Geheimauftrag für Geierschnabel
Karl May
1969
1
Inhaltsverzeichnis
Ein Yankee
Neue Gäste
Sir Henry Lindsay
»Lord« Geierschnabel
Das Feuermal der Mixtekas
Ein sonderbarer Wilddieb
Der Spaßvogel
Bei Bismarck
Nachwort
Ein Yankee
Im Westen von Neu-Mexiko liegt eine weite Ebene, in der viele Tagereisen weit kein Baum, kein Strauch zu finden ist. Nur der Kaktus fristet ein einsames, trockenes Leben. Er bildet Felder von ungeheurem Umfang; aber er wird von Menschen wie von Tieren gemieden, denn seine Stacheln sind gefährlich.
Diese Wüste geht im Westen fast bis zum Rio Puercos, der ein Nebenfluß des Rio Grande del Norte ist. An diesem Rio Puercos lag zur Zeit unserer Erzählung, um 1866, das Fort Guadeloupe. In ihm lebte als einziger Warenhändler weit und breit ein aus Deutschland stammender Mann mit Namen Pirnero. Er besaß ein großes Haus und außerhalb des Forts bedeutende Weiden, auf denen er eine Anzahl Vaqueros beschäftigte. Sein Haus hatte, außer dem Erdgeschoß große Kellereien und ein Stockwerk. In den Kellern befand sich seine Niederlassung, im Erdgeschoß waren ein Verkaufsladen und eine Schenkstube, das Stockwerk enthielt Wohn- und Schlafzimmer.
An diesem Morgen war wunderschönes Wetter, das Señor Pirnero, was bei ihm selten geschah, hinaus vor seine Wohnung gelockt hatte. Er schritt langsam die kurze Straße innerhalb des Forts hinab, trat durch das Palisadentor und sah nun die Fluten des Puercos-Flusses vor sich, an dem das Fort Guadeloupe liegt. Während er sich an der Herrlichkeit des Morgens erfreute, bemerkte er auf dem Wasser unterhalb des Forts ein kleines Boot, das sich näherte.
Als es herangekommen war, brummte er vor sich hin:
»Ein Rindenkanu, wie es die Indianer und Trapper haben! Das ist hier eine ungeheure Seltenheit. Es sitzt nur ein Mann darin. Wer mag es sein?«
Jetzt war der Ruderer ganz nahe. Er erblickte Pirnero und lenkte sein Kanu dem Ufer zu. Dort sprang er heraus und zog es mit einem gewandten Ruck aus dem Wasser an das Ufer. Er trug nur eine alte, halbzerrissene Hose und eine Weste, an der sich keine Knöpfe befanden. Da er ohne Hemd war, blieben seine Brust und die braunen, sehnigen Arme vollständig bloß.
Nun aber nahm er einen ledernen Jagdrock und zog ihn an. Dieses Kleidungsstück war früher ein Rock gewesen, jetzt hatte es das Aussehen eines ledernen Schlauches, der jahrelang in einem Teich gelegen hat. Dazu langte er sich noch ein Ding heraus, das früher einmal ein Hut gewesen zu sein schien.
Im Gürtel trug der Mann zwei Revolver, ein Messer und einen Tomahawk, den Tabaksack, den Kugelbeutel und anderes mehr. Aus dem Boot nahm er zuletzt noch eine Büchse. Er tat es so sorgsam, daß man meinte, er müsse sein Schießeisen außerordentlich lieb haben.
Als er sich umwandte, bot er einen eigentümlichen Anblick. Das hagere Gesicht war von Wind, Sonne und Wetter wie Leder gegerbt. Die kleinen, grauen Augen blickten scharf und stechend; die lange, große Nase glich einem Geierschnabel, und doch hatte der Mann etwas an sich, das sofort Vertrauen einflößte.
»Good morning!« grüßte er.
»Guten Morgen«. antwortete Pirnero.
»Das ist Fort Guadeloupe, kalkuliere ich. Viel Militär da?«
»Gar keins.«
»Pfui Teufel! Gibt es ein Store und Boardinghaus hier?«
»Ja, hinter dem Tor das dritte Gebäude.«
»Danke, Sir.«
Der Fremde schritt an Pirnero, der ihn zu sich selbst gewiesen hatte, vorüber und zum Tor hinein. Seine Schritte waren zwar langsam, aber so weit und ausgiebig, wie sie bei guten Westläufern zu sein pflegen. Ein Ungeübter muß Trab laufen, um mit einem solchen Mann, wenn er Schritt geht, mitzukommen. Darum halten solche Jäger die weitesten Fußtouren aus.
»Ein Yankee«, brummte Pirnero.
Als Pirnero zurückkehrte, fand er den Fremden schon bei einem Glas in der Stube sitzend. Der Wirt nahm an seinem Fenster Platz und blickte hinaus. Es herrschte tiefe Stille im Zimmer, die nur durch das ungenierte Ausspucken des Fremden unterbrochen wurde. Solche Leute pflegten zu den leidenschaftlichen Tabakskauern zu gehören.
Pirnero war außerordentlich begierig zu erfahren, wer der Fremde sei. Da dieser aber kein Wort von sich gab. fing er endlich selbst an:
»Herrliches Wetter!«
Der Fremde gab einen grunzenden Ton von sich, dessen Bedeutung man unmöglich erraten konnte. Darum drehte sich Pirnero um und fragte:
»Sagtet Ihr etwas, Señor?«
»Nein, aber Ihr!«
Der gute Pirnero versuchte es nun mit einer weiteren Bemerkung:
»Heute viel schöner als gestern!«
»Pchtichch!« spukte der Fremde aus.
Nun drehte sich Pirnero um und sagte:
»Ich habe Euch nicht verstanden, Señor!«
Der Fremde wälzte seinen Tabakpriem aus der rechten Backe in die linke, spitzte den Mund und spuckte abermals aus.
»Señor«. rief der Wirt, »dort am Schrank steht der Spucknapf!«
»Brauche keinen!« lautete die Antwort.
Das klang so kaltblütig, daß dem Wirt vor Zorn das Blut zu wallen begann. Er beherrschte sich aber und fragte:
»Kommt Ihr von weit her, Señor?«
»Ja.«
»Wo seid Ihr abgefahren Señor?«
»Müßt Ihr das wissen?«
»Nun«, meinte Pirnero einigermaßen verlegen, »man will doch gern wissen, wer bei einem einkehrt. Oder habe ich etwa nicht recht?«
»Pchtsichchchchchch!« spuckte der Fremde abermals aus.
Es verging wieder eine Weile. Der Fremde kaute und trank. Da er fortgesetzt schwieg, begann Pirnero endlich:
»Ihr wolltet nach Fort Guadeloupe?«
»Vielleicht.«
»Habt Ihr hier ein besonderes Geschäft zu besorgen?«
»Pchtsichchchchchch!« spuckte der Gefragte wieder.
Das war dem Wirt zuviel. Er sprang auf und rief erbost:
»Was fällt Euch denn ein, Señor? Ist das eine verständige Antwort auf meine Fragen, he?«
»Ja. Ich komme nicht zu Euch, um mich aushorchen zu lassen. Wenn ich etwas wissen will, werde ich Euch schon selber fragen. Schenkt mir lieber noch einen ein.«
Der Wirt gehorchte. Als er das volle Glas auf den Tisch setzte, sagte er:
»Wollt Ihr diesen Tag und diese Nacht bei mir bleiben? Das wenigstens werde ich wohl fragen dürfen?«
»Will es mir überlegen! Ist man bei Euch sicher? Vor den Indianern zum Beispiel.«
»Vollständig.«
»Vor den Franzosen?«
»Vor denen erst recht. Sie wollten Fort Guadeloupe überrumpeln, sind aber von den Apachen höllisch abgewiesen werden. Sie haben alle Franzosen umgebracht.«
»Alle Wetter! So halten die Apachen es wohl mit dem Präsidenten Juarez?«
»Ja.«
»Was sagen die Comanchen dazu?«
»Die halten es mit den Franzosen.«
»Der Teufel soll sie holen!«
»Ah, Señor, so seid Ihr wohl auch ein Gegner der Franzosen?«
»Das geht Euch den Teufel an. Aber sagt, wo befindet sich Juarez eigentlich?«
»In Paso del Norte, glaube ich.«
»Wie weit ist es von hier bis Paso del Norte?«
»Fünfundzwanzig gute Reitstunden. Ah, Señor, so habt Ihr wohl gar ein geheimes Geschäft mit dem Präsidenten?«
»Pchtsichchchchchduch!«
Aus dem schnell zugespitzten Mund des Fremden schoß die braune Brühe.
»Himmeldonnerwetter, nun habe ich es aber satt!« fluchte Pirnero. »Wenn Ihr nicht sofort dieses Zimmer verlaßt, so werfe ich Euch hinaus, daß Euch alle vierundzwanzig Rippen krachen.«
Pirnero hatte sich in Wut geredet. Er stand mit geballten Fäusten vor dem Fremden, so daß es aussah, als ob er ihn fassen wolle.
»Pah!« sagte der Fremde ruhig. »Macht nicht solchen Lärm. Ob ich dableiben will oder nicht, das ist nicht Eure, sondern meine Sache. Ich habe die ganze Nacht gerudert und bin nun müde. Ich werde einige Stunden schlafen.«
Damit lehnte er seine Büchse an die Wand und legte sich auf die Bank, die sich an der Wand entlangzog. Der Wirt stand eine Weile überlegend da und entgegnete endlich:
»Hm! Ihr seid ein ganz desperater Kerl. So schlaft denn meinetwegen, aber ich hoffe, daß Ihr nicht auch noch im Schlafe spuckt!«
»Nein, wenn ich nicht von neugierigen Fragen träume.«
Der Fremde legte sich auf die Seite. Bereits nach kurzer Zeit merkte man an seinem Atem, daß er eingeschlafen war.
Pirnero hatte sich erregt. Er nahm ein Gläschen Julep zu sich und wollte sich eben wieder ans Fenster setzen, als draußen das Getrappel eines Pferdes hörbar wurde. Ein Reiter sprang herab, band das Pferd an und kam herein. Der schwarze Gerard war es, ein im Westen rühmlichst bekannter Jäger.
Als Pirnero ihn erblickte, erhob er sich und rief, auf den Jäger zueilend:
»Ah, Señor Gerard! Gott sei Dank! Wir haben rechte Angst um Sie gehabt. Ich werde meine Tochter Resi rufen.«
Aber das war nicht nötig, denn diese hatte die Stimme Gerards erkannt, trat mit freudestrahlendem Gesicht herein und reichte ihm die Hand.
»Willkommen!« sagte sie. »Ist der Kriegszug glücklich abgelaufen?« Ihr Blick streifte dabei mit Besorgnis Gerards Gestalt.
»Es ist mir kein Haar gekrümmt worden«, antwortete er.
