, besser nicht. Er blickte zu Arturo hinüber, der ihn leicht verwirrt ansah. Vom Gang her hörte man die Wasserspülung in der Toilette. Theodore wandte sich etwas um und hatte nun die graue Mauer vor sich, die nur vier Fuß von Ramóns einzigem Fenster entfernt war. »Was für Pläne hast du jetzt, Ramón?« fragte er und drehte sich zurück. »Willst du bald wieder mit der Arbeit anfangen?«
»Ich weiß nicht.«
»Halte ich dich auf — wolltest du gerade ausgehen?«, fragte Theodore.
»Nein, nein, durchaus nicht«, erwiderte Arturo für Ramón. »Bitte nehmen Sie doch Platz, Don Teodoro. Kommen Sie, setzen Sie sich.«
Theodore setzte sich auf das Bett; aber die Umgebung und die Atmosphäre deprimierten ihn, er hätte lieber wieder gestanden. »Was macht Ihre Tochter und die kleine Enkelin, Don Arturo?«
»O danke schön, denen geht es gut. Die Kleine kriegt gerade den ersten Zahn!« Arturo legte den Finger an die eigenen Lippen. Dann reckte er sich und zog die Weste zurecht. »Ja, ich muß jetzt gehen. Nein, nein, Sie vertreiben mich nicht, Don Teodoro. Ich muß um zwölf einen Kunden treffen, und es ist schon beinahe so weit.«
Ramón schien protestieren zu wollen, dann fügte er sich resigniert — obgleich Theodore nicht sicher war, ob er nicht gleich erklären werde, er wolle Arturo begleiten; aber er verabschiedete sich von ihm und schloß die Tür.
»Ich bin froh, daß du einen so guten Freund in ihm hast, Ramón.«
Ramón sah ihn mit leeren Augen an.
»Machst du dir nichts aus Freunden, Ramón?«
»Deine Freundschaft war auch zum Teufel, als du dachtest, ich hätte sie umgebracht.«
»Wundert dich das? Hättest du mir die Freundschaft bewahrt, wenn du mich für ihren Mörder gehalten hättest?«
»Nein.«
»Na also. Es tut mir leid, Ramón. Wir waren eben beide am Ende — wie hätte es auch anders sein können.«
Ramón schaute ihn nur enttäuscht an.
War dies nun der richtige Zeitpunkt, mit ihm zu reden? Aber wenn er jetzt nicht mit ihm sprach, ging es überhaupt nicht weiter. »Ramón, ich halte dich nicht für den Mörder. Möglicherweise bildest du es dir ein — das könnte ich mir vorstellen. Ich habe gestern mit einem der Ärzte gesprochen, einem Dr. Rojas.«
»Rojas«, murmelte Ramón und lächelte. Er zerdrückte die Zigarette, die er gerade angezündet hatte, und nahm seine ziellose Wanderung wieder auf.
Theodore folgte ihm mit den Augen. Sein Gang war anders als sonst, auch die Art, wie die Hände herunterhingen und wie er den Kopf hielt — höher als sonst. »Was willst du jetzt tun, Ramón?«
Ramón ging langsam weiter. »Was kümmert dich das? Laß mich doch in Ruhe. Es ist alles so gleichgültig geworden. Die Stadt ist dieselbe, die Leute sind dieselben, die Häuser, die Polizei, alles — als ob nichts geschehen wäre. Du wirst auch derselbe sein — aber von dir hätte ich nicht erwartet, daß du derselbe liebe gute naive Teo bist, den ich davor bewahren mußte, daß er sich von einem Straßenhändler imitiertes Silber andrehen läßt!« Ramón lachte auf.
Auch Theodore lächelte.
Ramón setzte sich auf sein Bett. »Es kümmert mich, weil ich dich gern habe und du mein Freund bist, Ramón.«
Ramón blickte auf und sagte ruhig: »Ich bin nicht mehr dein Freund. Ich habe sie doch umgebracht.«
Theodore regte sich nicht. Eine unheimliche überzeugende Kraft ging von Ramón aus, die es auf trügerische Weise verstand, einen festen Standpunkt zu unterhöhlen. Wenn er es nun doch getan hatte? In einem Augenblick blinder Leidenschaft, die die Schwere eines Verbrechens milderte? War es möglich, ihm zu vergeben, weil man ihn verstand? Theodore wollte ihm vergeben — im Abstrakten. Aber jetzt wußte er einfach nicht mehr, was er von ihm halten sollte. Er war ganz unsicher geworden. Er ging hinüber zu dem Tisch neben Ramóns Bett, nahm die Bibel und hielt sie Ramón hin, der aufgesprungen war. »Wenn ich dich auf die Bibel schwören ließe, daß du sie getötest hast… würdest du es tun, Ramón?«
Ramón sah die Bibel an. »So etwas schwört man nicht auf die Bibel.«
»Würdest du schwören?«
»Ich schwöre. Nicht auf die Bibel, aber ich schwöre es.«
»Dann glaube ich dir nicht.«
»Was macht es mir schon aus, ob du mir glaubst oder nicht!«
»Na schön, meinetwegen«, sagte Theodore erzürnt.
Ramón packte die Bibel. »Da! Siehst du! Ich schwöre es! Ich habe sie umgebracht!« Er blickte Theodore trotzig an und warf die Bibel auf das Bett.
Theodore legte die Bibel zurück auf den kleinen Tisch. Was hatte er nun erfahren — daß Ramón sie getötet hatte oder daß er nicht normal war?
Ein trotziges, zorniges Schweigen füllte den Raum.
Dann sagte Ramón: »Ich begreife dich nicht, Teo. Aber das ist ja auch nicht so wichtig, nicht wahr?«
»Mir liegt nichts an Rache — vielleicht kannst du das verstehen. Ich will nicht denken, daß du sie umgebracht hast. Aber selbst wenn du es getan hättest, würde mir nichts an Rache liegen. Du hältst das sicher für töricht. Du hast mich ja oft für töricht gehalten.«
»Ja. Und für gefühllos — verhältnismäßig jedenfalls.«
»Es ist nicht weiter wichtig, was du von mir hältst. Ich biete dir meine Freundschaft — auch wenn du sie vielleicht umgebracht hast. Ich weiß es eben nicht, Ramón. Ich möchte so gern glauben, daß du es nicht warst —«
»Und deshalb glaubst du das. So glaubst du ja auch an Gott und Christus oder sonstwas. Du glaubst, was du gern möchtest, und mehr nicht!« Ramóns Stimme klang schrill.
»Ich wäre deshalb nicht anders, Ramón — wenn ich glaubte, du hättest es getan. Das wollte ich dir sagen.« Theodore zitterte; er hatte das Gefühl, eine Verpflichtung übernommen zu haben, die er niemals zurücknehmen konnte. »Du hast dich immer lustig gemacht über meine Lebensphilosophie — für dich war es gar keine Philosophie. Sie hat aber auch christliche Elemente —«
»Ja — die paar, die du dir aussuchst!«
»Ich versuche, nach dem zu leben, woran ich glaube.«
»Du würdest also jedem vergeben? Jedem Dieb und Mörder?«
»Nein. Nein, das nicht.« Theodore kam sich plötzlich geschlagen vor und sah nicht, wie er das ändern sollte, da er die Niederlage unverdient fand. »Aber ich halte dich einfach nicht für einen schlechten Menschen, Ramón. Es gibt wirklich schlechte Menschen.«
»Wer ist schlecht und wer ist nicht schlecht? Hast du das zu bestimmen?« Ramón fuchtelte mit den Händen. »Vergiß nicht, wie oft ich Lelia bedroht habe. Ich habe aus meinen Gefühlen kein Geheimnis gemacht, nicht wahr? Sie war für mich eine Qual, und doch liebte ich sie. Darüber haben wir doch oft sehr freundschaftlich gesprochen, nicht wahr, Teo?« In der Stimme klang Reue und Hysterie.
»Ja«, sagte Theodore.
»Weißt du noch, wie ich einmal sagte, ich könnte sie umbringen, Teo?«
Ja, Theodore wußte es noch, aber er sagte nichts.
»Siehst du — du willst es nicht mehr wissen, aber wahr ist es doch!« rief Ramón triumphierend.
War das denn wichtig — konnte eine Drohung irgendwas beweisen? Theodore ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab und wandte sich um. »Ich meine, es gibt Schlimmeres als einen Mord, besonders einen Mord aus Leidenschaft, bei dem Gefühle eine Rolle spielen. Es ist eine Augenblickstat, und meistens bereut der Mörder sie hinterher. Er ist wenigstens ein Mensch. Aber nimm die Leute, die ihre Mitmenschen ausnutzen — üble Hauswirte, üble Politiker, die ihr Leben lang Tausende von Menschen aussaugen, die genau wissen, was sie tun, und mit Vorbedacht. Das sind die wahren Verbrecher. Das sind die Leute, die sich in Grund und Boden schämen sollten vor ihren Frauen und Kindern und vor ihrem Gott. Zu denen gehörst du nicht, Ramón — niemals.«
Ramón ging ruhelos rauchend auf und ab. »Die Antwort darauf ist einfach, Teo: diese Leute haben kein Gewissen. Sonst könnten sie gar nicht schlafen und würden sterben. Dann wäre die Welt besser dran, das gebe ich zu.«
Theodore zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Was sollte er noch sagen. Ramón konnte seine Freundschaft zurückweisen, aber die Freundschaft blieb bestehen. So war es mit ihnen: auch wenn sie einander jetzt wochenlang nicht sahen, würde jedem die Dissonanz des andern in seinem Leben fehlen. Mit einem Lächeln ging Theodore hinüber zu Ramón und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ramón, ich habe eine Idee. Wenn du ein paar Tage hier raus möchtest — komm doch zu mir! Ich habe ein Extrazimmer mit Bad, und du könntest auch völlig allein sein, wenn du willst; du könntest lesen, Platten spielen, spazierengehen, sogar alleine essen, wenn dir das lieber wäre. Oder auch mit mir natürlich.« Er wartete. »Später könnten wir eine kleine Reise zusammen machen, vielleicht zum Pátzcuaro-See oder sonstwohin.«
»Nein, Teo. Danke schön, wirklich.«
»Ich würde selbst gern ein bißchen wegfahren, weg aus der Stadt, aber ich habe das Gefühl, wir sollten Sauzas vielleicht noch etwas helfen. Es kann sich ja noch was Neues ergeben.«
»Ach, Neues wird sich nicht mehr ergeben«, sagte Ramón seufzend. Dann lachte er plötzlich wie ein Junge. »Wie sollte es auch?«
Theodore lachte ebenfalls erleichtert auf. »Na schön, Ramón, überleg’s dir mal. Vielleicht bekommst du doch noch Lust. Jetzt will ich gehen.« Er ging zur Tür. Als er sich umwandte, stand Ramón noch am gleichen Fleck und sah ihm nach. »Adiós, Ramón.«
»Adiós.«
Theodore ging Schnell die Treppen hinunter. Auf dem untersten Absatz stieß er fast mit einem Priester in schwarzer Robe und Hut zusammen, der ihn fragend ansah. Spontan blieb Theodore stehen.
»Ich suche die Wohnung von Señor Ramón Otero«, sagte der Priester. »Ich bin Padre Bernardo.«
»Er wohnt zwei Treppen höher — die erste Tür links von der Treppe. Hat er nach Ihnen geschickt?«
»Nein«, antwortete der Priester. Die trübe abfallenden Brauen über den kleinen braunen Augen senkten sich wie der weiche schlaffe Mund. »Ich möchte ihn gern besuchen.«
»Ich habe nur gefragt, weil ich ein Freund von ihm bin«, sagte Theodore.
»Sind Sie sein Priester? Beichtet er bei Ihnen?«
»Manchmal bei mir, manchmal bei einem anderen.«
»Hat er den Mord gebeichtet?«
»Si«, sagte der Priester bewegungslos.
»Und glauben Sie ihm?«
Der Priester hob langsam und mit wissendem Blick die Schultern und sagte: »Si. Ich muß ihm glauben. Er hat es mir ja gesagt.«
Der Mann machte einen langsamen und schwerfälligen Eindruck, wie Theodore ihn oft an Priestern bemerkt hatte. Er wirkte so schlaff wie sein Talar.
»Und was wollen Sie jetzt mit ihm machen?«
»Sie sind kein Katholik?« fragte der Priester und legte den Kopf ein wenig zurück.
»Nein, ich bin kein Katholik, ich frage, weil ich ein Freund —«
»Ich werde ihm Trost zusprechen. Ich werde meine priesterliche Aufgabe erfüllen«, sagte der Geistliche mit ruhigem Lächeln.
»Die Polizei hat ihn entlastet, das werden Sie wissen. Er ist nicht schuldig.«
Jetzt lächelte der Priester leicht überlegen. »Das geht mich nichts an, Señor.«
»Sie sollten versuchen, ihn davon zu überzeugen, daß er nicht schuldig ist«, sagte Theodore schnell, aber der Prister blieb unbewegt.
»Vor dem Herrn sind wir alle schuldig.«
Theodore fühlte, wie ihm der Zorn ins Gesicht stieg.
Der Priester ging langsam die Treppe hinauf.
Theodore kochte innerlich, aber nicht ein einziges Wort fiel ihm ein, das er ihm hätte nachrufen können; nur der alberne Satz vom »esprit d’escalier« kam ihm in den Sinn. Eilig stieg er die Treppe hinunter. Diese Priester — was die ihm schon für Trost spenden konnten! Vielleicht erzählte er ihm, das Höllenfeuer werde noch viel heißer sein als jedes irdische Feuer! Was Ramón brauchte, war ein Psychiater. Theodore stürzte aus der Haustür und stieß auf dem Gehweg an eine Pyramide aus Orangen, wobei die Hälfte in den Rinnstein kollerte.
»Nun seht euch das an! Können Sie nicht aufpassen, wohin Sie treten mit Ihren großen Füßen!« schrie die dicke alte Frau, die sich von ihrem Sitz am Gehweg nicht gerührt hatte.
»Oh, das tut mir leid — ich bitte sehr um Entschuldigung!« Theodore kam es vor, als sei die Orangenpyramnide eigens dort hingestellt worden, damit er sich möglichst idiotisch benahm; aber er unterdrückte seinen Ärger, sammelte geduldig alle Orangen auf und brachte sie zurück zu der Alten, was die meisten Mexikaner sicher nicht getan hätten, dachte er. Er wußte, daß man ihm den Ausländer ansah, und fand, das sei ein Grund, sich tadellos zu benehmen. Lächelnd reichte er der Alten einen Fünf-Peso-Schein; sie quittierte ihn mit freundlichem Grinsen und einem »Der Himmel lohne es Ihnen«, das ihm noch lange in den Ohren klang.
14
2. März 1957
Heute habe ich zum erstenmal seit Lelias Tod wieder malen können. Die Aussicht aus dem Atelierfenster, eine Komposition in Gelb. Zum erstenmal wieder angenehm müde nach der Tagesarbeit — aber das hält nur so lange an wie die Gedanken an die Arbeit. Von Ramo’n höre ich nichts; die Polizei ist mit ihm fertig. Sie haben ihn den Priestern überlassen, die alles glauben, was er sagt.
Ich habe das Gefühl, die Leute auf der Straße unten beobachten mein Haus, und wenn ich sie einen Augenblick ansehe, weiß ich, daß ich mich geirrt babe. Inocenza sagt, bei ihr klingelt das Telefon nie anonym wie bei mir. Als ob jemand aufpaßt, wann ich zu Hause bin und sogar, wann ich ans Telefon gebe, denn sie geht mindestens ebensooft an den Apparat wie ich.
Einige amerikanische Bekannte sind hier (Ernest und Judy Riemer, Paul Shipley), und Riemers haben mich zum Essen eingeladen; aber ich habe abgelehnt, mir war nicht danach. In der letzten Woche habe ich nur R. einmal gesehen, Josefina einmal und Olga. Josefina will glauben, daß R. der Täter ist, geradeso wie ich das Gegenteil glauben will. »Wenn er es nicht getan hat, war es sehr schlecht von ihm, uns dies alles aufzuladen«, sagt J. sehr heftig. Wenn ich sie bitte, R. nicht hart zu beurteilen, lacht sie einfach und sagt, ich verurteile ihn ja auch, und ich kann sie nicht überzeugen, daß ich nicht den mindesten Groll gegen ihn hege.
Vorgestern nacht habe ich geträumt, daß Lelia ihre Wohnung für eine Karnevalsparty dekorierte. Weiter nichts, aber ich wachte merkwürdig heiter auf. J. zusammen mit Sanchez-Schmidt (sehr anständiger Kerl) übernimmt den Verkauf von Lelias Bildern und kümmert sich auch um die Auflösung der Wohnung — zum Glück ohne meine Hilfe.
J. hat mir die silberne Dose gegeben, die L. nie putzen wollte und die ich so gern habe. Sie hatte Schmuck und ein paar Kleinigkeiten darin aufbewahrt — wovon ich übrigens nur wenig und nichts nach meinem Geschmack bekommen habe: eine goldene Nadel mit Perlen und einer Acht, und einen Ohrring. Das kommt davon, wenn man bescheiden sagt, man will nichts haben!
Theodore blätterte zurück. Das Tagebuch war zweieinhalb Jahre alt. Er schrieb nicht jeden Tag; hie und da fügte er kleine Zeichnungen ein. Ramón erschien öfter darin, als er gedacht hätte. Er hatte sich immer geweigert, für ihn zu sitzen. Es machte Theodore Spaß, ihn als Römer, mit einem Kranz auf dem Kopf, zu zeichnen, auch seitlich als spanischen Torero mit scharfem Profil, und festzustellen, daß beide Skizzen gleich ähnlich waren. Jetzt folgte eine Federzeichnung von sich selber, wie er in der Küche eilig Leo sein Futter gab: mit der einen Hand servierte er dem Kater einen gekochten und zerteilten Hummer, mit der andern goß er geschmolzene Butter aus einem Gefäß. Darunter stand der Dialog:
Leo: Wo warst du denn, verdammt nochmal? Ist dir klar, daß Mitternacht vorüber ist?
T: Ich habe dir doch gesagt, daß ich spät komme, außerdem hat dir sicher Inocenza um fünf irgendetwas gegeben.
Leo: Nein, das hat sie nicht.
T: Lüg mir nichts vor, Leo. Und hier ist ein schöner Hummer — riech mal!
Leo: Rrrr! Du denkst wohl, damit machst du es wieder gut! Mich sechs Stunden warten zu lassen!
T: Ich verspreche dir, ich werd’s nicht wieder tun.
Leo: Du wirst aber. Du hast Glück, daß ich überhaupt hierbleibe. Verdient hast du mich nicht.
Theodore schlug die letzte Stelle wieder auf und schrieb:
Kurt Zwingli (der jetzt in Zürs ist) hat mich gebeten, ein kleines neues Buch mit Federzeichnungen zu illustrieren. Gestern kam das Ms., es heißt Aufrichtig gelogen. Moderne Satire. Ein junger Mann von der Art, die es nie gegeben hat — eine Figur wie aus alten Lesebüchern, wo sie in Londoner Pensionen wohnen, um die Sprache zu lernen, Konzerte und Museen besuchen und für jede Statistik schwärmen —, reist in der Welt herum und stellt fest, daß alle Menschen Zweifel haben an den sog. wahren Werten. Jeder ist zynisch und pessimistisch. Der Held läßt sich nicht entmutigen; der Zynismus geht völlig an ihm vorbei. Dies Resümee wird dem Buch nicht gerecht. Mir gefällt es großartig.
Mir schweben Federzeichnungen vor, dicht, aber fein, eine Kombination von Lesebuch-Illustrationen (schlecht-sitzende Kleider, geschlechtslose Körper, lauter linkische Gestalten) mit alptraumartigem Dunkel aus Pessimismus und Resignation. Aber ich muß erst in die richtige Stimmung kommen. Ich werde es versuchen. Soll bis September fertig sein. Es muß auch erst irgendwas passieren. Sauzas kommt anscheinend nicht voran.
Habe Rouault angesehen. Trost bei der Betrachtung von anderer Leute Bildern.
Um Mitternacht, als Theodore im Wohnraum saß und las, klingelte das Telefon. Der stumme Anrufer? Alles, was er ihm hatte sagen wollen, schoß ihm durch den Kopf. Die Hand, die den Hörer ergriff, war schon feucht von Schweiß. Er riß den Hörer in die Höhe.
»Bueno?«
Stimmengewirr in einiger Entfernung vom Telefon, und dann: »Bueno? Don Teodoro?«
Theodore entspannte sich ein wenig. »Si, Arturo.«
»Bitte entschuldigen Sie den späten Anruf, Don Teodoro. Ramón möchte seinen Vogel sehen.« Arturos Stimme klang leicht verstört.
»Oh — soll ich ihn hinbringen?«
»Nein, er kommt zu Ihnen. Oder ist es zu spät?«
»Aber nein.«
»Gut, dann also in ein paar Minuten, ist das recht?«
»Seguro que sí!«
Arturo legte auf.
Theodore machte im Wohnzimmer noch eine Lampe an; dann stieg er die Treppe hinauf in den zweiten Stock, sah, daß Inocenza kein Licht mehr hatte, und klopfte leise an die Tür.
»Sí!« sagte Inocenza erschrocken, als sei sie in diesem Augenblick aufgewacht.
»Ich bin’s, Inocenza. Ich möchte gern Ramóns Vogel holen. Es tut mir sehr leid, Sie zu stören.«
»Sí, Señor.« Er hörte sie aufstehen, dann kam sie im Bademantel und barfuß an die Tür, öffnete sie und nahm dann den Vogelkäfig von der Wand.
»Ramón hat angerufen, er kommt gleich her, aber Sie brauchen sich jetzt nicht weiter stören zu lassen.«
Inocenza lächelte. Ihr Haar hing lose herab, voll und schön bis unter die Schultern. »Ich komme gern hinunter, wenn Sie mich brauchen, Señor.«
»Nein, nein, sicher nicht. Vielen Dank, Inocenza.« Der Vogel gab keinen Laut von sich, als er ihn unter seiner Decke nach unten trug. Vielleicht schlief er noch, oder er war wach und wartete in angstvoller Spannung auf das, was jetzt passieren sollte.
Theodore zog über Hemd und Sweater sein Jackett an; im Hause war es kühl. Neben dem Kamin waren in einem Lederkorb Holzscheite und auch kleineres Holz aufgeschichtet; Theodore zerknüllte etwas Zeitungspapier, legte Kleinholz darauf und zündete es an. Das Feuer würde Ramóns Stimmung heben, dachte er. Er legte mehr Holz auf, als die Flammen die größeren Scheite fassen konnten; dann nahm er die Decke vom Vogelkäfig. Der Vogel legte den Kopf auf die Seite und blickte Theodore mit klugen Augen an, dann hüpfte er näher an die Käfigtür und betrachtete sie so prüfend, als trage er sich mit einer neuen Methode des Angriffs.
Leonidas sprang lautlos von einem Stuhl und näherte sich dem Käfig mit der Selbstverständlichkeit eines Löwen, der seines Sieges sicher ist.
»O nein, du irrst dich, Leo«, sagte Theodore. Er nahm den Kater auf und trug ihn nach nebenan in sein Arbeitszimmer, wo er eine kleine Lampe anmachte und das Tier auf eine Couch setzte. »So, hier bleibst du — ganz ruhig.«
Er hörte, wie vor dem Hause ein Wagen hielt, und ging hinaus, um das Eisengitter zu öffnen. Arturo war dabei, den Taxifahrer zu bezahlen.
»Ich bleibe nicht lange, Don Teodoro«, sagte Arturo liebenswürdig, nachdem er ihn begrüßt hatte. »Ich wollte nur sicher sein, daß Ramón gut herkam.«
Sie gingen über den Patio ins Haus.
Ramón setzte sich auf den Teppich neben den Käfig. Im Licht der Lampe sah Theodore, daß seine Augen geschwollen waren, als habe er geweint. Arturo lächelte unsicher, er blickte Theodore an und schüttelte den Kopf, Wie um anzudeuten, er habe sein möglichstes getan, aber nicht viel erreicht.
»Inocenza hat den Vogel gut versorgt, denke ich«, sagte Theodore zu Ramón. »Sie hat ihn immer bei sich im Zimmer, weil dort die Sonne hineinscheint, und die Katze kommt auch nicht nach oben.«
Ramón schien ihn nicht gehört zu haben.
Theodore sah Arturo etwas ratlos an, dann winkte er ihm und sie gingen in eine Ecke des Raums. »Ist irgend etwas passiert heute?« flüsterte Theodore.
»Nein, nichts Besonderes. Er ging zur Kirche…«
Ramón hatte jetzt die Käfigtür geöffnet, und nach kurzem Zögern hüpfte der Vogel erst in die Türöffnung, dann auf den Teppich und auf das Sofa. Ramón lächelte ihm zu und wischte sich die Augen. »Verzeih mir, Teo«, sagte er bittend. »Verzeih mir.«
»Natürlich verzeihe ich dir!« sagte Theodore hilflos, denn er wußte nicht, was Ramón meinte. Er merkte, wie ihm Arturo tröstend oder warnend die Hand auf den Arm legte.
Ramón saß auf den Fersen. »Verzeih mir«, sagte er erschöpft und hielt sich den Kopf mit den Händen.
Theodore kam näher. »Komm, setz dich doch.« Aber Ramón reagierte nicht, als er versuchte ihn hochzuziehen. »Möchtest du irgend etwas haben, Ramón?«
»Nein.« Ramón nahm die Hände herunter und blickte auf seinen Vogel.
»Du hast ihn noch nie aus dem Käfig gelassen, nicht wahr?«
»Nein.«
Jedesmal, wenn Theodore oder Lelia ihn baten, den Vogel doch in der Wohnung herumfliegen zu lassen, hatte er gesagt, dann werde der Vogel womöglich auf die Lichtleitung an der Decke fliegen und nicht wieder herunterkommen; aber vermutlich hatte er bloß keine Lust, ihn wieder in den Käfig zu locken, oder — noch wichtiger — gönnte er ihm einfach den Spaß nicht. Es war ein merkwürdig grausamer Zug in Ramóns Beziehung zu dem kleinen Gefangenen, dem er keinerlei Freude gab und von dem er sich auch keine geben ließ — eine Mischung aus Sadismus und Masochismus, dachte Theodore, der das Gefühl hatte, Ramón sehe sich selber in dem kleinen Tier.
Ramón war jetzt auf den Knien und kroch zum Sofa hinüber, wobei er bittend einen Finger ausstreckte. Der Vogel — reizend anzusehen, klein und blau vor dem Hintergrund des dunkleren Sofas — hüpfte auf der Lehne entlang. Ramón schien irgend etwas beweisen zu wollen, dadurch, daß der Papagei zu ihm kam oder nicht kam.
Er flüsterte: »Vogel, Vogel!« und machte ein leises Geräusch mit den Lippen. »Pájaro, pájaro! — Pájaro!«
Theodore und Arturo beobachteten ihn. Langsam kroch Ramón auf den Knien weiter. Der Vogel blickte ihn argwöhnisch an und hüpfte weiter weg.
»Du kannst nicht erwarten, daß er jetzt kommt, wenn du nie mit ihm geübt hast, Ramón«, sagte Theodore.
Geschlagen sank Ramón zurück auf die Fersen.
Theodore legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ramón, du brauchst Schlaf. Du kannst gern hier bei mir bleiben heute nacht.« Er sah, wie Arturo zustimmend nickte.
Ramón legte den Kopf auf das Sofa und begann lautlos zu weinen.
»Heute ist es wirklich schlimm«, flüsterte Arturo. »Er ist eigentlich jeden Abend so, aber nicht so schlimm. Immer bittet er mich um Verzeihuhg. Auch in der Kirche bittet er um Vergebung. Ich wollte ihn zu mir holen, in meine Wohnung, aber er will nicht, Teodoro!« Arturo faßte ihn am Arm und sagte leise und drängend: »Sagen Sie ihm ja nicht, es sei zu seinem Besten — irgend etwas sei zu seinem eigenen Besten. Oder etwas werde ihm helfen. Verstehen Sie?«
Theodore nickte. Er hatte verstanden.
»Das faßt er immer falsch auf«, fügte Arturo hinzu.
Theodore holte tief Luft. Dann ging er auf Ramón zu, hob ihn vom Boden auf und setzte ihn auf das Sofa. Er knöpfte ihm das Jackett und Hemd auf und löste den Schlips. »So — du bleibst heute nacht bei mir, Ramón«, sagte er freundlich. »Komm, wir gehen jetzt nach oben.«
Arturo half ihm. Ramón schien willig mitzukommen, nur hatte er gar keine Kraft mehr und wäre einfach hingefallen, wenn die beiden Männer ihn nicht gestützt hätten. Inocenza kam aus ihrem Zimmer und sah Theodore fragend an; sie war angezogen und hatte das lange Haar zurückgebunden.
»Don Ramón!« Sie wollte ihn begrüßen, hielt jedoch an, als sie die schlaffe Gestalt erblickte.
»Er ist sehr müde und wird heute nacht bei uns bleiben«, erklärte ihr Theodore. »Könnten Sie wohl das Bett im Gastzimmer schnell zurechtmachen, Inocenza? Und aus meinem Schlafzimmer einen Pyjama holen?«
»Sí, Señor!« sagte sie und eilte ihnen in das Gastzimmer voraus.
Besser kein Bad, dachte Theodore. Er überließ es Arturo, ihm in den Pyjama zu helfen, und ging hinüber in sein eigenes Bad, wo er ein Schlafmittel holte und ein Glas mit Wasser füllte aus der Karaffe neben seinem Bett. Dann ging er wieder nach nebenan ins Gastzimmer. Ramón saß auf dem Bettrand, nackt bis zum Gürtel, die kräftigen Schultern waren nach vorn gesackt wie bei einem Boxer, der sich ausruht. Arturo zog ihm eben die Schuhe aus. Ramón hob endlich einen Fuß und streifte die Socke ab.
»Hier, Ramón, nimm das«, sagte Theodore und hielt ihm die ausgestreckte Hand mit der gelblichen Pille hin. »Danach wirst du schlafen können.«
Ramón nahm die Pille und trank etwas Wasser. Aber als er im weißen Pyjama zwischen den blaßblauen Laken lag, blickte er nach oben an die Decke und das Gesicht nahm einen angestrengten Ausdruck an, als habe er die Augen auf einen Punkt gerichtet, der stets vor ihm lag.
»Morgen wird’s ihm schon besser gehen«, meinte Theodore.
»Ach ja, ganz sicher — in so einem schönen Zimmer!« Arturo blickte sich lächelnd um.
Theodore war der gleichen Ansicht; er wollte die Vorhänge öffnen, damit Ramón morgens als erstes die helle Morgensonne sah, doch dann unterließ er es, weil er dann vielleicht zu früh aufwachte. Er verstellte den Lampenschirm auf dem Nachttisch, so daß das Licht Ramón nicht ins Gesicht schien. Inocenza stand im Hintergrund und betrachtete Ramón. Theodore winkte sie in die Diele und sagte leise:
»Er bleibt vielleicht ein paar Tage hier. Seien Sie nett zu ihm, er ist sehr deprimiert. Wir wollen zusehen, daß er ein bißchen Mut faßt.«
»Sí, Señor.« Inocenza nickte.
»Der Vogel ist unten im Wohnzimmer, frei. Sehen Sie doch bitte zu, daß Sie ihn wieder in den Käfig kriegen, und dann lassen Sie Leo aus meinem Arbeitszimmer raus, ja?«
Das Telefon klingelte.
»Nein, lassen Sie, Inocenza«, sagte Theodore hastig. »Und vielen Dank.«
Inocenza sah ihn einen Augenblick erstaunt und fast furchtsam an.
»Rr-ring rrr—ring« klingelte das Telefon.
15
Juana, Josefina Martinez’ Dienstmädchen, öffnete Theodore die Tür, und er begrüßte sie wie immer mit einem Lächeln, einem Händedruck und ein paar freundlichen Worten. Es war, als sei nichts geschehen, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Aber Juana war nicht so wie sonst. Sie war seit dreiunddreißig Jahren in der Familie, und Lelia war für sie wie eine nahe Verwandte gewesen.
»Die Señora ist noch nicht ganz fertig«, sagte sie jetzt. »Bitte nehmen Sie Platz, Don Teodoro. Sie wird in einer Minute hier sein.«
Theodore setzte sich in den dunkelroten Plüschsessel und ließ beim Warten die Blicke über das altmodisch-gemütliche, bürgerliche überfüllte Wohnzimmer wandern: Schoner, Blumentischchen, Bilder und Fotos überall an den Wänden, dazu auch noch eine riesige Spinnenpflanze, die sich über den Fußboden verbreitete und dem Ganzen einen Hauch von Dschungel gab. Die Wohnung glich einer Festung, die sich jeder Veränderung widersetzte. Seit er sie kannte, war noch viel hinzugekommen, aber kein Stück entfernt worden. Er entsann sich, wie er und Lelia gelächelt hatten, als er zum erstenmal herkam und sich umgesehen hatte.
Zehn Minuten vergingen, bis Josefina kam. Theodore sprang auf und beugte sich über ihre Hand. Sie trug einen langen und tadellos eleganten Hausmantel, war gut frisiert und hatte Lippenstift und Mascara aufgelegt.
»Setzen Sie sich doch, mein lieber Teo. Trinken Sie eine Tasse Kaffee?«
»Nein, danke schön, Josefina.«
»Oder was anderes? Einen Whisky?«
»Danke wirklich, ich möchte gar nichts.«
»Ah«, seufzte sie und setzte sich. Die rundlichen Hände lagen mit den Handflächen nach unten in ihrem Schoß. »Jetzt wohnt Ramón also bei Ihnen.«
»Ja.«
»Tt-tt. Es ist doch unglaublich, Teo.«
»Was ist unglaublich?«
»Unsere Gerichte. Unsere Polizei mit ihren Psychiatern.« Die großen dunklen Augen voll fraulicher Weisheit, aber ohne jede Logik, blickten sich ungeduldig im Zimmer um. »Sie können sich darauf verlassen: er wird Ihre Güte nur ausnutzen und dann vielleicht auch noch Sie umbringen!«
Theodore beugte sich etwas vor. »Liebe Josefina, ich glaube, wir sollten uns der Ansicht der Polizei und der Psychiater anschließen. Sie haben Ramón in der letzten Zeit nicht gesehen. Er ist ein Opfer seiner eigenen Besessenheit. Seine Geschichte stimmt nirgends. Deshalb haben sie ihn freigelassen. Und jetzt will …«
»Daß sie nicht stimmt, behaupten doch nur die Psychiater! Aber Sie und ich, wir kennen ihn, Teo.« Ihre Stimme nahm einen schrillen Ton an. »Ich finde, er soll bezahlen — er muß bezahlen für das, was er getan hat. Er hat ja auch gestanden. Ich begreife nicht, daß sie ihn freigelassen haben. Ich habe an den Staatspräsidenten geschrieben, Teo. Soll ich Ihnen die Kopie zeigen?«
Theodore wollte abwehren oder wenigstens die Sache aufschieben, aber sie war schon auf dem Wege in ihr Schlafzimmer. Er versuchte, sich seine Fakten und Gründe ins Gedächtnis zurückzurufen; aber er wußte, gegen Josefina kam er doch nicht an. Immerhin, diesen Besuch hatte er machen müssen. Josefina hatte ihn morgens angerufen und war entsetzt, als sie hörte, daß er Ramón bei sich aufgenommen hatte.
Jetzt war sie zurück und hielt den Brief in der Hand, zwei maschinengeschriebene Seiten, und bevor er zu lesen begann, blickte Theodore unwillkürlich auf die Schrifttypen, um festzustellen, ob das t schräg war und das e etwas vorstand: das waren die von Sauzas notierten Merkmale der Maschine, auf der die Postkarte aus Florida getippt worden war. Dann begann er mit höflicher Aufmerksamkeit zu lesen. Natürlich war es eine voreingenommene Verurteilung von Ramóns Charakter, doch konnte ihr Theodore das unter den gegebenen Umständen nicht übelnehmen. Merkwürdig, wie Josefinas vehemente Worte es verstanden, ihn fast umschwenken zu lassen, so daß er Ramón nicht mehr für unschuldig hielt; doch er kam zur Besinnung, als sie behauptete, sie habe ihm eine solche Tat schon immer zugetraut. Er wußte, das war nicht wahr, sie hatte ihn früher sehr gern gehabt, vielleicht noch lieber als ihn, Theodore, weil Ramón ihr Landsmann war. Der Rest des Briefes war nur noch eine rhetorische Klage über die Unfähigkeit der mexikanischen Justiz, der Polizei und der Detektive. Auch die »hochgelehrten Medizinmänner«, die Psychiater, wurden nicht verschont.
»Einverstanden?« fragte Josefina.
»Zuerst war ich genau Ihrer Meinung, liebe Josefina. Wirklich.«
»Und jetzt?« Offenbar nahm sie an, ihr Brief habe ihn von der Richtigkeit ihres Standpunktes überzeugt.
»Ich sagte schon, ich habe mit Ramón gesprochen. Seine Geschichte stimmt nirgends —«
»Das will er Ihnen doch bloß einreden!« rief sie schrill und erhob den Zeigefinger. »Und es scheint ihm auch schon gelungen zu sein!«
Juana, die sich nach den langen Dienstjahren so etwas erlauben durfte, stand im Türrahmen und hörte zu.
»Nein, im Gegenteil, Josefina. Wir sollen ja glauben, daß er es getan hat!« sagte Theodore ruhig. »Er fühlt sich ganz elend und deprimiert, weil ihm niemand glaubt. Nicht mal die Kirche will ihn bestrafen, erst wenn er tot ist, meint er.«
»Da können Sie sicher sein, Gott wird ihn strafen!«
»Ja, das denkt er auch. Aber das genügt ihm jetzt nicht. Josefina, glauben Sie mir: wenn man ihn anhört, kann man fast glauben, was er sagt: daß er es getan habe.« Theodore beugte sich vor, er sprach langsam und gestikulierte mit den Händen, um zu unterstreichen, was seine Worte nicht überzeugend zu sagen vermochten.
Ein verlegenes Schweigen stand im Raum. Er hörte Josefinas erregtes Atmen. Dann schlug eine Uhr in ihrem Schlafzimmer: »Kuck-uck! Kuck-uck! Ku-ckuck!« Nach einer kurzen Pause sagte Theodore:
»Ja, Josefina, ich kann nicht mehr sagen, als daß ich Ramón nicht für schuldig halte. Ich glaube eher, er ist niedergeschmettert vor Kummer.«
»Ha!« Josefina blickte quer durch das Zimmer aus dem Fenster.
Theodore sah auf seine verschränkten Hände. »Nun — ich bin nicht hergekommen, um Sie zu meinem Standpunkt zu bekehren, Josefina. Was ich glaube, ist allein meine Ansicht.« Und wie weit würde er mit seiner passiven Haltung kommen, dachte er. Wo war sein Mut? Warum sollte er nicht jemanden zu überzeugen versuchen, wenn er seine Überzeugung für richtig hielt? Und er war doch zu neunzig Prozent von Ramóns Schuldlosigkeit überzeugt … Hinter Josefina hing an der Wand ein ovales Porträt, ein Foto in ovalem Holzrahmen, das er sekundenlang anstarrte. Vielleicht war sein Blick darauf gefallen, weil die Form so ähnlich war wie der ovale Anhänger an Lelias Halsbahd; doch auch als ihm das klar wurde und er wußte, daß das Anstarren ihm gar nichts nützte, ließen die Augen das kleine Bild nicht los — als ob die Form ihm ein Geheimnis mitzuteilen habe.
»Juana, por favor, eine Tasse Kaffee«, sagte Josefina schließlich, hob die Hand und ließ sie wieder fallen. Entgegen der Warnung ihres Arztes trank sie täglich mindestens ein Dutzend kleine Tassen starken Kaffee. »Wenn Ramón es nicht getan hat, wer hat es dann getan?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er. Dann erinnerte er sie an die Postkarte aus Florida; jeder konnte sich aus den Zeitungen Inéz Jacksons Namen und ihren Wohnort in Florida verschafft haben. Er erinnerte sie, daß man niemals Lelias Schlüssel gefunden hatte und daß auch Ramón der Polizei nicht hatte sagen können, was er — vielleicht — damit getan hatte. Er erzählte ihr auch von den stummen Telefonanrufen, von denen zwei gekommen waren, während Ramón im Gefängnis oder in Theodores Haus gewesen war. Josefinas Augen weiteten sich, vielleicht kamen ihr einige Zweifel, er wußte es nicht. Er wußte nur, daß die Zweifel nicht genügten, um sie umzustimmen.
Als der Kaffee kam, wußte Theodore, daß er ihr nur einen einzigen Satz mit wirklicher Überzeugung sagen konnte. »Josefina, Ramón und ich waren immer gute Freunde. Da ich mehr zu der Annahme neige, daß er unschuldig ist, muß ich auch jetzt noch sein Freund sein.« Sein Spanisch klang ungelenk, und er sah, daß er Josefina nicht überzeugt hatte.
»Wieso: neige? Sie sind also nicht überzeugt? Weil Sie nämlich im Grunde wissen, daß er es doch getan hat.«
»Nein, das stimmt nicht, das weiß ich nicht, und selbst wenn ich es wüßte …«
»Ich weiß, seinen Feinden soll man vergeben…« Sie zuckte die Achseln. »Das ist schwer, wenn das Opfer das eigene Fleisch und Blut und das Verbrechen so unmenschlich scheußlich ist. Teo, Sie sind doch nicht dumm, Sie sind nur naiv und viel zu großzügig. Wenn Sie ihn nicht für schuldig halten, dann müssen Sie doch glauben, daß er verrückt ist, wenn er gesteht. In jedem Falle ist es ein gefährlicher Mensch, den Sie da unter Ihrem Dach haben.«
»Darüber bin ich mir klar«, sagte Theodore.
16
Der Psychiater kam um Viertel nach vier, eine Viertelstunde später als vereinbart. Er hieß Dr. Cervantes Loera, und er war von Theodores Arzt, der ihn für; »elastisch, fortschrittlich und experimentell geübt« hielt, für gerade diese Art von Behandlung empfohlen worden. Er war untersetzt, etwa 45 Jahre alt und hatte einen schwarzen Schnurrbart und eine Brille. Er sollte als potentieller Käufer für eins von Theodores Bildern auftreten und Ramón als Señor Cervantes vorgestellt werden.
Als Loera ins Wohnzimmer trat, war Ramón oben. Er sah sich um und fragte, welches Theodores Bilder seien — gerade als sei Rämón mit anwesend.
»Ich habe ihn gebeten herunterzukommen«, sagte Theodore. »Vielleicht kommt er von selber. Inocenza, Sie können jetzt den Tee bringen.«
Als Tee und Keks auf dem Tisch standen und Ramón immer noch nicht erschienen war, ging Theodore nach oben.
»Ich möchte lieber nicht hinunterkommen, Teo, danke schön«, sagte Ramón. Er saß im Gastzimmer neben dem Bücherregal in einem Sessel und besah sich ein Buch auf seinem Schoß.
»Schön, Ramón. Aber ich darf ihn doch heraufbringen, damit er sich hier ein paar Bilder ansieht, nicht wahr?«
»Hier herein?« fragte Ramón stirnrunzelnd.
»Ja. Er soll sich diese beiden Bilder ansehen«, sagte Theodore und stieg wieder nach unten.
»Na schön, dann gehen wir nach oben«, sagte Dr. Loera, als Theodore ihm von der Unterredung berichtet hatte.
Sie nahmen ihre Teetassen und stiegen nach oben in Theodores Atelier, wo sich der Psychiater einige Minuten lang die Gemälde an den Wänden und das gerade in Arbeit befindliche Bild auf der Staffelei ansah. Die großen ruhelosen Augen des Arztes sahen alles. Theodore ging ungeduldig hin und her; er konnte es kaum erwarten, bis der Arzt Ramón gegenübertrat.
»Kommen Sie, wir gehen einfach rüber«, sagte Dr. Loera.
Theodore führte ihn in das Gastzimmer, dessen Tür offenstand. Ramón sah überrascht von seinem Buch auf.
»Señor Cervantes«, stellte Theodore vor. »Mein Freund Ramón Otero. Ramón, dies ist der Herr, der sich für meine Bilder interessiert.«
Ramón nickte, murmelte ein paar Worte und erhob sich mit dem Buch.
»Sind Sie auch Maler?« fragte Dr. Loera, was Theödore für einen Fehler hielt, denn die Zeitungen hatten dafür gesorgt, daß Ramóns Name der Öffentlichkeit bekannt war.
»Nein«, erwiderte Ramón.
Dr. Loera schlenderte zu der Wand hinüber, an der eins von Theodores seltenen, aber schönen Blumenstücken hing. »Ein wirklich freundliches Zimmer, nicht wahr«, sagte er.