»Gott sei Dank!«
»Ja. Gott sei Dank! Aber ich wünschte, daß wir das auch morgen oder übermorgen sagen können. Ich komme, um Euch auf eine große Gefahr aufmerksam zu machen. Die Franzosen haben erfahren, daß ihre Kompagnie, die sie gegen uns schickten. vernichtet werden ist. Nun sind sie mit dreifacher Stärke aufgebrochen, um sich zu rächen. Sie sind bereits nach Fort Guadeloupe unterwegs.«
Resi erbleichte. Ihr Vater aber schlug die Hände zusammen und rief:
»Mein Gott, ist das wahr?«
»Ja, wir wissen es ganz sicher. Aber die Hilfe ist bereits unterwegs. Juarez selbst.«
»Juarez selbst? Hat er die Apachen bei sich?«
»Ja.«
»Ah, dann sind wir gerettet!«
»Jubeln wir nicht zu früh! Es gilt zunächst, den Feind nicht in das Fort zu lassen, damit Juarez und die Apachen Zeit haben, um heranzukommen und ihn aufzureiben. Ich komme als Bote von Juarez. Ich soll hier die Verteidigung leiten. Juarez befiehlt, daß jeder Einwohner sich bewaffne, um den Feind abzuweisen.«
»Aber Señor, ich habe ja noch nicht einmal auf Hasen geschossen!«
»Ein Mann ist leichter zu treffen, Senior.«
»Solche Leute braucht man überhaupt nicht!« klang es aus der Ecke.
Gerard drehte sich um. Er hatte den Schlafenden noch nicht bemerkt. Dieser war während des Gesprächs erwacht und hatte alles vernommen. Jetzt saß er aufgerichtet auf seiner Bank. Gerard betrachtete ihn aufmerksam, trat auf ihn zu und sagte:
»Verzeiht, Señor! Darf ich fragen, wer Ihr seid?«
Der Fremde nickte bedächtig, schob den Priem von einer Seite seines Mundes zur anderen und antwortete:
»Ich habe Gründe. meinen Namen nicht eher zu nennen, als bis ich den Eurigen weiß. Wie sagtet Ihr doch gleich? Juarez hat Euch geschickt? Ihr haltet es mit ihm und nicht mit diesen verdammten Franzosen?«
»Ja. Ihr habt richtig gehört.«
»Nun, dann seid so gut und sagt mir doch einmal, wer Ihr seid?«
»Das könnt Ihr erfahren. Man nennt mich den schwarzen Gerard.«
Da fuhr der Fremde von der Bank empor, als ob er auf einer großen Spannfeder gesessen hätte, kniff die Augen zusammen und rief:
»Donnerwetter! Dann ist alles gut. Ich kenne Euren Namen. Ich habe schon längst gewünscht, Euch einmal zu sehen. Ihr seid ein Kerl, vor dem man Respekt haben muß und mit dem man sich nicht zu schämen braucht. Hier habt Ihr meinen Vorderfuß, gebt mir den Eurigen. Wir wollen sie uns drücken!«
Er streckte Gerard die Hand entgegen. Dieser zögerte aber, einzuschlagen.
»Ihr scheint im Bekanntschaft-Anknüpfen wählerisch zu sein«, entgegnete er. »Ich bin es auch. Ihr kennt jetzt meinen Namen. Wie ist der Eurige?«
»Ah, das hätte ich bald vergessen«, lachte der andere. »Mein eigentlicher Name ist Euch nicht bekannt; ich selbst habe ihn bereits halb und halb vergessen. Aber da haben mir die Rothäute einen Namen gegeben, den Ihr wohl schon gehört haben werdet. Er klingt freilich nicht allzu schön, aber ich hoffe, ihn zu Ehren gebracht zu haben. Ich will mir einmal den Spaß machen und ihn nicht nennen. sondern Euch raten lassen. Seht mich einmal an, Master Gerard.«
»Das wird nicht viel helfen, Señor«, antwortete Gerard. »Bis jetzt bemerke ich nur, daß Ihr jedenfalls ein Amerikaner seid.«
»Ein Yankee, wollt Ihr sagen? Ja, das bin ich. Ihr guckt Euch den ganzen Kerl an, und das ist falsch. Seht nur in meine Visage!«
Der Hagere deutete mit den beiden Zeigefingern auf sein Gesicht. Gerard konnte nicht raten. Er schüttelte den Kopf.
»Noch immer nicht?« sagte der Fremde. »Nun, so will ich es Euch leichter und deutlicher machen. Seht Euch einmal nichts weiter an als meine Nase. Wie gefällt sie Euch?«
»Hm, das Wachstum ist nicht übel. Wenn ich richtig rate, dann seid Ihr einer der bekanntesten Fallensteller und Pfadfinder der Union, und ich werde mich herzlich freuen, Euch die Hand drücken zu dürfen. Señor.«
»Geht mir mit Eurem Señor! Sagt meinen Namen!«
»Man hat Euch ›Geierschnabel‹ genannt?«
»Na, endlich! Ja, ich bin der Kerl, der diesen Namen mit sich herumschleppt. Wollt Ihr nun noch meinen Vorderfuß zurückweisen?«
»O nein!« rief Gerard erfreut. »Hier, meine Hand!«
Geierschnabel war bekannt als einer der besten, aber auch originellsten Jäger des Westens. Gerard empfand eine aufrichtige Freude, ihn hier persönlich zu treffen, und drückte ihm die Freundeshand mit ungeheuchelter Herzlichkeit.
»Aber was führt Euch eigentlich nach Fort Guadeloupe?«
»Davon sprechen wir vielleicht später. Für jetzt mag die Bemerkung genügen, daß ich Juarez suche. Vor allen Dingen ist es notwendig, über die Gegenwart zu reden. Ich bin jetzt hier im Fort und fühle daher die Verpflichtung, es mit zu verteidigen.« Und sich an Pirnero wendend, fragte er diesen: »Ihr wollt also keinen Franzosen totschießen?«
»Nein, nein! Ich bringe es nicht fertig!«
»Aber den Mut, Gäste hinauszuwerfen, den habt Ihr! Na, ich will Euch das nicht nachtragen. Bleibt ruhig auf Eurer Matratze liegen und kaut Lorbeerkränze; ich werde an Eure Stelle treten.«
Da faßte Pirnero seine Hand und rief:
»Señor, ich danke Euch! Wollt Ihr das wirklich tun? Oh, dann gebe ich Euch die Erlaubnis, soviel zu spucken, wie Ihr wollt!«
___________
Während man auf Fort Guadeloupe den Angriff der Franzosen erwartete, bewegte sich auf der Straße, die von Chihuahua nach El Paso del Norte geht, eine bemerkenswerte Reisegesellschaft. Es waren der deutsche Arzt Dr. Sternau und seine Begleiter. Sie waren vor kurzem erst einem furchtbaren Schicksal entronnen.2
In Guyamas, wo sie gelandet waren, hatten sie gehört, daß Mexiko von den Franzosen besetzt sei, daß der Bürgerkrieg wüte und man Gefahr laufe, auf eine der Banden zu stoßen, die raubend und mordend das Land durchzogen. Darum hatten sie vor allen Dingen für eine gute Bewaffnung gesorgt.
Die Karawane bot deshalb einen kriegerischen Anblick. Sie war auch mit guten Pferden und kräftigen, ausdauernden Packtieren versehen. Sogar die beiden Damen waren ausreichend bewaffnet, und unter den Männern befanden sich einige, die zu den berühmtesten Jägern gehörten. Deshalb brauchten sie vor dem Kommenden eigentlich keine Sorge zu haben. Aber da man sich in der Nähe der indianischen Weideplätze befand, war Vorsicht notwendig. Daher war Sternau mit Bärenherz vorangeritten, um sich keine Spur entgehen zu lassen. Sie befanden sich zwar in der offenen Prärie, aber hier und da war noch ein Gebüsch zu sehen, das die Aussicht verdeckte.
Als sie ein solches Buschwerk umritten, hielten sie augenblicklich, denn fast wären sie mit einem Reiter zusammengestoßen. Auch er parierte sein Pferd, augenscheinlich ebenso überrascht wie sie.
Es war ein kleiner Kerl in einem Trapperanzug. Er machte ganz den Eindruck eines Mannes, der in diese wilde Gegend gehörte, zumal er außerordentlich gut beritten war.
»Thounds, Donnerwetter!« rief er englisch. »Wer seid Ihr?«
Sternau hatte sich in Guyamas neu eingekleidet, und da dort nichts anderes zu finden gewesen war, so trug er, wie alle seine Begleiter, auch Bärenherz und Büflelstirn, die in Mexiko gebräuchliche Tracht.
Deshalb mußte der Mann die beiden für Mexikaner halten. Er hatte im Nu die Büchse erhoben und hielt sie zum Schuß bereit.
»Good day!« antwortete Sternau, ebenso in englischer Sprache. »Ihr fragt uns, wer wir sind. Wir aber sind zwei und haben also wohl das Recht, diese Frage zuerst auszusprechen. Also, wer seid Ihr, Señor?«
Der Kleine mußte an der hohen Gestalt Sternaus emporblicken, aber es zeigte sich nicht die leiseste Spur von Furcht in seinem Gesicht, und er antwortete bereitwillig:
»Ihr habt recht, Señor. In der Prärie haben zwei gegen einen die Vorhand, obgleich ich mir den Teufel daraus mache, ob ich einen oder fünf gegen mich habe. Übrigens brauche ich mich meines Namens nicht zu schämen. Habt Ihr vielleicht einmal von einem Jäger gehört, äden man den kleinen André nennt?«
»Nein.«
»Hm, so seid Ihr wohl nicht aus dieser schönen Gegend hier?«
»Allerdings nicht.«
»Dann läßt sich das Ding erklären. Dieser kleine André bin ich, heiße aber eigentlich Andreas Straubenberger.«
»Straubenberger?« fragte Sternau überrascht. »Das ist ja ein deutscher Name!«
»Ja, ich bin Deutscher.«
»Gut, so nehmen Sie in Gottes Namen Ihre Büchse herunter« meinte Sternau in deutscher Sprache. »Auch ich bin ein Deutscher.«
»Sie sind auch ein Deutscher? Welche Freude! Und ich wollte Sie erschießen!«
»Das wäre Ihnen denn doch ein wenig schwer geworden«, meinte Sternau lachend.
»Oh, Sie sind lang und breit genug«, meinte der Kleine lustig. »Einen Fehlschuß hätte ich also gar nicht tun können. Aber, woher kommen Sie, und wohin wollen Sie?«
»Wir kommen von der Küste und wollen entweder nach Paso del Norte oder nach Fort Guadeloupe, ganz, wie es sich finden wird.«
»Zu wem in Paso del Norte?«
»Zu Juarez.«
»Aber Juarez werden Sie in Paso del Norte nicht mehr finden.«
»Nicht? Wo sonst?«
»Hier oder da im Walde oder in der Prärie.«
»Sie kennen den Ort und wollen ihn mir verschweigen!«
»Das ist richtig, denn ich kenne Sie noch nicht.«
»Mein Name ist Sternau.«
»Sternau?« fragte der Kleine nachdenklich. »Hm, ist mir doch, als ob ich diesen Namen bereits gehört hätte. Ah, ja! Ein Sternau ist auf der Hazienda del Erina gewesen und dann vor Jahren mit einigen anderen spurlos verschwunden.«
»Dieser Sternau bin ich.«
»Da wären Sie ja der berühmteste Kerl, den man in der Savanna kennt.«
»Inwiefern?« fragte Sternau lächelnd.
»Inwiefern? Weil jener Sternau der famose Jäger war, der von allen Westmännern und Rothäuten der Fürst des Felsens genannt wurde.«
»Sie meinen Matavase? Der bin ich.«
Das war dem Kleinen denn doch zuviel.
»Aber Sie sollen ja verschollen sein!« rief er, ganz bestürzt.