Ramón nickte. Er beobachtete den Arzt und lenkte seine Schritte so, daß er ihn die ganze Zeit ansah. Dann warf er das Buch auf das Bett und verließ das Zimmer. Man hörte ihn die Treppe hinuntergehen.
Theodore sah Dr. Loera an, der die Achseln zuckte. Davon hatte Theodore allmählich genug. »Was …«
»Was denn, wir gehen ihm nach«, sagte Dr. Loera mit offenem Lächeln.
Sie gingen nach unten und traten mit der Miene gleichgültiger Nachlässigkeit an den Cocktailtisch, auf dem die Teesachen standen. Ramón stand am anderen Ende des Raumes, das als Eßnische diente.
»Mich interessieren eigentlich die abstrakten mehr«, sagte der Psychiater. »Vor allem das gelbe. Würden Sie das verkaufen?«
»Ich weiß nicht recht. Es ist eins meiner letzten.«
»Sie hatten sehr gute Kritiken in der Ausstellung im letzten Herbst«, sagte Dr. Loera liebenswürdig. »Das weiß ich noch. Ich habe auch die Ausstellung gesehen. Das war doch die, in der auch Dosamantes ausgestellt hat, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Theodore. Seine drei Bilder für die Ausstellung hatte damals Lelia ausgesucht.
»Dosamantes«, murmelte Ramón und berührte mit den Fingern den Rand eines runden Holzbretts, auf dem der Rest eines großen Kuchens stand.
Langsam ging Dr. Loera auf Ramón zu, der um die Tischecke herum etwas zur Seite trat. Der Arzt tat so, als besehe er ein Gemälde — eine alte Gravur — über dem Sideboard. Dann sah er den weißen Zuckergußbogen des Kuchens auf dem Holzbrett an und sagte: »Das muß aber ein mächtiger Kuchen gewesen sein. Ein Hochzeitskuchen vielleicht?«
Theodore machte sich auf eine Reaktion von Ramón gefaßt und sagte: »Ein Bäcker, den wir kennen, Alejandro Nuñez, hat ihn gebracht. Er hat ihn zum Andenken an unsere verstorbene Freundin, Lelia Ballesteros, gemacht.«
Ramón starrte Theodore an, als habe er noch nie ein Wort von dem Kuchen gehört. Oben auf der Platte hatte eine Figur von Lelia in rosaweißem Zuckerguß gestanden, und rund herum war in blauem Guß ein gefühlvoller Vers geschrieben.
»Hast du nichts davon gegessen, Teo? Es war doch gut gemeint, das Geschenk, nicht wahr?« fragte Ramón. »Ja, natürlich, und ich habe auch etwas davon gegessen. Aber er ist jetzt zwei Wochen alt. Ich habe dir doch erzählt, daß Alejandro ihn gebracht hat, Ramón.«
Ramón starrte den Kuchen verwundert an. Ob er überlegte, wo die Zuckergußfigur geblieben war? Theodore hatte sie eines Tages weggenommen, als niemand im Hause war, weil er den törichten roten Mund und die dunkelblauen Haarsträhnen, die Lelias schwarze Haare darstellen sollten, nicht mehr ertragen konnte.
»Señor, Teo — ich bitte um Entschuldigung«, sagte Ramón abrupt und verließ den Raum.
Dr. Loera trank seinen kaltgewordenen Tee aus und lehnte eine zweite Tasse freundlich ab.
Theodore wartete ungeduldig, bis sie beide draußen waren und ungestört reden konnten. Er ging mit dem Arzt auf dem Gehweg auf und ab, wo sich der Arzt anscheinend überlegte, was er sagen wollte.
»Und nun erwarten Sie von mir weise Worte, die ich Ihnen nicht sagen kann«, sagte Dr. Loera schließlich.
»Ich erwarte nur etwas — irgend etwas.«
»Wissen Sie, ich hätte drinnen sagen können, daß ich von der Tragödie gehört habe — ich meine von dem Tode Ihrer gemeinsamen Freundin. Aber ich dachte mir, wenn er Verdacht schöpfte, hätte es ihn sicher gegen Sie eingenommen. Er scheint ja ein äußerst mißtrauischer Mensch zu sein. Paranoid vielleicht. Sicher nicht einfach im Umgang.«
»Nein, bestimmt nicht. Er schwankt immer zwischen Unterwürfigkeit und Arroganz, aber meist ist er geradezu demütig. Er findet, er habe nicht das Recht, mit am Tisch zu essen.«
»Seien Sie nur nicht selber allzu demütig. Behandeln Sie ihn, als sei er normal. Reden Sie nicht absichtlich von Sachen, die ihn deprimieren oder erregen, aber nehmen Sie ihn ja nicht als Kranken. Dadurch wird es nur schlimmer, er tut sich noch mehr leid und sieht seine Schuld noch größer. Er hat einen geradezu unersättlichen Schuldkomplex. Verstehen Sie?«
Natürlich verstand Theodore das. Er wollte etwas anderes wissen.
Gelassen sprach der Arzt weiter. »Er meint, er habe Ihnen Unrecht getan, weil er die Frau umgebracht hat, die Sie beide liebten. Sein Gefühl für Sie ist zwiespältig. Er möchte Ihnen weh tun, weil er sich so schämt, und er möchte sich ebenfalls entschuldigen und gutmachen, was er Ihnen angetan hat.«
»Glauben Sie, daß er mir etwas antun wird?«
»Physisch wohl nicht, aber es gibt noch andere Wege. Und durch die Ambivalenz wird er vielleicht gar nichts tun.« Mit gesenktem Kopf und großen Schritten ging Dr. Loera auf dem Gehweg auf und ab. »Das ist das Problem, vor dem Sie jetzt stehen, aber es ist nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtbild. Glauben Sie mir, Señor, ich hätte gern mehr Zeit mit ihm verbracht, aber das wäre kaum möglich gewesen, wenn er nicht den Eindruck gewinnen sollte, daß ich ihm durch das ganze Haus nachjage, nicht wahr?« An der Ecke blieb der Arzt stehen. »Und nun muß ich mich verabschieden — ich habe noch eine Verabredung.« Er winkte einem Taxi. »Es hat mich sehr interessiert, Ihren Freund kennenzulernen, Señor, und auch Ihre Bilder zu sehen. Adiós.«
»Adiós.« Theodore sah ihm nach, wie er das Taxi bestieg und die Tür zuschlug. Er hätte seinen Arzt informieren sollen, daß er selber Dr. Loeras Besuch zu bezahlen wünschte; das hatte er nicht getan. Nun, er würde schon eine Rechnung schicken. Theodore wandte sich um. Einen Häuserblock weiter ging gerade der magere Junge über die Straße und blickte zu ihm herüber; er trug immer noch ein Päckchen unterm Arm. Er müßte seine Schals jetzt mal in einer andern Gegend anbieten, dachte Theodore. Er ging nach Hause. Viele »wenn« und »vielleicht« gingen ihm durch den Kopf, auf die er keine Antwort wußte und die ihn deshalb peinigten. Er hatte den Arzt fragen wollen, ob er es für ratsam hielt, wenn man Ramón zu einer Karnevalsparty drängte; aber er hatte vergessen zu fragen, und nun kam es ihm völlig belanglos vor, so wie Ramóns gemurmeltes »Dosamantes«, das »zwei Liebhaber« hieß.
Ramón stand noch im Wohnzimmer, wo Inocenza den Tisch abräumte.
»Wer war das?« fragte Ramón.
»Ein Señor Cervantes. Ich kannte ihn nicht vorher.«
»Hat er was gekauft?«
»Ich glaube, er will das gelbe kaufen.«
»Für wieviel?«
»Sechstausend Pesos.«
Ramóns Augen weiteten sich, aber er sagte nur: »Ist das alles?«
»Ich bin nicht Picasso. Und wir sind in Mexiko.« Und ich bin noch am Leben, wollte Theodore hinzufügen, unterließ es aber.
»Ich traue ihm nicht. Ich finde, er sieht nicht ehrlich aus.«
Theodore zündete sich eine Zigarette an; ihm war plötzlich unwohl und rastlos zumute. »Na, es ist ja ein einfaches Geschäft, wenn es dazu kommt. Du brauchst ihn nicht wiederzusehen.«
Ramón stellte den Plattenspieler an, wählte sorgfältig aus dem Debussy-Album eine Platte aus und legte sie auf. Es war eine der Etüden, die er besonders gern hatte; diese und zwei andere spielte er immer wieder.
»Morgen abend gibt Olga ihre Party«, sagte Theodore, kurz bevor die Etüde beendet war. Obwohl es eine Langspielplatte war, hörte sich Ramón immer nur das eine Stück darauf an. »Hast du Lust hinzugeben?«
»Eine Karnevalsparty? Gehst du denn hin?«
»Ja, ich wollte eigentlich. Sie möchte sehr gern, daß ich komme, und ich brauche ja nicht lange zu bleiben. Inocenza soll auch hinkommen und beim Servieren helfen.«
»Und du gehst in Begleitung?« fragte Ramón ungläubig.
»Nein. Aber du brauchst durchaus nicht hinzugehen, Ramón.« Er lächelte. »Komm mit nach oben, ich will dir was zeigen.«
Zögernd ging Ramón mit.
In seinem Zimmer nahm Theodore ein Paket aus dem Schrank. »Sieh her — Kostüme. Ich habe sie gestern gekauft. Wir müssen nämlich Kostüme tragen. Für mich habe ich ein Känguruh — wie findest du das? Das paßt doch gut zu meinen großen Füßen, nicht wahr?« Er hob die langen Stoffüße hoch, die mit Pappsohlen verstärkt waren. Der Kopf hatte runde Löcher, durch die man hindurchsehen konnte, und eine Schnauze, die lächelte. »Das andere Kostüm ist ein Clown, dazu kann man aber jede Art von Maske tragen. Sieh dir mal die Masken an.« Er öffnete eine Papiertüte und zog eine Gorillamaske und ein Katzengesicht mit Gummischnurrbart hervor. »Komm, such dir eine aus. Aber du brauchst auch nicht zu kommen, wenn du nicht willst.«
»Ach, eine Maske ist so gut wie die andere«, sagte Ramón. Im Lampenlicht sah seine blasse Stirn wie aus Marmor gemeißelt aus. »Lange fällt doch keiner darauf rein.«
17
Das Haus der Velasquez war nicht sehr groß, und es überraschte Theodore, daß sich so viele Gäste hatten hineinzwängen können. Sie tanzten überall, auch in der Diele, und eine Vier-Mann-Kapelle spielte dazu im Wohnzimmer kubanische Musik. Mehrere der Tanzenden winkten ihnen fröhlich zu. Es gab nur Kerzenlicht, und überall roch es nach Weihrauch, Gardenien und den verschiedenen Parfüms der Frauen.
Ramón betrachtete die Menge mit kindlichem Vergnügen durch seine Clownsmaske.
Theodore suchte Constancia, die einzige, die er erkennen konnte, und sagte: »Wo ist Señora Velasquez?«
»Señor oder Señora?« schrie Constancia.
»Señora!«
Constancia sah sich um und zeigte mit dem Finger auf eine Gestalt. »Die Maus da!« lachte sie.
Theodore nahm Ramón beim Arm und führte ihn zu der kleinen grauen Maus, die auf einer Sessellehne saß. »Olga? Guten Abend. Theodore.«
»Ah!« Olga breitete die Arme aus. »Señor Känguruh!« Sie zog an der schlaffen Beuteltasche seines Kostüms. »Und Ramón?«
»Nein, da drin nicht!« sagte Theodore heiter. »Hier ist er. Ramón, hier ist unsere Gastgeberin.«
Ramón beugte sich höflich über die graue Mäusepfote.
»Hören Sie, Theodore, die Hidalgos sind auch hier, aber ich kann sie jetzt nicht sehen. Hier Sind Señor und Señora Carvajal — Señor Schiebelhut«, sagte Olga und wies mit freundlicher Geste auf die Leute neben sich. »Señora Guzman —«
»Nein!« protestierte die Gestalt im Falsett. »Ich bin Señora Jimenez!« Alle lachten.
»Na, heute abend ist es ja egal, wer wir sind«, sagte Olga. »Jetzt hören wir auf mit dem Vorstellen. Zu trinken gibt’s im Garten, Theodore. Gehen Sie nur hinaus und sagen Sie Bescheid, was Sie haben möchten. Mir ist jemand beim Tanzen auf den Fuß getreten, und ich kann mich noch nicht wieder bewegen.«
»Ach — ist es schlimm?« fragte Theodore bedauernd und beugte sich über ihren Fuß.
»Aber nein, ich bin bloß faul. Holen Sie sich nur was zu trinken, und dann können Sie wiederkommen und mit mir tanzen!«
Im Garten war das Gedränge der Tanzenden noch größer. Unkenntliche Gestalten tobten und wirbelten herum wie Derwische. Es schien unglaublich, daß dieser Irrsinn die ganze Nacht anhalten würde, und doch war es so, in der ganzen Stadt. Dies war die dritte der vier Karnevalsnächte, und erst am Tag nach der letzten Nacht gaben die Menschen zu, müde zu sein. In den letzten Nächten war der Straßenlärm — Hupen, Singen, eilige Schritte — bis in Theodores Fenster gedrungen. Diese Party war in diesem Jahr die erste, die er mitmachte; es kam ihm vor, als ob die ganze vorhergehende Aufregung in den Straßen, alle Kostüme, die man tagsüber in den Schaufenstern sah, sich hier in diesem Hause zu einer großen Explosion versammelt hätten.
»Hier, Ramón, trink!« Er gab Ramón einen Becher mit Punsch und einen Strohhalm. Ramón suchte den Spalt zwischen den Clownslippen und steckte den Strohhalm hinein.
»Auf den Karneval!« sagte Theodore.
»Auf den Karneval!«
»Bist du das, Eduardo?« fragte eine zierliche Gestalt und legte Ramón die Hand auf den Arm.
»Nein«, erwiderte Ramón und schüttelte den Kopf. Die kleine Figur — ein zierliches grünes Tier mit Schwanz — tanzte ins Haus. Vier Mädchen — bezaubernde Figuren in gelblichen Bunnykostümen — tanzten einen Ringtanz zusammen, der gar nichts zu tun hatte mit dem Rumba, den das Orchester gerade spielte. Auch Ramón sah ihnen zu, wie sie mit den gelben Ohren flappten und tanzten, an den Füßen nur den Filz der Kostüme — ein Bild wie aus einem alten Märchenbuch, phantastisch, geschlechtslos und ein wenig von Sinnen. Daß es Mädchen waren, erkannte man nur an den kleinen Füßen. Einige große Männer waren auch in Frauenkostümen erschienen.
Jetzt kam das grüne Mädchen zurück. »Du mußt doch Eduardo sein. Du machst bloß Spaß mit mir«, sagte sie klagend und blickte zu Ramón auf. ’ »Sag mal was!«
»Wer bist du denn?« fragte Ramón.
»Nanetta«, erwiderte sie. »Und du?«
»Pablo«, sagte Ramón.
»Und wer bist du?« Das kleine Eselsgesichtchen blickte zu Theodore auf.
»Francisco«, gab er zur Antwort und verbeugte sich.
Das Mädchen sah immer noch Ramón an, obwohl sie an seiner Stimme gehört haben mußte, daß sie nicht ihren Eduardo vor sich hatte.
»Wollen wir tanzen?« fragte Theodore.
Sie breitete schnell die Arme aus.
»Entschuldige mich, Pablo«, sagte Theodore und ging mit dem Mädchen auf den Wohnraum zu.
Zum Unterhalten war es viel zu laut, und außerdem war das Mädchen erheblich kleiner als Theodore. Ihm wurde jetzt wohl zumute. Ramón würde sich sicher auch amüsieren heute abend, dachte er. Etwas war mit ihm geschehen, in dem Augenblick, als er das Maskenkostüm anzog. Es war, als gebe man seine Persönlichkeit auf, sogar ein wenig vor sich selber.
»Tanzt du gern?« fragte das Mädchen jetzt.
»Ja.«
»Magst du gern Parties?« Sie tanzte sehr nahe, der feste kleine Körper bog sich und folgte seinen Schritten, und dabei überschüttete sie ihn mit Fragen. Was war das für ein Akzent, mit dem er sprach? War er wirklich so groß, oder ging er auf Stelzen? »Hier ist noch ein Mann auf Stelzen; heute abend«, sagte sie. »Draußen im Garten, ich habe ihn gesehen.«
Theodore blickte hin und sah, daß sie recht hatte; es war ein Mann im Kostüm des Uncle Sam. »Wartest du noch immer auf Eduardo?«
»Nein.« Sie lachte.
»Bist du allein hergekommen?«
»Nn-nein«, sagte sie mit etwas seltsamer Betonung. »Mit einem Freund. Da drüben, der afrikanische Häuptling.« Sie wies mit dem Kopf auf eine Gruppe, und Theodore sah einen dicken Mann in schokoladenfarbigen engen Hosen mit Zylinder, Zigarre und einem Ring durch die Nase. »Mein Onkel«, sagte sie und lachte.
Theodore lachte ebenfalls; er glaubte ihr kein Wort. »Bist du hübsch?« fragte er.
»Ob, sí-í«, gab sie spöttisch zur Antwort.
Aber selbst wenn sie ein hübsches Gesicht hatte: Theodore wollte es gar nicht sehen. Er zog sie noch näher zu sich heran und sah sich dann nach Ramón um; aber es waren mindestens drei Clowns in genau dem gleichen Kostüm wie Ramóns da. Die Mädchenhand preßte sich in seinen Rücken.
Mitternacht ging vorüber. Theodore holte sich mehrere Highballs und stellte sie auf dem Kaminsims im Wohnzimmer ab, wo sie dann wieder verschwanden, während er mit Olga tanzte oder mit einer andern Mädchengestalt oder mit Nanetta, die ihm überallhin folgte. Jemand hatte seinen Schwanz hochgesteckt, damit er ihn nicht über den Arm legen mußte oder beim Tanzen über ihn stolperte. In einer Zimmerecke, wo jeder sie sehen konnte, legte ihm dann Nanetta die Arme um den Hals, drückte sich fest an ihn und sagte: »Francisco, ich liebe dich.« Sie küßten sich, die Känguruh- und Eselsschnauzen trafen aufeinander.
Peinlich berührt merkte Theodore, daß Ramón im Türeingang stand und ihnen zusah — jedenfalls hielt er die Gestalt für Ramón.
»Ist das vielleicht dein Freund Eduardo?« fragte er Nanetta und wies auf den Clown in der Tür.
»Oh nei—in«, sagte die kleine atemlose Stimme. »Eduardo ist größer als der.«
Theodore wußte nie, ob sie sich über ihn lustig machte. Er ging auf den Clown zu und fragte: »Ramón?«
Die Gestalt antwortete nach kurzem Zögern und nickte: »Sí.«
»Hast du schon mit Olga getanzt?«
»Nein.«
Ramón hatte immer gern getanzt, und er tanzte sehr gut.
»Sie steht drüben am Kamin«, sagte Theodore.
Der Clown lehnte immer noch am Türrahmen. Er ließ jetzt die verschränkten Arme fallen, und Theodore sah, daß es gar nicht Ramón war.
»Teo — ich bin es, Carlos«, sagte der Clown mit tränenerfüllter und kaum kenntlicher Stimme.
»Aber was fehlt dir denn, mein Alter?« Theodore klopfte ihm auf die Schulter, doch ihm fehlte offenbar nichts, er hatte nur zuviel getrunken.
Carlos legte seine Hand auf Theodores Arm und senkte das Clownsgesicht. Er schluchzte kurz auf, schnüffelte und hob dann den Kopf.
»Carlos, möchtest du Kaffee haben? Ich kann sicher welchen auftreiben. Ich werd mal Constancia fragen.«
»Nein!« blökte Carlos. Er gab sich einen Ruck von der Tür weg und taumelte.
Plötzlich war Isabel da; Theodore erkannte sie an der Größe und an der Gangart. Sie faßte Carlos fest am Arm. »Teo — entschuldige. Da siehst du es: er geht nie ohne einen Drink von zu Hause weg, und dann kommt es so…« mit verlegenem Lachen brach sie ab.
»Laß nur, Isabel. Wie wär’s denn mit Kaffee — soll ich das Mädchen fragen?«
»Nein, Teo, ich hole ihn schon, vielen Dank.« Sie nahm Carlos am Arm und beide verließen den Raum. Theodore sah ihnen nach. Carlos hatte ihm damals versprochen, ihn anzurufen, wenn er mal einen freien Abend hatte; das hatte er nie getan. Theodore hatte ihn noch vieles fragen wollen aus der Zeit kurz vor dem Mord, als er verreist gewesen war. Nun, heute abend war ein solches Gespräch nicht möglich.
Er wandte sich um und sah Olga, die ihm winkte. »Teodoro, Constancia suchte Sie. Sie werden am Telefon verlangt.«
»Ich? Wo denn — in welchem Zimmer?«
»Oben, in meinem Schlafzimmer. Der einzige Raum, wo man etwas verstehen kann.«
Theodore ging hinauf in den zweiten Stock, blickte zuerst in ein falsches Zimmer und fand dann das Schlafzimmer mit dem Telefon; der Hörer lag auf der blauseidenen Bettdecke.
»Bueno?« fragte er. Im Hintergrund war Stimmengewirr zu hören.
»Bueno?« fragte eine melodische Frauenstimme.
»Bueno. Hier ist Theodore.«
»Theodore — hier ist Elissa. Wie geht es Ihnen?«
»Sehr gut, und Ihnen?«
»Ich bin hier auf der Party, von der ich Ihnen erzählt habe. In Pedregal. Können Sie herüberkommen? Ich könnte Ihnen einen Wagen schicken.« Die undeutliche Stimme klang wie von weit her an sein Ohr.
»Also ich weiß nicht recht, Elissa, ich kann…«
In der Türöffnung erschien plötzlich Nanettas kleine grüne Gestalt; sie stand auf einem Fuß und hielt sich mit den Händen am Türrahmen fest.
»Ich habe den Wagen schon losgeschickt, Sie müssen sich also nicht entschließen, Theodore. Wenn Sie nicht kommen wollen, sagen Sie einfach dem Fahrer, er soll wieder wegfahren. Die Party fängt hier gerade erst an. Ich hoffe sehr, Sie noch zu sehen.«
»Woher wußten Sie, daß ich hier war?« fragte Theodore nervös, denn Nanetta hatte sich an ihn gehängt.
»Oh, ich habe überall Spione«, sagte Elissa leise lachend. »A tout á l’heure, Theodore.« Sie sprach seinen Namen französisch aus und legte den Hörer auf.
Nanetta hatte die Arme um seinen Hals gelegt, der leicht parfümierte kleine Eselskopf lag an seiner Schulter, und sie sprach kein Wort. Sie setzten sich und fielen auf das Bett. Theodore sah, daß sie die Tür geschlossen hatte. Es war wirklich lächerlich in den Kostümen — man lag und umarmte jemand, dessen Gesicht man nicht kannte und nicht sehen konnte, und doch war es außerordentlich erfreulich. Francisco und Nanetta. Er küßte sie auf den grünen Stoffhals und drückte sie fest an sich, um ein wenig Wärme von ihrer Haut zu spüren. Ihre Hände liebkosten heftig seinen Rücken.
Mit hartem Klicken ging die Tür auf.
»Nanetta! Was zum Teufel machst du da? Steh auf! Mach sofort, daß du rauskommst, du —«
»Ich hab ja gar nichts getan!« protestierte sie schrill und sprang vom Bett auf.
»Und Sie da, Señor!« Der afrikanische Häuptling stand vor ihnen. Der Bauch war echt; vielleicht war er auch wirklich ihr Onkel oder sogar ihr Mann.
»Er hat gar keine Schuld, er ist sehr nett!« sagte das Mädchen mit schrill-monotoner Stimme.
»Nein, die Schuld hast du!« schrie der Schwarze. »In die Schule sollte man dich stecken! Du gehörst ins Kloster!«
Die beiden verließen das Zimmer, und Theodore blieb einen Augenblick verwirrt zurück, und ein Zwiegespräch mit sich selber ging ihm durch den Kopf:
»Sie wissen ja nicht, wer du bist.« — »Darauf kommt’s doch nicht an. Warum hast du’s überhaupt getan?« — »Olga wird es verstehen. Was habe ich denn schon verbrochen?« — »Sie wissen vielleicht nicht, wer du bist, aber sie erkennen dein Kostüm, wenn du wieder runtergehst.« — »Ach, darauf achtet niemand. Schließlich ist Karneval.« — »Ramón wird es erfahren. Du hast dich wie ein Idiot benommen. Eine Achtzehnjährige! Idiotisch.« Theodore besah sein Bild in dem hohen schmalen Spiegel. Dann wandte er sich abrupt um und ging zur Tür.
Der Vorfall war unten nicht unbeachtet geblieben. Theodore sah sofort die kleine Gruppe lebhaft gestikulierender Leute in einer Ecke des Wohnraums, die sich von dem allgemeinen Tumult abhoben. Olgas kleine Mäusefigur war auch darunter; als sie ihn sah, trennte sie sich von den anderen und lief zu ihm herüber. Sie zog ihn an der Schulter zu sich herab und flüsterte:
»Machen Sie sich nichts draus, Theodore. Er ist furchtbar jähzornig und außerdem hat er allerhand getrunken. Und das Mädchen — uh! Sie ist seine Nichte und ist gerade aus einem College rausgeworfen worden — Sie können sich denken, warum!«
Theodore erwiderte, es sei gar nichts vorgefallen, das Mädchen habe nur versucht, ihn beim Telefonieren zu küssen, und er begreife den Aufruhr überhaupt nicht. Aber er hörte selbst, es klang wie Ramón, wenn er zu viel protestierte, und so hörte er auf. Der dicke Onkel kam jetzt, wie er meinte, aus einer entfernten Ecke auf ihn zu, und er sah mit Mißbehagen, wie ihn mehrere Leute anstarrten, als wollten sie sagen: »Das Känguruh — da, das Känguruh war es!« Aber der afrikanische Häuptling — die Nichte fest an der Hand — schwenkte nach einer Seite ab und strebte der Eingangshalle zu. Das Mädchen warf Theodore eine Kußhand zu.
Theodore schlenderte in den Garten und sah sich nach Ramón um, den er dort aber nicht fand. Ein Pfeilspiel war gerade im Gange, sie zielten auf einen der Teufel aus Papiermaché, und es war nicht ratsam, jetzt dort hinüber zum Patio zu gehen. Endlich sah er Ramón, er tanzte in der Nähe des Orchesters und unterhielt sich mit seiner Partnerin, einer großen schlanken Frau mit weitem dunkelblauem Rock und der üblichen schwarzen Augenmaske. Dann sah er, wie eine Gruppe von drei Leuten sich nach Ramón umwandten und ihn ansahen. Natürlich gab es unter Olgas Bekannten immer ein paar Spießer, aber jetzt beim Karneval — Theodore wartete auf eine Gelegenheit, mit Ramón zu sprechen, und als der Tanz zu Ende war, schob er sich durch die Menge und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Verzeihung.« Er verbeugte sich vor der Dame. »Ramón, könnte ich dich einen Moment sprechen?«
»Ich bin nicht Ramón!« Aber es war deutlich seine Stimme und sein Lachen.
»Pablo — komm, ich weiß schon, du bist Ramón.«
Theodore zog ihn am Ärmel. »Ich möchte noch auf eine andere Party. Komm doch mit. Sie werden sich freuen, daß weiß ich.«
»Wohin denn?«
»Eine Party in Pedregal. Sie schicken uns einen Wagen, er ist vielleicht schon da. Olga wird uns entschuldigen. Komm mit.«
»Was ist eigentlich vorhin oben passiert?«
»Gar nichts! Ein kleines dummes Mädchen. Ich…«
»Ich habe es anders gehört«, sagte Ramón unheilvoll.
»Das ist mir ganz egal. Kommst du mit oder nicht?«
Ramón schüttelte Theodores Hand ab. »Wirklich reizend!« sagte er. »Erst sich betrinken, und dann mit einem Mädchen im Schlafzimmer —«
»Na schön — du hast ja den Hausschlüssel. Du kannst nach Hause kommen, wann du willst.« Er ging auf die Tür zu, das Gesicht brannte ihm vor Zorn und Scham. Und der Psychiater hatte gesagt, er solle Ramón wie einen normalen Menschen behandeln! Er kam sich vor wie auf einem schmählichen Rückzug. Er blieb stehen, sah sich nach Olga um und drängte sich zu ihr durch. Er erklärte ihr, er gehe für eine Weile auf eine andere Party, werde aber zurückkommen und noch einmal bei ihr hereinschauen, falls ihre Party hier noch im Gange sei, wenn er zurückkam.
»Natürlich wird sie noch andauern!«
Theodore trat hinaus in die kühle Nacht und sah einen Chauffeur, der aus einem langen schwarzen Cadillac stieg. »Kommen Sie von Señorita Straeter?« fragte Theodore.
»Sí, Señor. Señor…« Er blickte auf den Zettel in seiner Hand.
»Schiebelhut.«
»Ja, Señor Schiebelhut.« Erfreut lächelnd öffnete er die Wagentür.
»Teo!«
Theodore wandte sich um und! sah Ramón. »Kommst du nun doch mit, Ramón?«
Ramón nickte. »Ja. Es tut mir leid, was ich vorhin sagte. Ob es nun stimmt oder nicht — es ist eine Kleinigkeit, eine sehr kleine Sünde, verglichen mit anderen Sünden, Teo.«
»Aber wer redet denn hier von Sünden!«
Ramón hielt Theodores Arm ganz fest. »Verzeih mir, Teo. Es tut mir leid. Verzeih mir.«
»Ich verzeihe dir, aber jetzt steig ein.«
Der große Wagen jagte durch die Stadt und schoß auf der weiten dunklen Fernstraße dahin, die nach Pedregal führte. Theodore konnte bei dem schnellen Tempo nicht reden. Warum fahre ich bloß da hin, fragte er sich, aber es machte nichts aus, daß er keine Antwort wußte. Er war es müde, nach Antworten zu suchen.
»Möchtest du diese jetzt mal versuchen?« fragte er und zog aus der Beuteltasche eine Katermaske hervor, die Ramón gehorsam aufsetzte.
Sie glitten an der hohen Mauer entlang, hinter der das reiche Pedregal wohnte. Der Wagen hielt an einem erleuchteten Eisengitter, das wie ein Gefängnistor anmutete. Zwei bewaffnete Soldaten mit starken Taschenlampen traten an jeder Seite an den Wagen heran und leuchteten ins Innere: die übliche Untersuchung von Wagen, die nach Pedregal hineinfuhren.
»Keine Geheimwaffen«, sagte Theodore.
Die Wächter winkten sie weiter, ein Pfiff ertönte, die Tore schlossen sich hinter ihnen. Jetzt war die Straße breit und glatt, mit weiten Kurven zwischen terrassenartig abfallenden Rasenflächen mit großen Häusern. Die meisten waren heute hell erleuchtet, Tanzmusik stieg an und fiel wieder ab, während der Wagen weiterfuhr; es herrschte eine gedämpfte Atmosphäre, als wären sie in eine andere Stadt eingefahren. Lavaklumpen, mit Blumen dekoriert, lag mitten auf den Rasenflächen. Kies knirschte unter den Rädern. Sie hielten zwischen einer terrassenartig abfallenden Rasenfläche und einem großen Haus mit zwei enormen Glastüren, hinter denen man kostümierte und maskierte Menschen tanzen sah. Auf der Rasenseite, etwas weiter den Weg hinab, sah man ein Schwimmbad mit blauen Lämpchen und einen erleuchteten Springbruhnen, der goldfarbenes Wasser wie Sekt in die Höhe sprudelte.
»Theodore! Sie sind doch noch gekommen!«
Theodore erkannte Elissa Straeters große schlanke Figur in weißem Seidenkleid. Über den Kopf hatte sie eine enge grüne Katzenmaske gezogen. »Guten Abend!« sagte Theodore. »Ich habe meinen Freund Ramón Otero mitgebracht. Ramón, hier ist Señorita Straeter. Aber ich glaube, ihr kennt euch schon, was?« Ja, sie kannten sich, das wußte er jetzt genau, aber Elissa sagte »Ramón!« im Ton ungläubiger Überraschung, obgleich nichts von ihm sichtbar war.
»Elissa, es ist vielleicht besser, wenn Sie uns mit niemand bekannt machen. Ich möchte nicht, daß alle Ramón anstarren.«
»Aber natürlich. Ich verstehe schon«, sagte Elissa und ergriff Theodores Hand. »Sie brauchen nicht mal den Hausherrn kennenzulernen!« Sie taumelte ein wenig — es konnte am Alkohol oder auch an den ungleichmäßigen Wegplatten liegen. »Kommen Sie mit, Ramón. Sie kriegen was zu trinken, und dann können Sie sich all die lustigen Kostüme ansehen.«
Der Lärm überfiel sie, sobald sie die Tür öffneten. Einige Leute saßen, ihr Glas in der Hand, an die Wand gelehnt auf dem Fußboden. Ein paar große Mädchen waren darunter, strumpflos in engen Hosen, die meisten hatten blonde Locken über den Masken, es waren Amerikanerinnen. Elissa holte Sekt und erhob ihr Glas.
»Auf Ihre Gesundheit, Gentlemen«, sagte sie formell, woran Theodore merkte, daß sie mindestens so betrunken war wie gewöhnlich, vielleicht auch noch etwas mehr.
Unter den lärmenden Gästen bewegten sich drei oder vier tadellos gekleidete Dienstmädchen, die Gläser einsammelten und Tabletts mit heißen Canapés herumreichten, obgleich an der einen Seite des Raums ein Tisch mit vielen Salatschüsseln und Bergen von Sandwiches aufgestellt war.
»Sie sehen es — Sie brauchen niemand kennenzulernen, Wenn Sie nicht wollen«, sagte Elissas sanfte und kaum hörbare Stimme. »Da drüben jedenfalls, das ist unser Hausherr, Johnny Doolittle — falls Sie ihn nicht erkennen.« Sie wies auf einen kleinen Gorilla, der über einem Stuhl hing und heftig gestikulierte.
Elissa machte sich daran, eine lange, langweilige Geschichte zu erzählen, und einen Augenblick hatte Theodore Lust, das Haus zu verlassen. Er kannte niemanden, oder jedenfalls konnte er keinen erkennen, und er wußte, die Unterhaltung mit Elissa blieb die ganze Nacht öde und eintönig. Freundlich und blödsinnig ernst kam ihre Stimme durch die lächelnde Katzenschnauze.
»Ramón versteht kein Englisch«, warf er einmal ein, als Ramón auf die Terrasse hinausgeschlendert war. Theodore fand sich mit Elissa draußen, auf dem Weg zum Swimmingpool.
»Geheizt«, sagte Elissa. »Herrlich, nicht?«
Ein Junge in weißer Jacke trat mit einem Tablett leicht bebender Sektgläser an sie heran. Elissa stellte die beiden fast leeren Gläser darauf und nahm zwei volle Gläser.
»Elissa, hören Sie, ich muß Sie etwas fragen. Seit einem Monat — seit Lelias Tod — hat mich immer jemand angerufen, der sich dann nicht meldete. Mindestens einmal in der Woche. Wenn Sie es waren…« Seine Worte überstürzten sich. Ihm war zumute, als stände er neben sich und höre seiner eigenen Stimme zu, während Elissa feierlich den Kopf schüttelte. Sie sah aus, als habe sie wirklich keine Ahnung. Sie hatte die Katzenmaske abgenommen, weil sie sie lästig fand; ihr schmales schönes Gesicht sah Theodore angeheitert und aufmerksam an.
»Nein, Theodore, ganz bestimmt nicht. Der Polizeibeamte, der hier war, hat mich auch schon danach gefragt. Er hat auch eine Schriftprobe von meiner Schreibmaschine genommen. Es machte mir nichts aus, Teo, wirklich — es machte mir gar nichts aus. Es geht ja um eine sehr ernste Sache. Nicht wahr, die Frau hat Ihnen viel bedeutet?«
»Ich habe sie geliebt«, sagte Theodore betont und schauderte zusammen. Es war kühl geworden. Am Swimmingpool wurde es jetzt lebendig; die blonden Mädchen in den engen Hosen sprangen mit Kleidung und Masken ins Wasser. Aus dem Haus kamen Leute, die zusehen wollten. Die Mädchen gehörten zu einer amerikanischen Showgruppe, erklärte Elissa. Ein Xylophon wurde hinausgerollt, mehr Lampen entzündet, das Wasser nahm ein tiefes klares Blau an. Theodore sah sich nach Ramón um. Die Leute hier bewegten sich irgendwie langsamer als die bei Olga. Es waren fast alles Amerikaner, das hörte er an den Stimmen.
Trotz des Lärms fehlte ein Element echter Heiterkeit, und Theodore fühlte sich deprimiert und müde. Der Vollmond schien hell auf den Rasen.
»Sie halten ihn also nicht für schuldig?«
»Wie bitte?«
»Ramón. Sie halten ihn nicht für schuldig?« fragte sie beiläufig.
»Nein, ich halte ihn nicht für schuldig.«
»Na ja. Sie brauchen es mir ja nicht zu sagen, Theodore, wenn die Polizei Sie gewarnt hat, den Mund zu halten.«
»Nein, nein, ich sage die Wahrheit. Kein Mensch …« wieder ein lautes Klatschen, und drei Mädchen sprangen ins Wasser. »Niemand weiß etwas. Weder Ramón noch ich, noch die Polizei. Aber sie sind noch damit beschäftigt. Sehr sogar.«
»Ach«, sagte Elissa nachdenklich und immer noch kühl-unbeteiligt. »Na, sie werden es schon noch herauskriegen. Theodore. Sie kriegen es eigentlich immer heraus.«
»Sicher«, sagte Theodore ohne Überzeugung.
»Kommen Sie, setzen wir uns irgendwohin«, sagte Elissa und nahm ihn bei der Hand. Sie ergriff jede Gelegenheit, ihn zu berühren.
»Ich möchte wissen, wo Ramón steckt. Entschuldigen Sie, Elissa.«
Er ging wieder in den großen Wohnraum und suchte nach Ramón, dann ging er hinaus auf die Terrasse. Einige Leute schubsten Ballone über das Terrassengeländer und versuchten sie im Springbrunnen drunten landen zu lassen. Theodore fand Ramón im Gespräch mit einem Mann in rotem Kostüm in der Ecke der Terrasse. Einen Augenblick zögerte er, dann ging er auf die beiden zu.
»Entschuldigung«, sagte er zu beiden. »Wie geht es dir, Ramón?«
»Sehr gut«, sagte Ramón. »Ich lerne eine Menge über die Kaffeeindustrie von dem Herrn hier.«
Der Herr in dem roten Teufelskostüm verneigte sich leicht und sagte: »Meine Herren, ich muß jetzt gehen — meine Frau wartet auf mich. Es ist natürlich nicht meine Frau.« Er lächelte und ging mit graziösen Schritten durch die Terrassentür ins Haus.
»Das bezog sich auf einen Scherz von vorhin«, sagte Ramón. »Er sagte, er habe heute abend mehrere Frauen. Heute holt sich der Teufel, was er kriegen kann.«
»Aber du hast es ihm sicher nicht schwergemacht, nein?«
»Ja, da hast du recht, amigo!« erwiderte Ramón fröhlich.
»Und gebrannt hat er auch nichts weiter als Kaffee.«
»Auch das stimmt!« Ramón legte den Arm um Theodores Schulter und drückte seine Clownsmaske wie zu einem Kuß an seine Wange.
Fasziniert beobachteten sie, wie ein Ballon oben auf einem Wasserfall schwebte und dann herunterfiel. Die Zuschauer atmeten auf und lachten.
»Und du — amüsierst du dich?« fragte Theodore.
»Nein«, gab Ramón nicht unfreundlich zur Antwort.
Sie gingen durch das Wohnzimmer zurück und hinaus auf die Einfahrt. Elissa schritt am Rasenrand entlang. Theodore ging zu ihr hinüber und sagte, er und Ramón wollten jetzt gehen.
»Aber die Party hat doch eben erst angefangen! Johnny wird uns bald das Frühstück auftragen.«
Theodore sagte, sie müßten jetzt nach Hause. Elissa bestand darauf, daß sie ihren Wagen nähmen. Sie wollte mit ihnen fahren und dann zu der Party zurückkehren. Davon ließ sie sich nicht abbringen. Sie schickte zwei Diener nach verschiedenen Richtungen aus, um ihren Chauffeur zu suchen.
Im Wagen sprach Elissa eine Weile spanisch zu Ramón — ihr Spanisch war dabei gar nicht schlecht — und stellte deprimierend höfliche Fragen. Sie war wie eine höfliche Maschine, die noch Gott weiß wie lange ablaufen mochte. Selbst für ein Verhältnis war sie viel zu höflich, dachte Theodore; so realistisch war sie einfach nicht vorzustellen. Er hörte ihr zu, nickte und erwiderte irgend etwas. Sie fragte, ob er bald nach Cuernavaca führe — sie nahm dort immer eine Suite im Marik-Plaza, sagte sie —, und Theodore dachte an eine Straße in Cuernavaca, die er gern entlangging, an die rotbraunen Indianergesichter der kleinen Jungen und die schwereren der schwarzhaarigen schnurrbärtigen Männer auf den Bierwagen, an die Gesichter alter Männer unter Sombreros. Schön, daß sie selbst in Cuernavaca immerhin in der Mehrzahl waren, dachte er.
»So — da sind wir«, sagte er, als der Wagen vor seinem Hause hielt.
»Was macht Ihr Mädchen — Inocenza?« fragte Elissa.
»Sie haben aber ein gutes Gedächtnis! Es geht ihr prima.« Theodore war ausgestiegen. »Vielen Dank für den Taxidienst heute abend, Elissa! Wir sind Ihnen sehr dankbar.«
»Bekomme ich nicht noch einen Nightcap, Theodore?«
Das hatte er befürchtet, konnte es aber natürlich nicht gut abschlagen. »Natürlich, Elissa. Kommen Sie heirein.«
Er schloß die Tür auf. Nebenan bei Olga war das ganze Haus noch hell erleuchtet. Sicher war auch Inocenza noch dort.
Im Wohnzimmer brannte Licht, und der Kater Leo saß angespannt mitten auf dem Fußboden. Er blickte sie starr an und schlug heftig mit dem langen Schwanz hin und her. Theodore ging in die Küche, um Eis zu holen und die Heizung anzustellen.
»Ein wunderschönes Haus!« sagte Elissa. Sie war schon zwei- oder dreimal dagewesen.
Als er mit dem Eis kam, blickte der Kater Elissa an und gab einen grollenden Kehlton von sich.
»Komm, sei mal nicht so unfreundlich, Leo«, sagte Theodore. »Wahrscheinlich hat er ein bißchen gefroren und ist jetzt böse mit mir.«
Elissa nahm graziös in einer Sofaecke Platz, ihr Glas mit Whisky und Soda vor sich. Theodore sah, wie ihr Gesicht den leicht schmerzlichen Ausdruck annahm, der alle ihre Bemerkungen über »die Ballesteros-Affäre« begleitet hatte. Er hob seinen schwachen Drink und warf einen Blick auf die Uhr, um zu sehen, wie spät es war. Die Uhr war nicht da. Einbrecher, schaltete sein Gehirn sofort. Nur das eine Wort.
»Die Uhr ist weg«, sagte er und blickte auf den Cocktailtisch, auf dem, wie er meinte, sein Feuerzeug gelegen hatte, bevor er heute abend das Haus verließ. Das Feuerzeug war auch weg.
Ramón wandte sich vom Bartisch um, wo er Eiswasser holte. »Glaubst du, sie ist gestohlen?« fragte er beunruhigt.
Theodore trat an das Sideboard und zog eine Schublade heraus. Das Silber war nicht angerührt. Die kleine Statue von Dégas stand noch auf dem Tischchen. »Moment mal — ich möchte mal eben oben nachsehen«, sagte er und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.
Die Tür zu seinem Zimmer stand offen, und einige Schubladen waren herausgezogen. Er lief noch eine Treppe hinauf, riß die Tür zu Inocenzas Zimmer auf und suchte aufgeregt nach dem Lichtschalter neben der Tür. Das Licht ging an, und er sah das Bett; es war leer und glatt. Der Raum sah ganz unversehrt aus. Er drehte das Licht aus und ging hinunter.
»War es ein Einbruch, Theodore?« fragte Elissa unten in der Halle. Hinter ihr stand Ramón.
Theodore ging in das Zimmer, wo er immer malte. Das Fenster stand etwa zwei Fuß breit offen. Die Bilder waren alle da, aber das indische Messer, das immer in der Holzscheide auf dem Bücherbord gelegen hatte, war weg. »Ja«, sagte er. »Und ich nehme an, er kam durch dieses Fenster. Vielleicht von den Velasquez aus. Siehst du — da?« sagte er zu Ramón und wies auf den efeubewachsenen Gang über dem Eisengitter, der sein Haus mit dem Nachbarhaus verband. »Ihr Fenster da drüben ist auch offen.«
»Müssen wir nicht die Polizei rufen?« fragte Elissa. »Glauben Sie, es ist jemand von der Party bei den Velasquez?«
»Dann wäre er jetzt nicht mehr da«, sagte Theodore. »Nicht mit einer so großen Uhr. Wir sollten hier im Hause lieber nichts anfassen, vielleicht sind Fingerabdrücke da.« Aber er glaubte selbst nicht daran. Er malte sich aus, wie eine kostümierte Gestalt — sicher keiner der eingeladenen Gäste — in einem Kostüm, das die Hände verbarg, über die Efeubrücke kroch und mit der Beute durch die Tür verschwand. Keine große Sache im Karneval, dachte er, als er ins Schlafzimmer ging. Ihn beunruhigte nur die Möglichkeit, daß dies mit dem Mord zusammenhängen könnte. Seine Füllfeder hatte, soviel er sich erinnerte, auf dem Schreibtisch gelegen, als er ausging. Die Notizbücher und Zeichenblocks in den beiden geöffneten Schubladen sahen unberührt aus. »Elissa — wer hat gewußt, daß ich heute abend auf der Party bei den Velasquez war?«
Sie sah verlegen und ganz leicht beleidigt aus. »Na ja — also — ich bin eine Bekannte von Señor Velasquez. Ich kenne jemanden, der ihn kennt und …«
»Wer ist das?«
»Emily O’Hara. Er ist ihr Anwalt und es kommt vor — ich meine, Emily hat mir erzählt, daß die Velasquez heute abend eine Party geben. Ich glaube, sie war auch da. Jedenfalls hat sie mir gesagt, daß Sie eingeladen waren. Ich wußte ja nicht sicher, ob Sie kommen würden, wissen Sie.«
Typisch, dachte Theodore, diese vage und unbefriedigende Antwort. Er ging ans Telefon, wählte und fragte ohne viel Hoffnung nach Sauzas, der nicht da war. Theodore berichtete von dem Einbruch, und der Polizeibeamte sagte, er werde sofort jemanden schicken.
»Es tut mir sehr leid, Elissa«, sagte er dann. »Bitte — Sie brauchen wirklich nicht zu bleiben. Es ist sehr spät, und Sie müssen doch todmüde sein.«
»Aber es interessiert mich doch, Theodore. Ob Sie mir noch einen Whisky zurechtmachen? Einen kurzen, on the rocks.«
Theodore machte den Drink zurecht. Ramón war ins Nachbarhaus gegangen, um Inocenza zu holen. Theodore hatte ihn gebeten, Inocenza nichts von dem Geschehenen zu sagen; er wollte nicht, daß es auf der Party bekannt wurde. Ramón kam gleich darauf mit ihr zurück.
»Ich wollte mit Ihnen sprechen — bei uns im Hause ist eingebrochen worden«, sagte Theodore. »Nicht sehr schlimm, aber immerhin ein Einbruch.«
»Ein Einbruch!«
»Ja. Und ich könnte mir denken, daß der Einbrecher über die Brücke gekommen ist, von den Velasquez. Sind Sie irgendwann am Abend mal herübergekommen?«
»Nein, Señor.«
»Oder haben Sie etwas gehört?«
»Nein, Señor, gar nichts.«
Wenig später erschien die Polizei: zwei gewöhnliche uniformierte Polizisten, die mit leicht gelangweilter Miene durch das Haus gingen und die Gegenstände mit Wertangabe aufschrieben, die Theodore als gestohlen angab. Er wußte, er würde sie nie wieder sehen. In Mexiko fand man gestohlenes Gut fast niemals wieder, und die Polizei zuckte zu so kleinen Diebstählen und Einbrüchen nur resigniert die Achseln. Wahrscheinlich fand sie, Leute mit so viel Geld sollten ruhig ab und zu mal beraubt werden, es schadete ihnen nichts und nützte vermutlich den Armen. Und Theodore selbst war fast der gleichen Meinung.
»Wollen Sie keine Fingerabdrücke nehmen?« fragte er den Polizisten.
»Ach, Señor, wenn wir die gestohlenen Sachen wiederkriegen, haben sie doch schon ein paarmal den Besitzer gewechselt. Jetzt müssen wir nach nebenan gehen.«
Die Ankündigung von dem Diebstahl in seinem Hause vor den Gästen im Hause Velasquez beschämte Theodore sehr. Es sah so nichtig aus. Er entschuldigte sich bei olga, die jetzt auch leicht angetrunken und sehr heiter war. Sie gingen nach oben in das Zimmer, das Olga ihr Musikzimmer nannte, wo das Klavier und ein Plattenspieler und Bücherborde standen. Das Fenster stand weit offen; die efeubewachsene Brücke lag drei Fuß tiefer und etwas rechts vorn Fenstersims. Aber niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob das Fenster den ganzen Abend offen gewesen war. Constantia glaubte, es habe von Anfang an offengestanden, weil sie es hatte öffnen wollen, um frische Luft ins Haus einzulassen. Señor Velasquez mochte gern frische Luft. Etwa fünfzehn Gäste waren noch im Hause, einige noch mit Masken, alle plötzlich ernüchtert.
»Wir hätteh gern eine Liste Ihrer Gäste, Señora«, sagte der eine Polizist zu Olga.
»Liebe Zeit!« Olga hob die Hände, ließ sie aber gleich wieder fallen und sagte: »Aber ja, natürlich. Warten Sie, ich glaube, ich habe sie noch drüben auf meinem Schreibtisch.« Eilends verließ sie das Zimmer.
»Das ist doch ganz hoffnungslos«, sagte Theodore zu dem Polizisten. »Alle waren in Maskenkostümen heute abend — wir hätten nicht mal Fremde von der Straße erkannt.«
Der Polizist lachte, als wollte er sagen, es sei natürlich hoffnungslos, aber er müsse sich an die Vorschriften halten.
Olga erschien mit der Liste in der Hand. Sie bestätigte den Polizisten, was Theodore gesagt hatte: Fremde von der Straße hätten leicht und unbemerkt hereinkommen können.
»Es ist ja keine Riesensache«, sagte Theodore freundlich zu ihr. »Ich glaube, nicht einmal sechstausend Pesos Wert ’ im ganzen. Es hätte wirklich schlimmer sein können. So, und jetzt finde ich, wir sollten gehen.«
Elissa hatte die Velasquez freundlich begrüßt und ein paar bedauernde Worte über den Einbruch geäußert, als sei sie persönlich verantwortlich. Sie und Ramón gingen jetzt mit Theodore hinaus. Auch die Polizeibeamten verstanden den Wink und verließen das Haus, in dem sie nichts mehr zu tun hatten. Elissa sagte noch ein paar teilnehmende Worte und stieg in ihren Wagen.
Theodore ging mit Ramón über den Patio ins Haus. »Dies wird Sauzas sehr interessieren«, sagte er nachdenklich. »Ich wollte diesen Polizisten heute abend nichts mehr von — von der anderen Sache erzählen. Vielleicht hätte ich sie gar nicht kommen lassen sollen. Wenn Fingerabdrücke da waren, sind sie jetzt jedenfalls verschwunden.«
Müde warf Ramón seine Maske auf das Sofa. Den Clownskopf hatte er schon abgenommen, als Elissa da war, er hing ihm an Bändern über den Rücken. »Die Welt ist voller Schlechtigkeit, Teo.«
»Ach wo, das stimmt gar nicht«, erwiderte Theodore. »Aber es wird wohl ebensoviel Böses wie Gutes sein.«
Sie gingen in ihre Zimmer. Inocenza lehnte sich über das Treppengeländer und fragte, ob die Polizei den Einbrecher gefunden habe. Theodore sagte nein und fragte sie: »Fehlt etwas aus Ihrem Zimmer?«
»Nein, Señor.«
»Schön. Dann gehen Sie nur jetzt zu Bett, Inocenza, und schlafen Sie morgen früh aus, so lange Sie können. Wenn ich früher aufstehe, mache ich das Frühstück.«
»Gracias, señor. Buenas noches.«
Ramón kam etwas später in Theodores Zimmer im Hemd und in den Hosen, die er unter seinem Kostüm getragen hatte. Theodore hatte sich ausgezogen und war in den Bademantel geschlüpft, bevor er sein Bad nahm.
»Na, Ramón, bist du nicht ganz erschossen?« fragte Theodore fröhlich. »Mein Gott, was für ein Abend! Jetzt fehlt uns nur noch ein Kater morgen früh. Möchtest du noch einen Nightcap?«
»Danke, nein.«
»Ich auch nicht. Nur viel Sprudel.« Er öffnete die Flasche. Inocenza sorgte dafür, daß er immer ein paar Flaschen in seinem Zimmer hatte, er trank ihn lieber mit Zimmertemperatur. Er hielt Ramón die Flasche entgegen, aber Ramón schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe nicht, warum du so heiter bist, Teo.«
»Bin ich ja gar nicht. Aber muß man mir das ansehen?«
»Alle Leute nutzen dich aus. Sogar diese gräßliche Person heute abend, diese Frau. Sogar ich. Und nun auch noch dieser Einbrecher!«
»Ein Einbruch kommt bei jedem mal vor, Ramón. Ein- oder zweimal im Leben hat —«
»So ist es eben, nicht wahr? Das meinst du doch?« Er wartete offenbar auf eine Antwort.
»Ach Ramón, dies ist wirklich nicht der Augenblick für große Wahrheiten. Für mich jedenfalls nicht.«
»Du willst gar nicht sehen, daß die Leute dich ausnutzen?« Ramón ging auf ihn zu und nahm die Hände aus den Taschen. »Teo, kannst du mir verleihen, was ich dir angetan habe?«
»Aber ja, Ramón, wirklich.«
»Du hast noch nie etwas Böses getan, Teo. Und auch mit Lelia hast du dich richtig verhalten. Sie wollte frei sein, und du hast ihr die Freiheit gelassen. Ich verstehe es jetzt. Und wenn ich jemals an dir herumkritisiere, bitte denke daran, daß ich unrecht habe und nicht weiß, was ich sage.«
»All right, Ramón. In Ordnung«, sagte Theodore ganz ernsthaft, denn er sah, daß Ramón es ernst meinte.
»Und dir habe ich am meisten Unrecht getan.«
»Du hast mir kein Unrecht getan, Ramón.« Theodore stellte das Glas hin und ging ins Badezimmer. Er drehte das Wasser an und wandte sich nicht um nach Ramón, doch hörte er etwas beängstigt darauf, was als nächstes kommen könnte. Er entschloß sich, sein Bad nun zu nehmen, als wäre die Unterhaltung zu Ende. Die Tür blieb leicht offen.
Als er nach zehn Minuten zurückkam, war Ramón nicht mehr da. Theodore trat an seinen Schreibtisch und sah auf den ersten Blick, daß sein Tagebuch verschwunden war, das immer oben links auf der Schreibtischplatte lag. Er suchte überall, ohne es zu finden. Wer konnte so etwas nehmen — ein englisches Tagebuch? Ramón kam nicht in Frage. Es mußte der Mörder sein, der jetzt das Buch genommen hatte. Vorne enthielt es ein großes Foto von Lelia. Nur der Mörder konnte es geholt haben. Es war ganz klar: der Einbrecher war auch der Mörder.
Ein Nebel aus Zorn und Schmerz hüllte ihn ein, als er zu Bett ging. Die ganze Geschichte seiner Liebe zu Lelia stand da zu lesen. Sein ganzes Herz, so viel davon, als er zu Papier bringen konnte. Er stellte sich vor, wie schmutzige Hände die Seiten umblätterten.
18
Um zwanzig Minuten nach zehn erwachte Theodore mit dem Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben.
Er stand auf, ging leise hinunter in die Küche, machte Kaffee und preßte einige Orangen aus. Seine erste Tasse Kaffee trank er allein, dann stellte er die Sachen auf ein Tablett und trug es nach oben zu Ramón, wo er behutsam die an die Tür klopfte. Als er nichts hörte, öffnete er die Tür. Ramóns Bett war benutzt worden, aber er war nicht da.
»Ramón?« rief er fragend ins Badezimmer, das ebenfalls leer aussah.
Er war fortgegangen — sicher zur Kirche. Er ging meistens zu Fuß in die Kathedrale, obwohl das ein Weg von drei Meilen war, und ebenfalls zurück, und dazu brauchte er jedesmal drei bis vier Stunden. Theodore schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und rief Sauzas an. Heute morgen hatte er Glück: Sauzas war im Amt und rief nach zehn Minuten zurück.
»Ja, von dem Einbruch habe ich gehört«, sagte er. »Ich habe dem Beamten, der Nachtdienst hatte, schon eine Zigarre verpaßt, weil er keine Fingerabdrücke hat nehmen lassen. Und dann wußten diese Trottel nicht mal, wer Sie waren. Wirklich idiotisch, könnte man oft denken. Aber zum Glück nicht immer.«
»Vielleicht ist es noch nicht zu spät für Fingerabdrücke.«
»Nein, vielleicht nicht. Passen Sie jedenfalls nichts an. Ich komme selbst rüber. Aber ich habe hier noch etwa eine Stunde zu tun, vorher kann ich nicht weg.«
»Moment noch, Señor Capitán. Ich habe erst später, gestern nacht, gemerkt, daß mein Tagebuch verschwunden ist. Darin war ein großes Foto von Lelia — und es war ein sehr persönliches Tagebuch. Ramón ist jetzt nicht hier. Es wäre mir lieb, wenn Sie ihm nichts davon sagten.«
»Aha. Hm, hm. Ihr Tagebuch — Sie glauben nicht, daß Ramón es genommen haben könnte, nein?«
»Bestimmt nicht. Warum meinen Sie das?«
»Ich meine es ja nicht — aber es ist nicht das übliche Einbruchsgut, Señor, nicht wahr.«
»Nein, ich weiß. Deshalb ist es ja gerade wichtig.«
»Wir können darüber sprechen, wenn ich nachher komme. Bis dann, Señor.«
Wenig später kam Ramón zurück, und Theodore erzählte ihm, daß Sauzas kommen werde, was Ramón ohne Interesse aufnahm. Er sah frisch und ausgeruht aus, dabei hatte er sicher kaum mehr als eine Stunde geschlafen. Die Kirche schien eine merkwürdig erholsame Wirkung auf ihn auszuüben — Theodore war das schon öfters aufgefallen.
»Ist Inocenza schon auf?« fragte Ramón.
»Nein, ich glaube nicht. Warum?«
»Ich habe ihr etwas mitgebracht.« Er zog ein kleines dunkelgrünes Kästchen aus der Tasche — die Farbe glich dem Einband von Theodores Tagebuch — und zeigte Theodore einen kleinen goldfarbenen Stift, der darin lag und mit einer Spirale an einem Knopf befestigt war. »Das kann sie bei sich tragen — für telefonische Bestellungen oder so«, sagte er. »Und hier ist was für dich, Teo.« Er gab ihm eine längliche grüne Schachtel. »Von Misrachi — es ist eine gute Feder, kein Kugelschreiber, weil ich weiß, die magst du nicht.«
Theodore öffnete das Kästchen und sah darin eine dunkelgrüne Füllfeder. »Oh, Ramón, wie nett von dir. Vielen Dank.« Er probierte die Feder innen auf dem Kästchen aus. »Wirklich schön. Und genau das, was ich brauchte«, sagte er und sah Ramón dankbar lachend an.
Ramón ging aus dem Zimmer. Theodore wollte ihn fragen, ob er nicht Kaffee trinken möchte, unterließ es aber dann. Ramón trank oft morgens keinen Kaffee, obgleich Theodore wußte, er mochte ihn genauso gern wie er selbst. Er schien sich damit eine Art von Buße aufzuerlegen, vor allem an den Tagen, an denen er morgens zur Kirche ging. Und ging er nicht, so war auch das für ihn eine Art Strafe, mit der er sich zu kasteien suchte, wie mit anderen Mitteln. Er hatte das Rauchen fast aufgegeben; dabei wäre es wahrscheinlich leichter gewesen, es völlig aufzugeben, als sich auf zwei oder drei Zigaretten pro Tag zu beschränken. Er nahm auch keine Butter mehr zum Brot, und er nahm nie zum zweitenmal von eine Gericht, auch wenn Theodore wußte, daß er sehr hungrig war. Das alles geschah unauffällig, Theodore hatte es erst nach einiger Zeit erkannt. Als Buße für einen Mord wirklich fabelhaft, dachte Theodore. Ramón mußte irgend etwas tun, das war offensichtlich, und anscheinend suchte er innerlich nach einer Sühne, einem ausreichenden Opfer. Es war schwer, ein Ritter oder Held oder Märtyrer zu sein, weil es so schwer war, eine Sache zu finden, für die sich all die Mühen oder das Opfer eines Lebens lohnte. Das wußte Theodore, denn das Problem hatte ihn auch beschäftigt. Wozu malte er zum Beispiel? Er leistete einen Beitrag zur Ästhetik und machte einigen Menschen Freude, aber wäre es nicht besser für die Menschheit, wenn er etwas Praktisches täte, zum Beispiel Kranke in Afrika versorgte? Sicher war Ramón in einem ähnlichen Dilemma — noch dazu einem eingebildeten, über das er keine Gewalt hatte —, wenn er seine Existenz rechtfertigen wollte oder eine Sühne suchte, die seiner Tat angemessen war.
Ungeduldig mit sich selber stand Theodore auf. Was sollte solche Grübelei? Früher hatte er sich vorgenommen, ein energischer Mann, ein Mann der Tat zu werden — und das lächerliche Gegenteil war er geworden. Er beschäftigte sich nur deshalb so viel mit sich selber, weil er mehr Zeit dazu hatte als die meisten Menschen. Eins konnte er von sich sagen: Egoismus gehörte nicht zu seinen Lastern. Er liebte seine Freunde, und Liebe, die sehr häufig eine neurotische Form annahm, war imstande, allein vom Geben zu leben, wenn sie nichts nehmen konnte oder ihr nichts geboten wurde. Oder wie Kierkegaard es auf religiösem Gebiet erklärt hatte: »Der Glaube hat alle Zufälle berechnet … wenn du verstehen willst, daß du lieben sollst, dann ist deine Liebe auf ewig gesichert.«
Und noch etwas fuhr ihm durch den Kopf: Ramón hatte sich entschieden, unwiderruflich. Er hatte sich auf die Seite der Hölle geschlagen, aber es war wenigstens eine Entscheidung. Das verlieh Ramón eine Stellung, die so stark war wie seine eigene. Da das Gute und das Böse nur im Geist vorhanden waren, wurden ihre Anstrengungen zu einer Auseinandersetzung des Willens.
Theodore ging hinaus und klopfte an Ramóns Tür.
»Herein.«
Ramón saß auf seinem Bett, auf dem Schoß hatte er einen umgekehrten Stuhl. Es war einer von Theodores spanischen Stühlen aus dem frühen 19. Jahrhundert. »Gute Arbeit«, sagte er und stellte den Stuhl auf den Boden.
Theodore nickte. »Was meinst du, Ramón — wollen wir eine kleine Reise zusammen machen?«
»Ja, gern. Wohin?«
»Das ist mir egal. Wohin möchtest du?«
»Ich möchte gern die Mumien in Guanajuato sehen«, sagte Ramón.
Das hatte Theodore befürchtet. »Aber die hast du doch schon gesehen. Warum nicht etwas Neues?«
»Ja, aber das ist schon Jahre her. Ich würde sie gern noch mal sehen.« Ruhig und ernst blickte Ramón ihn an.
»Na schön. Und dann?«
»Ich meine, ich müßte eine Arbeit finden, vielleicht zu Arturo zurückgehen, wenn er mich noch haben will, oder irgendeine Stellung annehmen. Du kannst dir einen langen Urlaub leisten, Teo, du hast Geld und kannst überall arbeiten.« Ramón starrte den spanischen Stuhl an.
Theodore suchte nach Einwänden. Arturos Werkstatt fand er deprimierend un unordentlich Es war doch nicht möglich, daß Ramón Interesse aufbrachte für den billigen Möbelkram, der dort angeliefert und für zwanzig und dreißig Pesos repariert wurde. Er würde dort nur seine Buße fortsetzen und schließlich jeden Kontakt mit der Umwelt verlieren. Er sollte lieber schöne Landschaften betrachten, morgens in einem sauberen freundlichen Zimmer aufwachen, gut essen und wie ein Mensch leben. Sein Haus in Cuernavaca? Oder Jalapa? Jalapa war eine hübsche kleine Stadt mit vielen Blumen. Oder eine Seereise? Aber plötzlich stellte er sich vor, wie Ramón irgendwo über die Reling in die See sprang. »Na schön«, sagte Theodore, »fahren wir nach Guanajuato. Ich werde mit Sauzas reden.«
»Mit Sauzas — wieso?«
»Ja natürlich, er muß ja wissen, wo wir sind.«
Ramón lächelte dünn. »Aha, wir müssen die Polizei in Atem halten. Das tun die anderen Diebe und Mörder ja auch, nicht wahr.«
Theodore schwieg, er wußte nichts darauf zu sagen. Die katholische Kirche, dachte er, war so etwas wie Ramóns Polizei. Und sie unternahm nichts, um ihn zu bestrafen, jedenfalls nichts Greifbares. Ob der Pater Bernardo wohl sagte: »Bereue deine Sünden, dann sind sie dir vergeben«? Oder ob er eher versuchte, Ramón zu bestärken in der Aussicht auf ewiges Fegefeuer? Wer weiß. »Hast du Pater Bernardo gesprochen, Ramón?«
Ramón sah ihn an. »Wieso kennst du ihn?«
»Ich habe ihn einmal bei dir im Treppenhaus getroffen. Er fragte nach deiner Wohnung, da habe ich ihm Bescheid gesagt.«
»Und du hast ihn gefragt, wer er ist?«
»Er hat sich selbst vorgestellt.« Theodore beobachtete Ramóns Gesicht, auf dem sich Betroffenheit mit Verlegenheit mischte, weil er seine Privatsphäre bedroht sah. »Sprichst du ihn oft?« fragte Theodore.
»Ich spreche viele Priester, nicht nur einen.« Und wieso kümmert dich das überhaupt, fragten seine Augen.
»Geben sie dir denn Trost?«
»Ja — nein. Ich weiß es nicht.«
»Was sagen sie zu dir, Ramón?«
»Sie sagen, ich komme ins Fegefeuer. Vielleicht auch in die Hölle.«
»Wenn nicht was —?«
»Wenn ich nicht bereue. Beichte.«
»Hast du das nicht schon getan?«
»Man hat nicht Zeit, genug zu tun, Teo. Ich habe viel gesündigt. Du verstehst das nicht, weil du meinst, es gibt keine Sünde.«
»Das stimmt doch nicht, Ramón.«
»Ich hab’s doch selber gehört von dir! Was kannst du also an mir schon verstehen? Ja, ich weiß, du bist gut und freundlich, du tust auch so, als hättest du Achtung vor mir —«
»Ich tue nicht so, ich habe Achtung. Ich verstehe nicht alles, so etwa, daß man nicht genug Zeit hat, um etwas zu tun, was jenseits des Bereichs der Zeit liegt. Aber wenn wir uns auch manchmal gestritten haben, dann doch nur, weil wir jeder eigene Vorstellungen haben, Ramón. Ein Mann ist das Produkt seiner Gedanken, und wenn er —«
»Ja, das stimmt, und deshalb haben wir nichts Gemeinsames, du und ich.«
»Aber ich habe dich doch gern, Ramón. Wir sind doch seit Jahren gute Freunde, stimmt das nicht?«
»Ja, ich weiß. Aber ich verstehe nicht, warum du mein Freund bist. Ich glaube, für ich ist ›Freund‹ ein heiliges Wort. Entweder bist du verrückt oder du lügst. Oder du verbirgst etwas vor mir.«
»Du kannst dir einfach nicht vorstellen, daß —«
»Du gibst nicht auf. Das ist deine Religion, Teo.«
»Nein — ich glaube nicht, daß ich als Freund an jemandem festhalten würde, den ich für unwürdig halte, Ramón. Und mit der Religion — gut sein zu seinen Mitmenschen, ist das nicht die Grundlage aller Ethik?« Es klang viel zu pompös — er hatte etwas anderes sagen wollen. »Du suchst ja auch nach Gründen, warum du mich magst — nach intellektuellen Gründen. Warum überläßt du das nicht der Freundschaft zwischen uns? Du brauchst … auch diese Reise nicht mit mir zu machen. Ich habe dich nur gebeten, weil ich gern mit dir zusammen bin. Ich bin doch auch sehr einsam — ohne Lelia.«
»Aber ich habe sie umgebracht, Teo — ich habe sie umgebracht, und aus so einem nichtigen Grund. Nur damals erschien er mir nicht nichtig.« Seine Stimme brach erstickt ab. Er schloß die Augen, bedeckte sie mit der Hand und stützte die Ellbogen auf die Knie.
»Was war der Grund?«
»Ich wollte sie heiraten. Ich war unglücklich, ich dachte …«
»Und dann — was ist dann passiert?«
»Und dann bin ich in die Küche gegangen und habe das Messer geholt.« Ramón blickte Theodore an. »Ich sagte, dies sei ihre letzte Gelegenheit. Aber sie dachte, ich mache nur Spaß. Und als ich dann angefangen hatte, konnte ich nicht aufhören. Ich habe immer weiter zugestochen«, sagte er mit weicher und hastiger Stimme. »Und die ganze Zeit hat sie etwas zu mir gesagt, vielleicht hatte sie es sich ja anders überlegt.«
»Und dann hast du sie vergewaltigt?«
»Das weiß ich nicht mehr. Ich muß den Verstand verloren haben, während ich zustach, und danach erinnere ich mich an nichts mehr. Auch nicht, daß ich nach Hause gegangen bin, aber ich war ja dann zu Hause.«
»Und dann bist du ausgegangen und hast die Blumen gekauft?«
»Das weiß ich auch nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß ich anfing, sie zu erstechen. Und ich weiß nicht mehr, daß ich aufgehört habe.« Mit verschwommener Beharrlichkeit blickte er Theodore an, als sei er — in Trance — in den Fängen eines Dämons, der ihn wie eine Marionette reden ließ. »Ich weiß noch, daß ich ihr die Nase abgeschnitten habe, Teo. Stell dir das vor.«
Theodore suchte nach einer Zigarette, fand aber keine in den Taschen.
»Stell dir vor, daß man daran jede Nacht denken muß, Teo«, sagte Ramón in seine Hände. »Dann weißt du, Wieso ich den Verstand verloren habe.«
»Du hast den Verstand ja gar nicht verloren, Ramón«, sagte Theodore automatisch.
Ramón sah ihn an. »Die einzigen, die mir wirklich glauben, sind die Priester. Und die hast du immer borniert genannt.«
»Borniert habe ich sie nicht genannt.« Aber wahrscheinlich hatte er es doch getan. Nicht völlig borniert — davor schützte sie ihre Organisation. Ihr stärkstes Druckmittel war die Sünde; sie mußten sich eigentlich gefreut haben, als eins ihrer Schäfchen mit einer maßgerechten Sünde — und was für einer! — vor sie hintrat, einer Sünde, mit der man ihn sein eben lang festhalten und ängstigen konnte. Doch dann überkam ihn ein Gefühl der Bitterkeit, das seine Gedanken auslöschte. Er wollte fühlen, was Ramón fühlte. »Jeder Mensch begeht Sünden und Verbrechen, Ramón. Die Unterschiede sind nur graduell.«
Ramón schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht dasselbe. Nicht wenn du nicht daran glaubst. Du glaubst ja nicht an die Sünde, Teo.«
»Natürlich glaube ich, daß es Sünden geben kann. Ich glaube nicht an die Erbsünde, so wie du es tust. Die Geschichte vom Sündenfall ist für mich symbolisch, sie bedeutet, daß das Wissen von der Welt Korruption mit sich bringt — der Sturz aus der Gnade, das meine ich. Aber wir müssen ja in der Welt leben. Ich finde, die Erbsünde darf nicht zur Belastung für das ganze Leben werden. Vor allem glaube ich nicht, daß jemand durch das Bewußtsein der Sünde ein besserer Mensch wird — im Gegenteil, eher ein schlechterer.« Theodore hatte sehr eindringlich gesprochen, aber seine Worte schienen Ramón gar nicht erreicht zu haben. Er starrte vor sich hin und schaukelte leise von einer Seite zur andern.
»Ich werde nie wieder etwas töten oder verletzen, Teo. Nicht das allerkleinste Ding«, sagte er ruhig.
»Ich glaube, deine Gedanken werden sich ändern.«
»Was meinst du?«
Theodore behielt die Hände in den Taschen, er fühlte, daß sie zitterten. »Du wirst diese Szene nicht immer wieder und wieder durchleben. Das meine ich.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte Ramón.
Es klingelte.
»Das ist Sauzas. Ich mach schon auf«, sagte Theodore und ging hinaus.
Inocenza kam von oben heruntergelaufen. Theodore sagte ihr, er erwarte Sauzas. Sie ging an die Haustür und öffnete.
Theodore begrüßte Sauzas im Wohnzimmer und erinnerte ihn flüsternd an die Vereinbarung, den Diebstahl des Tagebuchs nicht zu erwähnen. Dann gingen sie nach oben ins Atelier, und Theodore wiederholte seine Ansicht darüber, wie der Dieb hereingekommen war. Er erzählte, daß Inocenza den ganzen Abend im Nachbarhaus bei den Velasquez gewesen war. Sauzas blies etwas Puder auf die Fensterbank und untersuchte sie dann mit einer Handlinse.
Gleich darauf richtete er sich auf, stieß das Fenster auf und suchte außen am Sims nach Fingerabdrücken. Dann lächelte er und hob die Augenbrauen. »Sehr ordentlich, unser Dieb, das muß man sagen. Kein einziger Fingerabdruck. Als ob er alles mit Wasser und Seife abgewaschen hätte!«
Sie blickten hinunter auf den efeuüberwachsenen Steg zwischen den beiden Häusern. Der Efeu — kräftig und dunkelgrün — wies keinerlei Anzeichen auf, daß jemand die Ranken eingerissen oder plattgedrückt hatte. Der Steg war etwa einen halben Meter breit; auf der Straßenseite hatte er noch einen schmalen Sandstreifen und nach außen gebogene Spitzen, an denen sich jemand, der auf dem Steg entlangkroch, gut festhalten konnte.
Sauzas ließ sich die gestohlenen Gegenstände aufzählen und bat Theodore, in den Schränken nachzusehen, ob irgend etwas an Kleidung fehlte. Theodore meinte, es fehle nichts.
»Und auch aus Ihrem Zimmer nichts, Inocenza?« fragte Sauzas.
»Nein, Señor.«
»Hatten Sie Ihre Schlüssel gestern abend bei sich?«
»Nein, Señor. Ich dachte ja, ich käme mit Don Teodoro zusammen zurück.«
»Wo waren die Schlüssel?«
»In meiner Handtasche. Oben in meinem Zimmer.«
»Sind sie dort auch jetzt? Haben Sie nachgesehen?«
»Nein, Señor, nachgesehen habe ich nicht.« Inocenza blinzelte und lief dann schnell die Treppe hinauf. Gleich darauf hörten sie einen Schrei, und Inocenza kam heruntergestürzt.
»Meine Schlüssel sind weg, Señor!«
Theodore und Sauzas stiegen hinauf in ihr Zimmer. Die Schlüssel waren am Futter ihrer Handtasche festgesteckt gewesen; sie zeigte ihnen die Löcher von der Sicherheitsnadel rechts von der Geldbörse. Nie bewahrte sie die Schlüssel an einer anderen Stelle auf.
»Na ja, wir müssen sofort die Türschlösser ändern lassen.« Theodore war erschöpft und sehr müde.
»Und außerdem muß ein Wächter her, Tag und Nacht«, sagte Sauzas. »Viel hat der Einbrecher nicht mitgenommen, aber er hat doch den ganzen Haushalt durchsucht, nicht wahr. Und hat wieder die Schlüssel mitgenommen und keinerlei Fingerabdrücke hinterlassen.«
Theodore hörte das betonte »Wieder«. Vermutlich hatte Lelias Mörder auch ihre Schlüssel. Aber ihre Wohnung war von niemandem betreten worden, außer von der Polizei und Josefina. Die Wohnung wurde bewacht.
Vom Telefon in Theodores Zimmer aus rief Sauzas seine Dienststelle an und bestellte einen Wachtposten. Dann sagte er zu Theodore: »Wir werden bei den Hehlern nach Ihren Sachen Ausschau halten, Señor.«
»Die Sachen interessieren mich weniger als der Dieb«, entgegnete Theodore.
»Ja natürlich, mich auch.« Sauzas zündete sich eine Zigarette an. »Ihr Freund Ramón interessiert sich nicht sehr dafür, nein? Wo ist er?«
»In seinem Zimmer. Er war ja gestern den ganzen Abend mit mir zusammen.« Theodore sah, wie Sauzas leicht lächelte und nickte. »Señor Capitán, wir möchten gern nach Guanajuato fahren, morgen oder übermorgen. Wir wollen ein paar Tage dort bleiben. Ich kann Sie von dort aus anrufen und Ihnen das Hotel sagen, wo wir wohnen.«
»Guanajuato«, wiederholte Sauzas nachdenklich. »Haben Sie einen bestimmten Grund dazu, Señor?«
»Nein. Wir möchten nur mal woandershin.«
»Ja, ich denke, das wird gehen«, meinte Sauzas. »Bleibt Inocenza hier?«
»Ja, das hatte ich vor«, sagte Theodore. Sauzas nickte. »Den Wächter lassen wir hier. Und bis er kommt, möchte ich hierbleiben. Wenn es Ihnen recht ist, Señor, warte ich oben in Ihrem Atelier. Von dort kann ich die Straße übersehen und weiß, wann er kommt.« Er ging nach oben.
Theodore nahm sich das Telefonbuch vor und rief einen Schlosser an. Man versprach, ihm »nach drei Uhr« einen Mann zu schicken, und Theodore wußte, das konnte ebensogut morgen wie übermorgen heißen; aber er ließ es dabei.
Inocenza machte jetzt alles zum Lunch fertig, und Theodore lud Sauzas ein, mit ihnen zu essen, was er aber ablehnte. Der Wächter kam, gerade bevor Theodore und Ramón sich zu Tisch setzten. Er sei in Zivil, sagte Sauzas, und werde jetzt acht Stunden lang auf der anderen Straßenseite stehen bleiben, bis ihn ein anderer Mann ablöste.
»Und wie geht es Ihnen, Ramón?« fragte Sauzas.
»Danke schön, sehr gut.«
»Hat Ihnen die Party gestern abend gefallen?«
»Es war recht hübsch«, erwiderte Ramón.
»Also — ich halte Sie auf dem laufenden«, sagte Sauzas und verabschiedete sich.
Der Schlosser erschien, und die Schlösser wurden ausgewechselt. Sie beschlossen, am übernächsten Tag, dem 7. März, nach Guanajuato zu fahren. Theodore bezahlte eine Monatsmiete für Ramóns Wohnung. Inocenza sollte im Hause bleiben, bis Theodore sie holen ließ; er hielt es für möglich, daß sie nach ein paar Tagen im Hotel vielleicht irgendwo in Guanajuato oder sonstwo ein Haus mieten könnten. Inocenza sollte tagsüber im Hause bleiben, aber nachts wollte sie mit Constancia zusammen in deren Zimmer schlafen, weil sie allein Angst hatte.
Die Wächter marschierten die Straße auf und ab oder bauten sich gegenüber dem Hause auf. Manchmal waren es zwei Wächter, die miteinander auf und ab gingen.
Am Morgen des 7. März kam Inocenza gegen neun Uhr vom Patio herein, wo sie Blumen begossen hätte, und hielt eine braune Papiertüte in der Hand. »Schauen Sie, Señor! Ist das nicht Ihr Tagebuch?«
Theodore war mit den Koffern im Wohnzimmer. Die Tüte war oben offen. Es war tatsächlich sein Tagebuch. »Pscht, nichts Ramón sagen!« flüsterte er, denn die Tür zu Ramóns Zimmer stand offen. »Wo haben Sie es gefunden?«
»An der Pforte, zwischen zwei Gitterstäben. Was glauben Sie, wer es dahingetan hat?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Theodore. Schöner Wächter, dachte er spöttisch.
»Ramón?« fragte Inocenza mit vor Furcht plötzlich schriller Stimme.
»Aber nein, Inocenza. Es ist neulich zusammen mit den anderen Sachen gestohlen worden. Ich habe es Ramón gar nicht gesagt. Das ist alles. Nun sagen Sie es ihm auch nicht. Verstehen Sie? Ich werd’s einfach dem Capitán Sauzas sagen.«
Inocenza nickte, schien aber nicht zu begreifen.
Theodore wartete, bis sie hinausgegangen war, und schlug dann hastig das Tagebuch auf. Es schien nichts verändert, keine Seiten herausgerissen oder markiert. Als er es gerade zuschlagen wollte, sah er, daß das große Foto von Lelia fehlte, das vom in der Innenseite gesteckt hatte. Und zu spät fiel ihm ein, daß vielleicht Fingerabdrücke auf dem Buch gewesen waren, die nun von seinen eigenen Fingern verwischt waren. Als er das Buch schloß, sah er in einer Ecke des grünen Einbandleders einen langen Kratzer. Er mochte von einem scharfen Stein herrühren, oder von einer Messerspitze, oder von einer Katzenkralle.
19
Theodore war schon drei- oder viermal in Guanajuato gewesen, aber immer nur für einen Tag und eine Nacht. Die Stadt hatte für ihn etwas Besonderes, er liebte sie. Andere mexikanische Städte waren auch alt, hatten verlassene Silberminen und Aquädukte, doch in Guanajuato war künstlerisch alles wie aus einem Guß, wie ein wohlüberlegtes Gemälde. Wenn Theodore an Guanajuato dachte, sah er eine Luftaufnahme von einer Stadt auf Hügeln vor sich, die im Schutz von riesigen Bergen lag, eine Stadt aus blaßrosa und braunen und gelben Tönen. Einmal hatte er diese imaginäre Luftaufnahme gemalt; es war ein kleines Bild geworden, denn die Stadt breitete sich zwar weit aus, aber wenn man dort war, hatte man das Gefühl von Kleinheit, von einer Ausdehnung, die sich im Geiste gut übersehen ließ. Das Bild hatte in Lelias Schlafzimmer gehangen, er hatte keine Ahnung, wo es jetzt war oder ob jemand wußte, daß es ihm gehörte. Signiert hatte er es nicht, die Signatur hätte die Komposition gestört.
Die Stadt lag nicht an der Hauptautostraße; es gab auch nur eine einzige anständige Ein- und Ausfahrtstraße, das war die Abzweigung bei Silao, die sich an dem engen Cañon de Marfil entlangwand. Unten vom Cañon aus stieg die Straße an bis zu einem Panorama aus Ebenen und Bergen, ohne jedes Anzeichen menschlicher Besiedlung, dann fiel sie wieder ab in die Schlucht, in der es kein Sonnenlicht gab. Blau schimmerten die Berge am Horizont, und gleich anderen Landschaften in Mexiko, die Theodore kannte, schien auch diese majestätisch zu verkünden: »Seht, hier bin ich — millionenmal größer und älter als ihr. Schaut mich an und laßt eure kleinlichen Sorgen fahren!« Es war der melancholische Trost der Sterne in einer klaren Nacht. Theodore entspannte sich, als wäre ein Stirnrunzeln ausgewischt worden.
Sie fuhren an zwei Indianerkindern vorüber, die eine Ziege an ihren Barthaaren entlangführten, und Theodore winkte als Antwort auf ihr Winken.
In einer Kurve sprangen zwei Kinder unmittelbar vor den Wagen. Die Bremsen kreischten, und der Tragkorb mit dem Kater glitt vom Rücksitz des Wagens auf den Boden. Ramón schlug mit der Stirn gegen die Scheibe.
»Orangen, Señor? Gute Orangen! Ein Peso der Kasten!« Das kleine Mädchen stieß den Kasten durch das Wagenfenster.
»Ihr kommt ganz bestimmt um, wenn ihr so weitermacht!« sagte Theodore aufgebracht zu der Kleinen, die ihn verständnislos anblickte. »Der nächste Wagen hat vielleicht keine so guten Bremsen.« Aber er suchte schon nach einem Peso, denn wenn er die Früchte nicht kaufte, würde die Kleine einfach am Wagen hängenbleiben, und sie würde weiter vor jedem Wagen herlaufen, bis sie alt genug zum Heiraten War. Sie warf ihm jetzt die Früchte ohne weiteres in den Schoß.
»Gracias, Señor. Noch ein Kasten?«
»Nein, nein Nina, danke schön.« Theodore versuchte, anzufahren, bevor der kleine Bruder ihm seine Eidechse durch das Fenster schieben konnte, aber er war doch nicht schnell genug.
»Iguana, Señor! Fünf Pesos! Gibt schönen Gürtel!«
»Nein — nein, danke«, sagte Theodore und lehnte sich zurück vor dem gräßlich grinsenden Echsengesicht. Langsam fuhr er an.
»Vier Pesos!« Der Junge hielt das Tier an der dicken Kehle und am Schwanz und lief neben dem Wagen her. Der Iguana blickte Theodore direkt in die Augen; wie ein Dämon geradewegs aus der Hölle schien er zu sagen: »Kauf mich nur — dir werd ich’s zeigen!«
»Drei Pesos!«
»Ich kann doch nichts damit anfangen!«
»Zwei Pesos!« Der Junge nahm den Iguana aus dem Fenster, lief aber weiter neben dem Wagen her. »Schuhe machen! Gürtel machen!« Er sprach englisch. Der Iguana krümmte sich heftig, aber der junge hielt ihn fest.
Theodore fuhr schneller.
»Ein Peso! Ho-o-ombre!« heulte der Junge.
Theodore sah Ramón an. »Hast du dir weh getan? Das tut mir leid.«
»Bloß meine Nase«, sagte Ramón und lächelte.
GUANAJUATO CON RUIZ CORTINES
stand weißgemalt auf einer großen Felsflanke an der Straßenseite. Nach der nächsten Kurve und einer steil abfallenden Straße waren sie plötzlich in der Stadt, inmitten von rötlichen Gebäuden und Wohnhäusern. Wieder kamen Straßenjungen zum Wagen gestürzt und wollten die Fenster nicht loslassen.
»Suchen Sie Hotel, Mister?«
»Laßt die Türen los!« schrie Theodore sie an. Er mußte jetzt langsamer fahren, und die Jungens hielten Schritt.
An der unteren Plaza hielt Theodore an, sie stiegen aus und schlossen den Wagen ab. Schon wieder waren Jungens zur Stelle; einer war ein Dreikäsehoch von etwa fünf, der Theodore geradezu drohend ansah, als ob er ihn hypnotisieren wolle, und sagte:
»Sie suchen Hotel mit heiß Wasser? Kommen Sie, ich zeige! Hotel Santa Cecilia!«
»Ach, das ist ja besetzt!« sagte ein größerer Junge mit Stimmwechsel. »ne Pension müssen Sie nehmen, Mister!«
»Wir brauchen kein Hotel«, gab Theodore freundlich zur Antwort; es war die einzige Art, sie loszuwerden. »Wir bleiben gar nicht hier.« Er nahm Ramón am Arm.
Die Jungens folgten ihnen eine Weile, immer noch mit lauten Rufen, und gaben es dann auf. Es war jetzt fast fünf, und die Sonne stand noch über den Dächern. Theodore ging langsam; er genoß das Gefühl — das nicht lange anhielt, er wußte es —, wie die Menschen ringsum wie auf einer Bühne zu spielen schienen, als sei die Szene von jemandem aufgebaut worden um einer einzigen Pointe Willen. Alle bewegten sich und schienen ihrer Rolle zu folgen.
Sie standen jetzt auf dem großen Platz des alten Teatro Juarez. Die Fassade war ein Durcheinander von schimmernd grünen Steinsäulen und Verzierungen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Selbst das wirkte anziehend, wenn man es kannte.
»Das Panteon ist draußen vor der Stadt, auf einem Hügel«, sagte Ramón.
»Ja, ich weiß.« Das Panteon war der Friedhof mit den Mumien. »Für heute ist es zu spät, glaube ich. Wir können morgen hingehen, nicht wahr.«
»All right«, willigte Ramón freundlich ein.
Theodore fragte ihn, ob er irgendein Hotel besonders gern habe. Ramón sagte, er habe meistens in einen! sehr bescheidenen Hotel namens La Palma gewohnt. »Aber vielleicht ist es dir nicht gut genug, Teo.«
»Das macht überhaupt nichts. Laß uns nur versuchen.«
Sie schlenderten zur Plaza zurück, wo der Wagen stand; dort war auch das Hotel La Palma. In der Luft hing ein Geruch nach Holzfeuer, ein appetitanregender Duft von geröstetem Mais und Tortillas. Die Straßenlaternen brannten; der Abend begann.