»Richtig! Doch jetzt komme ich wieder.«
»Kaum glaublich! Wissen Sie, mit wem Sie verschwunden sein sollen?«
»Natürlich! Ich muß das ja am besten wissen.«
»Nun, mit wem?«
»Ah, Sie wollen mich examinieren, um zu sehen, ob ich wirklich die Wahrheit rede?«
»Ja«, entgegnete André aufrichtig. »Es wäre ja ein wahres Wunder, wenn der Fürst des Felsens so unerwartet wiedererschiene, und sogar hier bei uns. Oh, wir könnten ihn sehr gut gebrauchen. Ah, wer ist das? Wer sind die?«
Jetzt waren nämlich die anderen näher herangekommen.
»Das sind eben die, mit denen ich verschwunden war. Der mit mir kam und neben mir steht, ist Bärenherz, der Häuptling der Apachen.«
»Donnerwetter!« rief der Kleine, den Häuptling mit weitaufgerissenen Augen betrachtend.
»Der dort als erster geritten kommt, ist Büffelstirn, der Häuptling der Mixtekas.«
»Kreuzmillion!«
»Hinter ihm reiten zwei Brüder. Der eine ist der Schwiegersohn des Haziendero del Erina, wenn Sie von ihm gehört haben.«
»Donnerpfeil?«
»Ja.«
»Halten Sie ein! Sonst bleibt mir der Verstand stehen! Welch ein Zusammentreffen! Welch eine Begegnung! Das hätte ich mir nicht träumen lassen!«
»Glauben Sie nun, daß ich der richtige Sternau hin?«
»Ja, gern und gewiß. Diese verteufelte mexikanische Tracht hat mich irregemacht. Verzeihen Sie! Hier meine Hand. Lassen Sie uns absteigen, ich habe Ihnen einiges zu sagen, was von Interesse für Sie ist.«
André sprang vom Pferd. Sternau und Bärenherz folgten ihm.
Jetzt waren auch die anderen herangekommen. Sie alle stiegen ab und lagerten sich im Gras, während die Pferde frei weiden durften. André sah sich zu seinem Erstaunen auch zwei Damen gegenüber. Sein Auge wurde jedoch besonders von dem Äußeren eines alten Mannes angezogen, dessen schneeweißes Haar auf die Schultem herabwallte, während sein Bart bis zum Gürtel ging. Es war der Graf Don Ferdinando.
»Also, welche Nachricht bringen Sie uns?«
»Zunächst die, daß Juarez sich nicht mehr in Paso del Norte befindet. Er befindet sich nicht weit von hier. Aber da muß ich Sie erst fragen: Mit wem halten Sie es, mit den Franzosen oder mit den Mexikanern?«
»Mit jenen ebensowenig wie mit diesen. Da Sie von mir gehört haben, wird Ihnen wohl bekannt sein, daß ich nie Partei zu ergreifen pflege.«
»Ja, es ist wahr, das habe ich gehört, und das genügt mir. Sie müssen nämlich wissen, daß die Franzosen Chihuahua besetzt halten. Sie sandten eine Kompagnie aus, um Fort Guadeloupe zu erobern: Aber diese Kompagnie wurde von den Apachen vollständig aufgerieben.«
»Uff!« rief Bärenherz, als er das Wort Apachen hörte.
»Der Anführer der Apachen war Bärenauge.«
»Bärenauge? Wer ist das?« fragte der Häuptling äußerst gespannt.
Der Indianer empfängt nämlich seinen eigentlichen Namen erst, wenn er Krieger geworden ist. Als Bärenherz seinen Bruder zum letzten Male gesehen hatte, war dieser noch ein Knabe ohne Namen und Berühmtheit gewesen. Dies ahnte der kleine André; darum erklärte er in der Ausdrucksweise der Indianer:
»Als Bärenherz so schnell verschwunden war, hatte er einen jungen Bruder. Dieser wurde ein berühmter Krieger. Weil er seinen Bruder Bärenherz suchte, nannte er sich Bärenauge. Jetzt ist er der tapferste und berühmteste Häuptling der Apachen. Bärenauge führte die Apachen, die die Franzosen vernichteten.«
»Ja, es ist mein Bruder!« antwortete Bärenherz kurz, aber mit sichtlichem Stolz.
Der Indianer streckte André die Hand entgegen, die dieser ergriff und drückte, stolz darauf, die Bekanntschaft dieses berühmten Apachen zu machen.
»Wo ist Juarez zu finden?« fragte Sternau.
»Irgendwo südlich vom Fort. Er ist den Franzosen entgegengezogen.«
»Dann werden wir sicher auf seine Fährte treffen, wenn wir von hier aus in gerader Richtung auf Fort Guadeloupe reiten.«
Deshalb stieéen die Reiter und Reiterinnen sofort wieder zu Pferde.
»Es wird gut sein, unsere Tiere jetzt anzustrengen«, sagte Sternau. »Wenn wir die Fährte der Apachen finden wollen, so gilt es, sie noch bei Tageslicht zu erreichen; dann können wir ausmhen. Also Galopp!«
Die kleinen zähen Pferde jener Gegenden leisten beinahe Unglaubliches So kam es, daß sie bis zum Abend aushielten, an dem man die Sierra del Chanate erreicht hatte.
Wo diese Sierra mit den Teufelsbergen zusammenstößt, liegt der Paß, wo jene französische Kompagnie vernichtet werden war. Noch war dieser Paß nicht erreicht, sondern man sah nur seine Öffnung, die er im Westen zur Prärie hin bildet, als Bärenherz sein Pferd anhielt und sich beobachtend zum Boden herabbeugte.
Sternau ritt heran und beobachtete das Gras. Es war niedergetreten. Er bemerkte eine Fährte, die so schmal war, als ob nur ein einziger Reiter dort geritten sei: Aber erfahrene Westmänner lassen sich dadurch nicht täuschen.
»Der Weg der Apachen«, sagte Sternau.
»Hier sind meine Krieger geritten«, bestätigte Bärenherz, indem sein Auge aufleuchtete.
»Was wird mein Bruder tun?« fragte Sternau.
»Er wird der Stimme seines Herzens folgen«, sprach der Apachenhäuptling. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, zog er sein Pferd herum und sprengte im Galopp davon, nach Süden, der Fährte nach, die sich hart am Fuße der Sierra hinzog.
»Wohin will er?« fragte Graf Ferdinando besorgt.
»Er folgt seinen Apachen«, antwortete Sternau.
»Meinen Sie, daß wir ihm nicht nachreiten sollten?«
»Nein. Wir werden uns zum Fort Guadeloupe begeben, zuvor aber an irgend einem Platz übernachten.«
»Und Bärenherz?«
»Lassen Sie ihnen! Er ist ein Indianer und kennt unsere Lage. Er wird ganz sicher auf irgendeine Weise wieder zu uns finden.«
Neue Gäste
In der Schankstube von Fort Guadeloupe waren der Wirt Pirnero seine Tochter Resi, Geierschnabel und der schwarze Gerard beisammen, als draußen vielfacher Hufschlag erscholl. Die Tür wurde geöffnet, und die Gäste traten ein. Es waren Sternau und seine Begleiter. Die Augen der drei Anwesenden hingen mit Bewunderung an seiner Gestalt.
Hinter ihm kam der alte Graf, der ebenso die Blicke auf sich zog. Die beiden Damen waren verschleiert. Die Eintretenden hatten ein so vornehmes Aussehen, daß sich der Wirt tief verbeugte. Gerard zog sich mit Geierschnabel bis in die hinterste Ecke zurück.
»Ihr seid der Wirt?« fragte Sternau Pirnero.
»Ja Señor.«
»Habt Ihr Raum für uns alle?«
»Oh, Zimmer sind genug vorhanden. Señor, auch ein großes, das als Salon benutzt werden könnte.«
»Und die Pferde?«
»Sie werden gute Stallungen und Pflege haben«, versprach Pirnero, »aber die Pflicht gebietet es mit, Euch auf eine große Gefahr aufmerksam zu machen: die Franzosen stehen im Begriff, das Fort zu überfallen.«
»Woher wißt Ihr das?«
»Juarez hat uns jenen Se nior gesandt, der das Fort verteidigen soll, bis die Apachen kommen.«
Sternau sah die beiden Männer, die sich in ihrer Ecke erhoben hatten, an. Über sein Gesicht zuckte ein leises Lächeln.
»Wie heißt der Señor, den Ihr meint?« fragte er den Wirt.
»Es ist der schwarze Gerard.«
Da schritt Sternau auf die beiden zu, grüßte leicht und sagte:
»Wenn ich mich nicht irre, sehe ich hier Leute, die sich nicht vor den Franzosen fürchten, sondern das Fort verteidigen werden.«
»Woraus schließt Ihr das, Señor?« fragte Gerard.
»Ich denke, daß Geierschnabel keinen Franzosen den Rücken kehren wird.«
»Was, Ihr kennt mich, Sir?« fragte der Genannte ganz erstaunt.
»Aus früherer Zeit, als Ihr Eure ersten Trappergänge machtet. Ein Gesicht wie das Eure kann man nicht vergessen.«
Geierschnabel wollte seiner Verwunderung Ausdruck geben, da erscholl von der Küche her ein lauter Ruf. Ein Vaquero, der von der Hazjenda del Erina herübergekommen war, hatte aus Neugierde die Küchentür geöffnet, um die Gäste zu sehen. Jetzt stand er mit weitoffenen Augen dort und starrte Sternau an.
»Señor Sternau, oh, Señor Sternau!«
Dieser streckte ihm die Hand entgegen und sagte: »Du erkennst mich wirklich, Antonio?«
»Oh, wer soll Euch nicht erkennen. Euch, den Retter und Wohltätér der ganzen Hazienda del Erina!«
»Donnerwetter, Sternau, der Fürst des Felsens!« klang es aus dem Munde von Geierschnabel. »Darum hat er mich erkannt!«
»Sternau! Doktor Sternau!« rief auch Gerard.
Nun gab es ein gegenseitiges Bekanntmachen, teilweise auch ein freudiges Wiedersehen. Als der Name Mariano fiel, fragte Geierschnabel überrascht: »Sie sind Mariano?«
»Ja«, antwortete dieser. »Kennen Sie meinen Namen?«
Nun kam der Yankee eilig herbei und antwortete: »Gut, sehr gut kenne ich ihn. Eine Engländerin hat ihn mir genannt.«
»Eine Engländerin?« fragte Mariano rasch. »Wie heißt sie?«
»Amy Lindsay.«
Da faßte Mariano den Sprecher heim Arm, als ob er ihm diesen zerdrücken wolle, und rief, fast zitternd vor Aufregung:
»Mensch, Sie kennen sie?«
»Sie und ihren Vater, den Lord.«
»Wo haben Sie die beiden gesehen? In England?«
»Nein, hier in Amerika. Unten an der See, in El Refugio, am Ausfluß des Rio Grande del Norte.«
»Mein Gott, sie sind hier in Mexiko! Was taten sie in El Refugio?«
»Das ist eigentlich ein Geheimnis; aber wie die Sachen hier stehen kann oder vielmehr muß ich davon sprechen.«
»Sprechen Sie getrost, Sir, es wird Ihnen keinen Schaden bringen.«
»Ich wurde dem Lord als Führer empfohlen«, erklärte Geierschnabel. »Er ist als englischer Bevollmächtigter in Mexiko. Er hatte große Vorräte von Waffen und Munition gelandet, ohne daß die Franzosen es bemerkt haben. Er bringt auch viel Geld mit. Das alles soll den Rio Grande del Norte heraufgeschifft werden …«
»Für wen?« unterbrach ihn Sternau.