Das Hotel La Palma hatte eine breite Einfahrt, und während sie an der öden Rezeption warteten, daß jemand erschien, fuhr ein Wagen vorbei und glitt am Hause entlang bis zu der Garage hinter dem Hotel. Es gab nur noch ein Zimmer zu achtzehn Pesos, im dritten Stock. Ein Fahrstuhl war vorhanden, aber er funktionierte gerade nicht. Als Ramón noch zögerte, sagte der Mann in der Eingangshalle grob:
»Alle anderen Hotels in der Stadt sind ausverkauft. Wenn Sie mir nicht glauben, rufen Sie selber an.« Er wies auf das Telefon.
»Schön, wir nehmen es«, sagte Theodore.
Sie nahmen ihre Koffer und trugen sie nach oben. Das Zimmer machte einen ungastlichen Eindruck mit dem durchgelegenen Doppelbett, dem einen Stuhl, einem wackeligen Tisch und dem Haken an der Tür, an dem zwei Kleiderbügel hingen. Kein Bild an der Wand, kein Papierkorb, nicht einmal ein Aschbecher. Theodore amüsierte sich über die karge Ausstattung.
»Wahrscheinlich das schlechteste Zimmer im Haus«, sagte Ramón entschuldigend.
»Mir macht es gar nichts aus.«
Theodore nahm den Kater aus dem Tragekorb und brachte ihn nach unten auf die Plaza. Er war an Reisen gewöhnt und hatte schon viele Plazas in Mexiko und Südamerika gesehen. Immer erregte er Aufsehen, die Leute fragten, was das für eine Katze sei, und staunten, wenn das Tier wie ein Hund auf Befehl herankam. Selbst Polizisten, die zunächst nur pflichtgemäß herankamen, beugten sich zu ihm nieder und staunten über seine Größe und die blauen Augen. Die redseligen Straßenjungen in Guanajuato hatten viele Fragen, die Theodore alle gutgelaunt beantwortete, doch schließlich mußte er Leo vor einigen Jungens retten, die ihn durchaus auf den Arm nehmen wollten. Eins oder zwei der Kinder sahen aus wie jugendliche Delinquenten. Wenn einer versuchte, Leo zu stehlen, so würde ihm das schlecht bekommen, dachte Theodore.
Das Zimmer hatte weder ein Bad noch einen Vorhang um die Dusche. Das Wasser in der Dusche war kalt und sehr unangenehm, da Theodore schon vorher fröstelte. Er rieb sich heftig mit dem viel zu kleinen Handtuch ab, unterdrückte aber eine abfällige Bemerkung. Das Bett hatte nur eine einzige Decke; auch das war zu wenig, und Theodore nahm sich vor, aus dem Kofferraum des Wagens das Wollplaid zu holen.
Sie aßen zur Nacht in einem einfachen Lokal gegenüber dem Hotel, einem schmalen Raum mit abgeteilten Boxen und einem Musikautomaten. Auf dem Tisch standen kleine Papierservietten in einem Behälter. Nach dem Essen schlenderten sie durch ruhige Straßen mit gelblichrunden Lampen. Aus Gründen, die er nicht erklären konnte, fühlte sich Theodore wohl und glücklich. Es war eine Stimmung, die ihn oft überkam, wenn er mit einer Arbeit zufrieden war, aber heute schien sie von der Stadt selbst herzurühren. In drei Servietten eingewickelt trug er die Hühnerreste seiner drei Enchilados suizos, die für Leo bestimmt waren.
Als sie dann zu Bett gehen wollten, hatte er doch das Plaid aus dem Wagen vergessen. Sie hatten sich in kaltem Wasser gewaschen und standen da mit klappernden Zähnen.
»Ich muß noch eine Decke kommen lassen, Ramón.«
Aber natürlich war kein Telefon im Zimmer, und er war im Pyjama. Theodore wäre fast im Bademantel zu seinem Wagen hinuntergegangen, der in der Garage stand, aber — Er sah Ramón an und lachte.
Ramón lachte nicht. Vielleicht waren die Kopfschmerzen zu stark, oder er wollte, daß Theodore aus dem Zimmer ging, damit er für sich beten konnte.
Theodore zog den Anzug über den Pyjama. Im Treppenhaus war kein richtiges Licht, aber es war einigermaßen erleuchtet, weil überall die Türen offenstanden. Mit unpersönlicher Neugier warf Theodore einen Blick in die offenen oder halboffenen Türen, hinter denen Menschen sich auszogen, im Bett lagen, gähnten, sich kratzten oder ihre Gitarre stimmten. Ein Mann in Hausschuhen und Bademantel ging langsam in der Diele im zweiten Stock auf und ab. An der Rezeption im Erdgeschoß war niemand. Er fragte einen der Jungen, die im Foyer herumsaßen, ob er noch eine Decke haben könne.
»Ah nein, Señor. Die Decken sind alle eingeschlossen, und der Señor mit den Schlüsseln ist schon fort.«
»Aha. Danke.« Er ging nach hinten und trat an die verschlossene Garagentür, an der ein Vorhangschloß hing. »Können Sie das aufschließen?« fragte er den Jungen.
Es folgte eine längere Suche nach dem Schlüssel in den Brieffächern hinter der Rezeption. Schließlich fanden sie ihn, die Tür wurde aufgeschlossen, das Licht angeschaltet, und nachdem er über einen andern Wagen hinweggeklettert war, erreichte Theodore den Kofferraum seines Autos und nahm die Decke heraus. Der Wagen war so eingeklemmt, daß auf jeder Seite knapp drei Zentimeter Platz blieben.
»Der Wagen darf von niemand außer mir herausgeholt werden«, sagte er zu den Wächtern. »Wenn er versetzt werden muß, will ich geweckt werden, egal wie spät es ist.«
»Sí, Señor.«
Er hatte zwar den Schlüssel, und die Bremsen waren angezogen, aber er hatte es erlebt, daß Wagen einfach aus dem Wege gehoben oder gestoßen wurden, wenn der Eigentümer nicht dabei war.
Wieder stieg er nach oben. Auf jeder Etage waren die Leute jetzt im Begriff, ins Bett zu gehen. Im dritten Stock bog er nach links um und trat in sein Zimmer.
Ramón stand am Fenster und schaute hinaus — obgleich das Fenster Aussicht auf nichts bot.
»Die Decke, Ramón!«, sagte Theodore und breitete sie auf das Bett. Er hätte vorgeschlagen, daß sie noch die Zeitung lesen oder in die Bücher sehen, die er mitgebracht hatte, aber das einzige, trübe Licht der Bettlampe ließ es nicht zu, daß zwei Leute gleichzeitig lasen. Theodore nahm seinen Mut zusammen und legte die Hand auf Ramóns Schulter. »Komm ins Bett, Ramón. Du wirst dir dort nur eine Erkältung holen. Wir sind immerhin auf über zweitausend Meter Höhe.« Und als Ramón sich mit dem Anschein von Bereitwilligkeit umwandte, fügte er hinzu: »Und nimm diese dämliche Pille.« Diesmal hielt er die Pille in der Hand bereit.
»Danke nein. Ich habe keine Kopfschmerzen.«
»Ich sehe es dir doch an. Du wirst zu Bett gehen und überhaupt nicht schlafen. Was willst du wem vormachen, Ramón?«
Schweigen fiel. Ramón putzte sich die Zähne im Badezimmer. Still kam er heraus in seinen abgetretenen grauen Hausschuhen und legte sich auf das Bett, oben auf die Decke, die Hände hinter dem Kopf. Er schien es auf eine Erkältung abgesehen zu haben, oder zumindest auf körperliches Unbehagen.
»Also, Teo — sag, woran du denkst.«
Theodore gingen viele Dinge durch den Kopf, aber er suchte nach Worten, die ihm sanft genug schienen. »Wir haben uns mal unterhalten über Religion als organisiertes So-tun-als-ob. Weißt du noch?«
»Nein, weiß ich nicht mehr«, gab Ramón gleichgültig zurück.
Theodore ballte die Hände in den Taschen seines Bademantels; er fröstelte. »Es war an einem Abend, als wir einen Spaziergang um den Zócalo machten, du und ich, und nachher gingen wir in den Dachgarten vom Hotel Majestic und tranken etwas.« Ramón schien sich auch jetzt nicht zu erinnern. »Diese physische Gleichgültigkeit bei dir — wem zu Gefallen tust du das, dir selbst oder Gott? Du mußt entweder leben oder nicht leben, aber nicht so halb und halb.«
»Ich denke, das ist meine Sache.«
»Natürlich ist das deine Sache. Ich dachte nur an unsere Unterhaltung von damals. An dem Abend damals, da hast du verstanden, was ich meinte, und du warst auch einverstanden, obgleich ich gar nicht versuchte, dich zu überzeugen.«
»Ach ja, jetzt fällt es mir ein. Wir sprachen über Rituale. Man kann an sie glauben, Teo. Du glaubst vielleicht nicht an sie, aber ich tue es.«
»An ihren Nutzen glaube ich auch, aber nicht an ihren inneren Wert, und das tatest du damals auch nicht.«
»Das ist aber Jahre her. Mindestens zwei Jahre.«
Theodore sah, daß er unterliegen werde, aber er fuhr fort: »Wir sprachen damals über allgemein praktizierte Scheingründe, Vorwände, Rituale, egal wie du es nennst. Das rituelle Fasten nach dem Karneval kann von Wert sein, gewiß, aber es hat keinen Wert an sich. Es ist symbolisch. Dein Körper ist aber nicht symbolisch, er ist durchaus faßbar, wenn auch nur eine Zeitlang. Zum Beispiel —«
»Und Gott ist daher auch nur ein Vorwand?«
Theodore zögerte. »Ich spreche von den Ritualen um ihn herum. Rituale können zu inhaltlosen Lehrsätzen werden, und sie können geistige Störungen verursachen.«
Ramón sagte nichts.
»Ich las neulich von Menschen auf einer Südsee-Insel, die Paranoia als etwas Normales ansehen und sogar fördern. Bei uns wird Paranoia nicht akzeptiert; ein Paranoiker hat immer Schwierigkeiten, so oder so. Die Gesellschaft lehnt sie ab. Auf dieser Insel werden Leute, die keine Paranoia haben, als anormal angesehen und gemieden. Was die Frauen gekocht haben, können sie nicht miteinander austauschen, denn sie sollen annehmen, daß es vergiftet ist. Ob das vernünftig ist, darüber denkt niemand nach, weil alle so erzogen sind.« Theodore schwieg. Er zitterte vor Kälte am ganzen Körper.
»Ja — und was willst du damit sagen?« fragte Ramón. Er lag auf dem Bett und stützte sich auf einen Ellbogen.
»Daß wir mit ebenso absurden Ritualen leben. Kaum jemand wagt sie zu kritisieren, weil er sonst die Mehrheit kränken würde.«
»Aber du wagst es.«
»Ja, gewiß, ich wage es, wenn mir danach ist.« Theodore zündete sich eine Zigarette an und hielt einen Augenblick die Finger über die kleine Flamme des Feuerzeugs, um sie zu wärmen. Im Zimmer nebenan stritten sich ein Mann und eine Frau darüber, wer schuld daran war, daß sie im letzten Hotel eine Thermosflasche mit heißem Kaffee hatten stehenlassen. »Du wunderst dich vielleicht über das, was ich anfangs sagte, Ramón. Daß ein bestimmter Vorwand oder ein Ritual durchaus zur Stärkung der Persönlichkeit oder des Charakters beitragen kann —«
»Immer suchst du nach dem Nutzen!«
»— wenn es nicht gegen die Gesellschaft gerichtet ist, und das ist ja der Glaube an einen christlichen Gott gewiß nicht. Es braucht nicht mal ein religiöses Ritual zu sein. Jeder Vorwand kann einem Menschen Hoffnung und Kraft geben, nur muß man sich klar machen, daß es eben ein Vorwand ist. Man braucht ihn deshalb nicht aufzugeben.«
»Du redest immer, als ob die Menschen wählen könnten.«
»Ja, das können sie auch.«
»Nein, das können sie nicht, wenn sie glauben, Teo. Das gehört bloß zu deinem existentialistischen Vokabular. Wählen — entscheiden — kein Mensch, den ich kenne, entscheidet sich für irgendwas ganz Einfaches so schwer wie du.«
Theodore lächelte. Ramón hatte keine Ahnung, wie schwer es ihm gefallen war, sich für die Freundschaft mit Ramón zu entscheiden, unwiderruflich und mit deutlichem Ja, als er immer noch die Möglichkeit einräumte, daß Ramón Lelias Mörder sein konnte. »Ich wollte nur sagen, daß es in jeder Religion gewisse Einzelheiten gibt, die keinerlei Grund haben. Das wissen die Menschen auch, bewußt oder unbewußt, und doch halten sie daran fest, weil sie erkennen — oder zu erkennen glauben —, daß sie sehr viel Nutzen davon haben.«
»Schon wieder Nutzen.«
»Meinetwegen. Oder weil sie Angst davor haben, sie aufzugeben, was wohl noch schlimmer ist. Oder aus Gewohnheit — fast ebenso schlimm.«
»Mir scheint, du hast überhaupt keine Achtung vor irgend etwas, Teo«, sagte Ramón grollend.
Ein seltsamer Angstschauer überlief Theodore. Er richtete sich etwas höher auf. »Das hat doch hiermit nichts zu tun, oder? Du ärgerst dich immer, wenn ich von ›Wahl‹ spreche. Ich weiß, mit dem Wählen ist es vorbei, wenn man einmal den Sprung getan hat — ich meine in eine Religion. Vielleicht hat man auch schon am Anfang gar keine Wahl. Ähnlich wie wenn man sich verliebt — man kann nichts dazu tun. Den Intellekt — jedenfalls auf diesem Gebiet — kann man dann erstmal auf Eis legen. Aber ist es wirklich sündhaft zuzugeben, daß einzelne Teile bei Kasteiungen, Opfern oder Ritualen organisierte und sozial anerkannte Vorwände sind?« Er gestikulierte, die Pille flog aus den kalten Fingern und prallte gegen die Wand. Leo sprang von seinem Bett herunter in Theodores Koffer, um sie zu suchen. Theodore seufzte. Wieviel Gerede — und alles nur, damit der Junge zum eigenen Besten die Pille herunterschluckte!
Ramón war aufgestanden. »Komisch, wie du es immer auf die einfachste Weise fertigbringst, dich an eine Sache anzuhängen, die schon jemand für dich fix und fertig gemacht hat — mit einiger Mühe. Du nimmst, was du brauchen kannst, und den Rest wirfst du weg.«
»Ich hänge mich nirgends an.«
Ramón machte ein paar steife Schritte zum Fußende des Bettes. »Und nur das, was du glaubst, ist die Wahrheit.«
»Ach —« Theodore wollte sich hinsetzen, aber außer dem Bett gab es nirgends einen Platz. »Die Wahrheit ist für alle Menschen alles — wie Existiantialismus, nicht wahr. Sie existiert nicht, deshalb suche wir sie immer weiter. Wenn du wirklich das System organisierter Vorwände in deiner Religion zugeben wolltest, dann würdes du da jetzt stehen und Schmerzen haben, Kopfschmerzen, die weder Gott noch sonst jemanden interessieren, nur dich selber. Du wärst auch nicht weiter weg von Gott.«
»Nein, und fühlen würde ich gar nichts, nehme ich an.« Ramón setzte sich auf das Bett. »Was würdest du mir also statt dessen anbieten, Teo? Das Nichts — die Leere? Ist es das?«
»Auf meine Weise glaube ich auch an Gott, Teo, aber wenn ich ganz ehrlich sein soll: ich weiß nicht, ob ich an ihn glaube oder nur so tue. Vielleicht werde ich das niemals wissen, und was macht es auch schon? Die Taten zählen, nicht die Rituale. Es gibt noch andere Möglichkeiten — Hoffnung zum Beispiel. Ich glaube, da tue ich auch nur so, aber dort ist es ein segensreiches So-tun. Ich erhoffe etwas Unerreichbares, und eben weil es unerreichbar ist, liebe ich es. Wie wunderbar ist der Augenblick, in dem man sich entschließt zu hoffen!« Theodore tat einen Zug an seiner Zigarette. »Ja, entschließt«, wiederholte er, weil Ramón lächelte. »Das ist es, glaube ich, was die Offenbarung bedeutet, und nicht als Illustration. Im Gegenteil: nichts haftet fester als das, woran man sich zu glauben entschlossen hat. Manchmal können alle Ärzte der Welt einen davon nicht mehr lösen. Offenbarung — das ist die Erkenntnis, daß man doch glücklich sein kann, wenn man sich nur entschließt, glücklich zu sein. Für Christen heißt die Wahrheit: ›Christus ist auferstanden. Er starb für meine Sünden. Deshalb werde ich das ewige Leben haben, ein Anlaß und ein Recht zum Glücklichsein. Ich kann ein Teil seiner Wahrheit sein.‹ Alle diese einzelnen Aussagen faßt man zusammen und nennt sie ›Wahrheit‹. Im Grunde ist es nichts als eine von tausend Jahren geheiligte Haltung, die zum Guten wie zum Bösen führen kann.«
Ramón ließ den Kopf auf das Kissen fallen. »Damit beweist du doch nur, was du immer sagst: daß jeder seine eigene Wahrheit hat.«
Theodore trug die fast zu Ende gerauchte Zigarette in den Waschraum und ließ sie in die Toilette fallen. Die Toilette hatte keinen Sitz, und das Becken trug innen, über dem Wasserrand, die Aufschrift: GLORIA. Als er zurückkam, saß Leo auf dem Fußboden und leckte sich die Pfoten. Ob er vielleicht die Tablette verschluckt hatte?
»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, Teo«, sagte Ramón, »so muß ich zugeben: ich weiß auch nicht, was die Wahrheit ist.«
Das war vielleicht die hoffnungsvollste Bemerkung, die er seit Lelias Tod geäußert hatte, dachte Theodore. Er schenkte sich ein Glas Wasser aus der Karaffe auf dem Nachttisch ein und nahm noch eine Tablette aus der Schachtel.
»Wenn du nicht lesen willst, dann mache ich das Licht aus, Ramón.«
»Schön, Teo. Gute Nacht, und schlaf gut.«
Theodore fühlte, daß Ramón wach in der Dunkelheit lag, obgleich er sich nicht rührte. Theodore schlief schließlich ein und erwachte, als das Bett sich sacht bewegte und Ramón sich leise und vorsichtig erhob. Er begann, langsam auf und ab zu gehen, und faßte sich ab und zu an die linke Kopfseite, hielt sie aber nicht fest und ließ auch nicht flüsternd die Flüche hören, die er sonst manchmal murmelte, wenn er Köpfschmerzen hatte. Er beschrieb die Schmerzen als einen Eisenhaken, der sich in seine Gehirn festgehakt hatte wie ein Fremdkörper — ein Bild, das Theodore immer an die Metallstange erinnerte, die ihn getroffen hatte.
20
»Sie brauchen Führer, Mister? Sie Amerikaner? Ich spreche Englisch!«
»Ich habe einen Wagen. Wollen Sie mitfahren? Stadttour, 25 Pesos. Hier ist mein Wagen, Señor!«
»Nein danke, wir möchten zu Fuß gehen«, sagte Theodore auf englisch. Sie standen auf dem Gehweg vor der großen, von Kugeln durchlöcherten Alhóndiga de Granaditas, dem Ziel der Attacke Hidalgos in der Revolution, dem Schauplatz von Pipilas heroischem Opfer und dem berühmtesten Gebäude der Stadt.
Sie gingen weiter, immer noch bedrängt von zwei oder drei der jugendlichen Fremdenführer. Ramón blieb stehen und blickte zurück auf den Torbogen und die verzierte obere Ecke. Vielleicht war dies die Ecke, in der monatelang Hidalgos Kopf gehangen hatte und langsam in der Sonne verwest war, als abschreckende Warnung für alle, die sich gegen die Spanier erheben wollten.
»Wollen Sie den Panteon besichtigen, Señores?« fragte eine jugendliche Stimme dicht neben Theodore. »Ich kann Sie hinbringen. Die Mumien …«
»Nein, danke«, sagte Theodore und zog die Wagenschlüssel aus der Tasche. Sie waren endlich auf dem Weg zum Panteon. Die Jungen standen im Halbkreis, der Wagen hatte sie für den Augenblick verblüfft.
»Da sind aber viele Straßen oben, Señor!« »Einbahnstraßen! Sie brauchen Führer!« »Sehr schlechte Straßen, Señor. Mit meinem Wagen kostet es bloß zwanzig Pesos. Ich fahre Sie durch die ganze Stadt!«
Auf Ramóns Anweisung bog Theodore in eine nach Westen führende steile Abzweigung ein, schlängelte sich durch die Einbahnstraße nahe der herrlichen Straße der Priester mit den fensterlosen braun-rosa Mauern und der Brücke, die an mittelalterliche Ortschaften Europas erinnerten, und fuhr schließlich geradeaus nach Westen weiter. Sie ließen die Stadt hinter sich; durch die Fenster blies ein frischer sonniger Wind. Theodore hatte nicht viel Lust, die Mumien anzusehen, aber er wußte, ein andermal hätte er auch nicht mehr Lust; und da er sie bei seinem Aufenthalt in Guanajuato ansehen mußte, mochte es ebensogut heute morgen geschehen. Nur war die Welt gerade angefüllt mit hellem Sonnenschein und frischem lebendigem Grün. Meilenweit entfernt sah er die Wipfel der Bäume, die sich im Winde bewegten. Er hätte den ganzen Tag damit zubringen können, das alles anzusehen.
»Da«, sagte Ramón und beugte sich vor, denn der Panteon lag höher auf einem Hügel rechts von ihnen. Theodore sah eine lange Mauer — die Höhe konnte er nicht feststellen — auf einem kleinen Plateau, dem sie jetzt auf vielen Windungen immer näher kamen. Auf der Mauer stand die gleiche Inschrift wie über dem Tor zum Friedhof, auf dem Lelia lag:
ÜBT DEMUT! HIER BEGINNT DIE EWIGKEIT,
UND HIER IST WELTLICHE GRöSSE STAUB!
Der Wächter am Tor wies ihn mit dem Wagen in ein kleines Geviert ein. Zu beiden Seiten fiel das Gelände mehrere hundert Meter ab. Ein halbwüchsiger Jung kam ans Wagenfenster gelaufen und fragte, ob er den Wagen parken solle. Theodore lehnte dankend ab.
»Letzten Monat ist hier ein Wagen über den Rand gefahren und hinuntergestürzt. Ich kenne mich aus mit amerikanischen Wagen«, sagte der Junge auf englisch. Zum Wenden war nicht genug Platz da, aber der Junge machte mit selbstherrlicher Miene kreisende Bewegungen, als wolle er genau das erreichen: daß Theodore zu wenden versuchte und dabei hinunterstürzte. Theodore stellte den Wagen parallel zu einem anderen Wagen ab, mit dem Kühler zur Kirchhofsmauer. Beim Ausfahren brauchte er dann nur rückwärts auf die Straße zu fahren bis zu einer Stelle, wo er wenden konnte.
Sie traten durch das Tor und sahen vor sich eine Fläche voller Gräber und Grabstätten, von einer Mauer umgeben, die dreimal so hoch war wie ein Mann und so dick wie eine Sarglänge. In den Mauerwänden waren dicht an dicht die Grüfte eingelassen, jede gekennzeichnet mit Namen und Datum. Der Boden war gelblich und knochentrocken, genau wie in Lelias Friedhof, als ob die Füße der Tausende von Trauergästen jeden Grashalm erstickt hätten. Doch das Lavendel der Grabsteinschatten, die blaßgrünen feuchten Spuren in den Wänden und die Sofort-Kaffee- und Marmelädengläser voll echter und künstlicher Blumen, frisch und verwelkt: das alles zusammen wirkte wie ein Gemälde von Seurat und nahm der Stätte viel von ihrer Düsterheit. Theodore trat an eine der leeren Grüfte und blickte hinein. Innen war sie mit gewöhnlichen Ziegelsteinen ausgekleidet. Anscheinend hatte hier ein Sarg gestanden, denn an der Wand lehnte ein rechteckiger Stein, der vorn an der Katakombe die Daten angegeben hatte: Maria Josefina Barrera 1888—1937. R.E.P.
»Die Grüfte werden vermietet«, sagte Ramón. »Wenn die Familie nicht bezahlt, nehmen sie die Leiche heraus.«
Theodore nickte, er hatte davon gelesen. Einige der Leichen gehörten jetzt zu den berühmten Mumien, andere hatte man vermutlich einfach weggeworfen, wie Abfälle.
»Hier geht es zu den Mumien«, sagte Ramón und wies auf eine Mauer. Theodore folgte ihm. Nahe der Mauer war ein Stück Boden zementiert, darin befand sich ein quadratisches Loch. Der hölzerne Deckel lag daneben.
Ramón blieb neben dem Loch stehen und bat Theodore durch eine Geste voranzugehen. Ramón hatte rötliche Schatten unter den Augen, heller als die rötlichen Grabsteine.
Eine eiserne Wendeltreppe führte nach unten. Theodor warf noch einen Blick um sich. Weiter links beugten sich zwei Frauen in Schwarz über ein Grab. Ein junger Mann kam gerade durch das Tor. Theodore sah auf seine Füße und begann den Abstieg. Er hatte angenommen, die Stufen führten in einen kleinen höhlenartigen Raum, und als er unten angekommen war und zu beiden Seiten matt erleuchtete Gänge sah, war ihm zumute, als sei er in eine Falle geraten. Nachdem sich seine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten, erschrak er erneut, als er unmittelbar links neben sich die Mumien erblickte. Sie lehnten Schulter an Schulter, den ganzen linken Gang entlang bis zum Ende. Einige waren ganz oder teilweise bekleidet, aber die meisten waren nackt.
Ramón wandte sich an einen kleinen Mann in grauem Anzug, der jetzt die Treppe herunterkam.
»Sie möchten die Mumien besichtigen?« fragte dieser, obwohl sich die Frage eigentlich erübrigte.
»Sí«, erwiderte Ramón.
Der kleine Mann drehte die Lampen etwas stärker an und trat in den Eingang zum Korridor, so daß sie sich an ihm vorbeischieben mußten.
Theodore ging zuerst hinein, und Ramón folgte ihm. Wieder kamen Schritte die Wendeltreppe hinab, man hörte ihr schwaches Echo in dem steinernen Tunnel. Theodore warf Ramón einen Blick zu und sah, daß er angespannt, aber ruhig aussah; dann begann er mit der Betrachtung der Mumien — nicht weil ihm daran lag, sondern weil er wußte, daß Ramón aufpaßte, ob er sie auch richtig ansah. Ihre Haut war blaßgelb, wie getrocknetes Leder. Fast alle hatten steiftrockenes schwarzes Haar auf dem Kopf und in der Schamgegend. Die Brüste der Frauen hingen herab wie leere Beutel. Theodore atmete flach. Überall roch es leicht säuerlich und so, als sei keine Luft vorhanden; er wußte nicht, woran es lag, er spürte nur, daß es keine Luft für die Lebenden gab.
Der kleine Wächter stand mit blicklosen Augen und schmalem Lächeln daneben; er sah absurd aus in dem schlaffhängenden Büroanzug und Hut. Vielleicht wollte er gerade zu seinem Vortrag ansetzen, wenn er nicht heute zu müde war. Hoffentlich war er zu müde, dachte Theodore.
Ein halbwüchsiger Junge kam nachlässig in den Gang; sicher einer der Jungen, die sich bei der Alhóndiga de Granaditas an ihn und Ramón herangemacht hatten, und Theodore hätte sich nicht gewundert, wenn er mit einer improvisierten Fremdenführung durch den Mumiengang begonnen hätte. Theodore ging langsam zum Ende des Korridors. Einen Augenblick blieb er bei einem Mann mit offenen Augenlidern ohne Augen stehen, dem der Kiefer heruntergefallen war, als ob er schnarche. Ein paar Zähne waren noch sichtbar. Der Penis fehlte, wie Theodore zuerst dachte, aber dann erblickte er ihn doch: ein trockenes, bindfadenähnliches Ding, das nur an seiner Lokation erkennbar war.
»Die Gestalt in dem schwarzen Anzug ist ein französischer Arzt«, sagte der Führer und wies auf eine der wenigen bekleideten Mumien. »Sehen Sie, wie gut erhalten er ist.« Er zeigte auf den gräßlichen, fast kahlen Kopf, der plötzlich, so schien es Theodore, nach Hautfarbe und Knochenbau wie ein Europäer aussah, und berührte gleichgültig das feine Spitzenhemd des Mannes, als habe der Tote keinen Anspruch mehr auf Respekt. »Das extrem trockene Klima von Guanajuato konserviert die Körper«, leierte er.
Ramón blickte unverwandt auf das Gesicht des französischen Arztes und auf die steif herabhängenden Hände. Theodore hätte gern gewußt, was er da zu sehen oder zu fühlen versuchte, als er so starr die Gestalt ansah, die der Geist längst verlassen hatte.
Theodore wandte sich um und stand dem Jungen von vorhin gegenüber, der lächelnd beiseite trat. Auf seiner Oberlippe sah man ein paar dunkle Haare, was Theodore in diesem Moment abstoßend fand.
Jetzt machte der Wächter die Besucher aufmerksam auf die stark angeschwollene liegende Gestalt einer Frau, die offenbar nach einem mißglückten Kaiserschnitt den Tod gefunden hatte; er wies wortlos aufi den Schnitt in ihrem Leib und auf das winzige mumifizierte Kind, das, mit einem Draht um den Hals, an ihrem Handgelenk hing. Der Fötus war in der typischen Art zusammengekauert und sah aus wie Äffchen mit übergroßem Kopf. Theodore blickte angewidert weg und sah Ramóns vorwurfsvolle Augen. Theodore zuckte unwillkürlich die Schultern und lächelte etwas bitterlich. Genug von dieser Häßlichkeit! Welchem Zweck diente das? Wenn sich Ramón nur je deutlich über den Zweck, hierherzukommen, ausgedrückt hätte … Theodore merkte, daß der Junge sie beide beobachtete. »… hier diese Frau … die Ehefrau eines Bürgermeisters von Guanajuato«, murmelte der Wächter, obgleich ihm offenbar kein Mensch zuhörte.
Langsam schob sich Theodore zum Eingang zurück. Die Mumien waren so nahe, daß er sie mit ausgestreckten Armen hätte berühren können. Er mochte nicht mehr.
Und er mochte auch den Jungen nicht, der sich immer noch in der Nähe herumdrückte; er hatte verschlagene Augen wie ein Taschendieb oder Schlimmeres und betrachtete ihn und Ramón mindestens so aufmerksam wie die Mumien. Zweifellos erzählte er nachher dem Wächter, er habe die beiden Herren hergeschickt, und forderte seinen Anteil am Trinkgeld.
»Und diese hier«, sagte der Führer jetzt, »die wurde lebendig begraben. Sie war epileptisch.«
Theodore blickte auf und war von dem Anblick gefesselt. Es war eine ziemlich große dunkelhaarige Mumie links von der Tür. Der Mund war schief und weit offen, als schreie sie laut. Die krallenartigen Hände hielt sie in Schulterhöhe, die Finger waren wie in letzter Verzweiflung weit auseinandergespreizt. Sogar die leeren Augenhöhlen waren weit aufgerissen.
»… während eines Anfalls begraben«, schloß der Wächter seufzend.
Wann wohl? dachte Theodore. Vielleicht vor zweihundert Jahren, als man Epileptiker für geisteskrank hielt? Er mochte nicht fragen. Auch das lange schwarze Haar der Frau schien sich in Schmerzen zu winden. Theodore stellte sich vor, wie sie die letzte Luft aus dem Grab in ihre Lungen saugte, wie sie mit letzter Kraft versuchte, mit den gekrümmten Knien den Deckel aufzubrechen und wie sie dann die Finger aneinander preßte, als der Tod sie in der Pantomime des vergeblichen Kampfes erstarren ließ.
»Sehr eindrucksvoll, nicht wahr?« sagte Ramón halblaut.
Theodore nickte. Vom im Korridor in einer Ecke stand der Junge und blickte zufrieden zu ihnen herüber.
Im gegenüberliegenden Gang, der viel kürzer war, hatte jemand Licht angedreht. Theodore sah einen Haufen menschlicher Knochen, etwa fünf Meter hoch, sauber aufgeschichtet wie Brennholz, über mehreren Reihen von Schädeln, die alle nach außen blickten und grinsten. Nach all den Mumien sahen sie ganz unwirklich aus, gar nicht wie etwas Totes, wie Theodore erleichtert feststellte. Er suchte in seiner Brieftasche, fand keine Ein-Peso-Noten und gab dem Mann einen Fünfer.
Ramón stieg die Stufen hinauf, Theodore folgte ihm, und nach ihm kam der Junge. Herrlich warm schien ihnen die Sonne ins Gesicht. Theodore blickte nach oben, bis das Licht ihn blendete und er die Augen abwenden mußte.
»Buenos dias«, sagte der Junge und lächelte Theodore an. »Haben Sie ein gutes Hotel gefunden?«
»Sí«, erwiderte Theodore knapp.
»Sie sind alle besetzt«, redete der Junge weiter mit schlechter englischer Aussprache.
»Wir haben eins.«
»Welches?«
»Ein Hotel«, sagte Theodore und ging mit Ramón weiter.
»Wenn Sie etwas suchen wie das Hotel Orozco, könnte ich Ihnen dort Zimmer verschaffen«, sagte der Junge und schloß sich ihnen an.
Das Orozco war Theodores Lieblingshotel; es war aber für die nächsten Tage voll besetzt. »Danke«, sagte er.
»Ich könnte es aber.«
»Danke, nein.« Theodore ging mit Ramón zum Wagen, und der Junge blieb draußen vor dem Friedhof und lehnte sich an die Mauer.
Theodore setzte den Wagen zurück und benutzte die Einfahrt zum Wenden. Sie fuhren hügelabwärts und überholten den Jungen, der auf die Stadt zu schritt.
Sie waren heute morgen umgezogen in eine Pension, die auch nicht viel bequemer war als das Hotel La Palma, aber doch mehr Charme besaß. Alle Zimmer lagen im Erdgeschoß rund um den Patio, auf dem ein Springbrunnen plätscherte und Papageien in Metallringen schaukelten oder die blühende Bougainvillea hinaufkletterten. Der Preis pro Person und Tag war 40 Pesos, mit Verpflegung. Vier Straßen von der Pension entfernt bat Ramón, ihn hier abzusetzen. Er stieg aus und Theodore sah, daß eine Kirche in der Nähe war. Er stellte den Wagen in der Garage der Pension ab und ging dann langsam zurück. Er wollte sich die Kirche ansehen, aber als er den Eingang erreichte, an dem ein Stück braunes Leder, vernarbt und alt, bis zu drei Viertel der Eingangslänge herabhing, hatte er das Gefühl, es wäre zudringlich, wenn er hineinging, selbst wenn Ramón ihn gar nicht sah.
Gegenüber der Kirche war eine kleine Bar, zwei Tischchen standen auf dem Straßenpflaster, und Theodore setzte sich und bestellte ein Bier. Ob Ramón wieder betete und beichtete? Was konnte er nur beichten? Er betete natürlich für seine Seele. Wofür sonst sollte man beten, wenn man an eine ewige Seele glaubte und soeben achtzig oder hundert gräßliche Leichen betrachtet hatte? Man würde sicher denken: dies kann nicht alles sein, was nach dem Tode mit mir geschieht; es muß mehr sein. Und für viele Menschen waren die Mumien sicher ein ausgezeichneter Beleg für die Existenz eines Lebens nach dem Tode — praktisch schon ein Beweis. Theodore dachte an die Erklärung eines amerikanischen Wissenschaftlers, die er hinten in seinem Tagebuch notiert hatte, einfach weil sie so unsinnig war. Sie lautete ungefähr: »Kann das alles sein? Soll unser Planet tatsächlich in zehn oder zwölf Milliarden Jahren ausglühen und das Universum nichts mehr sein als ein gigantischer Friedhof ohne ein weiteres Lebenspotential?« Nun — und was weiter? Offenbar war das seine Bestimmung. Die Arroganz mancher Menschen — und dabei war dies ein Wissenschaftler! — entsetzte Theodore. »Leben«, sagten sie ehrfürchtig, und doch sahen sie Leben nur in anthropoider Form oder bestenfalls so, wie sie es kannten. Wenn die Erde irgendwann zu einem Metallklumpen wurde oder sich in winzige Teile auflöste, die nicht einmal mit dem Mikroskop zu finden waren: war nicht auch daran etwas Schönes, mindestens eine schöne Idee? Doch sicher ebenso schön wie drei Milliarden schwitzender oder frierender Lebewesen, die auf dem Erdball herumkrochen.
Theodore zog seine Feder heraus und warf eine Skizze der kleinen Kirche auf das Papier. Der spitze Bogen der Eingangstür sah aus wie ein menschlicher Mund. Die alten roten Steinsäulen zu beiden Seiten des Tors hoben sich spiralförmig wie gewundene Lava in die Höhe. Unter seiner Feder nahm das Bild etwas Eigenes an, eine persönliche Note, wie ein menschliches Gesicht, und plötzlich war die Tür für ihn Ramón geworden, wie er zu einem tauben und nichtexistenten Gott aufschrie, der so still und lautlos war wie diese Tür.
Er legte die Feder weg. Langsam kehrten die Gedanken zurück in die physische Gegenwart, zu der Tatsache, daß Ramón seit mindestens fünfzehn Minuten in der Kirche war; daß hier unter seiner fast geleerten Flasche mit Carta Blanca ein Zwei-Peso-Zettel lag, daß er Hunger hatte und daß er nicht imstande war, sich mit seiner ganzen Vorstellungskraft für eine halbe Stunde oder auch nur für eine Minute in einen Katholiken zu verwandeln.
Ramón trat aus der Kirche und blieb einen Augenblick mit der Hand auf dem ledernen Türgriff stehen, als wolle er ihn nicht loslassen oder wisse nicht, welche Richtung er einschlagen sollte. Theodore hob den Arm und rief hinüber: »Ramón!« Er nahm Geld aus der Brieftasche, wartete auf das Wechselgeld und ließ einen Peso als Trinkgeld liegen. Ramón war herübergekommen, er nickte Theodore zu, und sie machten sich schweigend auf den Weg zur Pension. Nach einer Weile sagte Ramón:
»Du warst nicht sehr beeindruckt von den Mumien, was?«
»Wieso — natürlich war ich beeindruckt.«
»Du wirst es merken: sie verändern einen, wenn man sie gesehen hat.« Ramón ging mit leicht erhobenem Kopf und dem frohen Ausdruck, den er immer hatte, wenn er in der Kirche gewesen war.
Theodore dachte einen Augenblick nach. »Haben sie dich verändert?«
»Ja. Nicht heute. Ich habe sie ja schon vorher gesehen. Sie mahnen«, sagte Ramón und sah gerade vor sich hin. »Sie mahnen uns an die Vergänglichkeit des Körperlichen.«
»Ja. Wenn man tot ist.«
»Und an die Kürze des Todes und die Ewigkeit des Lebens.«
»Die Ewigkeit des Lebens?« fragte Theodore erstaunt, bis ihm klar wurde, daß er genau dieses erwartet hatte.
»Hab ich das gesagt?« Ramón lächelte. »Ich meinte es natürlich umgekehrt. Außer wenn man dieses hier Tod nennt und das andere Leben, wie es manche tun.«
»Und du? Tust du das auch?«
Ramón runzelte die Stirn, aber sein Lächeln blieb. »Ja, vielleicht. Manchmal erscheint das Leben nur wie eine Wartezeit auf etwas anderes. Verstehst du, was ich meine, Teo?« fragte er und sah Theodore glücklich an.
»Ja«, erwiderte Theodore zweifelnd. Sich das »Leben« als die Ewigkeit in der Hölle vorzustellen — was war das nur für eine perverse Freude? Oder hoffte er etwa auf das Fegefeuer oder etwas Besseres? Theodore beschloß, nichts mehr darüber zu sagen, um nicht mit einem ungeschickten Satz das empfindliche Schachspiel zu gefährden, das Ramón im Geiste mit sich selber spielte. Ramón begann jetzt von den Schönheiten der Stadt zu reden.
21
Am Nachmittag versuchte Theodore noch einmal telefonisch im Orozco Zimmer zu bekommen.
Der Manager schob die Überfüllung der Stadt auf das »Ende des Karnevals«. Er sprach englisch. Theodores Name stehe auf der Liste, sagte er, und in fünf Tagen oder auch schon eher werde gewiß ein Zimmer frei werden. Darauf rief Theodore Sauzas’ Büro in Mexico City an und teilte mit, er und Ramón wohnten in der Pension Los Papagayos. Sauzas war nicht im Haus.
Kurz vor fünf kam Theodore von einem Spaziergang zurück. Er war zum Hotel Santa Cecilia hinaufgestiegen und hatte mit Wasserfarben ein Panorama der Stadt gezeichnet. Er heftete das Blatt mit Zwecken über sein Bett; es war eine Orgie aus Rot und Grau in diesem Raum mit den blassen und stumpfen Farben. Sein Zimmer war genau wie Ramóns Zimmer nebenan. jedes enthielt ein schmales Doppelbett mit billig verziertem Bettgestell, einen Stuhl, einen hohen braunen Schrank, dem in beiden Zimmern die rechte Tür fehlte, einen weiß-rosa Nachttopf unter dem Bett und ein kleines Metall-Kruzifix über dem Waschtisch, auf dem in einer Schüssel ein Krug stand sowie eine Wasserkaraffe mit umgekehrtem Glas. Draußen im Patio schwatzten die Papageien, als hätten sich fünf oder sechs von ihnen zu einem Kartenspiel zusammengetan, das sie hintereinander reden ließ. Wasser platschte am Brunnen, die Eimer füllten sich langsam, das Trickeln stieg an, setzte aus und begann von neuem. Mops und Scheuertücher klatschten dauernd auf die blau-weißen Kacheln, die nie einen Schmutzfleck aufwiesen, als ob die Familie — Vater, Mutter, zwei Söhne und zwei Töchter — wie die Irren immer wieder den Patio scheuerten.
»Concha, hast du den Mop gesehen?«
»Den was?«
»Den Mop!«
»Nei-in.«
Platsch! Wasser schlapperte über die Steine und verrann. Ein Junge lachte, lange und genußreich, so daß auch Theodore lächelte. Das Haus machte einen fröhlichen Eindruck, und es gab keinerlei Grund zu klagen, auch nicht das recht einfache Essen, nur hätte Theodore sich um Ramóns willen hübschere Zimmer gewünscht und eine Toilette, die sich nicht hinter einer Holztür auf dem Patio versteckte und dadurch Ramón immer an seine Wohnung in Mexico City erinnern mußte.
Dann ging die unvermeidliche Unterhaltung weiter:
»Juan, hast du den Mop gesehen?«
»Nein. Frag doch Dolores.«
Trickeln. Platschen. Trickeln.
Theodore lag auf dem Bett, eingelullt von den Stimmen, die der Patio mit seinen vier Wänden noch verstärkte, aber gleichzeitig sinnlos machte und in hohle Symbole verwandelte.
»Nei-in, Maria«, kam jetzt eine Mädchenstimme. »Meinst du den Mop mit dem langen Stiel?«
»Ai«, sagte Maria hoffnungslos.
»Sieh doch mal in der Küche nach, Maria!«
»Aa-rr-rk!« Das war ein Papagei, der sich über einen Spielzug ärgerte.
Und Theodore dachte an den seltsamen Augenblick heute früh, als er — vielleicht nur zehn Sekunden lang, aber sehr stark — die Anziehung des Mädchens empfunden hatte, das ihm und Ramón die Zimmer zeigte. Sie mochte knapp achtzehn sein, robust, bescheiden, einfach und völlig ungekünstelt, und ihre Anziehung bestand nur in der Tatsache, daß sie eine Frau war. Er entsann sich nicht, daß er sich je im Leben zu einem so einfachen Mädchen hingezogen gefühlt hatte. Es war das erstemal seit Lelias Tod, aber es hätte genausogut passieren können, wenn sie gelebt hätte, so flüchtig und schwerelos war das Gefühl, und doch: hätte er heute morgen das Mädchen berührt, so wäre sein Wunsch verflogen — wegen Lelia, davon war er überzeugt. Aber sicher blieb es nicht so. Und der Grund der nachfolgenden Depression war einfach die Erkenntnis gewesen, daß er physisch weiterleben würde, eines Tages kam eine andere Frau oder Frauen, und er hatte nicht einmal den Wunsch danach.
Über diese Gedanken wollte er sich in seinem Tagebuch auslassen; und während er noch darüber nachdachte, schlief er ein. Im Traum sah er Lelia; sie trug die Stola, die er ihr gerade geschenkt hatte, und war fröhlich und guter Dinge. Sie wartete auf jemand und horchte inzwischen auf die Rufe der Papageien von draußen. Dann sagte Lelia, daß er jetzt endlich weiterkomme, nicht wahr? »Was meinst du?« fragte er sie im Traum, und sie lachte. »Du willst doch gern feststellen, wer dies alles angerichtet hat, Teo, aber mir ist es wirklich egal, ganz egal. Es ist doch nur ein dummes Spiel — ein Spiel für die Lebenden.« Dann kam auf einmal Ramón herein, die Arme voller Flaschen, und obenauf lag ein Strauß roter Nelken, und Theodore fragte, warum er keine weißen gebracht habe, und Ramón sah ganz verstört aus, so daß er die Frage wiederholen mußte …
An der Tür klopfte es. Der Traum war noch nicht verschwunden. Theodore setzte sich auf und fragte: »Ramön?«
»Nein, Señor«, sagte eine hohe Mädchenstimme. »Draußen ist ein Señor, der Sie sprechen möchte.«
Theodore stand auf. »Moment bitte«, sagte er und fuhr sich mit der Hand über das Haar. Er öffnete die Tür und sah vor dem Eingang im Sonnenlicht auf dem Gehweg einen jungen Mann stehen. Er hatte das Gefühl, ihn zu kennen oder mindestens schon gesehen zu haben, und dann sah er, daß es der Junge mit dem Anflug von Schnurrbart war, der mit ihm und Ramón bei den Mumien gewesen war.
»Buenas tardes«, sagte der junge Mann, als Theodore näher kam. »Señor Schiebelhut?«
»Sí«, gab Theodore zurück.
»Im Hotel Orozco sind zwei Zimmer für Sie bereit.« Er verbeugte sich linkisch und ganz leicht.
»Ich habe vor zwei Stunden dort angerufen. Es gab kein …«
»Ich habe es soeben festgestellt«, unterbrach ihn der Junge mit unangenehm scharfer Stimme. »Die Zimmer sind heute noch nicht frei, aber morgen früh ganz sicher.«
»Aha. Vielen Dank«, sagte Theodore höflich. Er wußte nicht recht, ob er ihm glauben sollte.
»O bitte, gern geschehen«, sagte der Junge und bewegte nachlässig die Hand, wobei er die weiche feuchte Unterlippe vorschob. »Der Manager ist mein Freund.«
»Aha.«
Der Junge trödelte noch weiter. Ob er ein Trinkgeld erwartete? Er stand auf einem Bein und ließ einen Schlüsselring um den Zeigefinger wirbeln.
Theodore beschloß spontan, ihm kein Trinkgeld zu geben. »Soll ich das Hotel anrufen und die Bestellung bestätigen?«
»Das kann ich für Sie tun.«
»O nein, danke schön. Das mache ich selber«, sagte Theodore und wandte sich ab.
»Okay. Buenas tardes«, sagte der Junge.
Der einzige Telefonapparat in der Pension stand im Familienwohnzimmer rechts vom Eingang. Theodore ging sofort hin und bat die häkelnde Großmutter um die Erlaubnis zu telefonieren, dann rief er das Hotel Orozco an. Der Mann am Apparat legte, als Theodore seine Frage vorgebracht hatte, den Hörer hin, um in der Liste nachzusehen; es klang, als ob er nie von ihm gehört habe. Dann kam er zurück und berichtete, für die Herren Schiebelhut und Otero seien ab morgen zwei Zimmer reserviert.
»Vielen Dank«, sagte Theodore angenehm überrascht. »Wir kommen dann also — vielleicht gegen elf?«
»Muy bien, Señor.«
Theodore legte den Hörer auf und ging über den Patio auf Ramóns Zimmertür zu, um ihm zu berichten. Ein hübscher blau-grün-gelber Papagei kletterte mit dummem Gesicht an seinem Ring hoch. Der Papagei hing mit dem Kopf nach unten und schwang sich hin und her: ein Bild der Gesundheit, Fröhlichkeit und Selbstachtung. Ganz anders als Ramóns einsamer kleiner Vogel. Eigentlich sahen Papageien weder klug noch dumm aus, aber Theodore sah Ramóns Vogel immer mit weitgeöffneten Augen und rundem Mund vor sich — was gar nicht stimmte — und ganz verloren, wie ein Gesicht auf einem Bild von Munch. Theodore blickte in das kecke gelbumringte Auge des munteren Papageis und sah den Jungen auf einem Fuß vor der Tür stehen. Irgend etwas an der Stellung, an der Tür kam ihm bekannt vor. Es schoß ihm durch den Kopf, daß dies der Junge war, der ihn am Tage von Lelias Begräbnis wegen des Schals angeredet hatte. Einen Augenblick dachte er, er müsse sich irren. Aber er entsann sich gut an die Stellung auf einem Fuß und an die Art, wie sich der schmale Körper vom Standbein weggebogen hatte, sogar daran, wie er beim Sprechen den Kopf zur Seite geneigt hatte. Er war jetzt besser gekleidet und sicherer. An das Bärtchen erinnerte sich Theodore nicht. Wieder versuchte er sich einzureden, er müsse sich täuschen, doch es half nichts, die Erinnerung blieb fest. Er wußte, die Stimme war dieselbe, und auch das weichliche nichtssagende Gesicht. Er irrte sich nicht. Und was folgte daraus? Die stummen Telefonanrufe fielen ihm ein. Und die Postkarte.
Der Junge konnte sogar der Mörder sein.
Theodore ging in sein Zimmer und schloß die Tür. Was hatte der Junge vor? Er war ihnen nach Guanajuato gefolgt. Er kannte ihrer beider Namen oder hatte sie jedenfalls festgestellt. Im Gang der Mumien hatte er sich viel mehr für ihn und Ramón interessiert als für die Mumien. Er sah aus wie ein junger Gauner, schlau und schlüpfrig, und so, als ob ihm Lügen so geläufig sei wie Atmen. Der war durchaus imstande einzubrechen, an einem schmalen Mauervorsprung entlangzukriechen und einzudringen, ohne Fingerabdrücke zu hinterlassen. Der konnte einer Frau gut Geschichten erzählen: sie würde ihn einlassen, ohne überhaupt Verdacht zu schöpfen.
Sauzas mußte sofort informiert werden.
Und dann kam wieder das Gefühl, er könne sich irren, und er beschloß, mit der Information an Sauzas bis zum nächsten Morgen zu warten. Wenn der Kerl ihnen wirklich hierher gefolgt war, würde er jetzt nicht plötzlich verschwinden. Theodore trat an den Kleiderschrank, in dem sein Jackett hing, und fühlte automatisch nach der Brieftasche. Sie war da, und sogar durch die jacke konnte er fühlen, daß sein Geld noch darin war.
Er ging in den Patio hinaus und klopfte an Ramóns Tür.
Ramón lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett, ein offenes Buch lag mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten auf seiner Brust.
»Wir können morgen Zimmer im Orozco bekommen«, erzählte Theodore. »Anscheinend sehr hübsche Zimmer. Jemand hat plötzlich abgesagt.«
22
Es war ein weitläufiges und sehr bequemes Hotel. Nirgends war an Platz gespart worden. Riesenbäume schirmten es gegen die Straße ab, bis man fast vor der Tür stand, und armdicke Weinranken kletterten über die Eingangstür und zwischen die Fenster des unteren Geschosses. Die Halle war mit unauffälligen und schon etwas abgetretenen Fliesen ausgelegt. Ein Page fuhr mit ihnen in den zweiten Stock hinauf und brachte sie dann in ein Appartement am Ende des Gangs mit zwei Eingängen und einem gemeinsamen Wohnraum, von dem man in Gärten voller Mangobäume und Bougainvillea hinaussah. Der Wohnraum hatte einen Kamin, und auf einem runden polierten Tischchen stand eine Schale mit einer großen gelben Kaktusblüte. Klare Wassertropfen lagen wie Tau auf den Blütenblättern. Es duftete nach Blumen, nach Sonne auf Holz und Wolle und nach dem Holz, das aufgeschichtet im Kamin lag.
»Ist es nicht hübsch, Ramón?« fragte Theodore.
Ramón nickte lächelnd. »Ganz wunderhübsch, Teo.«
»Welches Zimmer möchtest du nehmen?«
»Das ist mir egal«, erwiderte Ramón — genau wie Theodore es vorausgewußt hatte.
»Dann such dir eins aus. Ich gehe mal eben nach unten und hole ein paar Zeitungen.«
Er ging in die Eingangshalle. Die Zeitungen aus der Hauptstadt waren noch nicht da, sollten aber um Mittag kommen. Er ging zur Rezeption und bat, ein Gespräch für ihn nach Mexico City anzumelden. Die Leitungen seien sehr besetzt, war die Antwort; es könne zehn Minuten oder sogar länger dauern. Theodore hatte dem Angestellten seinen Namen und die Zimmernummer gegeben. Ein Mann mittleren Alters in grauem Anzug, der, wie sich Theodore zu erinnern meinte, der Manager war, hatte die Worte mit angehört. Theodore nickte ihm zu und sagte:
»Vielen Dank noch für die Zimmerreservierung. Aber ich dachte, ich war der siebente auf Ihrer Warteliste?«
Erstaunt lächelnd sah der Manager ihn an. »Señor Schiebelhut — ja, ich glaube, das stimmt«, sagte er auf englisch. »Sind Sie zufrieden mit den Zimmern, Sir?«
»O ja, sehr zufrieden«, gab Theodore, ebenfalls auf englisch, zurück. »Ich wollte nur gern wissen, wieso ich sie bekommen habe. Der junge Mann, der sie für mich bestellt hat…« er zögerte einen Augenblick. »Kennen Sie ihn?«
Der Manager sah ihn fragend an. »Ich hatte gestern nachmittag keinen Dienst. Als ich heute morgen kam, sah ich, daß Ihr Name aufgerückt war.« Er klopfte mit dem Bleistift auf die Kartei, die vor ihm stand; die Karten in Hüllen aus Plexiglas zeigten die Namen der Gäste. »Ich würde sagen, Señor«, sagte er ruhig, »hier hat jemand gegen eine kleine Belohnung Ihren Namen weiter aufgerückt.«
»Von mir hat niemand eine Belohnung erhalten«, sagte Theodore fest.
»Nun — dann vielleicht von Ihrem Freund. Es ist ja auch nicht weiter schlimm, nur ist es sonst nicht ganz üblich hier in unserem Hotel.« Er lächelte freundlich, als wollte er sagen, es sei nun mal geschehen und die anderen Wartenden auf der Liste brauchten ja nichts davon zu erfahren.
»Von meinem Freund auch nicht, das weiß ich genau.«
»Nun, Señor, ich kann nichts weiter dazu sagen, aber wir freuen uns, daß Sie hier sind, und hoffen, daß es Ihnen gefällt.«
Theodore sah, daß einer der Pagen wenige Schritte entfernt an einer Säule lehnte und sie beobachtete. »Danke, Señor.«
Jetzt kam sein Telefongespräch. Er fragte nach Sauzas, wie immer. Sauzas war auch da, und Theodore brauchte nur etwa eine Minute zu warten, bis er am Apparat war.
Theodore legte die rechte Hand um die Sprechmuschel, obgleich jeder an der Rezeption viel zu beschäftigt schien zum Zuhören. »Haben Sie etwas Neues erfahren, Senor Capitán?«
»Nein, Señor«, sagte Sauzas. »Es tut mir leid, aber wir haben von Ihren gestohlenen Sachen noch nichts wiederfinden können. Wir versuchen natürlich noch, die Schreibmaschine festzustellen …« Die Stimme klang müde oder nicht übermäßig interessiert.
Theodore fühlte sich plötzlich grundlos niedergeschlagen. »Ich wollte nur sagen, daß wir jetzt für ein paar Tage im Hotel Orozco sind.«
»Und dann?«
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht in meinem Hause in Cuernavaca. Ich werde Sie natürlich unterrichten.«
»Muy bien, Señor. Wir arbeiten weiter, mehr kann ich leider im Augenblick nicht sagen.«
Theodore schlendérte ein paar Minuten in der Halle auf und ab, dann folgte er einem plötzlichen Impuls, ging noch einmal zum Telefon und rief Inocenza an.
Sie war zu Hause und freute sich so sehr über den Anruf, daß ihm sofort besser zumute war. Sie fragte nach Ramón und dann nach dem Kater.
»Ist der Wächter noch vor dem Haus?« fragte Theodore.
»Sí, Señor.«
»Und Sie haben doch keine Angst, nein?«
»Nein, am Tage nicht. Nachts möchte ich nicht hier sein, ich bin sehr froh, daß ich dann bei Constancia schlafen kann.«
»Sind noch Anrufe gewesen, Inocenza — wissen Sie, bei denen sich niemand meldet, wie bei mir ein paarmal?«
»Nein, Señor.«
»Schön. Ich rufe Sie bald wieder an, Inocenza.«
»Wollen Sie irgendwo ein kleines Haus mieten?« fragte sie hoffnungsvoll.
»Ich weiß es noch nicht. Wenn wir nach Cuernavaca gehen, können Sie mitkommen.« Schon als er die Worte aussprach und Inocenzas frohe Antwort hörte, wußte er, daß er das tun würde.
Langsam ging er zur Treppe zurück und begann die Stufen hinaufzusteigen. Er dachte an Sauzas und daran, daß er ihm nichts von dem merkwürdigen Jungen erzählt hatte; und dabei hatte er sich gestern vorgenommen, Sauzas heute von ihm zu berichten. Aber um zehn Uhr heute früh, im kühlen klaren Licht des Morgens, war ihm die Sache nicht wichtig genug oder zu vage erschienen. Detektive hielten jedoch jede Kleinigkeit für wichtig, sagte er sich jetzt. Ob er zurückgehen und noch einmal anrufen sollte? Er wandte sich um und blickte nach unten in die Halle.
In diesem Augenblick kam der Junge durch den Haupteingang in die Halle. Er ging langsam und hielt die eine Hand in der Tasche, in der anderen hielt er eine Zeitung. Er ging direkt zur Rezeption, wo ihm der Angestellte einen Schlüssel aushändigte. jetzt schob sich der Page, der vorher Theodore angestarrt hatte — und der sicher von dem Jungen ein Trinkgeld erhalten hatte —, vor dem Rezeptionstisch dicht an ihn heran, flüsterte ihm etwas zu und wies mit dem Kopf auf Theodore. Der Junge blickte auf, sah Theodore, lächelte und nickte ihm zu. Dann zog er eine Packung Zigaretten aus der Tasche, zündete eine an und warf das Streichholz lässig in einen Kübel mit Sand neben der Säule.
Er sah aus wie ein unverfrorener Lümmel, wie ein Straßenflegel in einer viel zu teuren Umgebung. Theodore dachte sofort an eine Frau, irgendeine reiche Frau, die ihn vielleicht aushielt. Bloß: welche Frau würde den mögen? Andererseits: über Geschmack ließ sich bekanntlich nicht streiten.
Der Junge ging jetzt auf die Treppe zu. Theodore lehnte sich nachlässig an das Geländer, und obwohl er den Jungen, der nun zu ihm heraufstieg, nicht anstarren wollte, konnte er doch seine Augen nicht abwenden von der kleinen schmalen Gestalt. Der Junge sah ihn erst an, als er nur noch wenige Meter entfernt war, dann lächelte er schief und unsicher.
»Buenos dias, Señor Schiebelhut. Gefallen Ihnen die Zimmer?« Er sprach englisch, scharf und mit flachen Vokalen wie alle Mexikaner, die Englisch auf der Straße gelernt haben.
»Sí«, sagte Theodore. »Gracias.«
Der Junge nickte und leckte sich die dünnen Lippen. Der Anblick der Zunge neben dem bißchen Schnurrbart widerte Theodore besonders an. »Und Ihr — Ihr —«
»Hablemos en español« schob Theodore sachlich ein. »Ich glaube, ich kenne Ihren Namen noch nicht.«
»Salvador. Salvador Bejar, zu Diensten.« Die spanische Floskel kam automatisch über seine Lippen. Er zog die Brauen etwas hoch; das Stirnrunzeln und die argwöhnischen Augen darunter sahen unecht aus. »Sie sind doch der Señor Schiebelhut, dessen Freundin kürzlich umgebracht wurde, nicht wahr?«
»Sí.«
»Und Ihr Freund ist der Herr, der die Tat gestanden hat.«
»Er hat sie nicht begangen«, gab Theodore ruhig zurück.
»Aber — na ja…«, er zuckte die Achseln und preßte die Zeitung in der Hand zusammen. »Ich wollte gern wissen, ob die Polizei schon den Mörder gefunden hat.«
»Nein.«
»Ich weiß nur, was in der Zeitung steht«, sagte der Junge mit flackerndem Lächeln. »Das ist nicht viel. Haben Sie keine neuen Spuren gefunden?«
»O doch, eine ganze Menge.«
»Ja, wirklich? Wichtige? Welche denn?« Sein Stirnrunzeln sollte jetzt höfliche Aufmerksamkeit ausdrücken.
»Ich glaube nicht, daß man darüber sprechen darf. Jedenfalls nicht, wenn nichts darüber in der Zeitung steht.«
Der Junge nickte. »Sie war eine hübsche Frau — nach den Fotos zu urteilen.«
Theodore schwieg. Der Junge hatte ein nagelneues Hemd an, das sah man an der Art, wie der Kragen an beiden Halsseiten etwas vorstand; das Hemd war aus guter cremefarbener Seide. »Warum interessiert es Sie eigentlich?« fragte Theodore höflich. »Kannten Sie sie?«
»O nein. Nur — Sie sind doch ihr Freund. Sie kannten alle Leute, die sie kannte — nehme ich an.«
»Sicher nicht. Sie hatte viele Freunde, die konnte ich nicht alle kennen.«
Der junge feixte und blickte Theodore mit intensiver und gieriger Neugier an. Er sah aus, als fehle es ihm an Mut, etwas zu sagen, das er brennend gern gesagt hätte. »Wollen Sie — bleiben Sie ein paar Tage hier?«
»Ja. Und Sie?«
»Ich denke schon«, sagte der Junge lächelnd und nickte schnell. »Vielleicht sehen wir uns im Speisesaal. Bitte sagen Sie mir, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann. Es wäre mir eine Ehre.« Seine Worte waren eine ungeschickte Verbindung eigener Gedanken und traditioneller Höflichkeitsfloskeln. Er verlegte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Man hat also keine Spuren mehr. Das tut mir leid.«
»Ach doch, einige schon. Zum Beispiel — zum Beispiel wurde vor einigen Tagen bei mir eingebrochen. Ein paar Sachen wurden gestohlen, auch die Hausschlüssel.«
Theodore sah, wie die Augen des Jungen unsicher wurden und leicht verschwammen, aber er versuchte immer noch, ihm gerade ins Gesicht zu sehen. »Es ist nicht in die Zeitung gekommen. Die Polizei hat einen Fingerabdruck genommen, der vielleicht ganz nützlich sein kann.«
»Einen Fingerabdruck?« sagte der Junge unsicher auflachend — vielleicht war es auch ein belustigtes Lachen.
»Und das ist die einzige Spur?«
»Ja, aber sie ist gut«, sagte Theodore. Der Eifer im Gesicht des Jungen schien ihm für Schuld zu sprechen. Theodore stieg jetzt die Treppe hinauf, und der andere folgte ihm.
»Hoffentlich bekommen Sie alles wieder. Bleiben Sie zum Lunch im Hotel?«
»Nein, ich glaube, wir gehen in die Stadt«, sagte Theodore und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken, als er jetzt vor seinem Zimmer stand.
»Adiós«, murmelte der Junge und wandte sich linkisch um, als müsse er sich zwingen, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Er ging weiter zur nächsten Treppe.
Ramón war in einem der Zimmer und packte seinen Koffer aus. Leo begrüßte Theodore wie üblich und fuhr gelassen fort, die Zimmer zu inspizieren. Vielleicht waren Lelias Worte im Traum doch nicht ganz bedeutungslos. Vielleicht ging es doch voran. Er hätte es gern alles gleich Ramón erzählt, nur hätte der es nicht geglaubt. Bei Ramón mußte man alle Fakten ausbreiten, bevor er irgend etwas glaubte — und Fakten gab es noch nicht.
Theodore zündete sich eine Zigarette an, ging ein paarmal in dem gemeinsamen Wohnraum auf und ab und verließ dann das Zimmer. Er wollte Sauzas noch einmal anrufen.
Er sprach von einer der Zellen aus; von hier aus konnte er die Angestellten und Pagen und auch das Telefonschaltbrett übersehen — die einzige Stelle, von wo man mithören konnte, dachte er. Jetzt war Sauzas am Apparat. Er nannte ihm den Namen des Jungen, beschrieb ihn und berichtete, daß er ihn zum erstenmal am Tage von Lelias Beisetzung gesehen habe, als er in der Nähe seines — Theodores — Hauses herumlungerte. Der Erlös aus den gestohlenen Sachen hätte wohl genügt, daß er sich neue Kleidung kaufte und etwa einen Monat lang gut lebte. Er berichtete Sauzas auch von dem Interesse des Jungen an Lelias Mörder. Sauzas’ Begeisterung für eine Vernehmung des Jungen war jedoch enttäuschend gering.
»Schön — er könnte die Sachen gestohlen haben«, sagte Sauzas. »Wenn er dort ein paar Tage im Hotel bleibt — gut, morgen früh könnte ich hinkommen, Señor Schiebelhut. Tun Sie ja nichts, um seinen Verdacht zu wecken, sonst ist er womöglich nicht mehr da, wenn ich komme. Und ich habe meine eigenen Gründe dafür, ihn selbst zu vernehmen und nicht von der Polizei dort vernehmen zu lassen.«
»In Ordnung, Señor Capitán.« Befriedigt legte Theodore auf.
Er kaufte mehrere Zeitungen, die aber nichts über den Fall Ballesteros brachten. Nur im Excelsior hatte ein gelehrter Jurist einen langen leidenschaftlichen Artikel veröffentlicht, in dem er für die Wiedereinführung der Todesstrafe in Mexiko plädierte, und unter den angeführten Beispielen war auch der Fall Ballesteros als ein Beweis für »Brutalitát, Sadismus und barbarische Roheit«. Ein anderer Fall bezog sich auf den Mord an einem älteren Priester; er war in der Kirche von einem Mann erschlagen worden, der dort ein paar Wertsachen gestohlen hatte. Das hatte natürlich die katholische Bevölkerung, zu Recht, in Harnisch gebracht, und doch hatte der Killer nur zehn Jahre Haft bekommen, obgleich dies nicht sein einziger Mord war. Theodore nahm die Seite heraus, allerdings stand der Artikel auf der zweiten Seite, so daß er damit auch die Titelseite wegnehmen mußte, aber er wollte nicht, daß Ramón das las. Ramón wäre sicher der gleichen Meinung wie der Jurist, außer wenn er der Ansicht war, es sei schwerer, mit einem Mord auf dem Gewissen zu leben, als gleich zu sterben und schneller in die Hölle zu kommen. Theodore las noch das übrige, soweit es ihn interessierte, und warf dann lieber die ganze Zeitung weg.
Um halb zwei trank er mit Ramón eine Tequila Limonada im Garten, während Leo zwischen den Bäumen auf und ab wandelte; dann nahm er den Kater, brachte ihn nach oben und ging nach unten in den Speisesaal, um mit Ramón zu essen. Er blickte sich nach Salvador Bejar um, sah ihn aber nirgends. Vielleicht legte er Wert auf vornehm-spätes Erscheinen.
Und dann, während sie auf den Nachtisch warteten, fiel ihm das Nächstliegende ein; er stand plötzlich auf und entschuldigte sich.
Die Treppen nahm er im Laufschritt. Oh, was für ein Narr War er gewesen, wo er doch gesehen hatte, wie der Page mit Salvador Bejar flüsterte! Er zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür.
Auf den ersten Blick fiel ihm nichts auf. Dann sah er eine kleine Blutspur, die in Windungen über den Teppich zur Tür führte.
»Ist da jemand?« rief er laut.
Leo stand reglos an der gegenüberliegenden Wand und sah ihn mit flach angelegten Ohren starr an.
Theodore ging durch alle Räume. Er fand keine herausgerissenen Schubladen, und soweit er auf einen Blick sehen konnte, fehlte auch nichts aus seinem Koffer. Aber als er wieder in den Wohnraum kam, sah er, daß seine Rolleiflex nicht mehr auf dem runden Tischchen lag. Er blickte auf die Blutstropfen und erkannte an der hellen Farbe, auch ohne sie zu berühren, daß sie ganz frisch waren. Es waren vielleicht zwölf Tropfen, etwa einen Viertelmeter voneinander entfernt. Hastig blickte er in die Schränke und sogar unter die Betten, dann ging er ans Telefon.
»Señor Bejar, por favor. Salvador Bejar.« Ohne nachzudenken, hatte er sich entschlossen, jetzt mit dem Jungen zu reden, ihm zu sagen, daß er wußte, er sei in die Zimmer eingedrungen, und wenn er das Gestohlene sofort zurückgab, solle die Polizei nicht benachrichtigt werden.
»Señor Bejar ist abgereist, Señor.«
»Abgereist? Sind Sie sicher?«
»Seguro, Señor. Vor einer halben Stunde erst«, sagte die Frauenstimme.
»Gracias.« Theodore legte den Hörer auf und ging im Zimmer hin und her. Er bückte sich, besah sich Leos vier braune Pfoten und preßte sie zusammen, so daß die Klauen wie Krallen eines Adlers hervortraten, aber es war kein Blut und kein Fädchen daran zu sehen. Der Junge war also im Begriff, die Stadt zu verlassen; wenn er ihn an der Bushaltestelle oder am Bahnhof festhalten wollte, so brauchte er polizeiliche Hilfe. Ein anderer Gedanke schoß ihm durch den Kopf; er verließ das Zimmer und rannte nach unten.
Der kleine Page schleppte gerade zwei Koffer durch die Halle zur Eingangstür. Theodore trat vor ihn hin und sagte: »Einen Moment, bitte.«
»Ich kann jetzt nicht, Señor«, sagte der Junge.
»Du kriegst auch was. Wo ist dein Freund Salvador Bejar?«
»Weiß ich nicht. Abgereist.«
»Wohin?«
»Weiß ich nicht, Señor.«
»O doch, du weißt es«, sagte Theodore ruhig. »Du kriegst hundert Pesos, wenn du es mir sagst.«
Der Junge schüttelte ungeduldig den Kopf und schob sich mit den Koffern an Theodore vorbei. Theodore folgte ihm nach draußen und sah zu, wie der Junge das Gepäck in den Kofferraum eines großen amerikanischen Wagens lud. »Komm mal her«, sagte er, als der Junge sich umwandte. Mit ungeduldigem Gesicht kam er herüber.
»Hör zu, dies ist wichtig. Hundert Pesos, wenn du mir sagst, wohin er gefahren ist.«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Page und spreizte die Hände.
»Ist er mit dem Bus oder mit dem Zug gefahren?«
»Er ist mit dem Auto gefahren — mit einem gemieteten Wagen.« Die Augen des Jungen flackerten über Theodores Hände, als erwarte er, daß sie das Trinkgeld umgehend hervorzögen.
Theodore griff nach der Brieftasche und gab dem Jungen hundert Pesos. »So — und wohin ist er gefahren? Er hat’s dir doch gesagt, was? Du kriegst noch mal hundert, wenn du mir sagst, wo er hin ist. Auch wenn du es nicht genau weißt, nur ungefähr.«
Der Junge blickte auf den Geldschein in seiner Hand.
»Und ich werde dem Manager nichts davon sagen. Nun mal heraus damit. Du wirst doch Salvador Bejar gar nicht wiedersehen, nicht wahr?«
Die Amerikaner warteten auf den Pagen, damit er ihnen weiter half, aber er faßte Theodore am Ärmel und sagte: »Kommen Sie hier rüber.« Sie traten um die Hausecke.
»Er hat gesagt, er wollte nach Mexico City, Señor. Das ist wirklich wahr.« Die dunkelbraunen Augen sahen Theodore gerade an — und so ehrlich, wie es ihnen vermutlich möglich war.
»Gut, danke.« Er gab dem Jungen den zweiten Hundertpesoschein und steckte die Brieftasche wieder in die Jacke, während er weiterging. Er war auf dem Weg in eine Telefonzelle, als Ramón aus dem Speisesaal kam und ihn sah.
»Teo — was machst du? Was ist los?«
»Gar nichts, Ramón. Ich muß schnell mal telefonieren«, erwiderte Theodore und ging auf die Zelle zu.
»Aber was ist denn los?« fragte Ramón betroffen und erschreckt.
Theodore zögerte. Ramón war wie ein aufgeregtes Kind. Wer weiß, was er sich vorstellte — wahrscheinlich etwas viel Schlimmeres als die Wahrheit. »Komm, laß uns nach oben gehen. Ich kann auch von da aus telefonieren.«
Sie gingen die Treppe hinauf. Das Blut war ja Beweis genug dafür, daß jemand eingedrungen war, dachte Theodore. Und sobald er jetzt Ramón von Salvador Bejar berichtet hatte, wollte er Sauzas anrufen, der jeden nach Mexico City einfahrenden Wagen anhalten lassen würde. Wenn er Sauzas selbst nicht erreichte, wollte er ihm ein langes Telegramm schicken und darin auch erwähnen, daß der Junge wahrscheinlich auf einer Hand oder im Gesicht einen tiefen Kratzer aufwies.
Als Ramón die Blutspur sah, blieb er erstarrt stehen und flüsterte etwas.
»Ja — ein neuer Einbruch«, sagte Theodore. »Diesmal ist es meine Kamera, und ich weiß nicht was sonst noch. Und Leo hat seine ersten Wunden geschlagen.« Er strich dem Kater über den Rücken. »Ramón, ich weiß, wer dies getan hat und wer auch in mein Haus eingebrochen ist. Und vielleicht Lelia umgebracht hat. Es ist der Junge, der mit uns auf dem Friedhof war — bei den Mumien. Er ist uns seit Mexico City gefolgt.«
Ramón zog die Brauen hoch. »Was für ein Junge?«
»Weißt du nicht mehr — so ein junger Kerl, der mit uns im Gang mit den Mumien war? — Na ja, er war jedenfalls da. Außer uns und dem Wächter war nur noch einer da, entsinnst du dich nicht?« Theodore fragte immer dringlicher, aber Ramón blickte ihn immer noch an, als ob er von Sinnen sei oder als ob er ihm etwas einreden wolle, was ganz offensichtlich nicht wahr sei. »Na schön, Ramón. Ich bin ja wohl kaum selber hier eingebrochen und habe die Blutflecken hinterlassen, oder?« Theodore nahm den Hörer auf und bat um eine Verbindung nach Mexico City.
»Weißt du auch, was du da tust, Teo?« fragte Ramón. »Hast du gesehen, daß der Junge hier hereingekommen ist? Du warst doch die ganze Zeit bei mir.«
»Ich habe ihn nicht mal gesehen, als ich Leo heraufbrachte, aber ich weiß es.« Er unterbrach sich und gab Saulas, Telefonnummer an. Dann kam eine Pause. Er und Ramón sahen sich eine Weile an; dann wandte sich Ramón gekränkt um und ging in sein Zimmer.
Theodore berichtete Sauzas von dem Einbruch und beschrieb den Anzug des Jungen, den er getragen hatte, als ihn Theodore zuletzt sah. Sauzas fragte, ob auch Ramón bestohlen worden sei.
»Ramón — fehlt dir irgend etwas?«
Ramón stand im Türrahmen und hörte zu. »Ich glaube, mein Adreßbuch ist fort«, sagte er gleichgültig. »Ich glaube, es lag auf der Kommode.«
»Sein Adreßbuch, glaubt er, Señor Capitán. Die Sachen sind nicht so wichtig, aber es wäre mir lieb, wenn Sie die Straßen nach Mexico City überwachen lassen könnten, damit wir den Jungen kriegen. Ihn noch in Guanajuato festzuhalten, dazu ist es jetzt sicher zu spät. Señor Capitán, ich glaube, ich habe Ihnen nicht gesagt, daß er an dem Tag, als ich ihn in Mexico City sah, an meiner Haustür klingelte. Er fragte, ob ich einen Schal verloren hätte.«
»Einen Schal?« fragte Sauzas.
»Ja. Er hatte ihn in einer Papiertüte unterm Arm. Ich fand, er machte einen verschlagenen Eindruck — was ist los, Ramón?« fragte Theodore plötzlich, denn Ramóns Augen bohrten sich in die seinen, voller Haß oder Argwohn.
»Ja — und was war dann, Señor Schiebelhut?« fragte Sauzas.
»Das war alles. Ich sagte, ich hätte keinen Schal verloren. Er sagte, er hätte ihn vor meinem Haus gefunden — und dann lief er weg. Den Schal habe ich gar nicht zu sehen gekriegt, und ich habe keine Ahnung, was das Ganze sollte.«
»Aha. Na schön, ich lasse die Straßen überwachen — alle, die in die Stadt führen. Ich denke, ich werde auch der Polizei in Guadalajara Bescheid geben, falls er sich dorthin gewandt hat.«
»Gut. Ich danke Ihnen, Señor Capitán … Ja, die würde ich gern sehen … Gut, dann bis morgen abend. Wir reisen morgen früh ab … Gut, abgemacht. Sobald wir da sind. Adiós!« Er legte den Hörer auf und blickte Ramón an.
»Der Schal, von dem du da sprachst, Teo«, sagte Ramón. »Das habe ich dir doch nicht gesagt?«
»Nein, wieso. Wenn du was davon gesagt hättest —« Verdacht stieg panikartig in ihm auf. »Was weißt du denn davon?«
»Da war so ein Kerl, der hat mich das auch gefragt. Ich muß dir das erzählt haben, und du wiederholst es bloß«, sagte Ramón stirnrunzelnd.
»Wann hat der Kerl dich gefragt?«
»Genau weiß ich es nicht mehr. Jedenfalls bevor die Ansichtskarte kam, glaube ich.«
»Und wie sah er aus? Wo hast du ihn gesehen?«
»Vor meinem Haus. Ich ging gerade aus, und da ging er ein Stück neben mir. Ich dachte, er wollte mir einen Schal verkaufen.«
»Hast du den Schal gesehen?«
»Nein, er war in einer Tüte. Genau wie du es eben Sauzas erzählt hast. Ich habe gesagt, ich hätte keinen verloren und interessierte mich nicht dafür, und da ist er weggegangen.«
»Wie sah er aus?«
»Kleiner als ich …«
»Schlank? Vielleicht zwanzig oder einundzwanzig?«
»Ja, vielleicht. Weiß ich nicht mehr.«
»Das ist derselbe Junge. Er muß es sein. Aber warum versucht er den Schal loszuwerden?« sagte Theodore und ging im Zimmer auf und ab. »Wem gehört überhaupt der Schal?«
»Es kommt mir vor wie im Traum«, sagte Ramón, und seine Stimme verriet Angst. »Glaubst du, wir könnten das beide geträumt haben?«
»Nein, Ramón, bestimmt nicht. Der Junge kennt uns. Vielleicht kannte er auch Lelia. Er hat mein Tagebuch gestohlen, und er kann auch etwas Englisch … Morgen abend sollen wir Sauzas treffen, er will uns ein paar Fotos zeigen. Verbrecheraufnahmen. Dies ist also unser letzter Tag in Guanajuato. Wir müssen morgen früh aufbrechen.«
23
Theodore nahm die gebirgigen Kurven in so schnellem Tempo, daß Ramón sich ein paarmal erschreckt aufrichtete. Nun, das war wenigstens eine Reaktion, wenn auch nur die der Selbsterhaltung. In Morelia schlug Theodore eine Pause vor, damit sie zu Mittag essen konnten, aber Ramón behauptete, keinen Hunger zu haben, und Theodore, der gern bald die Stadt erreichen wollte, fuhr weiter.
»Der Junge mag ja ein Einbrecher sein, Teo, aber deshalb ist er noch lange kein Mörder«, sagte Ramón.
»Wir werden ja sehen.«
»Ich weiß, was die Polizei mit ihm anstellt, wenn sie ihn kriegt. Sie werden ihn isoliert halten und verhören und zusammenschlagen, bis er einfach alles zugibt.«
Theodore erwiderte nichts. An der Zigarette, die er gerade geraucht hatte, zündete er sich eine neue an.
»Und dann stellen sie sein Geständnis meinem gegenüber«, fuhr Ramón fort. »Immer sprechen sie vor Gericht vom Wort eines Mannes, und wenn einer sein Wort gibt, dann nehmen sie es nicht an. Die wollen was anderes — etwas, das sie sehen und anfassen können — Zeugen — Blutflecken —«
»Du wirst den Jungen ja hoffentlich sehen, Ramón. Den kannst du jedenfalls sehen und anfassen!«
»Ja! Und damit hältst du ihn dann für schuldig? So sieht es doch aus! Ein Junge von zwanzig!«
»Ich sagte, ich würde es ihm zutrauen, ja. Natürlich müssen sie ihn vernehmen. Kannst du nicht inzwischen mal davon ausgehen, daß mein Urteil noch nicht gesprochen ist?«
Ramón lachte auf. »Nein — weil es nicht stimmt! Und weil sie befunden haben, daß Ramón Otero verrückt oder nahezu verrückt ist, deshalb kann ich überhaupt nichts tun oder sagen zugunsten des Jungen.« Er verschränkte die Arme. »Aber versuchen kann ich es!«
Theodore ging etwas herunter mit dem Tempo, das offenbar Ramóns Anspannung steigerte. Es war genau, wie er vorausgesehen hatte: Ramón mußte man alle Fakten aufgereiht vorlegen, bevor er den Jungen für schuldig hielt. Und es war zu befürchten, daß noch keineswegs alle Fakten verfügbar waren, jedenfalls nicht, soweit man sie sehen und anfassen konnte, und so konnte Ramón seine Illusion trotz allem beibehalten, er würde nicht an die Schuld des Jungen glauben. Ein bloßes Geständnis genügte ihm nicht.
Es wurde dunkel, und der Abend kam. In der Ferne sah Theodore die roten Lichter des Funkturms von Mexico City. Dann erschienen auch Lichter zu beiden Seiten der Straße. Sie waren Jetzt am westlichen Teil des Paseo de la Reforma angelangt.
»Da ist die Polizei«, sagte Theodore und nahm Gas weg.
Weiter vor ihnen stoppten zwei Polizisten mehrere Wagen, leuchteten mit Taschenlampen hinein nnd ließen sie mit einer Handbewegung weiterfahren. Die Lampe beleuchtete kurz auch sein und Ramóns Gesicht, ging weiter über den Rücksitz und den Fußboden des Wagens, wurde dann zurückgenommen und bedeutete ihnen weiterzufahren.
»Ich hoffe, sie haben ihn schon«, sagte Theodore. »Vielleicht hat man ihn längst, und diese Männer hier sind bloß nicht informiert worden.«
»Aber muß er nicht über diese Straße kommen?«
»Nicht unbedingt — er könnte auch im Zickzack fahren und auf einer anderen Straße hinkommen. Oder er steigt aus und geht zu Fuß.«
Eine halbe Stunde später waren sie in Theodores Haus, wo Inocenza sie erfreut wie ein Kind begrüßte. Sie brachte Ramón den Papagei und erzählte, sie versuche, ihm ein paar Worte beizubringen. Sie wolle gern, daß Ramón ihm einen Namen gebe.
»Mir ist es egal, Inocenza. Sie können einen Namen aussuchen.«
»Pepe«, sagte sie sofort. »Ist Ihnen das recht, Señor?«
»Ja, das ist mir sehr recht«, sagte Ramón.
Theodore war am Telefon und wartete auf Sauzas. »Bitte tun Sie doch etwas Eis in den Eimer, Inocenza«, sagte er.
Dann kam Sauzas und berichtete, sie hätten nichts gefunden. »Wir beobachten natürlich auch Morelia, Und morgen früh … Na schön, ich werde jetzt erstmal die Fotos mitbringen, vielleicht können wir doch den Jungen danach identifizieren … Gut, Señor, in ungefähr fünfzehn Minuten.«
»Sie haben ihn noch nicht«, sagte Theodore und legte den Hörer auf.
»Sie haben wen noch nicht?« fragte Inocenza.
Theodore erzählte in kurzen Worten von dem zweiten Diebstahl, von der fehlenden Kamera und Ramóns Adreßbuch und den anderen Sachen, die sie schließlich festgestellt hatten: ein Kästchen mit Manschettenknöpfen und fünf Schlipse aus dem Innern der Schranktür. Er beschrieb ihr den Jungen und fragte, ob sie glaube, ihn auf der Straße irgendwann gesehen zu haben.
»Ich weiß es nicht, Señor. Es gibt so viele solche Jungen.«
»Hat mal ein Junge auf der Straße versucht, Sie anzureden?«
»Sí, Señor, aber ich rede nicht mit ihnen. Ich sehe sie nicht mal an.« Sie runzelte die Stirn. »Nein, Señor, an so einen Jungen kann ich mich nicht erinnern.«
Immerhin: es gab ja noch Constancia, dachte Theodore, und sie war redseliger als Inocenza. Von Constanzia konnte der Junge zum Beispiel erfahren haben, daß sie nach Guanajuato fuhren.
Theodore schenkte sich einen Drink ein. Ramón wollte nichts trinken; er brachte seinen Koffer — den er niemals Inocenza tragen ließ — nach oben in sein Zimmer. Theodore sagte Inocenza, daß Sauzas gleich komme; vielleicht könnten sie alle zusammen zu Abend essen, wenn etwas im Hause war.
»Sí, Señor, altes Huhn ist da, Guacamole, Obstsalat—«
»Sehr schön. Und bitte schalten Sie den Boiler an. Wir werden sicher ein heißes Bad nehmen wollen heute abend.«
Das Essen war fertig, bevor Sauzas kam, aber sie hatten sich kaum hingesetzt, als es klingelte. Inocenza stürzte aus der Küche hinunter in den Patio. Kratzend ging die Eisenpforte auf.
Theodore begrüßte Sauzas herzlich und lud ihn zum Essen ein, aber Sauzas sagte, er habe schon gegessen.
»Wenn Sie gerade beim Essen sind, warte ich«, sagte er.
»Oh nein! Ramóm iß du doch bitte weiter, wenn du magst.« Aber Ramón hatte seine Serviette zusammengefaltet und stand auf.
Sauzas nahm auf dem Sofa Platz. »Es ist natürlich denkbar«, sagte er, »daß unser junger Freund sah, wie die Wagen am Eingang zur Stadt angehalten wurden, und daß er dann den Fahrer bezahlte und zu Fuß weiterging. Wir bewachen jetzt auch die Bushaltestellen.« Er zog eine Anzahl Fotos aus einem großen Leinenumschlag. »Ist er dies?« Er gab Theodore ein Bild von der Größe einer Postkarte.
Theodore schüttelte den Kopf . »Nein.«
»Und dies?«
»Tampoco no.«
»Dann sehen Sie sich diese mal an.« Sauzas legte mehrere Dutzend Fotos auf das Sofa.
»Hier — dies ist er!« sagte Theodore und ergriff eins der Bilder, auf dem der Junge in offenem Hemd zu sehen war. Der Schnurrbart fehlte hier. Das dünne blasse Gesicht lächelte schwächlich-schüchtern.
Sauzas zündete sich hastig eine Zigarette an, besah sich die Aufschrift auf der Rückseite des Fotos und sagte:
»Salvador Infante. Einundzwanzig. Diebstahl von etwa siebzehntausend Pesos aus einem Juweliergeschäft am 6. März. Das war der Tag nach dem Einbruch bei Ihnen, Señor. Sind Sie sicher, daß dies der Junge ist?«
»Vollkommen sicher. Ramón, sieh mal her — du sollst sehen, wie er aussieht.« Er gab ihm das Bild, das Ramón einen Augenblick ansah und dann zurückgab.
»Das ist der Junge, der mit uns bei den Mumien war, Ramón.«
Ramón sagte nichts.
»Infante war als Bote im Palacio Real Silver Shop in der Avenida Juarez angestellt vom 15. Dezember bis zum 6. März.« Sauzas blickte auf. »Am Abend des 6. März, als das Geschäft geschlossen und nur die Kassiererin noch da war und die Tageskasse zählte, kam Salvador herein, versetzte der Kassiererin einen Schlag über den Kopf, der sie tötete, nahm das Geld und verschwand. Jedenfalls sind wir ziemlich sicher, daß es Infante war, denn er kam nie wieder zur Arbeit. Seine Eltern haben keine Ahnung, wo er ist. Aber Fingerabdrücke aus dem Laden haben wir nicht. Nur Abdrücke von ein paar Sachen in seinem Elternhaus.«
»Er muß herausgefunden haben, daß wir nach Guanajuato wollten«, sagte Theodore.