»Für Juarez«. antwortete der Amerikaner. »Ich bin vorausgeschickt worden, um dem Präsidenten die Ankunft dieser Dinge zu melden und dabei zu fragen, an welchem Ort er sie abzuholen wünscht.«
»Ah, und der Lord ist selbst mit dabei?« fragte Mariano.
»Ja; er leitet alles selbst.«
In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Bärenherz trat ein. Niemand hatte den Tritt seines Pferdes vernommen. Er begriff die Szene mit einem einzigen Blick und trat auf Sternau zu.
»Was wird mein weißer Bruder tun?« fragte er. »Wird er am Kampf dieses Landes teilnehmen?«
»Ich bin dein Freund«, entgegnete Sternau. »Dein Feind ist mein Feind.«
»So mag mein weißer Bruder die Waffen ergreifen, denn die Franzosen kommen bald.«
»Hast du Bärenauge gesehen?«
»Nein. Ich habe keinen Sohn der Apachen gesehen. Ich ging ihren Spuren nach. Da traf ich ihre Fährte mit der der Franzosen zusammen, die nach Osten gezogen waren. Die eine Fährte war nur den vierten Teil eines Tages alt, und die andere war um eine Stunde jünger. Die Söhne der Apachen sind also hart hinter den Franzosen.«
»Mein roter Bruder hat ihre Spur dann nicht weiter verfolgt?«
»Nein. Ich mußte schnell hierher zum Fort reiten, um zu melden, daß sie kommen.«
»Haben sie Kanonen mit?«
»Nein, sie haben keine Schießwagen bei sich.«
»So wollen wir sehen, was sich tun läßt. Wann werden sie das Fort erreichen?«
»Es wird kaum mehr als eine Stunde vergehen.«
Da winkte Sternau Gerard herbei. Die beiden Männer begaben sich rasch fort, um die Verteidigungsmittel in Augenschein zu nehmen. Das Fort war klein und stand am Ufer des Flusses auf einer schmalen, steil abfallenden, felsigen Anhöhe, zu der ein gewöhnlicher Reitweg emporführte. Es besaß nur einen Palisadengürtel, war aber seiner Lage wegen leicht zu verteidigen, wenn es nicht mit Kanonen oder einer gar zu großen Übermacht angegriffen wurde.
Versammelt hatten sich mit einigen Vaqueros kaum zwanzig bewaffnete Männer, doch schien dies genug, dreihundert Franzosen für einige Zeit im Zaum zu halten.
Die heranrückenden Franzosen waren zu Pferde; selbst ihre Fußtruppen waren beritten. Sie kamen im Galopp näher und hielten in der Nähe des Forts. Ungefähr fünfzig Mann aber trennten sich augenblicklich ab und setzten den Weg im Trab fort, auf das Palisadentor zu.
Zu gleicher Zeit blitzten Schüsse durch die Lücken der Palisaden. Hinter ihnen standen ja Leute, die mit Gewehren umzugehen verstanden. Ihre Kugeln waren nur auf die Reiter gerichtet, die augenblicklich von den Pferden stürzten. Die reiterlosen und durch Schüsse erschreckten Tiere bäumten und überwarfen sich. Es entstand ein fürchterlicher Wirrwarr, in den hinein immer neue Schüsse krachten. Das alles war so schnell gegangen, daß die Franzosen, die noch unverletzt waren, kaum Zeit fanden, umzukehren und sich durch die Flucht zu retten.
Gerard stand neben Sternau. Sein Gewehr tauchte vom letzten Schuß. »Das war ihnen eine Lehre«, sagte er. »Wenn sie klug sind, kommen sie nicht wieder.«
»Sie werden leider nicht so klug sein«, meinte Sternau. »Sehen Sie, daß die Geflohenen bei dem Hauptteil der Truppe stehen, um sich zu beraten?«
»Ja, und sehen Sie da draußen am Rand des Gebirges sich etwas vollziehen?«
»Ah, die Apachen!« meinte Sternau.
»Sie werden einen Halbkreis bilden, um den Feind zu umzingeln.«
»Daun brauchen sie immerhin eine Viertelstunde, wenn sie den Feind nicht vor der Zeit auf sich aufmerksam machen wollen.«
»Oh, die Franzosen bemerken nichts; sie stehen zu tief«, meinte Gerard. »Sie scheinen übrigens jetzt einen Entschluß gefaßt zu haben.«
»Sie wollen stürmen«, sagte Mariano, der in der Nähe stand.
Er hatte recht. Die Franzosen stiegen ab, führten die Pferde zurück und griffen zu den Bajonetten, die sie aufsteckten.
Die Besatzung des Forts war nur ein Häuflein, aber Männer wie Sternau, Gerard, Geierschnabel, Büffelstirn und andere zählen ja mehr als fünf- oder zehnfach. Noch hatte der Feind nicht den Fuß des Felsens erreicht, da begannen sich seine Reihen zu lichten. Aber er drang unaufhaltsam vor.
Als die Franzosen den Felsen zu erklimmen versuchten, zeigte es sich, welch eines mörderischen Feuers die berühmten Jäger fähig waren. Noch war es trotz ihrer Überzahl nicht einem Franzosen gelungen, bis an die Palisaden vorzudringen, da ertönten die Hornsignale, um sie zurückzurufen. Bis dahin hatten sie nicht bemerkt, was hinter ihnen vorging. Jetzt sahen sie zu ihrem Entsetzen einen weiten Halbkreis wilder Reiter in rasendem Galopp auf sich zugesprengt kommen.
Hinter der Kampfeslinie hielt, hoch zu Roß, mit einem Reitertrupp, Präsident Juarez. Seine Augen ruhten glühend auf den Kämpfenden. Noch etwas weiter rückwärts standen etwa sechzig weiße Jäger. Es waren kräftige Gestalten, die er aus den Vereinigten Staaten angeworben hatte. Sie waren bisher noch nicht am Kampf beteiligt, da Bärenauge das Recht, die Skalpe der Franzosen zu erwerben, für sich und seine Apachen in Anspruch genommen hatte.
Bärenauge hatte sich im Mittelpunkt des Halbkreises befunden, den die Angreifenden bildeten. Er war siegreich durch die Reihen der Franzosen gedrungen und hatte sich dann wieder umgedreht, mit dem Tomahawk einen nach dem anderen vor sich niederschlagend. Hoch zu Roß sah er einem Kriegsgott ähnlich, gegen den es keinen Widerstand gab.
Plötzlich sah er einen Indianer, einen Apachen, der ihm vollständig unbekannt, aber mit den Abzeichen eines hohen Häuptlings versehen war, vom Fort her angaloppiert kommen. Er zügelte verblüfft sein Pferd, und im nächsten Augenblick hielt der andere vor ihm. Sie konnten die Gesichtszüge gegenseitig nicht erkennen, da beide mit den Farben des Krieges bemalt waren; aber der Herankommende fragte:
»Du bist Bärenauge, der Häuptling?« :
»Ja«, nickte der Gefragte.
»Du bist ein tapferer Krieger. Aber siehst du nicht, daß deine Krieger umsonst kämpfen?«
Der Sprecher deutete mit diesen Worten auf die Vierecke hin. Bärenauge folgte diesem Wink.
»Uff!« rief er. »Aber wer bist du?« ’
»Ich bin Bärenherz. dein älterer Bruder. Vorwärts!«
Dabei warf ersein Pferd herum und ritt weiter. Er handelte ganz als Indianer. Der Kampf ging jetzt vor. Er verschob jede Wiedererkennungs- und Freudenszene auf später, um seine Pflicht als Häuptling und Krieger zu erfüllen.
Bärenauge war, trotz der Selbstbeherrschung, die den Indianern eigen ist, für einen Augenblick fast starr vor Erstaunen; dann aber sprengte er dem Bruder nach.
Bärenherz hatte den Seinen Bahn gebrochen. Die Apachen waren durch das Erscheinen ihres vor so langen Jahren verschwundenen Häuptlings förmlich elektrisiert worden. Sie sahen nicht die Waffen der Feinde, sie achteten nicht auf den Widerstand, der ihnen entgegengesetzt wurde. Sie mußten das Wiedererscheinen des großen Häuptlings mit einem vollständigen Sieg feiern.
Die Franzosen wurden wie Halme niedergemäht und die Fliehenden sicher von den ihnen nachjagenden roten Reitern erreicht und nieder— gehauen. Es war vorauszusehen, daß nur wenige entkommen würden.
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Nachdem der letzte Franzose gefallen war, ritten der indianische Expräsident Juarez mit den beiden Apachenhäuptlingen zum Fort.
»Ich muß nach diesem Sieg nach Chihuahua, um die Franzosen auch dort zu vertreiben. Vorher aber wollen wir uns bei Pirnero ausruhen.«
Als Juarez abstieg, kam Pirnero aus dem Laden und wollte in die Gaststube hinüber, trat aber beim Anblick der drei Reiter vor die Tür. Juarez hatte ein scharfes Auge, er taxierte Pirnero sofort als Wirt.
»Seid Ihr Señor Pirnero? Ich heiße Juarez.«
Da riß der Wirt den Mund und die Augen weit auf und fragte:
»Señor Juarez. der Präsident? Oh, welch ein Heil widerfährt meinem Hause! Tretet ein, tretet ein, Señor!«
»Das Heil, das Eurem Hause widerfährt, rührt mich wenig, lieber wäre mir, wenn in Eurem Hause mir Heil widerfahren würde. Habt Ihr ein Zimmer für mich?«
»Oh, einen Salon!«
»Kann ich essen und. schlafen?«
»So gut, wie in der Hauptstadt selbst.«
»So führt mich in das Zimmer und sorgt für mein Pferd.«
Nachdem Pirnero mit vielen Verbeugungen Juarez in das beste Zimmer geführt hatte, eilte er hinunter, um in der Küche für die Verpflegung des hohen Gastes zu sorgen. Dabei begegnete ihm Geierschnabel, der Yankeejäger. Sein Gewand war mit Blut bedeckt, ein deutliches Zeichen, daß er sich wacker am Kampf beteiligt hatte. Er hatte ganz das Aussehen eines Mannes, der die Gefahr nicht gescheut, sondern sich tüchtig mit den Feinden herumgebalgt hat. Pirnero blieb stehen und betrachtete ihn von Kopf bis Fuß.
»Herrgott, wie seht Ihr aus!« rief er.
Der Amerikaner warf ihm einen nicht sehr höflichen Blick zu und antwortete: »Ich kalkuliere, daß ich anders aussehe als einer, der in der Stube blieb, während die Kugeln um unsere Köpfe pfiffen. Ihr versteht mich doch, Master? Übrigens habe ich soeben gehört, daß Präsident Juarez bei Euch ist.«
»Ja, oben in seinem Zimmer.«
»Ich habe mit ihm zu sprechen. Wollt Ihr mir sagen, wo das Zimmer ist?«
»Ich werde Euch führen. Folgt mir, Señor Geierschnabel.«
Bei Juarez befanden sich schon in lebhaftem Gespräch Sternau und Mariano, der Verlobte von Amy Lindsay. Ihre Unterhaltung wurde durch Pirnero unterbrochen, der die Tür öffnete. Mariano fragte nach seinem Begehr.
»Dieser Señor Geierschnabel wünscht den Señor Präsidenten zu sprechen«, antwortete der Wirt, indem er sich zurückzog.