»Offenbar ja. Sein Arbeitgeber hat mir erzählt, daß er gut reden kann, sich gern schick anzieht und auch die Mädchen gern hat. Zwei Freundinnen von ihm haben wir gefunden, und die haben wir auch nach ihm gefragt, aber keine wußte, wo er war. Sein Arbeitgeber wollte ihn entlassen, weil er ihm nicht traute. Da dürfte er wohl recht haben, was?« Sauzas lächelte breit und lachte in sich hinein. »Das ist genau der Typ, der all sein Geld auf einmal ausgibt und dadurch Aufmerksamkeit erregt. Er kann nicht anders — überall hinterläßt er Spuren für die Polizei.«
Und dabei haben sie ihn noch gar nicht, dachte Theodore. »Señor Capitán — nannten Sie vorhin den Palacio Real Silver Shop?«
»Sí, Señor. Warum?«
»Ramón! Das ist der Laden, wo ich Lelias Kette zur Reparatur hingebracht habe! Du weißt doch, die mit dem Obsidiananhänger, an der ein Glied gerissen war. Erinnerst du dich noch, Ramón, ja? Kurz bevor ich nach Oaxaca ging, sagte Lelia, es sei kaputt. Wir saßen alle zusammen an dem Abend. Weißt du noch?«
Ramón nickte. »Ja. Ich glaube, ich erinnere mich.«
»Haben Sie den jungen in dem Laden gesehen, als Sie hingingen, Señor Schiebelhut?« fragte Sauzas.
Theodore schüttelte den Kopf. »Die Reparatur hat ein älterer Mann angenommen, mit dem ich mich unterhielt. Aber Lelia hat wahrscheinlich das Halsband dann abgeholt, und dabei hat er sie dann gesehen. Oder vielleicht hat er die Kette auch zu ihr in die Wohnung gebracht. Ramón, entsinnst du dich noch, ob sie geschickt wurde?«
»Nein, das weiß ich nicht mehr.«
»Hat sie irgendwas gesagt von einem Jungen, der ihr die Kette zurückgebracht hat? Denk doch bitte mal nach, Ramón.«
»Tue ich ja. Ich glaube nicht, daß sie die Kette überhaupt erwähnt hat.«
»Hat sie sie getragen, als ich fort war?« fragte Theodore. »Vielleicht ist sie jetzt noch in dem Laden.«
»Nein, ich glaube, sie hat sie getragen, als du weg warst. Aber genau weiß ich es nicht mehr.« Ramón hob leicht die Achseln.
»Wie sieht sie aus, die Kette?« fragte Sauzas.
»Der Anhänger ist flach — die Form ist ungefähr so«, sagte Theodore und zeigte die Länge von etwa zehn Zentimetern mit Daumen und Zeigefinger an. »Die Kette besteht abwechselnd aus langen, dünnen Obsidian- und Goldgliedern. Ob vielleicht Josefina die Kette jetzt hat?« Theodore sah Ramón an.
»Keine Ahnung«, gab Ramón zurück. »Dir wurde ja ein Teil ihres Schmucks angeboten, mir aber nicht.«
»Entschuldigung«, sagte Theodore, ging zum Telefon und wählte Josefinas Nummer. Er begrüßte sie und fragte, wie es ihr gehe, bevor er sie nach der Halskette fragte.
»Aber ja, das Halsband kenne ich natürlich«, sagte Josefina. »Nein, bei ihren Schmucksachen war es nicht, Teo. Ich hatte noch nicht daran gedacht, aber — ich dachte — vielleicht hat sie es an dem Abend getragen —«
»Vielleicht ist es noch immer in dem Reparaturladen«, sagte Theodore. »Laß nur, Tía Josefina, sorg dich nicht.«
»Gibt es etwas Neues? Warum fragst du denn?«
»Nur weil es mir gerade einfiel, und ich hatte die Kette sehr gern, weißt du, wenn sie auch nicht sehr wertvoll war. Ich hoffte, du hättest sie.«
»Du sagst mir doch die Wahrheit, Teo? Nicht daß du meinst, sie wurde ihr an dem Abend gestohlen?«
Theodore sagte, die Kette sei vermutlich noch in dem Laden in der Avenida Juarez; er werde das morgen feststellen und sie dann anrufen. Das beruhigte sie. Er wandte sich wieder zu Sauzas. »Ich werde morgen hingehen und nachsehen, ob die Kette noch dort ist. Ramón, kannst du dich erinnern, daß du diesen Jungen irgendwann auf der Straße bei Lelias Haus gesehen hast?«
»Ich erinnere mich überhaupt nicht, ihn jemals gesehen zu haben«, sagte Ramón und ging rastlos im Zimmer auf und ab. »Er sieht aus wie hundert andere junge Leute.«
»Für mich nicht«, sagte Theodore. »Señor Capitán, können Sie sich jetzt vorstellen, daß dieser Junge der Mörder sein könnte?«
Ramón warf heftig sein Streichholz in den Kamin.
»Möglich ist es.« Sauzas hob die Brauen. »Aber ich glaube, eine solche Tat bedarf eines starken Motivs. Dieser Junge ist eher ein kleiner Gauner. Daß er die Frau in dem Laden umgebracht hat, war Zufall, da bin ich sicher. Der Junge ist sehr eitel. Er hat gern viel Geld in der Tasche und hübsche Sachen. Aus Lelias Wohnung war gar nichts gestohlen, außer den Schlüsseln.«
»Hm, hm. Ja. Ich habe da noch eine andere Idee, Señor Capitán. Sie hängt mit dem Schal zusammen. Ramón sagte mir gestern, daß ihn auch so ein Kerl angeredet und ihm einen Schal angeboten hat. Ganz sicher war es derselbe Junge.«
»Wann war das?« Sauzas setzte sich auf.
»Bevor die Postkarte aus Florida kam. Ein paar Tage nach dem Begräbnis war es wohl. Erzähl es mal, Ramón.«
Ramón wiederholte sein Erlebnis kurz. Es war genau wie Theodores eigene Begegnung mit dem Jungen, von der er Sauzas berichtet hatte.
»Ich bin überzeugt, dem Jungen ist es um Geld zu tun«, sagte Theodore. »Er weiß, der Schal gehört dem Mann, der die Tat begangen hat. Vielleicht hat er ihn im Treppenhaus gefunden oder sogar in ihrer Wohnung. Vielleicht ist er es, der die Blumen gebracht hat — oder die Halskette — und sie dann tot fand, und den Schal da liegen sah…« Theodore schwieg.
»Weiter«, sagte Sauzas.
Theodore wandte sich an Ramón. »Und Ramón sagt, er hat keinen Schal verloren. Das weißt du doch ganz sicher, nicht wahr, Ramón?«
»Ich hab nur einen Schal, den hellgrauen. Der ist jetzt in meinem Koffer.«
»Ja, das stimmt«, sagte Theodore lächelnd.
»Und Sie, Señor Schiebelhut — vermissen Sie einen Schal?« fragte Sauzas.
»Nein, soviel ich weiß nicht. Ich habe gerade nachgesehen. Ich weiß nicht genau, wie viele Schals ich habe; es ist immerhin möglich, daß einer fehlt.«
Sauzas klopfte mit den Fingerspitzen auf den kleinen Tisch. »Na schön — fahren Sie bitte fort mit Ihrer Hypothese.«
»Er hatte den Schal gefunden, nahm ihn an sich und ging hinaus. Die Schlüssel nahm er vielleicht mit. Die Tür kann offen gewesen sein, als er hereinkam, wenn der Mörder schnell hinausgerannt ist. Und der Junge hat a auch meine Schlüssel mitgenommen — Sie werden sich erinnern, Señor Capitán.«
»Ja«, sagte Sauzas nachdenklich. »Hm. Ganz interessant.«
»Ich gebe zu, mir fehlt noch ein Motiv. Der Grund, warum Infante überhaupt zuerst zu ihr gegangen ist.«
»Ah — sie war doch eine hübsche Frau!« meinte Sauzas. »Das ist vielleicht schon ein Motiv. Vielleicht hat er sie irgendwo gesehen, hat ihr Haus beobachtet. Vielleicht hat er gesehen, daß andere Männer zu ihr gingen.«
»So viele waren es nicht«, schob Ramón ein.
»Ach — genug«, sagte Theodore. »Ich möchte annehmen, wie der Capitán, daß er ihr Haus eine Weile beobachtet hat. Unsere Häuser hat er ja auch beobachtet, Ramón.«
»Welche Männer bitte, Teo?« wollte Ramón wissen.
»Ach — Sanchez-Schmidt, Eduardo Parral ab und zu, Ignacia und Rodolfo, Carlos Hidalgo …«
»Hidalgo?« fragte Sauzas.
»Ja. Lelia hat manchmal Bühnendekorationen für ihn gemalt. Für seine Stücke an der Regieschule.«
»Und dieser Eduardo, wer ist das?«
»Das ist ein junger Maler«, sagte Theodore. »Er kam vielleicht einmal im Monat oder so.«
»Haben Sie seine Adresse?«
»Ja. Er wohnt in Tacubaya. Moment.« Er war schon auf der Treppe und wandte sich um. »Aber müssen wir ihn denn behelligen, Señor Capitán?«
»Ja — wegen des Schals«, meinte Sauzas. »Wir müssen herausfinden, wem der Schal gehört. Und den Schal werden wir in spätestens 24 Stunden haben — sobald wir Infante haben.«
Theodore ging nach oben und holte sein Adreßbuch aus der Koffertasche.
»Sie hätten mir früher von ihm erzählen sollen«, sagte Sauzas vorwurfsvoll, als er Eduardos Adresse notierte.
Theodore wollte etwas zu seiner Verteidigung sagen, aber er wußte, Sauzas würde ihm doch nur entgegenhalten, daß zuweilen die stillsten und unauffälligsten Leute Verbrecher waren.
Sauzas steckte sein Notizbuch ein und sagte: »Die Gefahr liegt darin, daß Infante vielleicht schon jetzt irgend jemand mit dem Schal erpreßt. In den vier Wochen, seit er den Eigentümer sucht, kann er ihn gut schon gefunden haben, und es ist vielleicht jemand, den wir noch gar nicht auf unserer Liste haben.«
»Aber Ramóns Adreßbuch hat er ja erst gestern gestohlen«, sagte Theodore. »Vielleicht sucht er immer noch mehr Leute, die er nach dem Schal fragen kann.«
Sauzas begann, die Fotos einzusammeln.
»Señor Capitán — ich würde gern mit Infante sprechen, sobald Sie ihn gefunden haben«, sagte Ramón. »Ist das wohl möglich?«
»Das wäre mir sehr recht«, sagte Sauzas höflich zu Ramón und lächelte. »So — jetzt muß ich gehen.«
Theodore fragte, ob er Infantes Bild behalten könne, und Sauzas überreichte es ihm freundlich und sagte, er werde noch mehrere hundert Abzüge machen lassen.
»Danke schön, Inocenza«, sagte Sauzas, als sie ihm seinen Mantel brachte.
»Wo sind Sie morgen, Señor Capitán?« fragte ihn Theodore.
Sauzas erwiderte, er werde in der Stadt sein, und gab Theodore seine Bürostunden an. Sobald es etwas Neues gebe, werde er sich melden, sagte er.
»Ja, jederzeit«, fügte Ramón hinzu. »Ich möchte Infante gern sprechen, sobald Sie ihn gefunden haben.«
»Das werde ich tun, Don Ramón«, versprach Sauzas.
Theodore verabschiedete ihn an der Gartenpforte, und obwohl sie nur über den schönen Abend sprachen, merkte Theodore, daß Sauzas, wie er selbst, Hoffnung geschöpft hatte.
»Gehst du auch zu Bett, Ramón?« fragte er, als er nach oben kam.
Ramón blickte auf von dem Foto des Jungen und warf es auf das Sofa. »Nein, ich gehe noch etwas an die Luft, Teo.«
»Bleibst du lange? Es ist elf Uhr.«
Ramón versuchte zu lächeln. »Nein, ich bleibe nicht lange. Keinen Mantel, danke.« Er öffnete die Tür und ging hinaus.
Inocenza blieb noch im Wohnzimmer stehen, als Theodore seinen Kaffee trank. »Señor, darf ich fragen, ob Señor Ramón — ich sollte mit ihm nicht über die Señorita Lelia sprechen, nicht wahr«, sagte sie respektvoll.
Theodore holte tief Luft. »Er hält immer noch daran fest, daß nur er selber schuldig ist, Inocenza. Aber ich bin sicher, das geht vorüber, vielleicht schon bald. Sobald wir den jungen Mann mit dem Schal gefunden haben.«
»Ach ja, der Schal«, sagte Inocenza mit zuversichtlichem Lächeln.
»Und wissen, wem er gehört«, fügte Theodore noch hinzu und war einen Augenblick wieder verzagt. Wie kam er zu der Annahme, daß der Junge den Schal am Tatort gefunden hatte? Das Päckchen, das er unter dem Arm trug, enthielt vielleicht nichts als Pornopostkarten — der Junge war vielleicht niemals in Lelias Wohnung gewesen! Theodore stieg langsam die Treppe hinauf. Er wollte noch an dem Buchumschlag für Aufrichtig gelogen arbeiten, bis Ramón wiederkam; vielleicht hatte er keinen Hausschlüssel mitgenommen.
Theodore hatte in seinem Studio weniger als eine Stunde gezeichnet, als er beschloß, ein Bad zu nehmen und dann im Bademantel weiterzuarbeiten. Als er beim Ausziehen die Anzugtaschen leerte, fand er sein Adreßbuch. Er schlug es auf und ging ans Telefon.
Eduardo Parral wohnte in einer Pension. Ein Mädchen war am Apparat, und Theodore mußte längere Zeit warten, bis festgestellt wurde, ob Eduardo zu Hause war. Dann sagte eine junge Männerstimme:
»Bueno?«
»Bueno, Eduardo. Hier ist Theodore Schiebelhut. Wie geht’s?«
Eduardo schien sich über den Anruf zu freuen; er fragte, wie es Theodore gehe und ob er Neues gehört habe, womit er offensichtlich Neues über den Stand der Untersuchung meinte.
»Ja, einiges. Wir wissen noch nicht, wie wichtig es ist. Aber der Grund, warum ich Sie so spät noch anrufe, ist der, daß ich Ihnen sagen möchte, daß der Untersuchungsbeamte, Capitán Sauzas, Ihnen morgen wahrscheinlich einige Fragen stellen wird. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, Eduardo.«
»Aber gar nicht, Don Teodoro«, sagte Eduardo in freundlichem Ton. »Nachmittags bin ich nicht hier, aber den ganzen Morgen bin ich zu Hause.«
»Schön. Ich denke, ich überlasse es besser Sauzas, Ihnen zu sagen, worum es geht.«
»Selbstverständlich«, sagte Eduardo höflich.
Theodore drückte den Hörer. »Sagen Sie, Eduardo: Sie haben keine sonderbaren Telefonanrufe oder so etwas gehabt, nein?«
»Nein.« Er lachte in seiner etwas unsicheren Art. »Außer heute. Da rief mich ein Mann an und fragte, ob ich einen Schal verloren hätte. Es klang fast drohend. Seinen Namen wollte er nicht nennen. Er sagte, ich sollte es mir gut überlegen, ob ich nicht doch einen verloren hätte, dies sei meine letzte Chance. Meine allerletzte!« Er lachte.
»Wann war das?«
»Vor etwa zwei Stunden. Kurz nach acht, wir waren gerade beim Essen.«
»Härte es sich an wie ein Ferngespräch?«
»N-ein, eigentlich nicht. Wie ein örtlicher Anruf. Warum?«
»Ach…« Theodore fuhr sich uber die feuchte Stirn. »Das wird der Capitán Ihnen sagen, Eduardo. Es ist besser, wenn ich nichts mehr sage.«
»Aber worum geht’s denn dabei? Wissen Sie das?«
Theodore zögerte. »Hat er gesagt, er wolle Ihnen den Schal verkaufen?«
»Nein. Er fragte bloß, ob ich einen verloren hätte. Er schien ganz sicher zu sein, daß ich einen verloren hatte, aber ich weiß genau, meine drei Schals liegen hier in meiner Schublade. Ich habe sogar noch mal nachgesehen — sie sind alle da.«
»Schön. Sehr schön«, sagte Theodore erleichtert. »Ich glaube, ich sollte lieber nichts mehr sagen, Eduardo. Rufen Sie mich doch morgen an, wenn Sie den Capitán gesprochen haben, ja?«
»Gut, Teo, das mache ich. Und was macht die Malerei? Haben Sie etwas in Arbeit?«
»Ja, ein paar Sachen. Und Sie?«
»Ich auch. Immer noch Porträts. Ab Juni dann Landschaften.«
Eduardo war ein systematischer junger Mann: ein Jahr lang nichts als Porträts. Und nach dem Landschaftsjahr kam dann vermutlich ein Jahr mit Stilleben. Lelia hatte ihn oft geneckt wegen seiner Methodik, aber sie hatte auch Respekt für sein Talent gehabt. Theodore kehrte an seine Arbeit zurück und war bald vertieft in die Zeichnung des zynischen Schurken, der auf dem Umschlag dargestellt werden sollte und der Realismus, Fatalismus und Pessimismus verkörperte.
Als er unten an der Pforte Stimmengemurmel hörte, blickte er auf die Uhr und sah, daß es nach zwei war. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Theodore stand auf. Jemand schloß die Haustür auf und kam mit leisen Schritten ins Wohnzimmer. Vermutlich Ramón, dachte Theodore, warum hatte er denn Angst, ihn zu rufen? Das waren Ramóns Schritte, die jetzt leise die Treppe heraufkamen. Er blickte durch die halboffene Tür und sah Ramón behutsam die Stufen hinaufsteigen.
»Hallo, Ramón! Du warst lange fort«, sagte er.
»Du bist noch auf? Ich wollte dich nicht wecken.«
Theodore legte die Feder hin. »Komm doch einen Augenblick herein, ich möchte dir etwas erzählen. Ich habe vorhin Eduardo Parral angerufen, und ganz ohne Übergang sagte er, daß ihn heute abend um acht ein Mann angerufen und gefragt habe, ob er einen Schal verloren habe.«
»Tatsächlich?« sagte Ramón höflich interessiert.
»Steht Eduardos Name in deinem Adreßbuch?«
»Ich glaube wohl. Ja, doch.«
»Aha — so macht er es also. Dann wird er wahrscheinlich noch mehr Freunde von dir anrufen. Und so können wir ihm eine Falle stellen, wenn wir uns beeilen.«
Theodore dachte nach. Viele Namen waren sicher nicht in Ramóns Adreßbuch. Man konnte zwei oder drei Leute informieren, damit sie den Schal als ihr Eigentum ausgaben und dann mit Infante eine Verabredung trafen. Aber vielleicht war der Junge jetzt auch schon viel zu mißtrauisch für solche persönlichen Begegnungen. Er mußte doch den Polizeikordon um die Stadt bemerkt haben. »Hast du unten auf der Straße mit jemandem gesprochen, Ramón? Ich hörte ein paar Stimmen.«
»Ja, mit dem Polizisten. Er kam heran, als ich die Pforte aufschloß, und packte mich am Arm, bevor er mich erkannte. Uns kann wirklich nichts passieren«, fügte er lächelnd hinzu.
An diesem Abend versuchte Theodore nicht mehr, Ramón die Bedeutung der Sache mit dem Schal beizubringen. Es drang einfach noch nicht richtig zu ihm durch.
Befriedigt sah Theodore am nächsten Morgen Infantes Foto zweispaltig auf der ersten Seite der wichtigsten Zeitungen mit der Unterschrift: »Wer kennt diesen Jungen?« Vielleicht wurde das grinsende Gesicht auch von Leuten gesehen und behalten, die sich eine Zeitung nicht leisten konnten.
Etwas später rief Theodore den Palacio Real Silver Shop an. Dort war keine Kette unter dem Namen von Lelia Ballesteros mehr vorhanden.
24
»Tag, Teo — hier ist Isabel Hidalgo … vielen Dank, mir geht es gut, und dir?« Sie sprach englisch, wie sie es häufig tat, wenn sie guter Stimmung war, und doch klang ihre Stimme leicht beklommen. »Was sagst du zu der Geschichte heute in der Zeitung? Glaubst du wirklich, daß dieser Infante der Täter ist?«
»Man weiß es noch nicht«, sagte Theodore. »Er hat ganz sicher etwas damit zu tun, davon bin ich überzeugt.«
Sie stellte noch weitere Fragen, die Theodore vorsichtig beantwortete; er wollte den Jungen nicht als Mörder hinstellen, solange dafür nicht genügend Beweise vorhanden waren. In der Zeitung hieß es, »die Behörden« hätten Grund zu der Annahme, daß der Junge etwas mit dem gräßlichen Mord an Lelia Ballesteros im letzten Februar zu tun habe. Das war alles, was Theodore ihr erzählte; nur gab er zu, er habe gesehen, wie sich der Junge vor seinem Hause herumtrieb.
»Ich denke, dein Haus wird bewacht?«
»Das war vor mehreren Wochen — bevor sie die Wache aufstellten«, sagte er. »Und was macht Carlos, Isabel?«
»Ach, wie immer, Teo. Sehr gut geht es ihm nicht.« Sie fiel jetzt ins Spanische zurück. »Die Arbeit an der Schule und die Aufführungen zusätzlich zu seinen Kursen — und nun will er auch noch ein Angebot annehmen und bei einem Stück im Theater in Chapultepec die Regie führen; das ist eigentlich alles viel zuviel und macht ihn nervös, und dann trinkt er zuviel — auch am Tage schon, fürchte ich.«
Theodore sagte ein paar teilnehmende Worte — ob nicht ein Urlaub ihm gut täte? meinte er; aber Isabel sagte, Carlos würde doch nur behaupten, das sei unmöglich. Sie redete noch weiter und sprach jetzt spanisch, was ihre Worte etwas leichter erscheinen lassen sollte, aber er erkannte, daß sie sich große Sorgen machte und daß die Lage wirklich ernst war. Carlos war mehrere Tage nicht in der Regieschule erschienen, auch heute nicht.
»Ist er zu Hause?« fragte Theodore.
»Nein, er ist ausgegangen.«
Es war jetzt Viertel nach zwölf. Vielleicht hatte Sauzas Carlos angerufen und er war ausgegangen, weil er einen Kater hatte und niemand sehen wollte.
»Würdest du mir einen Gefallen tun, Teo?«
»Ja, natürlich. Was denn?«
»Würdest du zu mir rüberkommen? Ich möchte so gern, daß du hier bist, wenn Carlos zurückkommt. Du hast Einfluß auf ihn. Natürlich brauchst du ihm nicht etwa ins Gewissen zu reden, das meine ich nicht. Einfach da sein. Kannst du das machen? Ich mache Lunch zurecht. Ja?«
Es war das letzte, was Theodore sich wunschte, aber er konnte ihr die Bitte nicht gut abschlagen. »Gut, Isabel. Ich komme. Wie bald?«
»Sobald du kannst. Wenn Ramón noch bei dir ist, kann er gern mitkommen.«
Er wußte, sie hatte es lieber, daß Ramón nicht mitkam, aber er versprach, ihn jedenfalls zu fragen.
Ramón war aus und seit zehn Uhr ausgeblieben, obwohl er zum Mittagessen zurück sein wollte. Theodore war sicher, daß er zur Kathedrale gegangen war und unterwegs nach Infante Ausschau hielt.
Theodore nahm ein Taxi. Er war seit der schrecklichen Nacht nicht wieder bei den Hidalgos gewesen; und die Erinnerung an seine Rückkehr, wie er damals fröhlich mit seinem Koffer angekommen war, stand ihm schmerzlich vor Augen, als er an der Haustür klingelte. Isabel führte ihn in das Wohnzimmer, wo das bunte Mobile hing, noch größer und greller bei Tageslicht, und eine falsche Fröhlichkeit ausdrückte. Isabel gab sich alle Mühe, doch ihre Hände waren nervös und vergessen ein paar Tropfen des Dubonnet, den sie ausschenkte.
»Gerade als ob ich zuviel tränke!« sagte sie und lachte.
Carlos mußte jeden Augenblick zurück sein. Sie sagte, er esse immer mittags lieber zu Hause; aber um Viertel vor zwei war er immer noch nicht da. Isabel holte eine Schüssel aus der Küche — das Mädchen kam nur morgens, hatte aber noch gekocht, erklärte sie —, und sie fragte nach Ramón, von dessen Schuldkomplex sie durch Freunde gehört hatte. Theodore sagte, er mache »Fortschritte« und berichtete ihr, er selbst habe nur ganz kurze Zeit an Ramóns Schuld geglaubt.
»Aber was glaubst du dann, wer es war?« fragte sie und lehnte sich etwas näher zu ihm. »Du mußt doch einen Verdacht haben, Teo. Ich verspreche dir, ich rede nicht darüber.«
»Ich weiß, ich kann dir vertrauen«, sagte Theodore lächelnd. »Aber ganz ehrlich, ich habe keinen Verdacht und habe nie einen gehabt. Es gibt keinen Menschen, den ich kenne und dem ich eine solche Tat zutrauen würde. Ich meine, niemand den ich persönlich kenne, bei Namen.«
Sie nickte. »Ja, ich weiß, ich weiß.«
»Komm, iß, solange es heiß ist. Es schmeckt gut.«
Es klingelte, und sie fuhr zusammen. »Entschuldige, Teo.« Sie drückte auf den Knopf, der die Haustür automatisch öffnete. »Er muß seinen Hausschlüssel vergessen haben.«
Theodore schob den Stuhl zurück und erhob sich. Er wußte, jetzt kam gleich Carlos’ überschwengliche Umarmung.
»Wer ist da?« rief Isabel in die Halle hinaus.
»Capitán Sauzas von der Polizei, wenn Sie gestatten«, hörte man Sauzas Stimme, und dann erschien er in der Tür. »Señora Hidalgo? Buenas tardes. Ich bin um zwei Uhr mit Ihrem Mann verabredet. Hallo, Señor Schiebelhut! Wie geht es Ihnen?«
Lächelnd betrat Sauzas das Zimmer und begrüßte Theodore wie einen alten Freund.
»Sehr gut, Señor Capitán. Ich wußte gar nicht, daß Sie für jetzt eine Verabredung hatten.«
»Doch, doch! Ich habe heute morgen angerufen. Tut mir wirklich leid, daß ich Sie beim Essen störe. Immer stört die Polizei, nicht wahr? Ist Ihr Mann wohl da, Señora?«
»Nein, er ist ausgegangen«, sagte Isabel und drückte ihre Serviette zusammen. »Aber er muß jeden Augenblick zurück sein. Ist etwas los?«
»Nein, nein, ich habe nur ein paar Fragen. Ich habe ihn heute morgen um zehn angerufen. Hat er Ihnen nichts davon gesagt?«
»Nein — um zehn war ich gar nicht im Hause. Aber wenn er sich mit Ihnen verabredet hat, kommt er ganz bestimmt gleich. Wollen Sie nicht Platz nehmen?«
Sauzas setzte sich auf eine der niedrigen Couches in der anderen Zimmerecke.
Isabels Kaffee lehnte er ab und bat sie, sich beim Essen nicht stören zu lassen.
Isabel setzte sich wieder, aß jedoch nichts mehr. Theodore hatte sich eine Zigarette angezündet.
»Vielleicht gehe ich jetzt besser, Isabel«, sagte er. »Wenn der Señor Capitán …«
»Aber du hast ja noch gar nichts gegessen. Du mußt wenigstens noch deinen Kaffee trinken, Teo.« Sie ging hinaus in die Küche.
Sauzas blätterte gelassen in einigen Zeitungen. Theodore mochte ihn in Gegenwart von Isabel nicht fragen, ob es Neues gebe.
»Wann hat Señor Hidalgo das Haus verlassen?« fragte Sauzas, als Isabel mit dem Kaffee zurückkam.
»Ungefähr um elf«, erwiderte sie.
Sauzas sah auf seine Uhr. »Jetzt ist es fast halb drei. Hat er gesagt, wo er hin wollte?«
»Nein. Wollen Sie wirklich keinen Kaffee, Señor?«
Diesmal nahm Sauzas an. Sie unterhielten sich ein Paar Minuten über Carlos’ Arbeit an der Ciudad Universidad. Sauzas war wie immer ruhig und gelassen. Schließlich sagte er: »Vielleicht kann ich eine meiner Fragen auch bei Ihnen loswerden, Señora Hidalgo. Eine Ehefrau weiß das ja sicher ebensogut wie ihr Mann. Hat Señor Hidalgo kürzlich einen Schal verloren?«
»Ich glaube nicht. Warum?«
»Warum, das ist schwierig zu sagen«, meinte Sauzas höflich lächelnd. »Ich kann nur sagen, ich habe einen Grund für meine Frage. Wenn Sie seine Schals mal ansehen: würden Sie dann sagen können, ob einer fehlt?«
»Ich weiß nicht. Ich kann ja mal nachsehen, wenn Sie möchten«, sagte Isabel und erhob sich.
Sauzas stand ebenfalls auf und folgte ihr ins Schlafzimmer, das weiter unten an der kleinen Vorhalle gegenüber der Küche lag. Isabel zog die unterste Schublade einer Kommode auf, die hauptsächlich mit Wollsocken angefüllt war. Rechts lagen mehrere zusammengefaltete Schals, von der buntgestreiften Art, die Carlos bevorzugte.
»Hier sind sechs«, sagte Isabel und sah sie prüfend durch, nahm sie aber nicht aus der Schublade.
»Ganze Menge«, meinte Sauzas.
»Ja—a. Und oft kriegt er auch welche von Studenten geschenkt«, sagte Isabel. »Einen oder zwei hat er selber verschenkt.«
»Kürzlich?«
»Einen hat er, glaube ich, zu Tres Reyes verschenkt. Und einen zu Neujahr.«
»Und Sie können nicht sagen, ob von seinen eigenen einer fehlt, nein?«
Isabel stand noch uber dle Schublade gebeugt und blickte jetzt auf. »Worum handelt es sich?«
Sauzas holte tief Luft. »Um eine sehr ernste Sache, Señora. Ich möchte Sie nicht aufregen. Bitte lassen Sie sich Zeit und überlegen Sie. Vielleicht fällt Ihnen ein Schal ein, den Ihr Mann in der letzten Zeit — vielleicht in den letzten zwei Monaten nicht getragen hat. Haben Sie ein gutes Gedächtnis?«
Sie zögerte. »Hat es etwas mit dem Fall Ballesteros zu tun?« fragte sie mit weitgeöffneten Augen.
»Ja, Señora. Wir stellen allen Leuten die gleichen Fragen. Jedem, der sie gekannt hat. Es ist wirklich kein Grund zum Erschrecken.«
Isabel brach plötzlich in Schluchzen aus, und Theodore nahm ihren Arm und richtete sie auf. Sauzas blickte Theodore mit ruhigem Staunen an.
»Ihr Mann hat in der letzten Zeit reichlich getrunken«, sagte Theodore. Es war doch wohl besser, dies zu sagen als gar keine Erklärung für ihren Zustand zu geben. »Vielleicht ist das auch der Grund, warum er die Verabredung mit Ihnen nicht eingehalten hat.«
Sauzas zündete sich eine Zigarette an. »Verzeihen Sie bitte, Señora Hidalgo«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung, die sie nicht sah. »Hat Ihr Mann heute morgen noch andere Telefonanrufe gehabt? Oder auch gestern abend?«
Isabel wischte sich die Augen mit Theodores Taschentuch. »Ich weiß es nicht, Señor.«
»War er gestern abend nervös?«
»Er ist schon seit vielen Wochen nervös. Seit Monaten sogar.«
»Was hat er für Sorgen? Geld? Seine Arbeit?«
»Seine Arbeit wird ihm zuviel, und er lädt sich auch zu viel auf«, erwiderte sie.
Sauzas warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sagte etwas verstimmt zu Theodore: »Um halb vier soll ich mich mit Sanchez-Schmidt treffen.«
»Eduardo Parrel haben Sie schon gesprochen?« fragte Theodore.
Sauzas nickte und lächelte ihm kurz zu. »Also Señora Hidalgo, Ihr Mann hat in den letzten Tagen oder Wochen nichts von einem Schal zu Ihnen gesagt, nein?«
»Nein«, sagte Isabel und schüttelte den Kopf.
Sie sprach offensichtlich die Wahrheit, aber Sauzas drang noch weiter in sie und bat sie nachzudenken, ob Sie etwas wisse von irgendwelchen sonderbaren Telefonanrufen oder ob sie glaube, ihr Mann könne sie vielleicht vor ihr verheimlicht haben, und Isabel sagte, sie wisse von keinen Anrufen. Sauzas fragte, warum Carlos heute, am Donnerstag, nicht in der Schule sei.
»Weil — weil er sich nicht wohl fühlte«, sagte sie und blickte unglücklich auf den Boden.
»Hat er gestern abend gesagt, er werde heute nicht hingehen?«
»Ja«, antwortete sie bereitwillig.
»Hat er getrunken, gestern abend?«
»Ja, getrunken und Platten gespielt.«
»Aha. Ja, Señora Hidalgo, es ist fast drei, ich muß gehen. Kann ich Ihnen eine Nummer hierlassen und Sie rufen mich an, wenn Ihr Mann zurück ist? Sie brauchen nur diesen Apparat zu verlangen und können dann die Bestellung hinterlassen.« Er gab ihr eine Karte.
Theodore wußte, Isabel hätte ihn gerne noch dabehalten, aber ihm lag daran, ein paar Worte mit Sauzas zu reden. »Ich ruf dich heute abend an, wenn ich darf, Isabel«, sagte er und legte ihr die Hand anf den Arm. »Es tut mir so leid — dies war scheußhch für dich. Ich hätte lieber nicht kommen sollen.«
»O doch!« protestierte sie Und brachte ein kleines Lächeln zustande, als sie jetzt aufstand und beide zur Tür begleitete.
»Nun — was halten Sie davon?« fragte Sauzas, als sie auf der Straße waren.
»Ich weiß es nicht. Ich bin ganz sicher, sie weiß gar nichts von dem Schal. Meinen Sie nicht?«
»Hm, hm. Warum trinkt Carlos so viel? Er ist jung, erfolgreich — hat eine ganz hübsche Frau…«
»Carlos hat immer viel getrunken. Solange ich ihn kenne, das sind jetzt zwei Jahre.«
Sie gingen auf die Ecke der Insurgentes zu, nahe der Stelle, wo Theodore damals das Taxi genommen hatte und am Abend ihres Todes zu Lelia gefahren war.
Sauzas faßte plötzlich seine Schulter. »Kann ich mich auf Sie verlassen — daß Sie mich heute nachmittag anrufen, wenn Hidalgo nach Hause kommt? Ich habe das Gefühl, seine Frau wird mich nicht anrufen. Sie wird ihn beschützen wollen.«
Unruhe ergriff Theodore. »Ja. Sind Sie im Büro?«
»Ja, ich denke schon. Wenn ich bei Sanchez-Schmidt gewesen bin. Aber Sie brauchen ja nur ein paar Worte zu hinterlassen. Hier ist ein Taxi. Kann ich Sie mitnehmen? Ich muß zu Melchor Ocampo, weiter rauf.«
»Nein, danke schön, Señor Capitán.«
»Kopf hoch! Ich rechne jeden Augenblick mit der Meldung, daß Infante gefunden ist. Von Sanchez-Schmidt aus werde ich mein Büro anrufen.«
Theodore nickte und winkte ihm zu.
Als er um sieben bei Isabel Hidalgo anrief, war Carlos noch nicht gekommen. Um halb zehn rief er wieder an. Isabel hatte mehrere Bekannte angerufen und war jetzt in großer Sorge.
»Meinst du, ich soll in den Krankenhäusern nachfragen, Teo?«
Es dauerte einen Moment, bis er die Frage verstand, und dann schien sie ihm wenig sinnvoll. Es sah Carlos eher ähnlich, daß er irgendwo in einer kleinen Bar mit Klaviermusik saß.
»Hast du mit Capitán Sauzas gesprochen?« fragte er.
»Hast du es ihm gesagt?«
»Er rief vor einer Stunde an, und da habe ich ihm gesagt, daß Carlos nicht gekommen ist.«
»Und was hat er gesagt?«
»Ich weiß es nicht. Ich soll ihn gleich benachrichtigen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Teo, was hat das alles zu bedeuten, mit dem Schal? Welcher Schal überhaupt? Hat man einen Schal gefunden?«
»Ich weiß es auch nicht genau. Die Polizei nennt das eine Spur — sie kann zu irgend etwas führen. Mich haben sie auch gefragt, ob ich einen Schal verloren habe.«
»Ja — ist denn irgendeine Gefahr damit verbunden? Kannst du mir das nicht sagen?«
»Ich weiß nicht mal das, Isabel. Nun hör mal zu, irgendwann mußt du heute abend zu Bett gehen. Warte jetzt nicht mehr auf ihn. Soll ich dich noch mal vor Mitternacht anrufen, ob er gekommen ist?«
»Ach ja, bitte tue das, Teo.«
Ramón stand in der Vorhalle. »Was ist los?« fragte er mißtrauisch, als Theodore den Hörer auflegte.
»Carlos Hidalgo. Er trinkt, und er ist heute überhaupt nicht nach Hause gekommen.«
Ramón war nicht zu Hause gewesen, als Theodore von Isabel zurückkam, und hatte noch nichts erfahren von Carlos, Abwesenheit und Sauzas’ Besuch in seinem Haus. Ramón hörte sich jetzt alles unbeteiligt an und bemerkte dann, Carlos sei ein Idiot, er habe immer getrunken wie ein Amerikaner. »Für Isabel ist das schlimm«, fügte er hinzu. Er hatte Isabel immer lieber gemocht als Carlos. »Und über Infante gibt’s noch nichts Neues?«
»Ich wollte Sauzas gerade anrufen.« Theodore nahm den Hörer wieder in die Hand.
Ramón wartete mit ruhiger Entschlossenheit. Er zündete sich eine Carmencita an und beobachtete Theodore.
»Nein… Nein.« Theodore beantwortete Sauzas’ Fragen nach Carlos Hidalgo. »Ich habe gerade mit seiner Frau gesprochen.«
Sauzas grunzte. »Hm. Mir liegt hier eine Meldung vor — unbestätigt übrigens, kann auch gar nicht bestätigt werden —, daß Infante heute abend in Acapulco gesehen wurde.«
»In Acapulco! Und wer hat ihn gesehen?«
»Irgendein junger Kerl in der Stadt, der sich bei der Polizei die Belohnung abholen wollte. Er soll einigermaßen ehrlich ausgesehen haben, aber man weiß nicht, ob er sich nicht geirrt hat. Pech für uns, wenn Infante dort ist. Er muß noch Geld haben, und für Geld versteckt ein Dieb den anderen, und Diebe gibt’s genug in Acapulco.«
»Halten Sie es für möglich, daß er da ist?«
»Ja — durchaus denkbar. Acapulco ist doch so ein mondäner Ort, genau Infantes Geschmack. Vielleicht hat er Geld aus dem Schal geschlagen, was?« Sauzas lachte. »Na, wir haben jedenfalls einen Satz Fotos per Flugzeug nach Acapulco geschickt. Per Schiff oder Flugzeug kommt er aus der Stadt nicht raus. Sagen Sie, Señor Schiebelhut: macht Ihr Freund Hidalgo so etwas oft, daß er auf eine Sauftour geht und tagelang nicht nach Hause kommt?«
»Nein, ich glaube nicht — aber ich weiß es nicht, Señor Capitán. Ich soll seine Frau vor zwölf noch einmal anrufen, und wenn Sie wollen, kann ich Sie nachher auch noch anrufen.«
»Ich gehe jetzt nach Hause. Aber hinterlassen Sie bitte eine Bestellung. Adiós, Señor.«
Theodore legte den Hörer auf und berichtete Ramóm, daß Infante angeblich abends in Acapulco gesehen worden war.
Ramón nickte. »Aber ganz sicher sind sie nicht?«
»Nein. Und ich glaube auch nicht, daß Sauzas hinfährt.«
Ramón fragte, wer den Jungen gesehen hatte, und Theodore erzählte ihm das wenige, was er wußte. Ramón ging rastlos in die Vorhalle und kam dann zurück. »Ich glaube, ich fahre hin, Teo — wenn eine Chance besteht, daß er dort ist.«
»Aber es ist doch nur ein Gerücht!«
»Ich habe so eine Ahnung. Was kann ich hier tun, in dieser Riesenstadt? Wenn er in Acapulco ist, kann ich ihn in wenigen Stunden finden.«
»Schneller als die Polizei?«
»Wenn die ihn erst finden, bin ich wenigstens da. Du verstehst mich doch, Teo, ja?« Er blickte ihn an.
Theodore verstand ihn. Ramón stellte sich vor, er könnte zwischen Infante und der Polizei vermitteln und irgendwie die Polizei davon überzeugen, daß der Junge Lelia nicht umgebrecht hatte — wobei noch nicht einmal feststand, daß man ihn der Tat besehuldigen würde —, und dann erneut seine eigene Schuld beteuern.
Ramón trat an das schwarzdunkle Fenster und sah hinaus. »Vor morgen früh gibt es keine Maschine.« Er wandte sich um. »Ich habe ungefähr hundert Pesos, Teo, und der einfache Flug kostet hundertsiebzehn, das weiß ich noch.«
»Wir haben Geld genug im Haus, Ramón.«
»Ich geb’s dir wieder, Teo, ganz gewiß.« Ramón verließ das Zimmer, als wolle er das peinliche Geldthema nicht weiter erörtern.
Theodore schraubte die Füllfeder zu und schloß sein Tagebuch. Vielleicht hörten sie schon vor morgen früh, daß Infante in Mexico City festgenommen worden war oder daß man ihn in Acapulco verhaftet hatte und ihn jetzt nach Mexico City brachte. Dann brauchte Ramón nicht hinzufahren. Doch als er seine Tür schloß, hörte er, wie Ramón im Wohnzimmer telefonierte und einen Platz in der Acht-Uhr-Maschine bestellte.
Als Theodore um 00.15 Uhfnoch einmal bei Isabel anrief, war Carlos immer noch nicht nach Hause gekommen.
25
Um sechs wachte Theodore vom sanften Schnarren des Weckers auf. Es war seltsam still im Hause. Er lag eine Minute reglos und horchte auf einen Laut aus Ramóns Zimmer. Dann schob er seine Decke zurück und ging barfuß und im Pyjama hinüber zu Ramóns Tür. Vorsichtig drehte er den Türknauf, sah das unberührte Bett und den Schein einer Lampe. Am Schreibtisch saß Ramón und schrieb.
»Entschuldige, Ramón.«
»Macht nichts.« Er schrieb weiter.
Er hatte dasselbe blaue Hemd an wie gestern abend. Ob er gar nicht geschlafen hatte? »Hast du schon bei der Polizei angerufen?« fragte Theodore.
»Nein.«
»Laß nur, ich rufe an. Vielleicht haben Sie Infante gefunden.«
Aber sie hatten ihn nicht gefunden. Theodore stand — in Bademantel und Hausschuhen — am Telefon in seinem Zimmer, rauchte eine Delicado und hörte den eintönigen Worten des Polizeibeamten zu.
»Sie haben nichts gehört aus Acapulco?«
»Nein, gar nichts. Señor.«
Er ging nach unten, um Kaffee zu machen. Inocenza stand immer erst um sieben auf, und er wollte sie nicht wecken. Er setzte den Kaffee auf, schüttete etwas von dem kiesartigen amerikanischen Katzenfutter in Leos Schüsselchen, goß Milch darauf und preßte dann einige Orangen aus für sich selbst und Ramón. Er ließ den Kaffee noch stehen und brachte den Saft in Ramóns Zimmer.
»Ich rufe vor sieben noch mal bei der Polizei an«, sagte er. »Wenn du hinfliegst, komme ich mit.«
»Warum?«
»Weil ich will. Ich werd dich nicht stören, das verspreche ich dir.«
Ramón hob die Brauen, als ob das völlig gleichgültig sei, und machte seinen Brief zu. Aus der recht abgewetzten Brieftasche zog er Briefmarken. »Wir müssen dann aber um sieben los.«
Um halb sieben war Inocenza fertig angezogen unten und machte hastig Rühreier zum Frühstück. Auf ihre Fragen sagte Theodore:
»Ich weiß noch nicht, wann wir zurück sind, aber ich rufe Sie an, Inocenza.«
Er stand am Telefon und bestellte noch einen Platz in der Maschine nach Acapulco.
»Heute abend, Señor?«
Das konnte er nicht fest zusagen. Nein, er nahm nichts mit, nicht mal eine Zahnbürste, er wollte unbelastet sein. Als er eben vor sieben nochmals bei der Polizei anrief, konnte man ihm nichts Neues sagen, und er dachte gerade daran, bei Isabel Hidalgo anzurufen, als Ramón in der Tür erschien und sagte:
»Ja, Teo, wenn du mit willst…«
Ramón verabschiedete sich herzlich von Inocenza und dankte ihr, daß sie sich seines Vogels annahm. Theodore sah Tränen in Inocenzas Augen. Sie hatte begriffen, warum Ramón nach Acapulco wollte; Theodore hatte ihr erzählt, daß Infante dort gesehen worden war. Während Ramón sprach, blickte sie Theodore an, als wollte sie ihn bitten, Ramón nicht gehen zu lassen.
»Wenn ich heute früh daran gedacht hätte, dann hätte ich den Vogel zum Chapultepec-Park gebracht und ihn dort fliegen lassen«, sagte Ramón jetzt.
»Was?! Er käme doch um, Señor! Wie sollte er denn sein Futter finden?«
»Er hat doch alle Bäume um sich herum«, sagte Ramón.
»Aber er möchte den Park gar nicht!« rief Inocenza.
»Bitte lassen Sie ihn heute frei.« Ramón sprach ruhig, aber der Ton war der eines Befehls. »Lassen Sie ihn im Patio frei.«
»Aber Señor — der Kater —«
»Er kommt vielleicht um, aber er soll nicht mehr im Käfig bleiben. Adiós, Inocenza.« Er öffnete die Tür und ging hinaus.
Theodore wollte ihm folgen, aber Inocenza riß die Zeitungen vom Sofa, die sie heute morgen mitgebracht hatte, und steckte sie ihm schnell in die Hand. Er wollte ihr sagen, sie solle Ramóns Anordnung hinsichtlich des Vogels nicht befolgen, doch dann hob er nur die Hand und ging hinaus. Ramóns Entschluß, nach Acapulco zu fahren, war ein Teil seines Schicksals, egal was dort geschehen mochte; und die sinnlose Opferung des Vogels war — wenn Ramón dadurch geholfen wurde — vielleicht deshalb notwendig.
Ramón hatte schon ein Taxi angehalten. Auf der Fahrt zum Flughafen schwiegen sie und blätterten in den Zeitungen. Die Überschrift des Berichtes meldete, daß Infante in Acapulco gesehen worden war; es folgten alle Einzelheiten über den Schal: daß Ramón Otero und Theodore und Eduardo Parral persönlich oder telefonisch von Infante gefragt worden waren, ob sie einen Schal verloren hatten. Uber die Bedeutung dieser Frage wurde nichts gesagt. Ramón sah die Zeitungen flüchtig durch und faltete sie zusammen. An einem Briefkasten ließ er den Wagen halten und stieg aus, um seinen Brief einzustecken. Theodore hatte gesehen, daß er an Arturo Baldin adressiert war; es fuhr ihm durch den Kopf, ob Ramón vielleicht eine Art Abschiedsbrief an Arturo geschrieben habe, weil er einen Kampf auf Leben und Tod mit der Polizei voraussah. Das mochte auch für Theodore selbst nicht ganz ungefährlich ablaufen, aber er wußte nicht, wie er es verhindern sollte.
Acapulco lag in strahlender Morgensonne, ein Kreis grüngoldener Hügel mit dem Rand aus großen Hotels, die mitten im Ozean zu stehen schienen. Die weißen Flecken der Segel lagen reglos auf der Wasserfläche. Sie verließen das Flugzeug und standen in warmer Stickluft; nach wenigen Minuten zogen sie Jacken und Schlipse aus. Eine Limousine brachte sie in die Stadt und setzte sie in der Nähe der großen Plaza an der Costera ab, der Hauptstraße, die rund um die Bucht läuft.
Ramón wollte sofort zur Polizei gehen und hören, ob man den Jungen gefunden habe oder nicht, aber Theodore wandte ein, daß man das auch telefonisch erfahren und damit Zeit sparen könne. Er wußte, Ramón würde sich doch nur mit den Polizeibeamten anlegen, wenn er selbst hinging; dann würde man sie womöglich beide eine Weile dabehalten. Ramón fand einen Apparat auf der Theke einer Bar auf der Plaza; er sprach mit angespanntem Gesicht in die Hörmuschel, während seine Augen über die Leute an den Tischen und die Vorbeigehenden hinwegglitten.
»Ist das nicht egal, wer ich bin? Ich bin ein Bürger, der eine Auskunft wünscht!« sagte er. Theodore machte eine Bewegung, um ihn zu beruhigen, aber Ramón sah ihn gar nicht. »Está bien. Gracias!« Er legte den Hörer auf und schob ein Zwanzig-Centavo-Stück über die Theke. »Sie haben ihn noch nicht«, sagte er zu Theodore, hängte sich die Jacke über die Schulter und ging hinaus.
Die Plaza war laut und voller Leben; Touristen und Einheimische tranken ihren ersten Aperitif an kleinen Tischen auf den Gehwegen. Sie waren halb um die Plaza herumgegangen, als Ramón fragte: »Teo, ich werde eine Menge Wege zu machen haben, das wirst du nicht besonders mögen. Willst du dich nicht irgendwohin setzen und was trinken?«
»Ich weiß aber besser als du, wie er aussieht«, gab Theodore zurück, »und mir liegt genausoviel daran, ihn zu finden, wie dir.«
Sie waren jetzt wieder an der Ecke, von der aus sie auf die Plaza gekommen waren. Die lange Reihe der Kokospalmen in der Mitte der Costera bog sich in der sanften Brise, die vom Meer heraufkam. Ein Lautsprecherwagen plärrte eine Cha-cha, und eine Männerstimme schrie etwas Unverständliches über einen Film, der gerade gezeigt wurde.
»Mein Gott, wie viele Hotels es hier gibt«, sagte Ramón leicht gereizt.
»Aber er geht doch nicht in ein Hotel! Du kannst sicher sein, die Hotels sind gewarnt. Wir müssen in die Armenviertel gehen — die wir erst mal finden müssen«, fügte Theodore hinzu. »Wie ist es mit dem Malecón? Die Boys am Hafen, an den Werften. Die wissen so etwas immer, weißt du.«
»Laß uns erst noch mal hinter der Kathedrale nachsehen«, entschied Ramón, und sie wandten sich um und gingen auf die blauweiße, in arabischem Stil erbaute Kathedrale zu, deren beide Türme man von der Plaza aus über den Bäumen sah. Die drei hohen Türen — eine vorn und eine an jeder Seite — waren weit geöffnet, um die tropische Brise und die neugierigen Blicke der Touristen einzulassen.
Ramón Zögerte an der Seitentür und sagte dann: »Ich komme sofort wieder, Teo.«
Theodore zündete sich eine Zigarette an und blickte prüfend den Gehweg entlang, der uninteressant aussah.
Nach zwei oder drei Minuten kam Ramón heraus, und sie stiegen die Straße weiter hinauf und durchforschten eine halbe Stunde lang die stilleren Straßen mit kleinen Einzelhäusern, die mit ihren Schaukelbänken und Veranden an amerikanische Provinzstädte erinnerten. Dann gingen sie zur Quebrada hinauf, die zu den steilen Felsen führte, von denen jeden Abend die einheimischen Jungen ins Wasser sprangen und nach Münzen tauchten. Auch hier, auf den Steinernen Bänken, blieb die Suche erfolglos.
»Jetzt also zum Malecón!« ordnete Theodore an, und Ramón fügte sich.
Es war ein langer Weg. Jungen und Mädchen flanierten schwatzend und lachend über die Straßen. Ob Infante — wenn er nach der Warnung in den Zeitungen überhaupt noch hier war — sich nicht eher bei jemandem versteckt hielt, den er gekauft und bezahlt hatte? Andererseits war er sicher nicht der Typ, der es lange bei Vorsicht und Versteck aushielt. Ihn zog es wieder in die Großstadt, und in der Nähe von Acapulco gab es keine.
Der Malecón ist eine zementierte Uferstraße, wo kleine Schiffe und Segelboote anlegen. Hier kann man sich für den Nachmittag ein Fischerboot mieten und sich dann bei der Rückkehr im Sonnenuntergang neben dem aufgehängten Seglerfisch fotografieren lassen. Immer gibt es hier Männer und junge Leute, die angeln, Jungen, die auf ihre Mädchen warten, und Herumtreiber jeder Art, die von den Schiffern der Segel- und Motorboote Rauschgift und Marihuana beziehen. Ramón bat Theodore, jetzt nicht mit ihm weiterzugehen, er könne dann besser mit den Jungen reden, und Theodore setzte sich auf eine leere Bank, wo sofort ein höchstens sechsjähriger Barfüßler neben ihm stand und ihm für einen Peso die Schuhe putzen wollte.
»Dos pesos«, willigte Theodore ein.
Großes Staunen, dem ein Grinsen folgte. »Okay! Two pesos!« Der Bengel machte sich an die Arbeit.
Zwanzig Meter weiter redete Ramón auf einen schlanken Dunkelhaarigen in weißem Hemd und weißen Hosen ein, der wiederholt den Kopf schüttelte und dann weiterschlenderte, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Vorsichtig, Niño«, sagte Theodore gutgelaunt. »Wenn du mir die Socken einschmierst, verdienst du nur einen Peso!«
Aber er gab ihm dann doch zwei Pesos und dazu einen halben als Trinkgeld. Weit unten am Malecón sah er Ramón mit jemand reden und dann allein weitergehen. Ganz bestimmt würde ihn bald jemand als Ramón Otero erkennen und das schnell weiterverbreiten, und dann ließ man sie nicht mehr in Ruhe: die Folge waren dann falsche Spuren und umsonst bezahlte Belohnungen. Theodore blickte hinüber auf den herrlichen neutralen Pazifischen Ozean; die Wasserfläche hob und senkte sich selbst in dieser ruhigen Bucht wie Atemzüge, kraftvoll und ruhig. Seine Kleidung begann zu kleben. Vielleicht konnte er heute abend mit Ramón an den Strand außerhalb von Hornos gehen und sich nackt ins Wasser stürzen. Oder ob das Ramón zu sehr an die Abende erinnerte, an denen sie mit Lelia hier gewesen waren und sie alle drei im Dunkeln hinausschwammen? Sagen würde es ihm Ramón nicht, wenn ihn die Erinnerung peinigte; er würde dann einfach dort nicht hingehen wollen. Theodore schloß die Augen vor der gleißenden Sonne; er dachte an eine Nacht mit Lelia und Ramón an dem kleinen Strand, an das unruhig-kühle Plätschern der kleinen Wellen und das Geräusch einer reifen Mango oder Kokosnuß, die in den feuchten Sand fiel.
Nachmittags gingen sie am Strand entlang und durchsuchten die Caleta Beach und Hornos. Ramón schien die erstaunten Blicke der vielen Sonnenbadenden nicht zu bemerken, als er in seiner Stadtkleidung die Uferwege entlangging. Gegen fünf überredete ihn Theodore, wenigstens eine Tasse Kaffee zu tanken, essen wollte er nichts. Theodore rief jetzt Sauzas in Mexico City an, der nicht zu erreichen war, und erfuhr, daß Infante immer noch nicht gefunden sei und man aus Acapulco nichts weiter gehört habe. Das berichtete er Ramón und schlug dann vor, jetzt erstmal ein Hotel zu finden, ein wenig auszuruhen und die Suche abends wieder aufzunehmen; dann waren alle Leute draußen im Freien oder in den Nachtclubs.
Mit dem Hotel war Ramón einverstanden, aber ausruhen wollte er nicht. Doch seine Augen waren schmal vor Erschöpfung. Sicher hatte er in der letzten Nacht gar nicht geschlafen.
»Ich habe das Gefühl, er ist hier in der Stadt, Teo«, sagte Ramón. Er sah müde und erschöpft aus. »Oder irgendwo ganz in der Nähe. Vielleicht in Pie de la Cuesta oder sonst in Puerto Marques. Da ist auch noch ein großes Hotel.«
»Aber Ramón, er würde sich doch nicht in ein Hotel wagen!«
»Woher willst du das wissen?«
»Na schön, frag nur im Hotel Club de Pesca. Du wirst ja sehen, was man dir da sagt«, erwiderte Theodore leicht ungeduldig. Das Hotel Club de Pesca war ein lärmender Riesenkasten, kurvenförmig gebaut — genau das Genre, das sich Infante aussuchen würde, wenn er den Mut hätte.
Sie machten sich auf den Weg, und unterwegs fragte Theodore in vier oder fünf Hotels nach einem Zimmer für die Nacht, aber alle waren besetzt. Im Club de Pesca ging Ramón an die Rezeption und fragte, ob hier ein Señor Salvador Infante wohne.
»Oder Señor Salvador Bejar«, fügte er dann hinzu, Und Theodore ging peinlich berührt ein paar Schritte weiter.
»Infante?« hörte er die Stimme des Empfangschefs »Der überall gesucht wird? Na, das wär schön, wenn der käme!«
Mit bösem Gesicht trat Ramón zu Theodore; sie verließen die klimatisierte Eingangshalle und traten wieder in die Sonne hinaus. »Fragen wird man doch noch dürfen!« sagte Ramón so beleidigt, als habe ihn jemand tief gekränkt. Für Ramón war der junge Delinquent nichts als ein verfolgtes Kind, allenfalls ein jugendlicher Missetäter, der dadurch, daß man ihn quer durch Mexiko jagte, schon schwer genug bestraft worden war.
»Laß uns jetzt mal am anderen Ende der Costera nach einem Hotelzimmer fragen«, sagte Theodore, »sonst müssen wir denselben Weg wieder zurück. Und ich jedenfalls werde jetzt fahren.« Seine Geduld war fast erschöpft, das fühlte er.
Nahe beim Club de Pesca war eine Bushaltestelle, und ein Bus hielt gerade am Kantstein. Theodore stieg ein, aber Ramón blieb auf der Straße stehen.
»Wir treffen uns auf dem Malecón!« rief er Theodore nach.
Na schön, dann mußte er eben bis zum Umfallen weitermachen, dachte Theodore. Aber im Bus musterte er die Mitfahrenden genauso angespannt wie Ramón, um sicher zu sein, daß Infantes blasses Gesicht nicht dabei war. Er fuhr über den Malecón hinaus, wo die Hotels spärlicher wurden, dann stieg er aus und bekam im zweiten Hotel ein Doppelzimmer für die Nacht. Als diese praktische Frage gelöst war, wurde ihm leichter zumute; er schämte sich ein wenig und beschloß, nicht mit Ramón zu nörgeln, wenn er nicht schlafen gehen, sondern durch die Straßen ziehen oder in den die ganze Nacht geöffneten Kabaretts weitersuchen wollte. Ramón verfolgte ein Ziel und er nicht. Das war der Unterschied.
Wieder machte er sich auf den Weg zum Malecón und blieb in der Nähe der Frachtschuppen stehen. Zwei Hafenarbeiter rollten faßgroße Kupferdrahtrollen vom Dock in einen Schuppen. Theodore ging weiter und suchte mit den Augen nach Ramón, während langsam die Dämmerung fiel. Ein junger Bursche, der an einer Eiswaffel leckte, schlenderte auf ihn zu.
»Joven!« sagte Theodore, und der junge Mann, der sicher annahm, er sollte nach dem Weg gefragt werden, blieb vor ihm stehen.
»Hören Sie — wissen Sie vielleicht, wo sich Salvador Infante aufhält, hier in der Stadt?« fragte Theodore.
Die glänzenden braunen Augen weiteten sich ein wenig und blickten ihn unschuldig an.
»Zweihundert Pesos, wenn Sie irgendeine Ahnung haben. Ich bin ein Freund von ihm. Ich bin nicht von der Polizei.«
Einen Augenblick blieben die Augen des Jungen an Theodores wertvoller Armbanduhr hängen, dann blickten sie ihn gerade an. Er hob die Achseln. »Fragen Sie mich nicht, Señor. Ich habe nur gehört, daß er hier war …«
»Und Sie wissen auch niemand, der es weiß? Zweihundert Pesos, wenn Sie mir das sagen. Ich habe das Geld hier. Weiter will ich nichts wissen!«
Er wandte den dunklen runden Kopf und sah sich um. »Tut mir leid, Señor, ich weiß es nicht.« Es schien ihm wirklich leid zu tun, denn es war kein Mensch in der Nähe, und niemand beobachtete ihn.
Theodore nickte. »Gracias.«
Sie trennten sich. Endlich kam Ramón in Sicht, nicht auf dem Malecón, sondern auf der anderen Seite der Costera; er ging sehr langsam und hatte seine Jacke über die Schulter gehängt. Als Theodore ihn erreicht hatte, sagte er, er habe schon eine halbe Stunde gewartet. »Ich habe hier bloß noch gewartet, weil du sicher die Polizei geholt hättest oder sonstwas Verrücktes, wenn du mich nicht gefunden hättest!« Ramóns Augen waren fieberhaft und blutunterlaufen.
»Ja, ich habe ein paar Minuten gebraucht, um ein Hotel zu finden, Ramón. Hier ist der Schlüssel. Der Name steht drauf — Hotel Tres Reyes, weiter unten.«
»Ich brauche kein Hotel, Teo.«
»Behalt nur den Schlüssel. Ich komme rein, wenn ich wieder hingehe, aber dich lassen sie vielleicht ohne den Schlüssel nicht hinein.«
Ramón schob ihm den Schlüssel wieder zu. »Nein danke, Teo.« Die Stimme war sanft, nicht aber seine Miene. Er ging ein paar Schritte weiter.
Theodore holte ihn ein. »Und was nun, Ramón?«
Das Problem wurde gelöst, da Ramón plötzlich umsackte. Menschen traten herzu und murmelten etwas von der Sonne, von Tequila und der niedrigen Höhe, aber Theodore wußte, das alles war es nicht. Zwei von den Jungen, die Ramón am Nachmittag angesprochen hatte, halfen Theodore, die schlaffe Gestalt in ein Taxi zu tragen; und einer von ihnen legte Ramóns Jacke über ihn mit einer Hand, die schlank und sanft war wie eine Mädchenhand.
26
Sie kamen im Hotel Tres Reyes an, und Ramón war imstande, selbst hineinzugehen, nur schien er nicht zu wissen, wo er war. Ihr Zimmer war im dritten Stock, und er legte sich gleich auf sein Bett und trank gehorsam den Tee und den Orangensaft, den Theodore bestellt hatte. Er blieb eine Weile liegen, während Theodore unruhig auf dem andern Bett sitzen blieb und auf das rastlose Plätschern der Wellen unten am Strand horchte. Das Zimmer lag im zweiten Stock; nebenan war ein Zimmer mit Kochnische, dort wohnte im Augenblick ein junges Ehepaar mit einem Baby, das nachts manchmal schrie; dafür werde man Theodore, wie der Manager ihm mitgeteilt hatte, zehn Pesos vom Zimmerpreis ablassen. Das Baby fing schon an mit dem Geschrei; und mit der Brise, die durch die offene Balkontür kam, drangen auch die Geräusche einer Kühlschranktür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde, das Klappern von Töpfen und das leise Zureden der Frau, die das Baby zur Ruhe bringen wollte. Theodore seufzte. Die Unsicherheit der Lage, in der er und Ramón sich befänden, deprimierte ihn. Wenn nun Salvador Infante schon tot war, irgendwo umgebracht, und im Ozean schwamm, wo ihn keiner mehr finden würde als die Haie?
Theodore stellte sich unter die Dusche und ließ die Badezimmertür offen, damit er hören konnte, wenn Ramón sich bewegte oder das Zimmer verließ. Als er wieder hereinkam, saß Ramón im Bett. Theodore schlug ihm vor, ebenfalls ein Bad zu nehmen, aber Ramón schüttelte den Kopf.
»Es wird dich erfrischen — für heute abend«, meinte Theodore. »Du willst doch wieder ausgehen, oder?«
Das machte Ramón Mut, und er stand auf. Theodore stellte die Dusche auf lauwarm ein und riet ihm, nicht an den Hähnen zu drehen; sie funktionierten nicht richtig, und das Wasser kam kochendheiß aus der Leitung.
Ramón kam nach ein paar Minuten aus dem Bad mit nassen glattgekämmten Haaren. Er knöpfte das blaue Hemd zu.
»Was meinst du — wollen wir uns nicht erst mal ausruhen?« fragte Theodore. »Jetzt ist doch Essenszeit bis gegen zehn, da sind die Leute alle drinnen …«
»Nur in den Hotels«, gab Ramón zurück. »Du hat doch selbst gesagt, der Junge ist nicht im Hotel, er ist eher irgendwo auf den Straßen.«
Damit hatte er recht.
Ramón zog seine Jacke an. »Du brauchst ja nicht mitzukommen«, fügte er hinzu.
Aber Theodore erhob sich, zog ebenfalls seine Jacke an und ging mit Ramón hinaus. Es war zehn Minuten vor sieben. Die Fruchtlosigkeit des Unternehmens machte ihn jetzt schon müde, und Ramóns energische Schritte erhöhten das lähmende Gefühl.
Sie kamen zur Plaza, die in hellem Lampenlicht dalag, obgleich die Sonne noch nicht ganz untergegangen war. Hier gab es Hunderte von Gesichtern; Ramón blieb vor allen offenen Bars und Restaurants stehen und ging in manche auch allein hinein. Die Leute blickten ihn an, und Theodore merkte, wie einige flüsterten und auf ihn zeigten. Ramón ging so unbeteiligt weiter, als schritte er durch einen Wald von Bäumen. Sie gingen die Costera hinauf zu dem kleinen Strohdach-Restaurant, wo er und Ramón oft mit Lelia gegessen hatten, wenn sie die Hotelmenus satt hatten. Das Dutzend Tische konnte man vom Gehweg draußen gut übersehen. Alle waren besetzt, doch an keinem saß Infante.
Auch die vielen Seitenstraßen klapperten sie ab, schwach erleuchtet vom Licht der wenigen Straßenlaternen und der kleinen Theken, vor denen ein Tischchen mit Stuhl stand. Irgendwo war eine Gitarre zu hören. Theodere blickte sich halb um; er war sicher, daß ihnen jemand folgte.
»Ramón …« er hielt Ramón an und wandte sich dann um zu dem schlanken Jungen, der erschreckt stehenblieb, als wolle er kehrtmachen und davonlaufen.
»Buenas tardes«, sagte Theodore und ging auf ihn zu. »Wollten Sie mir etwas sagen?«
Der Junge kam zögernd näher. Er sah dumm und häßlich aus und war ungefähr neunzehn. »Sie haben — heute nachmittag auf dem Malecón nach Infante gefragt?« sagte er halblaut, obwohl kein Mensch in ihrer Nähe stand.
»Sí«, sagte Theodore. »Wissen Sie, wo er ist?«
Erschreckt starrte ihn der Junge an. »Ich — nein, ich! nicht, Señor. Aber vielleicht jemand anderes.«
»Wer?« fragte Ramón jetzt.
»Wollen Sie erst ein paar Pesos haben? Wissen Sie wirklich etwas?« fragte Theodore.
»Ich weiß etwas, ja«, verteidigte sich der Junge. »Kann sein — für hundert Pesos?«
Theodore überlegte. Wenn der Junge wirklich etwas wüßte, hätte er mehr gefordert.
»Na, was ist es denn? Sie kriegen Ihr Geld.« Er steckte die linke Hand in die innere Jackentasche, als wolle er seine Brieftasche hervorholen.
»Heute nachmittag hat ein anderer Mann auf dem Malecón nach Infante gefragt«, berichtete der Junge eilig. »Dann ist er in ein Boot gestiegen, und ich habe gesehen, wohin das Boot fuhr.«
Theodore zog die Brieftasche heraus und wandte sich halb um, damit der Junge sie ihm nicht plötzlich aus der Hand riß. »Na, und was noch?« fragte er und hielt die Hundert-Peso-Note in der Hand bereit. Die Brieftasche hatte er wieder eingesteckt.
»Das Boot ist nach Pie de la Cuesta gefahren«, sagte der Junge.
Das war ein Dorf nahe der Landzunge, etwa zwölf Meilen nach Norden.
»Wissen Sie bestimmt, daß das Boot dorthin gefahren ist?«
»Sí. Ich weiß nicht, ob es da angehalten hat, aber es ist in der Richtung gefahren.«
»Und wer war der Mann?«
Achselzucken. »Ein Mann. So groß.« Der Junge zeigte eine Höhe unter der eigenen an.
»Ein Polizeibeamter?« fragte Ramón.
»Weiß ich nicht.« Die Augen des Jungen hingen an dem Geldschein.
»Wann war das?«
»Ungefähr um fünf — oder auch gegen sechs«, sagte der Junge mit ernstem Gesicht.
Theodore schob ihm das Geld zu, und der Junge nahm es. »Haben Sie Infante gesehen?«
»Ich? Nein, Señor.«
»Wem gehört das Boot, mit dem der Mann gefahren ist?« fragte Ramón.
»Das gehört einem Mann, der heißt Esteban. Ich weiß nicht mehr, wie das Boot hieß. Es ist ein rotes Boot, ohne Segel. Ein Motorboot.«
»Ist Esteban dann wiedergekommen? Könnte er jetzt unten am Dock liegen?«
»Das weiß ich nicht, Señor«, sagte der Junge achselzuckend. Seine Informationen waren erschöpft.
»Gracias«, sagte Theodore automatisch, und der Junge wandte sich um, als habe man ihn entlassen, und verschwand um die nächste Straßenecke.
Die Suche nach dem roten Motorboot blieb ergebnislos. Die paar Schiffer, die sie auf dem Malecón fragten, wollten nicht einmal zugeben, daß sie einen Mann namens Esteban mit einem roten Motorboot überhaupt kannten.
Einer, dachte Theodore, sah aus, als ob er lüge und sehr wohl über Esteban Bescheid wisse. Aber was war da zu machen?
»Ich möchte nach Pie de la Cuesta«, erklärte Ramón.
Theodore versuchte es ihm auszureden. Pie de la Cuesta war ein ganz primitiver kleiner Ort, nichts als ein Streifen Sand mit Eingeborenenhütten und zwei oder drei sehr einfachen Pensionen. Außerdem war es zu dunkel, heute nacht konnte man nichts mehr sehen. Aber Ramón ließ sich nicht abhalten. Sie nahmen ein Taxi, das sie für sechzig Pesos hin- und zurückbringen wollte.
Der lange Landstreifen mit der donnernden Brandung und den nickenden Kokospalmen, die sich dunkel vom Meer abhoben, war herrlich anzusehen im Licht der Sterne. Ramón ging in sämtliche Pensionen, sprach zu den Inhabern und den kleinen Ausfegern, und alle schüttelten den Kopf und starrten ihn an, wenn er zum Taxi zurückging. Er fragte auch in mehreren der Hütten, die von Kerzen und erlöschenden Holzkohlenfeuern schwach erleuchtet waren, und alle die zerlumpten barfüßigen Leute schüttelten ebenfalls den Kopf. Theodore hatte allmählich das Gefühl, daß der Junge, dem er die hundert Pesos bezahlte, sich die ganze Geschichte nur ausgedacht hatte.
27
Am Morgen erwachte Theodore früher als Ramón Er lag im Bett und dachte an die ergebnislosen Unternehmungen des gestrigen Abends: die Nachtklubs in denen es so dunkel war, daß man kaum einen alten Freund erkannt hätte; die übermäßig süßen Tequilalimonaden, von denen sie in mindestens sechs Hotelbars einen Schluck getrunken und den Rest stehengelassen hatten; die Terrasse des Mirador, wo er Ramón in der Menschenmenge fast verloren hätte. Dann waren sie ins Hotel zurückgekommen, und Ramón war mit langen Schritten im Zimmer auf und ab gegangen. Das letzte, an das sich Theodore erinnerte, war, daß Ramón im Sessel neben der Tür saß und sich den Kopf hielt. Er schlief jetzt noch, und Theodore fürchtete, ihn zu wecken, er brauchte den Schlaf so nötig. Es war neun Uhr zwanzig. Nebenan auf der Terrasse brabbelte ein Baby vor sich hin, und die Mutter sang halblaut ein Lied. Aus der Hotelküche unten kam das Klappern von Geschirr.
Ein fallender Kochtopf, der dreimal aufschlug, ließ Theodore auffahren. Ramón hob stöhnend den Kopf. »Morgen, Ramón«, sagte Theodore halblaut. Er wußte, Ramón würde jetzt doch nicht wieder einschlafen wollen; deshalb griff er zum Telefon und bat die Zentrale, ihn mit dem Juzgado, der Gefängnisverwaltung, zu verbinden.
Der Jefe namens Julio, wurde ihm mitgeteilt, kam erst um zehn. Theodore fragte nach Infante und ob es Neues gebe.
»Nada, Señor.«
»Haben Sie irgend etwas gehört, daß er sich in der Nähe von Pie de la Cuesta aufhalten soll?«
»Nein, Señor«, erwiderte die sachliche junge Stimme, die genauso uninteressiert klang wie die Stimme der meisten Angestellten in Sauzas’ Büro.
Er dankte und legte den Hörer auf. Ob er Sauzas noch mal anrufen sollte? Aber das hatte wohl kaum Zweck. Während Ramón im Badezimmer war, rief er sein Haus in Mexico City an und erfuhr von Inocenza, daß nur einmal jemand angerufen habe, und zwar Señora Hidalgo, die aber nichts hinterlassen habe. Theodore fragte nach Ramóns Papagei.
»Ich habe ihn freigelassen, und stellen Sie sich vor, nach einer Stunde ist er wiedergekommen und einfach zum Fenster hereingeflogen! Ich hatte alle Fenster offengelassen, und er flog einfach herein! Und dann ist er wieder in seinen Käfig gegangen.«
»In den Käfig zurück!« wiederholte Ramón an der Tür ungläubig und lachte kurz. »Ach, vielleicht — vielleicht fühlen wir uns beide wohler im Gefängnis, Pepe und ich!« Aber er schien sich doch zu freuen.
Um elf waren sie rasiert und hatten auf der Plaza gefrühstückt. Theodore kaufte den Excelsior und El Universal, beide meldeten kurz, daß »im ganzen Lande« die Suche nach Infante weitergehe und sich besonders auf Guadalajara und Acapulco konzentriere. Die großspurige Meldung kam Theodore komisch vor; er hatte in Acapulco nichts von einer intensiven Suche gemerkt.
Er ging in ein Restaurant auf der Plaza, um Sauzas anzurufen. Ramón wollte gegenüber an der Costera auf ihn warten.
Wie immer sollte Sauzas irgendwo im Hause sein, man mußte ihn jedoch erst finden. Theodore zündete sich eine Zigarette an, die nahezu aufgeraucht war — er mußte auch dem Telefonisten mehrmals sagen, ja, er spreche noch und die Verbindung solle bestehen bleiben —, als Sauzas endlich an den Apparat kam.
»Ja, es tut mir leid, aber Neues gibt es nicht«, sagte er etwas mutlos. »Heute morgen habe ich noch keinen Bericht aus Acapulco, und das heißt, daß man nichts zu berichten hat.«
»Señor Capitán, halten Sie es überhaupt für möglich, daß er nach all diesen Presseaufrufen noch in Acapulco ist?«
»Hm, hm. Was soll ich dazu sagen? Logischerweise müßte man nein sagen, und da kann man sich sehr irren.«
»Ich glaube, ich werde Ramón zu überreden versuchen, daß wir abfahren. Wir haben die ganze Stadt abgegrast und nichts gefunden. Außer ein Gerücht gestern abend, wo uns jemand erzählte, ein Mann, der nach Infante fragte, sei in ein rotes Boot gestiegen, das einem Mann namens Esteban gehört und das dann in die Richtung von Pie de la Cuesta fuhr.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte Sauzas ruhig, und Theodore erzählte es ihm. »Haben Sie solch ein rotes Boot irgendwo gesehen? Oder diesen Esteban, haben Sie den gesehen? Haben Sie eine Beschreibung des Mannes, der in das Boot stieg?«
»Nein, leider nicht, nur seine Größe, so ungefähr wie Ramón.« Theodore kam sich vor wie ein blutiger Neuling.
»Hm, hm. Nun, ich kann Ihnen erzählen, daß Arturo Baldin vor ungefähr drei Wochen ebenfalls telefonisch wegen des Schals gefragt wurde. Er hatte es nicht für wichtig gehalten und deshalb nicht vorher erwähnt, ja…« Sauzas’ Stimme verlor sich. »Und Ihr Freund Carlos Hidalgo ist auch noch nicht zurück. Wir haben hier in jedem Gefängnis nachgefragt, weil wir dachten, er wäre vielleicht betrunken irgendwo aufgegriffen worden. Seine Frau ist außer sich.«
»Das ist nun schon zwei Tage her, nicht wahr?«
»Ja.«
Theodore wußte nicht, was er sagen sollte.
»Señor Schiebelhut, werden Sie heute abend wieder in Mexico City sein?«
»Ja, ich denke schon, Señor. Ich hoffe es jedenfalls.«
Theodore erstand einige Delicados an der Theke des Restaurants und trat dann nach draußen. Ramón saß auf einer Bank mit dem Gesicht zur See. Als er ihn fast erreicht hatte, stand Ramón auf, wandte sich um und bedeutete Theodore mit einer Bewegung, ihm nicht nahe zu kommen.
»Ich bin gleich wieder da. Komm mir nicht nach«, murmelte er, als Theodore an ihm vorüberging. Dann überquerte er die Costera bis zur Mitte, wartete an der Verkehrsinsel auf das grüne Licht — der Verkehr war stark und sehr schnell — und schritt die Plaza hinauf. Offensichtlich folgte er jemandem in der Menschenmenge.
Theodore ging ebenfalls über die Costera. Als er auf der anderen Seite angekommen war, sah er, wie Ramón an der nächsten Ecke nach rechts abbog. Theodore ging langsam auf die Kreuzung zu. An der Ecke war ein Fotogeschäft, und diagonal durch die beiden Fenster sah er nahe der Ecke in der Nebenstraße Ramón stehen, der sich aufmerksam das Schaufenster nebenan besah. Seine Lippen bewegten sich, dann zog er die Brieftasche hervor, und Theodore sah eine schlanke nervöse Hand mit nacktem Gelenk und ungeduldigen Fingern. Ramón leerte die Brieftasche, die Finger griffen gierig zu und verschwanden dann aus Theodores Blickfeld. Theodore ging langsam auf die Ecke zu, Ramón kam ihm entgegen und winkte, er solle nicht weiterkommen. Derjenige, mit dem er gesprochen hatte, war in der Menschenmenge verschwunden.
»Ich hab etwas erfahren«, sagte Ramón. »Infante ist auf einem Boot, das Pepita heißt, und der Schiffer heißt Miguel Gutirrez. Und unten auf dem Malecón ist ein Mann namens Alejandro, der uns vielleicht hinbringen kann.«
»Mit wem hast du eben gesprochen?«
»Mit einem Jungen, der auf der Costera zu mir kam — gerade bevor du gekommen bist. Komm, Teo, laß uns schneller gehen! Er sagte, seine Freunde sollen nicht sehen, daß er mit mir sprach, deshalb sollte ich ihn da an der Ecke treffen.«
»Was hast du ihm gegeben?«
»Alles, was ich hatte, siebzig Pesos. Hundert wollte er haben. Hier runter, Teo.«
Ramón war jetzt voller Hoffnung, hatte aber keine Ahnung, wie Alejandro aussah oder wie sein Boot hieß, denn der Junge hatte sich für diese Einzelheiten keine Zeit mehr genommen, als er sein Geld in der Hand hatte. Theodore fühlte, wie die Sonne ihm auf die Stirn brannte. An der Uferstraße blieb Ramón bei einem alten Mann stehen, der am Bug seines Bootes ein Seil in gleichmäßigen Windungen aufrollte.
»Buenos alias. Kennen Sie vielleicht hier einen Schiffer, der Alejandro heißt?« fragte Ramón.
»Alejandro?« Die rauhe Stimme klang erstaunt. Der Mann wies auf das Wasser. »Der liegt weiter da unten.«
Theodore ging langsam mit. Er überlegte sich, ob er nicht verlangen sollte, daß sie einen Polizisten mitnähmen. Oder war dies vielleicht wieder eine falsche Spur, genauso vage und erfolglos wie das Unternehmen in Pre de la Cuesta?
»Du hast keine Lust, nicht wahr?« sagte Ramón. »Dann geh ich allein.«
»Doch habe ich Lust. Wenn der Junge wirklich da ist, will ich gern, daß du ihn siehst, und ich möchte dabeisein.«
Im Wasser schaukelten sechs oder acht Boote, mit dem Bug zur Uferstraße, aber nur zwei Schiffer waren in Sicht.
»Alejandro?« rief Ramón ihnen zu.
Beide Männer — jeder auf seinem Boot— blickten auf und sahen ihn an. Der eine wies auf eine schmutzige, leer ausgehende Barke. »Er schläft«, sagte er, räusperte sich krächzend und ausführlich — es klang wie ein unverständlicher Satz — und spuckte über die Bootseite ins Wasser.
Ramón bückte sich zu dem bezeichneten Boot und zog es an seiner Trosse etwas näher ans Ufer heran. »Alejandro? Alejandro?«
Aus der Entfernung von wenigen Metern sahen ihm die beiden Männer zu.
Die Kajütentür des Bootes stand offen, und Theodore hörte ein Ächzen, dann schwangen sich zwei unsaubere Füße aus einer Koje. Als der Bug fest ans Ufer stieß, sprang Ramón hinunter auf das kleine Achterdeck. Ein unrasiertes Gesicht blinzelte ihn an.
»Wer sind Sie?«
»Ich heiße Otero«, sagte Ramón ruhig. »Ich möchte gern zum Boot von Miguel Gutirrez. Würden Sie mich hinbringen? Ich bin ein Freund von ihm.«
»Von Miguel? Ich kenne Sie aber nicht«, sagte er argwöhnisch und immer noch nicht ganz wach. Jetzt sah er Theodore am Ufer stehen, und sein Gesicht nahm einen aufmerksam-wissenden Ausdruck an. »Ich weiß nicht, wo Miguel ist, hombre. Seit drei Tagen habe ich ihn nicht gesehen. Ich brauche keine Polizei auf meinem Boot, ich habe nichts getan.« Er winkte abschließend mit der Hand, als sei für ihn die Sache erledigt.
»Ich bin nicht von der Polizei. Ich bin ein Freund — Von Salvador Infante. Wir sind beide Freunde von ihm.«
Der Mann warf einen prüfenden Blick auf die Uferstraße hinter Ramón. »Sie sind nicht von der Polizei?«
»Sehe ich aus wie einer von der Dreckspolizei?«
Alejandro stand immer noch gebückt unter seiner Kajütentür. Er winkte Ramón jetzt näher heran. »Vielleicht kann ich feststellen, wo Miguel ist. Was zahlen Sie, wenn ich Sie hinbringe?«
»Zweihundert Pesos.«
»Ha!« Er überlegte, murmelte etwas und kratzte und kniff sich zwischen den Beinen. »Do cien Pesos. Und dafür soll ich mein Leben — ich hab ja noch gar nicht gesagt, daß ich ihn kenne!«
»Ich ‘bin doch nicht von der Polizei, Mann! Sehen Sie, ich bin nicht bewaffnet.«
Der Mann sah prüfend auf Ramóns Hosentaschen, dann preßte er die Jackentaschen über Ramóns Arm, winkte Theodore heran, unterzog ihn derselben Prüfung, richtete sich auf und sagte ruhig und abschließend: »Sechshundert. Im voraus.«
»Sie kriegen das Geld. Aber erst wollen wir Infante mal sehen«, gab Theodore gelassen zur Antwort. »Und wenn Ihnen das nicht paßt, dann gehen wir. Überlegen Sie sich’s. So leicht sind sechshundert Pesos nicht wieder verdient.«
Der Mann schimpfte irgend etwas vor sich hin, machte aber die Trosse los, ließ den Motor an, und das Boot begann sich zu bewegen. »Dieser verdammte Bengel«, sagte er halblaut. Er blickte noch einmal prüfend die Uferstraße auf und ab und winkte jemandem zu.
Sie nahmen Kurs auf die Ausfahrt aus der kleinen Bucht. Alejandro murmelte, wenn jemand fragte, wohin sie wollten, so waren sie nach Puerto Marques unterwegs, um sich das große Hotel dort von der Seeseite aus anzusehen. Er lachte müde und freudlos vor sich hin und rieb sich die Hände an den speckigen Shorts. Sie kurvten um eine der beiden Landzungen an der Bucht und wandten sich nach Süden. Rechts von ihnen lag die riesige Fläche des Pazifischen Ozeans, leer bis auf einen Tanker nahe am Horizont. Theodore richtete die Blicke auf die Landseite. Ein paar kleine Boote segelten dicht unter Land.
»Wie weit ist es?« fragte er.
»Sehr weit. Noch hinter Marques.«
»Liegt das Boot draußen vor Anker oder am Ufer?«
»Sie werden’s ja sehen.«
»Welche Farbe hat das Boot?«
»Hört doch auf mit den Fragen!«, sagte Alejandro, als spräche er zu einem Kind.
Jetzt nickte er zur Küste hinüber: Puerto Marques. Die Stadt sah weit entfernt aus, tief eingebettet in einer Kerbe des Strandes. Der Motor schuckelte weiter. Ramón saß am Bug und blickte hinaus auf den dunstig-warmen Horizont. Jetzt sah man keine Boote mehr. Theodore blickte wie ein Ziegelstein rotbraun verbrannt und ohne jeden Ausdruck. Er sah entsetzlich aus, das war alles. Wahrscheinlich kurvte er hier noch eine halbe Stunde herum und verkündete dann, die Pepita müsse irgendwo anders hingefahren sein. Darauf würde er seine sechshundert Pesos verlangen und sie vielleicht zum Malecón zurückbringen — vielleicht aber auch nicht.
Drei kleine Segelboote, die nahe am Ufer ankerten, kamen jetzt in Sicht. Sie fuhren weiter, die Schiffchen blieben zurück. Alejandro drehte das Boot bei, und sie fuhren so nahe am Ufer entlang, daß man deutlich in einigen Palmen die Büschel der Kokosnüsse erkennen konnte. Die Küste sah wild und weglos aus. Ein Felsen kam in Sicht, und dahinter sah Theodore das blaue oder graue Heck eines kleinen Bootes.
»Ist es das?« fragte er.
Alejandro nickte wortlos. Er machte einen weiten Bogen um die Felsen. Das blaue kleine Boot lag reglos auf dem Wasser, der kahle Mast rührte sich nicht. Alejandro stand auf und legte die Hände an den Mund. »Oiga! Miguel!« schrie er und verzog den Mund zu einem Lächeln.
Niemand antwortete. Eine lange Minute ging vorüber. Dann öffnete sich eine Tür an Bord der Pepita, ein Mann in blaßblauem Hemd — die Farbe war fast die gleiche wie die des Bootes — stemmte die Hände auf die niedrige Reling und lehnte sich zu ihnen herüber. »Alejandro? Wen hast du bei dir?«
»Freunde von dem Jungen. Sei nur still«, sagte Alejandro. Er ließ den Motor langsam laufen und blickte nachlässig auf den verlassenen Küstenstreifen.
Miguel bückte sich in seine Kabinentür. Er stand etwas schwankend auf den Füßen. Dann trat er von der Tür weg, und Theodore sah den Kopf und die schmalen Schultern von Infante, der überrascht nach draußen blickte. Der Junge sagte etwas zu Miguel und machte eine unruhige Bewegung, als sei er im Begriff, wieder nach unten zu verschwinden.
Ramón stand vorn am Bug. »Sagen Sie ihm, ich bin ein Freund!« schrie er zum Schiffer der Pepita hinüber. »Ramón Otero!«
»Otero!« Der Junge hatte den Namen verstanden. »Nein! Laß ihn nicht hier rauf! Was fällt euch ein, den hierherzubringen, ihr Hunde!« Wilde Flüche folgten.
»Ich tue Ihnen nichts, ganz bestimmt nicht!« schrie Ramón.
»Die beiden sind betrunken«, sagte Theodore zu Ramón.
»Alejandro!« schrie Miguel. »Tausend Pesos hast du gekriegt! Du willst wohl noch mehr? Wir haben nichts mehr — das Geld ist alle!«
Die Boote waren jetzt nur noch wenige Meter voneinander entfernt.
»Halt die Schnauze, Miguel! Die beiden hier sind nicht von der Polizei. Sie wollen Infante sehen. So, jetzt geben Sie mir das Geld«, sagte er halblaut zu Theodore und streckte die grobe schmierige Hand aus.
Theodore nahm fünf Hunderter und zwei Fünfziger aus der Brieftasche. Die affenartige Hand schloß sich über den Geldscheinen und stopfte sie in die Hosentasche.
Ramón ergriff die Reling der Pepita und sprang an Deck, wobei er mit einem Fuß ins Wasser geriet.
Theodore folgte ihm und blickte argwöhnisch auf Miguel, der sich auf das Verdeck zurückgezogen hatte und breitbeinig dastand; in der Hand hielt er ein spitzes Stück Metall.