Juarez trat einige Schritte vor und fragte: »Geierschnabel, der Wegweiser? Kommt Ihr in geheimer Angelegenheit?«
»O nein«, antwortete der Gefragte. »Diese Herren wissen ja bereits. was ich Ihnen zu sagen habe, Sir.«
»So tretet hier ein. Setzt Euch. Señor«, sagte er, auf einen Stuhl deutend. »Ich vermute, daß Ihr eine Botschaft für mich habt.«
»Sie haben richtig geraten. Sir. Es ist wirklich eine Botschaft, die ich an Sie auszurichten habe.«
»Von wem?« fragte Juarez.
»Von einem Engländer.«
»Ah, ich erwarte allerdings von einem solchen eine Botschaft.«
»Ich kalkuliere, daß es die ist, die ich bringe.«
»Wie heißt dieser Engländer, Señor?«
»Es ist Sir Henry Lindsay, Graf von Nothingwell. Ich soll Ihnen sagen, daß er Ihnen von Herzen ergeben und zu jedem Dienst bereit sei. Daß dies aber nicht eine leere Redensart ist, beweist er durch die Tat, indem er im Begriff steht, Ihnen einen Besuch abzustatten.«
»Seinen Besuch? Wo befindet er sich?«
»In El Refugio an der Mündung des Rio Grande del Norte!«
Da erhob sich der Präsident schnell von dem Stuhl und sagte: »In El Refugio? Oh, von dorther soll ja die erwartete Botschaft kommen!«
»Ich habe eine Unterhaltung belauscht, aus der ich hörte, daß er sich in London die größte Mühe gegeben hat, für Sie zu Wirken. Er ist auch in Paris, Berlin und Wien gewesen, um in Ihrem Interesse tätig zu sein. Er hat viel dazu beigetragen, daß England seine Drohung mit der der Vereinigten Staaten gegen Frankreich vereint. Jetzt ist er des Erfolges so gewiß, daß er behauptet, die Zeit sei nahe, da Frankreich gezwungen sein werde, seine Truppen aus Mexiko zu entfernen.«
Da schlug Juarez die Hände zusammen und sagte tief aufatmend:
»Wenn dies doch bald der Fall wäre!«
»Tragen Sie keine Sorge!« entgegnete der Jäger in bestimmtem Ton. »Sir Henry gab mir den Auftrag, Ihnen an seiner Stelle die tröstliche Versicherung zu geben, daß England und Amerika sich, falls die Franzosen nicht freiwillig gehen, vereinigen werden, sie mit Gewalt fortzutreiben, um dem Präsidenten Juarez Gerechtigkeit zu verschaffen.«
Da streckte der Präsident dem Boten die Hand entgegen und sagte:
»Hier, nehmt meine Hand, Señor. Diese Botschaft ist mir lieber als viele Millionen in klingender Münze, obgleich mir das Geld sehr notwendig ist.«
Geierschnabel drückte die dargebotene Hand und erwiderte:
»Keine Sorge, Sir! Für Geld wird auch gesorgt!«
»Dann wären meine Erwartungen allerdings auf das glänzendste übertroffen.«
»Nun, so will ich Ihnen mitteilen, daß Sir Henry einige Fässer voll blanker Sovereigns3 für Sie mitgebracht hat, lauter schöne Goldstücke, Sir.«
»Welch ein Glück! Nun kann ich zahlen und neue Kräfte werben!«
»Ja, das können Sie. Übrigens ist Sir Henry Lindsay mit einem Schiff gekommen, das ganz mit Waffen und Munition für Sie beladen ist. Ich habe alles selbst gesehen.«
Das Gesicht des Präsidenten glänzte vor Freude.
»Ich werde meine Fahne wieder entfalten, und sobald meine Stimme erschallt, werden alle wahren Patrioten sich um mich versammeln, um den Feind hinauszuwerfen. Der Anfang ist gemacht, die ersten vier Kompagnien des Feindes sind vernichtet, und nichts soll mich hindern, den begonnenen Lauf fortzusetzen. Ich werde von hier aus direkt nach Chihuahua marschieren, um diese Stadt und dadurch die ganze Provinz von der Gewaltherrschaft der Franzosen zu befreien. Vorher aber muß ich wissen, wann und wo ich den Lord zu erwarten habe. Welchen Auftrag hat er Euch gegeben?«
»In dieser Beziehung gar keinen. Ich soll Ihre Wünsche hören und sie ihm bringen.«
»Er wartet also auf Eure Rückkehr? Wie lange Zeit braucht Ihr, um nach El Refugio zu gelangen?«
»Ich rudere gut. In sechs Tagen werde ich unten sein.«
»Dann seid Ihr ein Tausendkünstler!«
»In welcher Zeit von heute an können Sie in Chihuahua sein?« fragte Geierschnabel. ’
»In drei Tagen«, erhielt er zur Antwort.
»Und wie viele Tage braucht ein Reitertrupp, um von da nach Cohahuila zu kommen?« fragte er weiter.
»Fünf Tage.«
»Nun gut«, meinte Geierschnabel. »In drei Tagen in Chihuahua, zwei Tage dort bleiben, fünf Tage nach Cohahuila, sind zehn Tage. Vier Tage vorher komme ich nach El Refugio, wir brechen dann sofort auf, dampfen den Fluß hinauf bis nach Belleville und Revilla und biegen in den Sabinafluß ein, der auf Cohahuila zuläuft. Da, wo er sich in zwei Arme teilt, warten wir auf Sie. Das ist ungefähr zwölf Meilen von Cohahuila entfernt. Ich glaube, diese Berechnung stimmt so genau, daß wir für unser Zusammentreffen gar keinen passenderen Ort finden könnten.«
Der Präsident überlegte und erwiderte:
»Ihr habt recht, Señor. Da sieht man wieder, daß Geierschnabel einer der besten Führer ist. Wir wollen es bei dieser Bestimmung bewenden lassen. Aber wie steht es mit der Sicherheit Eures Transportes?«
»Da machen Sie sich keine Gedanken, Sir! Ich habe einige wackere Jungen zusammengebracht, die für die Sicherheit zu sorgen wissen. Übrigens ist ja auf der ganzen Route nichts zu fürchten. Indianer gibt es dort nicht, und die Franzosen werden wohl auch nicht auf unserem Weg herumlaufen.«
»Das ist auch meine Ansicht. Wann werdet Ihr aufbrechen, Señor Geierschnabel?«
»Am liebsten stiege ich sofort in mein Kanu.«
»Jetzt, bei Nacht?«
»Ich habe keine Zeit zu verlieren.«
»Ihr seid ein wackerer Mann. Ihr nehmt Eure Pflichten ernst, und ich will Euch nicht hinderlich sein. Ich werde Euch einige Worte aufschreiben, die Ihr dem Lord übergeben sollt.«
Sir Henry Lindsay
Die Provinz Cohahuila war nach kurzer Zeit in die Hände des Präsidenten Juarez gefallen. Dieser dachte jetzt natürlich an Lord Lindsay, mit dem er am Sabinafluß zusammentreffen wollte.
Die Schar seiner Treuen war auf mehrere Tausend gewachsen, daher tat er seiner Sache keinen Schaden, wenn er zweihundert Reiter zu seiner Begleitung abzweigte. Es schloß sich ihm Sternau mit allen seinen Freunden an. während eine Anzahl Hirten beauftragt wurde, mit Ochsenwagen nachzufolgen, auf denen alles von Lindsay zu erwartende Material verladen und in die Stadt gebracht werden sollte.
Die Provinz Cohahuila ist außerordentlich waldig, und es gibt Gegenden, wo nur an den Flüssen ein Fortkommen möglich ist.
Bis an die Vereinigung der beiden Wasserläufe, wo Lindsay ankern wollte, breiten sich Wälder aus, während sich nach Osten hin Präriestreifen zwischen tausendjährigen Forsten hinziehen, die dann ihre Richtung nach Norden nehmen.
Daher war es geraten, diese Prärien zu benutzen, zwar einen scheinbaren Umweg einzuschlagen, der die Reiter aber nichtsdestoweniger viel schneller ans Ziel brachte, als die direkte Richtung durch die Wälder.
Man war am frühen Morgen aufgebrochen, und nun begann die Sonne bereits zu sinken. An der Spitze titten die beiden Apachenhäuptlinge mit Büffelstirn, während Sternau mit Juarez und Mariano folgten. Diese drei waren in ein angelegentliches Gespräch vertieft, das sie aber schnell einstellten, als Bärenherz plötzlich sein Pferd anhielt und aus dem Sattel sprang, um den Boden genau zu betrachten.
»Halt! Nicht weiter!« rief Sternau den ihm folgenden Mexikanern zu. »Es handelt sich hier um eine Fährte, die wir nicht zerstören dürfen!«
Er ritt langsam zu den Häuptlingen hin und stieg auch vom Pferde.
»Sieht mein weißer Bruder diese Spur?« fragte ihn Bärenherz und zeigte auf eine außerordentlich breite Fährte.
»Ja«, antwortete Sternau. »Man kann sie ja von weitem sehen.«
»Sie ist so breit, wie sie nur die Weißen Männer hinterlassen.«
Bärenauge hatte die Breite gemessen. Er entgegnete:
»Es sind über zehnmal vier Reiter gewesen.«
»Sie kamen von Süd nach Nord«, fügte Büffelstirn hinzu. »Sie sind auf unserem Weg und werden den Engländer treffen. Wer mögen sie sein?«
Jetzt betrachtete auch Sternau die Hufspuren genauer.
»Sehen meine roten Brüder«, sagte er, »daß nur eine kurze Zeit vergangen ist, seit diese Leute hier vorüberkamen?«
»Ja« antwortete Bärenauge. »Es ist höchstens die Hälfte der Zeit vergangen, die die Bleichgesichter eine Stunde nennen.«
»Richtig. Wir hätten uns erst später nach Norden gewandt; aber wir dürfen diese Reiter nicht unbeachtet lassen, sondern müssen ihnen folgen.«
Der Ritt wurde von neuem begonnen, ging aber jetzt nach Norden. statt, wie vorher, nach Osten. Nach und nach wurden die Spuren immer frischer, das war ein sicherer Beweis, daß die Truppe schneller ritt als die Verfolgten.
Sternau beugte sich im Galopp vom Pferde und betrachtete die Eindrücke sehr aufmerksam.
»Sie sind jetzt höchstens zehn Minuten voraus«, sagte er zu Juarez. »und ich glaube gar, daß sie im Schritt geritten sind.«
Es verging wieder etwa eine Viertelstunde. Die Sonne hatte sich hinter dem Horizont niedergesenkt, und in kurzer Zeit mußte die Nacht hereinbrechen. Da erhob sich Bärenherz im Sattel, deutete nach vorn und riefi »Uff! Da sind sie!«
»Wollen wir sie schnell einholen?« fragte Juarez.
»Nein«, antwortete der Gefragte. »Wir müssen sie belauschen, um zu erfahren, was sie vorhaben. Ich werde das übernehmen.«
Damit gab er seinem Pferd die Sporen. Die anderen teilten sich und folgten ihm in einzelnen Abständen so, wie Sternau es anordnete. Auf diese Weise war es den Verfolgten unmöglich, zu sehen, daß sie eine Überzahl von Reitern hinter sich hatten.
So ging der Ritt noch einige Zeit fort. Da hielt Bärenherz sein Pferd an, ließ die anderen herankommen und sagte: »Sie sind weg.«
Sternau blickte nach vom, konnte aber, so sehr er sein Auge auch anstrengte, die Reitertruppe nicht mehr sehen. »Wohin?« fragte er.
»In den Wald hinein.«
»Wurden sie durch uns verscheucht?«
»Nein. Sie werden sich ein Lager suchen.«
»Dann dürfen auch wir nicht weiter. Lassen Sie uns absteigen. Señor Juarez.«
»Hier? Mitten in der Prärie?«
»Ja. Es bringt uns keine Gefahr. Während Sie hier zurückbleiben, werde ich mit Bärenauge nachsehen, wo die Leute sind.«
»Señor, das ist eine Unvorsichtigkeit. Nehmen Sie mehr Leute mit.«
»Sie irren. Je weniger, desto besser.«
Damit warf Sternau Helmers den Zügel seines Pferdes hin und entfernte sich. Bärenauge, der auch abgestiegen war, folgte ihm.
Die Prärie war hier nicht breit. Sie bildete nur einen schmalen Streifen, dessen linker Rand sehr nahe lag und von Unterholz gebildet wurde, das zwischen den Stämmen riesiger Bäume wucherte. Darin waren die Verfolgten verschwunden.
Sternau schritt auf den Rand zu und schlich ihn entlang, den Apachenhäuptling hart hinter sich. Es war hier unter den Bäumen beinahe vollständig dunkel, und da in jenen Gegenden die Dämmerung äußerst kurz ist, brach nach einigen Minuten die Nacht herein.
»Uff«, sagte der Häuptling, Sternau mit der Hand berührend.
»Was?« flüsterte dieser.
»Man hat gesprochen.«
Die beiden Männer horchten schweigend in das Dunkel hinein, und bald darauf hörten sie in ziemlicher Nähe eine Stimme, die rief:
»Alfredo, komm’. Wir haben Holz genug. Die Feuer brennen schon.«
Dann war es wieder still. Die beiden warteten eine Weile und schlichen wieder vorwärts. Nach kurzer Zeit hörte Sternau, daß Bärenauge die Luft prüfend durch die Nase zog. Auch er bemerkte einen brenzlichen Geruch.
»Die Feuer brennen. Gehen wir dem Geruch entgegen.«
Indem sie dies taten, bemerkten sie bald vor sich einen hellen Schein, der bei jedem Schritt zwischen den Bäumen sichtbarer wurde.
»Dort ist es«, sagte der Häuptling.
»Trennen wir uns, dann geht es schneller. Du rechts, ich links. Suchen wir vor allen Dingen zu erfahren, wo die Pferde stehen, und kommen wir ihnen nicht zu nahe. Ihr Schnauben könnte uns verraten.«
Einen Augenblick später war der Apache verschwunden.
Sternau pirschte sich jetzt allein vorwärts. Von Baum zu Baum huschend, horchte er, ob das Lager noch in Bewegung sei, oder ob man sich bereits niedergelassen habe. Es schien das letztere der Fall zu sein.
So schlich er näher, bis er alles deutlich vor sich liegen sah.
Er zählte fünfzig Männer, die sich in einem Kreis gelagert und zwei Feuer zwischen sich hatten, über denen Fleisch gebraten wurde. Sie waren in mexikanischer Landestracht gekleidet, schienen aber aus verschiedenen Provinzen zusammengewürfelt zu sein.
Jetzt legte er sich auf die Erde nieder und schob sich kriechend fort. bis er so weit an die Männer herangekommen war, daß nur noch einige Bäume sie trennten und er jedes Wort hören konnte.
Zwei, die nicht weit von ihm saßen, sprachen sehr laut miteinander.
»Und ich sage dir, daß wir uns verirrt haben«, meinte der eine.
»Wo denkst du hin«, antwortete der andere. »Wir sind sehr weit rechts von Candela.«
»Und ich behaupte, daß wir uns zu weit westlich befinden. Vielleicht hatten wir schon Naria zur Rechten. Wir müßten den Rio San Juano längst erreicht haben.«
»Unsinn! Ich war einmal in dieser Gegend und kenne sie.«
»Dennoch wäre es besser, wenn wir uns erkundigt und nicht allein auf dich verlassen hätten. Was soll Señor Cortejo dazu sagen!«
Sternau zuckte erschrecken zusammen, als er diesen Namen hörte. Gab es hier einen Cortejo? Und wer war dieser Mann?
»Cortejo? Pah!« antwortete der andere ziemlich verächtlich. »Warum ist er nach dem Norden gekommen?«
»Doch zunächst, um diesem Engländer, diesem Lord, sein Geld abzunehmen.«
»Und die Gewehre«, ergänzte der andere.
»Die für Juarez bestimmt sind, hahaha. Der Zapoteke wird sich verteufelt ärgern, wenn er erfährt, daß ihm sein Rivale zuvorgekommen ist. Aber, alle Wetter, es war mir, als ob ich dort hinter dem dritten Baum ein Paar Augen hätte leuchten sehen.«
Er erhob sich, griff zu seinem Messer und kam näher.
Sternau hatte im ungeheuren Interesse für das, was er hörte, den Kopf etwas zu weit emporgehoben; er war bemerkt worden. Sobald er sah, daß der Mann auf ihn zuschritt, glitt er blitzschnell rückwärts, erhob sich vom Boden und entfernte sich schleunigst eine Strecke weit. Ein Glück, daß er sich im Dunkeln befand.
»Hm«, brummte der Mann. »Ich dachte, die Augen deutlich gesehen zu haben.«
»Wem sollten sie gehören?« fragte sein Kamerad. »Welcher Mensch sollte sich gerade hierher verlaufen. Du hast dich geirrt.«
»Möglich. Aber besser ist besser.«
Er ging zurück, zog einen brennenden Ast aus dem Feuer und kam wieder, um die Stelle zu untersuchen. Sternau hatte jedenfalls eine Spur zurückgelassen; wurde diese gefunden, so war seine Anwesenheit verraten.
Zum Glück schien der Mann nicht zu den Scharfsinnigen zu gehören oder keine Erfahrung zu besitzen. Er fuhr mit dem Brand einige Zeit zwischen den Bäumen umher, ohne dem Boden die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und sagte dann: »Es ist niemand hier.«
Nach diesen Worten kehrte er an seinen Platz zurück.
Sternau hatte einstweilen genug gehört, um zu wissen, woran er war. Er wollte sich nicht unnötig einer weiteren Gefahr aussetzen und begab sich darum an den Baum, unter dem er den Apachen treffen wollte.
Er brauchte nicht lange zu warten, da erschien Bärenauge.
»Mein Bruder mag kommen«, flüsterte dieser.
Sie schlichen sich aus dem Wald auf die Prärie, wo sich unterdessen auch die Finsternis der Nacht eingestellt hatte.
»Fünfmal zehn Männer«, sagte der Apache.
»Ich habe ebenso viele gezählt«, antwortete Sternau. »Und die Pferde?«
»Sie sind schlecht. Kein einziges hat warnend geschnauft.«
»Mein Bruder war bei ihnen?«
»Ja, es sind lauter Haziendapferde. Hat mein weißer Bruder mehr vernommen als sein roter Freund?« fragte der Apache.
»Ja, viel mehr. Ich werde es Juarez berichten, dann wird mein roter Bruder es auch hören.«
Sie stießen nach kurzer Zeit zu ihren Leuten, von denen sie bereits mit Ungeduld erwartet wurden.
»Haben Sie die Leute entdeckt?« fragte Juarez.
»Ja, sehr leicht. Sie sprachen so laut im Walde, daß man sie von weitem hörte«, antwortete Sternau. »Es sind Anhänger von Cortejo.«
»Meinen Sie Pablo Cortejo. meinen lächerlichen Nebenbuhler?«
»Ja.«
»Wie kämen diese Leute hierher? Ich denke, Cortejo befindet sich im Süden!«
»O nein. Er ist nach dem Norden gezogen.«
»Welcher Wahnsinn!«
»Nach dem. was ich erlauscht habe, ist das, was er vorhat, gar nicht so wahnsinnig.«
»Was könnte das sein? Konkurrenz will er mir machen! Er gleicht dem Frosch in der Fabel, der so groß sein wollte wie ein Ochse, dabei aber zerplatzte.«
»O Señor, es ist sehr ernst. Dieser Cortejo weiß nämlich, daß Sir Lindsay kommt, um Ihnen Geld und anderes zu bringen.«
»Alle Teufel!« rief Juarez jetzt erschrocken.
»Er hat diese Truppe abgesandt, um den Engländer in seine Gewalt zu bekommen.«
»Dann müssen wir uns unbedingt dieser Leute bemäch’tigen.«
»Natürlich. Wie gut also, daß wir darauf verzichteten, sie in der Prärie einzuholen und nach ihren Absichten zu fragen. Wir hätten nichts erfahren. Übrigens scheint es, als ob sie sich verirrt haben.«
»Wohin wollten sie?«
»An den Rio San Juano.«
»Ah, dort haben sie dem Engländer auflauern wollen. Aber sie wären doch zu spät gekommen, denn er ist längst an der Mündung des Flusses vorüber, da er uns bereits am Sabina erwartet.«
»Das ist noch nicht ganz sicher. Cortejo muß übrigens eine ziemliche Anzahl von Anhängern haben, da er fünfzig Mann absondern kann.«
»Das ist eine Dummheit von ihm. Diese Leute haben ja gar keine Transportmittel, um im Falle des Gelingens ihren Raub in Sicherheit zu bringen.«
»Das ist wahr. Ein etwas abenteuerliches Unternehmen scheint mir dieser Zug zu sein, doch ist immer abzuwarten, ob sich noch etwas Weiteres herausstellt. Wann wünschen Sie, daß wir sie festsetzen?«
»So bald wie möglich. Wir dürfen keine Zeit verlieren, denn eigentlich sollte unser Zusammentreffen mit Sir Lindsay noch an diesem Abend stattfinden.«
»Dann bitte ich um Ihre Befehle.«
»Meine Befehle? Ich bin kein Kriegsmann und noch weniger ein Jäger. Ich werde wieder Ihnen das ganze Unternehmen überlassen.«
»Dann bitte ich, daß die Pferde hier zurückbleiben dürfen. Wir pflöcken sie an und lassen zehn Mann bei ihnen, das genügt. Wir anderen teilen uns. Die eine Hälfte wird von mir, die andere von Bärenauge angeführt, da wir beide das Lager genau kennen. Wir umzingeln es, dann wird sich das übrige von selbst ergeben.«
»Wenn die Kerle klug sind, lassen sie es gar nicht zum Kampf kommen. Ich möchte nicht gern Blut vergießen, besonders deshalb nicht, weil wir von den Toten nichts erfahren könnten.«
»Dann will ich einen Vorschlag machen, Señor. Einer oder zwei von uns begeben sich in das Lager und geben sich für Jäger aus. Ich glaube nicht, daß sie irgendwelche Gefahr laufen. Dann ahme ich den Ruf der Eule nach. Das ist das Zeichen, daß die Umzingelung gelungen ist. Die beiden geben sich darauf zu erkennen, und fordern, daß die Truppe sich ergibt. Auf diese Weise umgehen wir eine Überrumpelung, die viel Blut kosten würde.«
»Sie mögen recht haben, Señor. Aber die Rolle dieser beiden ist doch höchst gefährlich. Wer würde sich zu einer solchen hergeben?«
»Ich!« rief es aus vieler Munde.
»Sie sehen, daß wir genug mutige Leute besitzen«, sagte Sternau.
»So treffen Sie selbst die Wahl«, entgegnete Juarez.