»Salvador, ich tu Ihnen doch nichts! Ich will bloß mit Ihnen reden!« rief Ramón beschwörend in die Kabinentür. Er zog am Türgriff, aber Infante hielt die Tür von innen zu.
Erst als Theodore mit zugriff, gelang es ihnen, die Tür zu öffnen. Der Junge schoß auf das Deck wie eine Ratte aus dem Loch. »Da hast du ihn, Ramón«, sagte Theodore zwischen den Zähnen.
Der Junge blickte sie finster an und stieß unverständliche Flüche und Verwünschungen aus.
»Ich will Ihnen ja nichts tun!« beteuerte Ramón. »Ich weiß doch, daß Sie nicht der Mörder sind. Teo, sie haben ihn um den Verstand gebracht!«
»Ah was — besoffen ist er, vom Rum«, ließ sich Alejandro gleichgültig von seinem Boot her vernehmen.
Salvador Infante blickte von Ramón zu Theodore, die erschreckten Augen verloren die Starre. »Was wollt ihr?«
»Mit Ihnen reden. Stehen Sie auf!« sagte Ramón und zog ihn an dem dünnen Arm hoch.
Infante war barfuß; er trug zu weite Hosen und ein weißes Seidenhemd, das Theodore erkannte: er hatte es selbst in Guanajuato getragen. Er schwankte unter Ramóns festem Griff, aber sein Gesicht behielt den roh-verschlagenen Ausdruck. »Was wollt ihr, habe ich gesagt? Was wollt ihr?«
»Verschiedenes. Ich will den Schal sehen«, sagte Theodere.
»Ah, den Schal! Das kostet Geld! Und außerdem ist er schon verkauft, der Schal.«
»Salvador, Sie müssen hier weg! Sie müssen hier von den Leuten weg und ganz raus aus Acapulco.« Ramón wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»An wen haben Sie den Schal verkauft, Salvador?« fragte Theodore.
»Ja, das möchten Sie wohl wissen, was?« Vergebens versuchte Salvador Infante auszuspucken. Er sah bleich aus, als müsse er sich erbrechen. »Wo ist der Rum, Miguel? He, Miguel! Der Rummm!« Er war wieder unten in der Kajüte und taumelte auf die Koje zu; die Hände suchten und griffen ins Leere.
»Aber ja, seguro! Der Rum.« Miguel, mit dümmlichem Lächeln, trat einen Schritt vor, er hielt noch immer den Spieker in der Hand. »Die Señores trinken gern Rum, ja?«
Alejandro lachte auf; er stand breitbeinig auf seinem Boot und zündete sich eine Zigarette an.
Der Junge erschien mit einer Rumflasche, die er in der Luft schwenkte und hochhob; ein wenig Rum lief ihm an der Nase entlang, bevor der Mund die Öffnung fand. Ramón riß ihm die Flasche aus der Hand und warf sie über Bord, worauf sich sofort lauter Protest von Salvador und Miguel erhob. Miguel murmelte, er werde schon noch eine Flasche finden und tauchte in die Kajüte hinunter.
»Siehst du den Kratzer da auf seiner Hand, Ramón?« Theodore wies auf die Hand, die der Junge auf das Kajütendach gestützt hatte. Ein rötlicher Striemen mit einer dunklen Linie in der Mitte lief vom Handgelenk bis zum Mittelfinger. »Das hat Ihnen doch meine Katze verpaßt in Guanajuato, nicht wahr, Salvador?«
Salvador starrte stumpf auf seine Hand und ließ den Kopf hängen.
Theodore packte ihn vorn am Hemd. »Wem haben Sie den Schal verkauft? Antwort!«
»Den Schal verkauft? Der ist doch hier«, sagte Miguel und zeigte auf die Kajüte, aus der er gerade aufgetaucht war.
»Wo ist er?« fragte Theodore. »Ich möchte ihn sehen.«
Ramón wollte Miguel die Flasche entreißen, doch Miguel zog empört den Arm weg und hielt sie außer Reichweite. »Hören Sie doch mit dem Trinken auf und schaffen Sie ihn hier weg! Die Polizei ist hinter ihm her, wissen Sie das nicht?«
»Na, und ob ich das weiß!« gab Miguel höhnisch zurück, mit dicken speichelnden Lippen. »Der da« — er wies auf Alejandro —, »der erzählt der Polizei kein Wort, weil er nämlich einen Haufen Geld aus uns herausschlägt, verdad, ’Jandro? Aber jetzt gibt’s kein Geld mehr. Keinen Centavo!«
Alejandro lachte in sich hinein, als sähe er einem lustigen Bühnenstück zu.
»Zeig mir den Schal, Miguel«, sagte Theodore.
»Geld!« sagte Infante plötzlich mit lauter Stimme. Er bückte sich, nahm vom Decksboden einen Fischkopf auf und warf ihn nach Alejandro, traf ihn aber nicht. »Raus hier, ihr dreckigen Blutsauger!« Er wiederholte das Wort: »Chupasangres! Chupasangres! Todos, todos chupasangres! Das Blut habt ihr mir ausgesaugt! Schwein!« schrie er Miguel an, der mit der Rumflasche ausholte.
Ramón packte Miguel am Arm. »Lassen Sie ihn in Ruhe!«
»Ach, Sie Trottel, den wollen Sie beschützen?« rief Alejandro und spuckte ins Wasser. Er nahm die Trosse auf und langte nach der Reling der Pepita.
Ramón wandte sich an ihn. »Können Sie ihn von hier wegbringen, Alejandro?« Aber Alejandro hörte ihm gar nicht zu, und Ramón drehte sich zu Infante um.
»Begreifen Sie denn gar nicht: die Polizei wird Sie holen, man wird Sie des Mordes an Lelia Ballesteros anklagen! Verstehen Sie, Salvador?« Er schüttelte Infantes schmale Schultern. »Aber Sie haben keine Zeit zu verlieren!«
Infante ließ den Kopf zur Seite hängen.
»Oiga, hombre.« Alejandro zog Ramón am Arm. »Sie haben das Mädchen gekannt? Ja, Otero — natürlich. Sind Sie nicht der Mann, der das Geständnis abgelegt hat?«
»Ja, aber keiner will mir glauben. Die Polizei glaubt mir nicht«, sagte Ramón.
»Sie sind verrückt, was?« fragte Alejandro verwundert. »Ja, haben nicht alle gesagt, Sie wären verrückt? Gib mal den Rum her, Miguel.« Er streckte die Hand nach der Flasche aus.
»Wir sind alle verrückt«, murmelte Infante mit hängendem Kopf. »Todes locos, todos locos …«
»Sind Sie der Mann, der zehntausend Pesos für den Schal bezahlt hat?« fragte Alejandro mit schlauem Lächeln und fuhr mit der schmutzigen Hand über den Flaschenhals.
»Nein«, sagte Ramón stirnrunzelnd. »Für welchen Schal? Wem gehört er überhaupt?« fragte er Infante.
Salvador blickte ihn von der Seite an und grinste. »Ich weiß, wem er gehört.«
»Wo haben Sie ihn her?« fragte Theodore.
»Aus der Wohnung.«
»Lelias Wohnung?«
»Sí!« gab Infante trotzig zurück. »Síssíssí!«
»Lelias Wohnung? Das legst du ihm in den Mund, Teo!«
»Sie wollen nicht glauben, daß er in ihrer Wohnung war, hombre? Sie meinen wohi, er gibt nur an, was?« fragte Alejandro mit breitem Lächeln. Er zog Ramón am Ärmel, aber Ramón schüttelte ihn ab und ging hinüber zu dem Jungen, der bis an den Bug zurückwich und sich am Kajütendach festhielt.
Theodore folgte ihm. »Salvador! Haben Sie auch die Postkarte aus Florida geschickt?«
»Aus Florida?« fragte Infante verträumt lächelnd. »Natürlich, ja. Von Lelia. Ha! Ein Freund von mir hat sie abgeschickt. Ich habe ihm gesagt, sie ist an einen Freund, dem ich sein Mädchen weggenommen habe.«
Mit dem Daumen wies er auf seine Brust. »Ich hab gesagt, Lelia ist bei mir, aber alle sollen denken, sie ist in Florida!«
»Und die Telefonanrufe, Salvador? Wo sich niemand meldete?«
Infante sah ihn verständnislos an.
»Weiß ich nicht.«
»Ich möchte jetzt allein mit ihm reden, Teo«, sagte Ramón.
»Kommen Sie mit, Señor. Kommen Sie, ich zeig Ihnen was!« Alejandro zog Theodore am Ärmel.
»Hat sie Ihnen die Tür aufgemacht, Salvador? Wie sind Sie hineingekommen?« fragte Theodore drängend. Aber der Junge wandte sich schweigend ab.
Alejandro trat nahe an Theodore heran und sagte halblaut: »Die Tür war doch offen! Er sagt, er hat ihr Blumen gebracht, um hineinzukommen, und als er hereinkam — da war sie tot! Tot!« Das dunkle Gesicht zuckte. »Da hat er einfach ein paar Sachen mitgenommen und ist weggelaufen.« Alejandro warf die Hände hoch. »Sie wollen mir nicht glauben, Señor? Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen was. Wollen Sie’s sehen?«
»Ramón!« rief Theodore, aber Ramón redete auf Infante ein, der ihm immer wieder zurief, er solle die Schnauze halten. Er war schwer betrunken.
Theodore nahm Ramóns Arm. »Komm doch mit, Ramón. Alejandro will uns was zeigen. Komm doch!«
»Er hat sich das alles ausgedacht, und das ist deine Schuld, Teo!« sagte Ramón drohend.
»Nun komm schon in die Kajüte. Einen Augenblick bloß.«
Zögernd ließ Ramón den Jungen stehen und folgte Theodore in die Kajüte. Theodore ließ ihn zuerst hinuntersteigen. In dem Halbdunkel sahen sie Alejandro zwischen den beiden Kojen kauern und einen kleinen Koffer herausziehen.
»Warten Sie — dies hier. Moment. Erkennen Sie das?« Alejandro warf ein paar Hemden zur Seite und hielt etwas in die Höhe. Theodore sah näher hin und fühlte, wie sich ihm das Herz zusammenkrampfte.
»Die gehört doch Lelia!« rief Ramón.
Es war die Kette mit dem Obsidiananhänger, die Theodore zur Reparatur gebracht hatte. Sie hatte sie so oft getragen — es war, als sähen sie Lelia leibhaftig vor sich mit dem schimmernden ovalen Anhänger und den schlanken schwarzen Segmenten mit den feinen Goldgliedern. Alejandro wühlt noch weiteres aus dem Koffer: Theodore trat näher heran und stolperte an Ramón vorbei, um das rote Band zu berühren, den großen weichen Radiergummi, die beiden Zeichenstifte, die in der Tonschale auf ihrem Bücherbord gelegen hatten. »Deine Schlüssel, Ramón — hier sind deine Schlüssel!« Seine Faust schloß sich um das Schlüsselbund. »Glaubst du immer noch, daß er nicht in ihrer Wohnung war?«
»Und dies hier?« Alejandro hielt Ramóns Adreßbuch in die Höhe; ein paar Karten fielen heraus.
Ramón starrte noch immer auf das Halsband in seiner Hand. Die Hand zitterte.
»Und dies hier? Das ist der Schal.« Er hing von Alejandros erhobener Hand — ein blaßblauer Schal mit roten Querstreifen, die ihn in große Karos teilten. Ein sehr auffallender Schal.
Theodore konnte sich nicht entsinnen, ihn je gesehen zu haben. Er suchte an den beiden Enden nach einem Etikett oder der Marke einer Reinigungsfirma; er roch daran, aber er roch nur nach Wolle. »Wem gehört der?«
Alejandro hob die Schultern und grinste. »Den hat er in der Wohnung gefunden. Und einer hat dafür bezahlt.«
Wer würde so einen Schal tragen, überlegte Theodore. In diesem Augenblick hörten sie einen Schrei, hell wie von einer Frau. Theodore stürzte aus der Kajüte.
Am Bug stand Ramón über Infante gebückt, auf den er mit beiden Fäusten einschlug, während Miguel versuchte, ihn wegzureißen. Der Junge wand sich und versuchte, den Schlägen zu entkommen, doch Ramón hob ihn auf und warf ihn in die Ecke, wo der Bug sich verengte. Man hörte ein Geräusch von splitternden Knochen.
Miguel hielt jetzt Ramóns Arm mit beiden Händen gepackt, und Theodore sah, wie Ramón ganz langsam seinen Arm zurückzog und plötzlich zustieß. Ein dumpfer Ton — und wenige Sekunden später klatschte Miguel aufs Wasser auf. Theodore stand immer noch mit geballten Fäusten da, in der einen hielt er die Schlüssel, in der anderen den Schal.
Wirr und keuchend blickte Ramón ihn an.
»Ist er tot?« fragte Theodore.
Ramón wirbelte wie von Sinnen herum und griff nach dem Jungen, das Hemd zerriß und der schlaffe schmale Körper wurde in die Luft geschleudert. Ramón schlug nach ihm, bevor er wieder zu Boden fiel.
»Und das hier?« heulte Alejandro von hinten. Theodore wandte sich um und sah das große Foto von Lelia, das in seinem Tagebuch eingeheftet gewesen war, mit eingerissenen Rändern in Alejandros Hand hin- und herwehen. »Linda mujer«, kommentierte der Schiffer befriedigt.
Theodore fühlte sich gelähmt und dem Ersticken nahe. Im Wasser tauchte jetzt Miguels Kopf mit trübe-resigniertem Gesicht auf; er war nahe am Bootsrand und schwamm darauf zu. »Ramón — ist er tot?« fragté Theodore noch einmal. Ramón stand über den Jungen gebeugt, als lauschte er auf seinen Herzschlag. Theodore trat näher heran und sah, daß Ramón auf ein dünnes silbernes Kreuz starrte, das auf der weichen Brust des Jungen lag und weiß in der Sonne glühte.
Ramón verbarg das Gesicht in den Händen und wimmerte.
Theodore legte dem Jungen die Finger aufs Herz; es war ihm ekelhaft, ihn anzufassen. Er meinte, den Herzschlag zu spüren, aber das konnte auch der eigene Puls sein. Infante blutete aus dem Mund, die Lippen entblößten die Zähne, als habe ihn der Tod im Krampf gepackt. Das dunkle Haar auf der Oberlippe war blutverschmiert.
Der Junge stöhnte auf .
»Salvador, wem gehört der Schal?« fragte Theodore eindringlich.
»Teo, du hast recht gehabt.« Ramón keuchte, die Hände immer noch vor dem Gesicht. »Und jetzt habe ich ihn getötet!«
»Er ist nicht tot, Salvador — der Schal — wer hat Ihnen Geld dafür gegeben?« Er brachte sein Ohr nahe an den feuchten Mund des Jungen. Die Lippen formten ein Wort — Dios: wieder und wieder. Die Augen waren blicklos auf den Himmel gerichtet. Jetzt regten sich die Lippen nicht mehr.
Alejandro beugte sich über ihn, die Hände auf den Knien. »Uhch — ein Katholik. Natürlich — ein Katholik!« Er lachte kurz auf, streckte eine Hand aus, die völlig empfindungslos aussah, und legte sie dem Jungen auf die Brust, unterhalb des Kreuzes. »Der lebt noch. Madre de Dios, die haben ein zähes Leben!«
Miguel stand triefend auf dem Deck und schneuzte sich in die Hand. »Tot?« fragte er, schwankte und stand dann fest auf den Füßen.
»Nein, er lebt noch«, erwiderte Alejandro.
Blinde Wut trat in Miguels Gesicht. Er tat einen Schritt auf den Jungen zu. »Tot oder lebendig, ich will ihn nicht auf meinem Boot haben — mir langt’s jetzt!« Er packte Infante an der Kehle und schlug ihn einmal, fest und hart, mit dem Kopf auf den Decksboden. Es war die sichere und geübte Bewegung eines Mannes, der das tausendmal genauso mit seinen Fischen gemacht hatte.
Das geschah so schnell, daß Theodore gerade Zeit hatte zum Aufstehen und Ramón die Hände vom Gesicht nehmen konnte. Als Theodore jetzt sah, wie der Körper hochgehoben wurde, sprang er zu und hielt Miguel am Arm fest. »Aufhören, Mann! Was machen Sie?«
Miguel hielt den Jungen, der wie ein nasser Lappen schlaff in seiner Faust hing, an den Hosen fest und schwenkte den Arm aus Theodores Reichweite. »Das hier ist mein Boot, und ich sag, wer rauf darf!« Er machte Miene, ihn über Bord zu hieven. Theodore versetzte ihm einen Schlag aufs Kinn.
Miguel taumelte zurück und wäre ins Wasser gefallen, wenn ihn Alejandro nichtaufgefangen hätte. Alejandro lachte.
Theodore drehte den schlaffen Körper um. Mehr Blut trat aus dem Mund, hellrot und gräßlich anzusehen neben dem schwarzen Haar. Er fühlte nach dem Puls und Herzschlag. »Jetzt ist er tot«, sagte er und blickte auf. In Ramóns Gesicht stand blankes Entsetzen.
»Gut«, grunzte Alejandro.
»Runter vom Boot mit ihm!« schrie Miguel und kam näher. Theodore legte den Arm fest um Ramóns Schulter, denn Ramón sah aus, als wolle er sich vom Bootsrand hinunterfallen lassen oder mit einem Satz ins Wasser springen. Eine Hand hielt er wie eine Klaue steif vor das Gesicht, das Schluchzen klang halb erstickt.
»Es war nicht deine Schuld, Ramón — es war nicht…« sagte Theodore mechanisch. Als er aufblickte, sah er gerade noch, wie Miguel mit leichtem Schwung den leblosen Jungen seitwärts über Bord warf. Ein lautes, gräßliches Aufklatschen folgte.
»Den sind wir los!« sagte Alejandro und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Ein Drecksfisch war das!« Er nickte Theodore bekräftigend zu.
Natürlich konnte Miguel froh sein, daß er ihn los war, dachte Theodore. Er behielt jetzt den Rest des Geldes, das Infante gehört hatte.
»Und dieses ganze Zeug hier …« murmelte Miguel und ging auf das Achterdeck zu.
»Die Rumflasche«, sagte Theodore zu Alejandro. »Wenn da noch ein Rest drin ist …«
Alejandro hob lächelnd den schmutzigen Zeigefinger und ging, um die Flasche zu holen.
»Das hier!« schrie Miguel hinten und warf eine Hose über Bord. »Und das …« eine leere Flasche folgte. Er stieß sich krachend den Kopf am Rahmen der Kajütentür und fluchte.
»Nicht — das nicht!« rief Theodore und lief auf ihn zu. Er hielt ihn am Arm fest. »Geben Sie das her!«
Miguel ließ die Zeichenstifte und das rote Band los und warf mit der anderen Hand noch einige Kleidungsstücke über Bord.
Ramón wollte keinen Rum, er wollte Wasser. Das hatte Miguel nicht, oder jedenfalls weigerte er sich, Theodore Wasser zu geben.
»Runter von meinem Boot! Alle!« schrie er.
»Haben Sie Wasser auf Ihrem Boot, Alejandro?« fragte Theodore. Alejandro nickte, setzte die Rumflasche an und trank.
Theodore suchte die Wasserfläche an Bug und Steuerbord mit den Augen ab, aber alles war glatt und leer. Die Wellen rollten sanft, als habe sich gar nichts ereignet.
»Verschwunden!« sagte Alejandro mit kurzem Lachen.
»Einfach abgesoffen!«
»Können Sie uns nach Acapulco zurückbringen?« fragte Theodore.
Alejandro blinzelte schlau. »An die Küste vielleicht. Nein, nach Acapulco nicht… Miguel, schmeißt du das Geld weg?« Er ging auf das Achterdeck und verschwand in der Kajüte; Theodore hörte, wie er Schübe öffnete und Sachen herauszog auf der Suche nach einem möglichen Versteck.
Ramón saß immer noch aufrecht und starr da, die Hand vor dem Gesicht; Theodore hielt ihn am Arm fest, als müsse er sonst fallen. Sie redeten von verschiedenen Dingen! Theodore sprach von dem Wasser auf Alejandros Boot und daß Ramón hinübersteigen solle, Ramón sprach von Lelia. Theodore versuchte nicht hinzuhören, denn Ramóns Worte waren nur für sie oder für sich bestimmt.
Er nahm jetzt die Hand vom Gesicht und sprang hinüber in das andere Boot, wo sie in der Kajüte eine grüne Flasche mit Wasser fanden, die Ramón zuerst Theodore anbot. Dann wusch er sich die Hände im Seewasser und goß sich etwas Wasser in die Hand zum Trinken. Auf dem anderen Boot wurden Stimmen laut; sie hörten, wie Alejandro Geld von Miguel verlangte, zweitausend Pesos von den sechstausend, die ihm Infante dafür gegeben hatte, daß er ihn versteckte. Wenn sich Miguel weigerte, drohte Alejandro, so werde er die Polizei über alles Vorgefallene informieren. Schließlich gab Miguel grollend nach, und sein Geschimpfe wurde leiser, als er in die Kajüte stieg und das Geld holte.
Gleich darauf kam Alejandro an Bord und machte sein Boot von der verankerten Pepita los. Noch einmal wandte er sich zu dem Mann, der drüben halb an der Kajüte gelehnt kauerte. »Adiós, Miguel. Jetzt schlaf erst mal aus, und dann vergessen wir, was heute hier los war. Okay?«
Miguel nickte schläfrig.
Und so merkwürdig es war, dachte Theodore: sie würden wahrscheinlich tatsächlich vergessen, was heute los gewesen war.
Der Motor spuckte und sprang dann an. Alejandro schwang den Bug zur Küste hinüber und wandte sich dann ein wenig nach links, wobei er etwas murmelte von einer Stelle an der Küste, wo er sie absetzen könnte. In seiner Haltung lag jetzt etwas Geschäftig-Munteres, und er vermied es, Theodore anzusehen. Entweder hatte der Mord ihn angeregt, oder sein primitives Hirn war schon damit beschäftigt, den Vorfall zu vergessen, und widmete sich daher jetzt nur dem Nächstliegenden: der Steuerung des Bootes.
Ramón sagte: »Du wirst vielleicht sagen, ich habe ihn nicht getötet, Teo, aber ich habe nur den letzten Schlag nicht getan. Er wäre doch daran gestorben, was ich getan habe.« Er kniete auf einem Bein neben dem Dollbord und starrte auf das Deck. »Ach, Teo — Rache ist gar nicht süß. Sie ist so böse wie alles andere.«
Theodore stand neben ihm und suchte mit den Augen den Strand nach einer Stelle ab, wo sie landen konnten. »Komm, denk jetzt nicht daran.« Er preßte den zusammengerollten Schal in der Hand.
»Ich muß daran denken! Weil ich immer geglaubt hatte, so hätte ich sie umgebracht — während ich von Sinnen war und nicht wußte, was ich tat. Immer hatte ich Angst gehabt, ich würde einmal im Jähzorn zuschlagen und sie dann beim Erwachen tot vor mir liegen sehen. Und das habe ich nun mit Infante getan — ihn so lange geschlagen, bis er tot war.«
»Nein! Er wäre noch am Leben. Es war Miguels Schuld!« sagte Theodore eindringlich, aber er sagte es ohne nachzudenken. Wann — wann würde Ramón endlich begreifen, was der Schal zu bedeuten hatte?
Plötzlich mußte Theodore wieder an Lelias verstümmeltes Gesicht denken. Er versuchte sich vorzustellen, wer einer solchen Tat fähig sein könne, aber es gelang ihm nicht. Andererseits waren die Menschen im Zorn zu manchem fähig …
»Alejandro!« Theodore versuchte den Motorenlärm zu übertönen. Mit zwei langen Schritten stand er neben dem Schiffer. »Dieser Schal — wissen Sie, wem er gehört? Hat Ihnen Infante nichts davon gesagt?«
Alejandro warf einen Blick auf den Schal und sah dann Theodore mit schiefem Lächeln an. »Ich weiß es nicht«, sagte er scherzhaft und halb singend.
»Ich bezahle es Ihnen, wenn Sie es mir sagen. Was haben Sie schon zu verlieren?« Aber als der andere immer noch zögerte, wurde es Theodore klar, daß er es vermutlich wirklich nicht wußte, sonst hätte er ihm die Information ganz sicher verkauft oder hätte den Schal selber behalten für weitere Erpressungen. Theodore seufzte tief auf. Es sah nicht sehr ermutigend aus.
Alejandros braune Schultern hoben sich. »Der Bengel — Infante sagte immer, es wäre sein kostbarster Besitz. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Und Miguel — weiß der was?«
»Quién sabe?« gab Alejandro gleichgültig zurück.
Die Polizei würde Miguel vernehmen müssen, dachte Theodore. Sauzas. Nur Sauzas sollte Miguel vernehmen, sonst kämen sie in eine schreckliche Lage wegen Infantes Tod. Mit dem Boot war Miguel nicht allzu schwer zu finden. Oder war es denkbar, daß er das Boot einfach liegen ließ und sich unter die Millionen von Mexikanern mischte, die genau so aussahen wie er? Und wie ernsthaft wurde überhaupt so eine Suche von der mexikanischen Polizei betrieben?
Wie erwartet, versuchte Alejandro, als sie sich dem Strand näherten, noch mehr Geld aus ihm herauszupressen. Theodore lehnte rundweg ab, und Alejandro schimpfte Unverständliches vor sich hin.
Immerhin setzte er das Boot auf den Sand, sprang hin aus und reichte beiden die Hand, als seien sie prominente Persönlichkeiten. »Oben auf dem Kliff ist eine Straße«, sagte er und zeigte auf die steilen Felsenhügel vor ihnen. »Und noch eins, Señor: schicken Sie mir nicht die Polizei auf den Hals, wegen dieser Sache, verstanden?«
»Verstanden«, sagte Theodore.
»Sonst sage ich, daß Ihr Freund es getan hat«, sagte Alejandro und nickte zu Ramón hinüber. »Verstanden?«
28
Leicht wie ein großer gelber Luftballon berührte die Sonne den Horizont, bevor das Meer sie eilig verschlang. Theodore starrte aus dem Autobusfenster; er spürte die letzte Sonnenhitze im Gesicht und versuchte nachzudenken, was jetzt zu tun sei. Zunächst einmal mußte er natürlich Sauzas anrufen, und der mochte dann die Polizei von Infantes Tod informieren — sonst konnten sie damit rechnen, daß man sie unendlichen Verhören unterziehen und so bald nicht loslassen würde. Auch Alejandro und Miguel mußten gefunden werden, und daran dachte Theodore mit großem Widerwillen. Er war müde und erschöpft wie Ramón, der mit den Armen auf den Knien vornübergebeugt dasaß und den Kopf in den Händen vergraben hielt. An seiner Manschette sah man einen dunkelroten verwischten Blutfleck, und Theodore hatte festgestellt, daß auch seine Hose am Knie einen steifen dunklen Fleck aufwies, der sich deutlich von dem hellgrauen Stoff abhob. Er überlegte, ob sie versuchen sollten, heute abend noch einen Flug nach Hause zu buchen oder erstmal ein Hotelzimmer zum Übernachten zu finden.
Die gewundene Felsenstraße hörte auf, und der Bus fuhr langsam nach Acapulco hinein. Gewohnheitsmäßig sah Theodore aus dem Fenster. Unter den Bäumen auf dem Malecón herrschte geschäftiges Treiben.
Plötzlich faßte er Ramón am Arm. »Komm mit! Wir steigen aus.«
Ramón erhob sich.
Der Bus fuhr jetzt langsam und hielt dann an einer Haltestelle. Sie stiegen aus.
»Hier runter, ein Stück zurück«, sagte Theodore. »Ich glaube, ich habe Sauzas gesehen.«
»Sauzas? Meinst du wirklich?«
Theodore war nicht sicher. Es mochte eine Halluzination gewesen sein. Aber er meinte doch, ihn gesehen zu haben, wie er sich neben einer Palme mit zwei Männern unterhielt. »Da. Siehst du ihn?«
Ramón sagte nichts, doch er ging jetzt langsamer und ließ den Blick nicht von Sauzas. Theodore wußte, was er dachte — »Wie ist das alles unwichtig« oder so etwas Ähnliches, obgleich sie ihn jetzt vielleicht für fünfzehn Jahre ins Gefängnis steckten, wegen Mord an einem Mörder.
Jetzt hatte auch Sauzas sie aus der Entfernung erkannt und lächelte ihnen zu. Die beiden Männer in Hemdsärmeln, die bei ihm standen, starrten Theodore und Ramón und die dunklen Flecken auf ihrer Kleidung an. »Señores, was für ein Glück!« sagte Sauzas. »Ich dachte, Sie wären schon wieder in Mexico City.« Er wandte sich an seine beiden Begleiter und sagte: »Muchas gracias, Señores. Ich möchte diese beiden Herren jetzt gern sprechen Was ist denn passiert?«
Theodore berichtete von dem Zusammenstoß mit Infante auf dem Boot und von dem, was geschah. Er zog den zusammengerollten Schal aus der Tasche und sagte: »Das ist er.«
Sauzas zog die Augenbrauen in die Höhe. »Ein heller Schal. Ja — das paßt alles zusammen«, sagte er ruhig.
»Was wollen Sie sagen?« fragte Theodore.
»Wissen Sie nicht, wem er gehört?«
»Nein, keine Ahnung. Wissen Sie es denn?«
»Hm, hm, Señor Schiebelhut, Carlos Hidalgo ist noch nicht zurückgekommen, deshalb bin ich hier. Ich habe festgestellt, daß er 10000 Pesos von seinem Konto abgehoben hat — fast alles, was er besaß. Da habe ich mir meinen Vers drauf gemacht. Die Polizei sucht jetzt nach Carlos Hidalgo.«
»Aha — ja«, sagte Theodore unruhig. Gerade hatte er Sauzas erzählt, daß Infante 10000 Pesos für den Schal erhalten hatte, den er dann doch nicht hergegeben hatte. »Lelias Schlüssel waren auch auf dem Boot«, fuhr er fort. »Sie haben uns erzählt, daß Infante zur Wohnung kam und die Haustür offen fand, und Lelia war tot. Der Eigentümer des Schals mußte gerade dort gewesen sein. Infante nahm den Schal und die Hausschlüssel und noch ein paar andere Sachen und schloß die Tür hinter sich zu. Auch daß er die Blumen gekauft hatte, haben wir erfahren. Um in die Wohnung hineinzukommen.«
»Ah ja. Infante hat also zuerst angenommen, daß der Schal einem von Ihnen beiden gehörte.«
»Ja«, sagte Theodore und sah, wie Ramén die Stirn runzelte.
»Señor Schiebelhut, Sie sehen blaß aus«, sagte Sauzas. »Kommen Sie, wir gehen dort hinüber und trinken etwas.« Er faßte Theodore am Arm.
Sie gingen in eine kleine, zur Straße offene Bar und bestellten drei doppelte Rum. Theodore ließ außerdem noch eine Kanne Tee und zwei Tassen bringen.
»Señor Capitán, wie können wir mit Sicherheit feststellen, wem der Schal gehört?« fragte er. »Wir haben doch nichts als ein paar Indizien …«
Sauzas legte das blaue Päckchen Gitanes auf den Tisch, zog eine heraus und zündete sie an. »Señores — gestern nachmittag habe ich mit Señora Hidalgo gesprochen. Ich habe ihr von den 10000 Pesos erzählt, die ihr Mann abgehoben hatte; sie wußte nichts davon. Ich habe angedeutet, sie seien vielleicht für den Kauf des Schals verwendet worden, und sagte ihr auch, wo der Schal vermutlich herkam. Und da brach sie zusammen. Sie gab zu, sie habe sich selbst schon Gedanken um Carlos gemacht, wegen seines Verhaltens seit dem Mord. Ich würde sagen, sie hält ihn jetzt wirklich für schuldig.« Fast triumphierend blickte Sauzas jetzt von einem zum anderen, als habe er gerade eine Trumpfkarte aufgedeckt. »Als ich heute mittag aus Mexico City abflog, war Carlos nicht im Hause und seine Frau auch nicht. Niemand hat das Telefon abgenommen, seit ich gestern um zwei Uhr bei ihr war. Wir sind in seine Wohnung gefahren, aber es ist niemand da.« Sauzas hob die Achseln, spreizte die Hände und blickte sie mit hellen Augen an.
Aber Theodore hielt das für zu einfach. »Vielleicht ist Isabel zu ihrer Schwester gefahren. Die Schwester heißt Nina, sie wohnt in Coyoacán …«
»Ah!« Sauzas rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und sah dem Kellner zu, der jetzt den Rum und die Gläser mit Eiswasser auf den Tisch stellte.
Mit bösen Blicken starrte Ramón Sauzas an. Dann wandte er sich an Theodore. »Er denkt, es war Carlos?«
»Er weiß es nicht. Niemand weiß es«, murmelte Theodore halb verlegen. Er merkte, als er für sich und Ramón Tee einschenkte, daß Sauzas ihn fast belustigt betrachtete.
»Carlos kann sehr gut auch hier sein und nach Infante suchen«, sagte Sauzas, nachdem er einen ersten Schluck von dem unverdünnten Rum getrunken hatte. »Ich würde mich nicht wundern, wenn er sich umbringt. In Acapuleo gibt es so viele Felsenkliffs zum Hinunterspringen.« Er wandte sich einem kleinen Jungen zu, der an den Tisch getreten war und ihm die dünne Tageszeitung von Acapulco anbot. Er schüttelte den Kopf und ließ eine Münze in die Hand des Kindes fallen. »Andale!«
Theodore dachte daran, wie Carlos ihm in den letzten Monaten immer wieder ausgewichen war, wie er jedesmal Ausreden gehabt hatte, wenn Theodore ihn angerufen hatte. Viele Kleinigkeiten fielen ihm ein. Und doch: war es denkbar, daß Carlos Lelias Gesicht verstümmelt hatte?
»Ja — ich muß wohl mal Mexico City anrufen und ihnen von Infante berichten«, sagte Sauzas. »Oder noch besser, ich rufe die Polizei hier an und überlasse denen die Ferngespräche.« Er blinzelte und erhob sich. »Sie entschuldigen mich, Señores, nicht wahr?«
Theodore blickte ihm nach, wie er zu dem Wandtelefon neben der Bartheke schritt. Sein Gang war rollender und selbstsicherer als je zuvor. Für ihn war das alles keine Sensation, dachte Theodore. Es gehörte zum Alltag, zum täglichen Brot.
»Denkt er wirklich, es war Carlos, Teo?« fragte Ramón.
Theodore erschrak. »Ich weiß es nicht. Aber Salvador war es nicht. Salvador war bloß ein Erpresser.« Er sah das langsam-dunkle Begreifen in Ramóns Augen. Sein Gesicht hatte sich verändert. Die Linien und Höhlen der Erschöpfung waren noch da, aber das verwirrte Stirnrunzeln war verschwunden, und Theodore sah, Salvador Infante hatte Ramón wenigstens die Überzeugung genommen, Lelias Mörder zu sein. Der schmale Junge hatte Ramón von einer Bergeslast befreit.
»Ach«, sagte Ramón endlich. »Ich habe also jemand ganz ohne Grund umgebracht. Wenn das nicht typisch ist!«
Theodore packte ihn am Handgelenk.
»Du hast niemanden umgebracht, Ramón. Willst du dir das jetzt endlich aus dem Kopf schlagen?«
»Ja«, sagte Ramón bereitwillig und nickte. »Ich habe ihn nicht umgebracht. Nur beinahe.«
»Das beinahe kannst du auch vergessen. Miguel hat ihn umgebracht. Und der Junge war schlecht — grundschlecht, Ramón. Das spielt zwar für die Polizei keine Rolle, aber für dich. Der Junge hatte selbst schon jemand umgebracht.«
»Ja. Der Junge war schlecht«, wiederholte Ramón. »Das stimmt.« Er ergriff sein Glas mit Rum und leerte es auf einen Zug.
Theodore ließ Ramóns Handgelenk los und winkte dem Kellner, um eine neue Runde Drinks zu bestellen.
Sauzas kam lächelnd an den Tisch zurück und sagte: »Wissen Sie was? Die Polizei hier in Acapulco wußte schon, daß Infante tot ist! Die sitzen da ruhig auf ihren Hintern und lassen sich alles von ihren Zuträgern melden!… Haben Sie übrigens schon ein Hotel für die Nacht, oder soll ich Ihnen Zimmer bestellen in dem Hotel, wo ich wohne? Das ist nicht schwer, denn der Manager ist ein Gauner vierten Grades und hat sowohl die Polizei wie einige Versicherungsgesellschaften auf dem Hals. Der reißt sich für mich mehrere Beine aus; wenn’s sein muß, wirft er den Präsidenten raus, um mir ein Zimmer zu verschaffen.« Sauzas lachte und schlug Theodore auf die Schulter.
»All right. Wir nehmen gern an, vielen Dank«, sagte Theodore.
»Es ist ein gutes bequemes Hotel, gerade über der Bucht. Wunderbare Aussicht Tag und Nacht. Und wenn wir uns alle ein bißchen frischgemacht haben, möchte ich Sie beide gern zum Essen einladen. Wenn Sie mich noch einmal entschuldigen wollen, will ich gleich …« er brach ab und starrte auf den Gehweg.
Isabel Hidalgo kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Theodore und Ramón erhoben sich.
»Ich habe euch überall gesucht«, sagte sie mit unruhigem Blick. Und dann zu Theodore: »Inocenza hat mir gesagt, daß du hier bist.«
»Komm, Isabel, setz dich.« Er schob ihr seinen Stuhl hin.
Sie nahm Platz und blickte Sauzas an. »Er ist hier. Ich bin gestern nachmittag mit ihm hergekommen — ich bin schließlich seine Frau«, fügte sie mit einem kurzen stolzen Blick auf Ramón und Theodore hinzu. »Er ist im Hotel, und er will sich stellen.« Ihre Schultern sackten zusammen, als habe dieser Satz ihre letztenKräfte verbraucht.
»Sich stellen? Dann ist es also wahr, Isabel?« Theodores Frage klang-so ungläubig, als habe er noch keinerlei Verdacht gehegt.
Isabel nickte, unglücklich und zerbrochen.
Theodore zog sich einen leeren Stuhl heran.
»Seõra, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.« Sauzas berührte sie teilnahmsvoll am Arm und warf gleichzeitig Theodore einen Blick zu, der den Triumph nur schlecht verhehlte. »Und welches ist das Hotel?«
»Ich soll Ihnen alles sagen — er hat sie mit dem Messer verstümmelt, damit es aussah wie die Tat eines Wahnsinnigen. Er hat sie erst geschlagen und bekam dann Angst, weil er glaubte, sie sei tot. Das hat er mir erzählt«, berichtete Isabel eilig mit leiser Stimme, während ihre Augen starr auf den Tischrand blickten. »Er sagt, das Messer hat er aus der Küche geholt und dann weggeworfen, als er hinausging. Er wußte schon, daß er den Schal dagelassen hatte, aber er hatte Angst zurückzugeben.«
»Ist dies der Schal, Señora?« fragte Sauzas und streckte die Hand nach Theodore aus. Theodore zog den Schal aus der Jackentasche und gab ihn Sauzas.
Isabel warf einen Blick darauf und nickte. »Ja, das ist der, den ich ihm zu Neujahr geschenkt hatte. Ich wußte es – ich wußte es auch schon, als Sie mich fragten, aber ich war nicht ganz sicher … O Teo!« Ihre Hand glitt zu ihm hinüber und blieb dann auf dem Tisch liegen.
Theodore drückte sie warm und fühlte überwältigendes Mitleid in sich aufsteigen, als er die dünnen blauen Adern auf ihrem Handrücken sah. Sie zog die Hand zurück und strich sich das Haar aus der Stirn.
»Ja — das ist dann alles, nicht wahr?« sagte Isabel zu Sauzas. »Sie brauchen nur hinzugehen und ihn zu holen. Er möchte, daß Sie kommen.«
»Natürlich, natürlich«, sagte Sauzas. »Wie komme ich hin, und wie heißt das Hotel?«
»Hotel Quinta Antonia — ein kleines Hotel, hier links hinunter. Vielleicht drei Straßen weit, oder fünf. Aber es ist nicht weit.« Tränen erstickten ihre Stimme. »O Gott, Teo — was hat er uns nur angetan — dir und Ramón und uns allen? Er sagt, er hat sie geliebt, und doch hat er das getan.«
Theodore erinnerte sich wieder daran, wie Carlos Lelia jeweils in den Mantel geholfen, wie Ramón und er sie wegen Carlos geneckt hatten und wie Lelia gesagt hatte: »Auch nicht nach einer Million Jahren«, oder etwas derartiges. Lelia hatte auch zu Ramón gesagt, in seiner Gegenwart, daß er sich wegen Carlos keine Gedanken zu machen brauchte, und natürlich hatte sich auch niemand seinetwegen Gedanken zu machen brauchen — außer daß er sie am Ende umgebracht hatte.
»Isabel, du bleibst heute nacht bei uns, in unserem Hotel«, sagte er. »Du mußt etwas zur Ruhe kommen.«
Ramón stand blaß und schweigend auf, als Sauzas sich jetzt erhob.
»Wollen Sie mit?« fragte Sauzas.
Ramón zögerte einen Augenblick. »Nein«, sagte er dann. »Ich glaub’s auch so. Und wenn ich ihn jetzt sähe, würde ich ihn vielleicht auch umbringen.«
Sauzas warf Theodore einen lächelnden Blick zu. »Wollen Sie nicht hier auf mich warten, Señor? Ich glaube nicht, daß es länger dauert als zehn Minuten, wenn er keine Schwierigkeiten macht.«
Theodore begleitete Sauzas bis auf die Straße. Er mochte ihn nicht ohne irgendein weiteres Wort gehen lassen und wußte doch nicht, von wem das Wort kommen sollte, von ihm oder von Sauzas.
Am Gehweg winkte Sauzas einem vorbeifahrenden Taxi, das aber den ausgestreckten Arm nicht sah und weiterfuhr. »Wissen Sie, Señor Schiebelhut, ich muß sagen, Sie haben sehr fest an Ihren Freund Señor Otero geglaubt. Viele Leute hielten die Polizei für verrückt, weil sie einen Mann wieder laufenließ, der gestanden hatte, die Frau erstochen zu haben. Aber wir wußten etwas, das Sie nicht wußten. Die Autopsie hat ergeben, daß der Tod nach einem schweren Schlag auf den Hinterkopf eingetreten war. Wir nehmen an, daß der Kopf sehr schwer auf die Bettkante aufgeschlagen ist…Ah, hier ist ein Taxi. Die Messerstiche kamen erst später, und wir glaubten auch zu wissen warum. Nun, unsere Annahme war richtig.« Er strahlte und stieg in das Taxi. »Bis gleich, Señor! Adiós.«
Langsam ging Theodore zurück, und schreckliche Bilder stiegen vor ihm auf: Carlos Hidalgo, der sich nie mit einem Nein abfand, warf Lelia gewaltsam gegen das Bett. Er schloß einen Augenblick die Augen. Dann winkte er dem Kellner und bestellte noch einen Tee. Ramón und Isabel unterhielten sich. Ramón beugte sich zu ihr, und Isabel hielt den Kopf ein wenig höher und hatte sich anscheinend etwas gefaßt. Schweigend nahm Theodore Platz.
Ramón sah ihn und sagte: »Wenn Carlos jetzt hier hereinkäme — ich glaube, ich würde ihm den Hals umdrehen, und niemand könnte mich daran hindern. Auch keine Revolverkugel.«
Doch Theodore glaubte nicht daran. Ramóns Vergeltungssucht war erschöpft; er hatte sie verbraucht im Kampf zuerst mit sich selbst und dann mit Salvador Infante. Theodore glaubte, in diesem Augenblick waren Haß und Rachedurst in ihm selbst stärker als in Ramón; aber er wußte, wie fast alle Leidenschaften würde auch diese einmal vergehen, und deshalb konnte er ruhig hier sitzen bleiben, während Sauzas hinging und Carlos holte. »Denk nicht daran. Stell dir nichts vor, was du gar nicht getan hast. Das tust du immer, Ramón.« Er sah zu Isabel hinüber.
Auf ihren blassen Lippen erschien ein seltsam sanftes Lächeln, als ob sie einen Augenblick lang gar nichts wahrnähme und ihr gequältes Ich kurze Ruhe gefunden habe,
»Ist es nicht wie ein Spiel, bei dem es keine Gewinner gibt, Teo?« fragte Ramón. »Keiner gewinnt — du nicht und ich nicht, und Carlos und Salvador Infante nicht — nur Sauzas. Bloß die Polizei.«
Theodore erwiderte nichts.
Alle drei schwiegen. Keiner rührte sich, und Isabel saß da wie eine lächelnde Statue, ohne Leben und ohne Atemzug.
1Aus dem Amerikanischen von Anne Uhde (1979)