»Das ist schwierig, da ich keinen beleidigen will. Indianer sind natürlich ausgeschlossen. Ich selbst möchte zwar gern dabei sein, aber ich habe meine Truppen anzuführen. Ich glaube, daß es am besten sein würde, Mariano mit Donnerpfeil zu schicken.«
Die beiden erklärten sich mit Freuden bereit.
»Gut! Sie können sofort aufbrechen.«
»Wo ungefähr befindet sich das Lager?« fragte Helmers.
»Dreiviertel englische Meilen von hier, nur einige Schritte in den Wald hinein. Ich glaube, man muß das Feuer von der Prärie aus sehen können.«
Die beiden pflöckten ihre Pferde los, stiegen auf und ritten davon.
»Als was geben wir uns aus?« fragte Mariano während des kurzen Rittes.
»Als Jäger natürlich«, antwortete Helmers.
»Allerdings. Aber welcher Nationalität?«
»Nun, ich bin Deutscher, und dabei bleibe ich.«
»Und ich bin ein französischer Fallensteller.«
»Und merken Sie sich, ich heiße Helmers. Ich verändere dieser Kerle wegen meinen Namen um keinen einzigen Buchstaben.«
»Und ich, ich heiße Lautreville, ich bin ja bereits früher so genannt werden. Aber woher kommen wir, und wohin wollen wir?«
»Das müssen wir uns allerdings überlegen. Ich bin früher, als ich mit Bärenherz jagte, einmal hier im Presidio gewesen und weiß also glücklicherweise ein wenig Bescheid. Es ist am besten, wir geben eine andere Richtung an, als sie verfolgen.«
»So kommen wir aus Texas.«
»Ja, gut. Wir sind in Laredo über den Rio del Norte gesetzt und wollen hierauf nach —- nach …, ah, wir wollen zu den Franzosen, um gegen diesen verfluchten Juarez zu kämpfen.«
»Vortrefflich«, lachte Mariano. »Also vorwärts jetzt!«
Die Männer ritten im Galopp einen Bogen, so daß sie scheinbar von der entgegengesetzten Seite, von Norden, kamen, und hielten dann, langsamer reitend, ihre Pferde dicht am Rand des Waldes.
Da erblickten sie einen Lichtschein, der zwischen den Bäumen hindurch auf die Grasfläche herausschimmerte. Auch Stimmen von Männern, die miteinander sprachen, konnte man hören. Sie hielten an, und Helmers rief laut: »Holla! Was ist das für ein Feuer im Walde?«
Sofort verstununte das Gespräch, und nach einigen Augenblicken wurde gefragt: »Wer ist da draußen?«
»Zwei Jäger sind wir.«
Es erhoben sich mehrere Männer vom Lager, nahmen Feuerbrände in die Hand und kamen herbei, um die beiden Ankömmlinge zu beleuchten. Einer von ihnen, der eine sehr stolze, finstere Miene machte, fragte:
»Sind etwa andere hinter Euch?«
»Donnerwetter!« fluchte Helmers. »Wozu fragt Ihr? Freut man sich denn nicht, wenn man in dem wilden Wald Menschen trifft?«
»Da freut Ihr Euch umsonst!«
»Seid kein Tor. Wir sind den ganzen Tag geritten und wollten uns soeben irgendwo zur Ruhe legen. Da sahen wir Euer Feuer. Wenn wir uns mit daran wärmen, wird es Euch wohl keinen Schaden tun.«
Der Mann beleuchtete die beiden abermals genau und erwiderte dann: »So kommt! Aber hütet Euch! Handelt Ihr mit faulen Fischen, so macht Ihr bei uns jedenfalls ein sehr schlechtes Geschäft.«
Die beiden stiegen ab und zogen ihre Pferde hinter sich her, den voranschreitenden Mexikanem nach.
Der Anführer wandte sich erneut an Helmers:
»Ihr werdet mir wohl einige Fragen erlauben, Señor?«
»Ah. So fragt los!«
»Ihr seid Jäger?«
»Ja.«
»Wo seid Ihr geboren?«
»Ich bin ein Deutscher und heiße Helmers.«
»Und Euer Kamerad?«
»Ist ein Franzose und heißt Lautreville.«
»Woher kommt ihr?«
»Von drüben, über den Rio Grande herüber.«
»Ah. so seid ihr Yankees, die der Teufel heute lieber holen mag als morgen.«
»Señor, mit Eurer Geographie scheint es nicht besonders gut zu stehen. Seit wann werden denn Deutsche und Franzosen zu den Yankees gerechnet?«
»Wenn Ihr da drüben herumjagt, so seid Ihr Yankees. Ihr kommt mir überhaupt verdächtig vor. Seid Ihr etwa Leute des Juarez?«
»Fällt uns gar nicht ein. Wir dienen keinem Indianer«, sagte Mariano.
»Mein Kamerad ist ein Franzose und hat Sehnsucht nach seinen Landsleuten. Ich aber habe von früher her mit Juarez noch ein Ei zu schälen, wie man zu sagen pflegt. So sind wir auf den Gedanken gekommen, nach Mexiko zu gehen, um zu sehen. in welcher Weise man dem Zapoteken ans Leder kann.«
»Das heißt, Ihr wollt Euch anwerben lassen?«
»So ähnlich.«
»Aber warum gerade bei den Franzosen?«
»Weil sie die Landsleute meines Kameraden sind.«
»Das wäre allerdings ein Grund. Aber Bazaine braucht keine Leute.«
»Dann wäre der ganze weite Ritt umsonst.«
»Ja, umsonst wird er wohl sein, wenn Ihr nicht einen guten Rat annehmt.«
»Einen guten Rat hört man gern«, meinte Mariano.
»Nun, ich könnte Euch sagen, wo Ihr sofort Unterkommen findet. Hier, bei uns.«
»Bei Euch? Hm! Wer seid Ihr denn?«
»Habt Ihr eimnal vom Panther des Südens gehört?«
»Oh, oft genug.«
»Und von Cortejo?«
»Könnte mich nicht sogleich besinnen.«
»Nun, diese beiden haben sich zusammengetan, damit Cortejo Präsident wird. Habt Ihr keine Lust einzutreten?«
»Hm. Das müßte man sich vorher ein wenig überlegen. Wir kennen Euch nicht.«
»Ich Euch ja auch nicht. Die Hauptsache ist, daß man sich gut steht.«
»Und das ist also bei Euch der Fall? Wo befindet sich denn dieser Cortejo?«
»Auf seiner Hazienda.«
»Ihr antwortet sehr undeutlich, Señor. Es gibt Tausende von Haziendas.«
»Nun, so will ich sagen, auf der Hazienda del Erina.«
Fast wäre Helmers vor Überraschung emporgesprungen. Er mußte alle Selbstbeherrschung anwenden, um scheinbar ruhig zu bleiben. Mariano ging es ebenso.
»Del Erina?« fragte Helmers. »Ist die sein Eigentum?«
»Natürlich. Kennt Ihr sie?«
»Ja. Ich habe da vor Jahren eine Nacht geschlafen. Damals aber war der Besitzer ein anderer. Ich glaube, er hieß — hieß —«
»Arbellez«, fiel der Mann ein.
»Ja, richtig! Arbellez. Der Mann ist wohl tot?«
»O nein, aber so ähnlich.«
»Nicht tot, aber ähnlich? Also krank?«
»Vielleicht. Wir haben ihm einfach die Hazienda weggenommen. Cortejo bekam das Haus, und wir anderen erhielten alles, was sich darin befand. Nicht wahr, das wäre auch etwas für Euch?«
»Natürlich. Cortejo befindet sich auf der Hazienda?«
»Nein. Er hat die Hazienda für einige Zeit verlassen.«
»Wohin ist er gegangen?«
Da ertönte der Ruf der Eule, die beiden Jäger wußten also ihre Gefährten in der Nähe.
»Ihr fragt mich da zuviel«, meinte der Capitano zurückhaltend. »Ihr seid Fremde. Tretet bei uns ein, dann könnt Ihr fragen.«
»Da müßte man doch vorher wissen, wohin Ihr jetzt reitet.«
»Das könnte ich Euch noch sagen. Wir gehen an den Rio del Norte.«
»In welcher Absicht?«
»Um einen Engländer zu peitschen, wenn er sein Geld nicht hergibt.«
»Ihr scheint große Freude am Peitschen zu haben, Señores!«
»Warum nicht? Prügel sind die beste Medizin. Dieser Arbellez zum Beispiel ist jedenfalls vollständig kuriert. Er wurde so lange geschlagen, bis man die Knochen sah.«
Da biß Helmers die Zähne zusammen und murmelte kaum hörbar:
»Und dann? Was geschah dann mit ihm?«
»Er wurde in den Keller geworfen. Da liegt er noch.«
»Und Ihr wart dabei?«
»Warum nicht?«
»So fahre zur Hölle und zum Teufel, Halunke!«
Er konnte sich nicht mehr halten. Indem er diese Worte aussprach, riß er den Revolver hervor, hielt dem Capitano den Lauf an die Schläfe und drückte ab. Der Mann brach tot zusammen.
Die anderen saßen einige Augenblicke ganz erstarrt da. Das gab Helmers Zeit, noch einige Kugeln zu versenden. Auch Mariano schoß, dem Beispiel des Gefährten folgend, mehrere Male. Dann aber rissen die überraschten ihre Waffen hervor und sprangen auf, um diesen unerwarteten Angriff blutig zu rächen.
Sie kamen jedoch nicht dazu, denn in diesem Augenblick ertönte Sternaus Stimme: »Gebt Feuer!«
Nun krachten so viele Schüsse, daß es schien, als sei eine Kanone entladen worden. Eine zweite Salve blitzte auf, und dann gab es kein Ziel mehr — die Leute lagen am Boden!
»Warum schossen Sie?« fragte Sternau Helmers.
»Diese Kerle haben die Hazienda del Erina überfallen und meinen Schwiegervater gepeitscht. Dann ist er in den Keller geworfen worden.«
»Mein Gott, welch eine Nachricht! Aber darüber nachher. Jetzt vor allen Dingen müssen wir zum Sabinafluß aufbrechen«, antwortete Sternau. »Wir müssen wissen, ob Sir Lindsay eingetroffen ist.«
»Aber Arbellez, mein gefangener Schwiegervater?« fragte Helmers.
»Zur Hazienda kommen wir noch. Die Sendung des Lords ist zu retten und Cortejo gefangen zu nehmen, dann haben wir gewonnen. Bis andern Sabinafluß reiten wir höchstens zwei Stunden. Nehmt diesen Toten die Waffen und alles Brauchbare ab! Dann aber weiter.«
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Sir Lindsay war im Hafen von El Refugio gelandet, wo der gewaltige Rio Grande del Norte sich als Grenzstrom zwischen Mexiko und Texas in den Meerbusen ergießt.
Trotz der Größe des Rio Grande und der vielen Hilfsmittel, mit denen El Refugio von der Natur aus bedacht wurde, war diese Stadt vom Verkehr noch wenig berührt geblieben. Es hatte dies seinen Grund teils in den ungeordneten Zuständen jener Gegenden und teils darin, daß die Binnenlande, die der Strom durchfließt, sich dem Handel, das heißt, dem Welthandel, bisher noch verschlossen hatten.
So kam es, daß in dem Hafen, als der Engländer ankam, außer einer elenden brasilianischen Barke keine größeren Schiffe lagen.
Lindsay hatte den Inhalt seines Fahrzeugs umladen lassen, doch hatte Geierschnabel sich in Fort Guadeloupe einer Ungenauigkeit schuldig gemacht. Lindsay hatte zwei kleine Schraubendampfer an Bord, die auf wenig Tiefgang berechnet waren, dazu eine Anzahl von Booten, die zum Flußtransport seiner Waren bestimmt waren.
Jetzt lagen diese Fahrzeuge ein Stück von der Mündung des Stromes aufwärts vor Anker und warteten auf die Rückkehr Geierschnabels, bereit, abzufahren.
Jeder von den beiden Dampfern hatte eine kleine, bequem eingerichtete Kajüte. In der einen wohnte Sir Henry, in der anderen Miß Amy.
Beide warteten mit Ungeduld auf ihren Booten und gaben sich der Sorge hin, daß Geierschnabel ein Unglück widerfahren sei. Sie saßen in Lindsays Kajüte und sprachen darüber. Es war Abend und bereits dunkel geworden.
»Nach der Berechnung, die er mir machte, müßte er bereits dasein«, meinte Lindsay. »Ich darf keine Zeit verlieren. Wenn er nicht kommt, lasse ich nur noch den morgigen Tag verstreichen, dann fahre ich.«
»Ohne Führer?« fragte Amy.
»Es sind unter den Leuten zwei, die den Fluß eine Strecke aufwärts genau kennen. Übrigens hoffe ich, Geierschnabel unterwegs zu treffen.«
»Aber wenn ihm auf dem Rückweg ein Unfall zugestoßen ist?«
»Dann muß ich versuchen, ohne ihn fertig zu werden.«
»Oder wenn dies auf dem Umweg geschah und er gar nicht nach Fort Guadeloupe und zu Juarez gekommen ist?«
»Das wäre allerdings schlimm, denn dann würde Juarez von meiner Anwesenheit gar nichts wissen, und meiner Sendung drohte Gefahr. Ich kann aber unmöglich hier bleiben. Wenn die Franzosen Wind bekommen, eilen sie her und konfiszieren alles.«
»Das soll ihnen vergehen, kalkuliere ich!«
Diese Worte wurden am halb offenstehenden Eingang der Kajüte gesprochen, und als Vater und Tochter ihre Blicke dorthin richteten, erkannten sie den so sehnlichst Erwarteten.
»Geierschnabel«, rief Lindsay sichtlich erlerchtert. »Gott sei Dank!«
»Ja, Gott sei Dank!« sagte der Jäger, indem er nähertrat. »Das war eine Fahrt! Sir, es ist kein Spaß, so eine Fahrt hinauf und wieder herunter zurückzulegen. Und nun, seit ich zurück bin, finde ich Sie ewig nicht. Und hatte keine Ahnung davon, daß Sie hier an dieser Stelle liegen.«
»Jetzt aber haben Sie mich doch gefunden. Nun sagen Sie mir auch, wie es Ihnen ergangen ist.«
»Danke, Sir. ganz gut.«
»Und Ihr Auftrag?«
»Ist ausgerichtet. Sind Sie zur Fahrt gerüstet?«
»Ja, mit zwanzig Mann. Ich denke, das wird genug sein.«
»Ich meine es auch, wenn diese Leute zuverlässig sind.«
»Ich hoffe es. Sie haben also Juarez getroffen?«
»Ja. Da oben sind nämlich eigentümliche Dinge vorgegangen, die ich Ihnen erzählen muß, Sir.«
»Setzen Sie sich und erzählen Sie.«
»Hm! Ich bin auf so lange Erzählungen nicht eingerichtet, Sir. Meine Kehle trocknet beim Reden so leicht ein und würde, wenn Sie —«
»Gut!« unterbrach ihn Lindsay lachend. »Ich werde sogleich für einen Tropfen sorgen, dem es eigen ist, trockene Kehlen anzufeuchten.«
Er öffnete einen Wandschrank, nahm aus ihm eine Flasche und ein Glas, goß das letztere voll und sagte: »Hier, trinken Sie, Geierschnabel. Sie werden übrigens wohl auch Hunger haben.«
»Ich leugne das nicht, Sir. doch mag der Hunger warten. Das Essen pflegt mich beim Sprechen zu stören. Die Worte wollen heraus und die Bissen hinab; sie treffen unterwegs zusammen, woraus natürlich nichts Gescheites entstehen kann, schätze ich. Einen Tropfen Rum aber darf man auf die Zunge nehmen. ohne daß er stört.«
»Ich bin begierig, was Sie mir erzählen werden«, sagte Lindsay.
»Also, ich kam nach Guadeloupe und fand den schwarzen Gerard. Ich dachte, er solle mich nach Paso del Norte bringen, aber das war nicht nötig, denn Juarez kam mir zuvor. Das hatte seine Gründe. Wissen Sie, daß der Kampf bereits begonnen hat?«
»Kein Wort.«
»Nun, Juarez beginnt sich zu regen. Er hat die Apachen auf seiner Seite. Diese haben in der Teufelsschlucht eine ganze Kompagnie der Franzosen vernichtet, und dann hat Juarez in Fort Guadeloupe den Feind so auf das Haupt geschlagen, daß nur ein einziger entkommen ist, der aber auch skalpiert wurde. Nun ist der Präsident nach Chihuahua gezogen, um es zu nehmen — —«
»Hat er dazu genug Mannschaften bei sich?«
»Keine Sorge, Sir! Von Chihuahua wird er nach Cohahuila gehen um dieses zu nehmen. und dann kommt er, um sich mit Ihnen zu treffen.«
»Wo?«
»Am Zusammenfluß des Rio Sabina.«
»Wann?«
»Es ist so berechnet, daß wir am Treffpunkt zu gleicher Zeit ankommen, wenn Sie morgen früh aufbrechen, Sir.«
»Ich werde noch heute abend aufbrechen, wenn die Finsternis kein Hindernis ist.«
»Sie hindert uns nicht. Der Strom ist breit genug, und das Wasser glänzt auch im Dunkeln so, daß man es vom Lande unterscheiden kann.«
»Wird Juarez selbst kommen oder einen Vertreter senden?«
»Er kommt selbst, kalkuliere ich.«
»Natürlich mit hinreichender Bedeckung?«
»Das versteht sich! Es wird kein Mangel an Leuten sein, denn sobald er in Chihuahua erscheint, wird ihm alles zuströmen.«
»Sie wissen also wirklich genau, daß er die Franzosen vernichtet hat?«
»Sehr genau, dem ich war dabei und habe mitgeholfen.«
»Führte Juarez die Seinen persönlich an?«
»Eigentlich ja, obgleich er am Kampf nicht selbst teilgenommen hat. Die Hauptpersonen waren, wenigstens zunächst, der schwarze Gerard der das Fort zu verteidigen hatte, und dann Bärenauge, der Häuptling der Apachen.«
Amy hob schnell den Kopf und sagte: »Bärenauge? Welch ein ähnlicher Name!«
»Mit Bärenherz, nicht wahr?« fragte der Jäger.
»Ja, allerdings «, antwortete sie. »Haben Sie letzteren gekannt?«
»Früher nicht, aber ich habe ihn jetzt kennengelernt«, erwiderte er in ziemlich gleichgültigem Ton.
»Sie meinen, vom Hörensagen?«
»O nein, ich meine persönlich.«
»Was? Sie kennen einen Häuptling namens Bärenherz? Wo haben Sie ihn getroffen?«
»Eben in Fort Guadeloupe.«
»Dann ist die Gleichheit des Namens ein Zufall. Die Indianer legen sich sehr oft Tiernamen bei. Irgendeiner hat diesen berühmten Namen angenommen.«
»O nein! Ein Indianer nimmt keinen Namen an, der einem anderen gehört.«
»Auch nicht, wenn er von einem anderen Stamm ist?«
»Dann erst recht nicht.«
»Zu welchem Stamm gehört Bärenherz, den Sie in Guadeloupe sahen?«
»Er ist ein Apache, und Bärenauge ist sein Bruder.«
»Mein Gott, Papa, ist das nicht höchst eigentümlich?«
»Allerdings«, antwortete der Lord, auf dessen Gesicht sich ein außerordentliches Interesse zu spiegeln begann.
»Geierschnabel, ich muß Ihnen sagen, daß jener Bärenherz seit langen Jahren verschwunden ist.«
»Das stimmt, Sir. Sein Bruder Bärenauge hat ihn lange vergeblich gesucht und war der Meinung, daß der Häuptling von Weißen getötet werden sei.«
»Aber jetzt sagen Sie ja, daß Sie Bärenherz gesehen haben!«
»Allerdings, Sir.«
»Den Verschwundenen?«
»Ja, ihn selbst, keinen anderen.«
Da sprangen beide, Vater und Tochter, auf, und der erstere rief: »Welch eine Nachricht! Geierschnabel, Sie wissen gar nicht. was Sie uns damit bringen!«
Der Jäger verbarg ein schlaues Zucken seiner Lippen und beteuerte:
»Es ist der Richtige, Sir.«
»Haben Sie nicht erfahren, wo er während dieser Zeit gewesen ist?«
»Wo soll er gewesen sein? Er wird sich in der Savanne oder irgendwo umhergetrieben haben. Diese Rothäute sind ja die reinen Vagabunden.«
»Er war keiner! Sie meinen, daß er beim Präsidenten bleibt?«
»Ja.«
»Und vielleicht mit zum Sabinafluß kommt?«
»Ich denke es, Sir.«
»Gott sei Dank! Wir werden ihn sehen und mit ihm sprechen. Wir werden erfahren, was er von seinen damaligen Gefährten weiß und wie es ihm selbst ergangen ist. Haben wir erst eine Spur gefunden, so verfolgen wir sie, so weit es nur möglich ist. Hatte er denn nicht jemanden bei sich, Master Geierschnabel?«
Der Gefragte machte das unbefangenste Gesicht von der Welt.
»O doch«, antwortete er. »Es war ein Mann dabei, ein gewisser Bernardo Mendosa, eine Indianerin, namens Katja, eine Señorita Elvira und — —«
Da flog Amy auf ihren Vater zu, warf ihm die Arme um den Hals und rief: »Hörst du es, Papa! Oh, wir werden Nachrichten erhalten!«
»Diese Señorita schien verlobt zu sein«, fuhr Geierschnabel ruhig fort. »Wenigstens gab es da einen Señor, mit dem sie außerordentlich zärtlich tat.«
»Härten Sie vielleicht seinen Namen?«
»Ja. Er hatte einen Bruder mit, der Kapitän oder Steuermann gewesen war. Sie heißen Helmers. Der andere Bruder war übrigens ein berühmter Jäger und hatte sich als solcher den Namen Donnerpfeil erworben.«
Da legte der Lord dem Jäger die Hand fest auf die Schulter. Aber diese Hand zitterte, und. seine Stimme zitterte auch, als er fragte:
»Waren das alle, die dort beisammen waren?«
»Ich muß nachsinnen, Mylord. Ja, da fällt mir noch einer ein, ein Kerl von einer riesigen Figur, mit einem Bart, der bis zum Gürtel reichte.«
»Sternau?« fragte Amy.
»Sternau«, nickte der Jäger. »Ja, so hieß er.«
»Weiter, weiter! Gab es nicht noch einen, einen einzigen?«
»Noch einen sehr alten Mann, den sie Don Ferdinando nannten. Ich glaube, der alte Pirnero sagte, daß dieser Señor ein Graf Rodriganda sei.«
Da konnte sich der Lord nicht mehr länger halten.
»Wunderbar, höchst wunderbar!« rief er, seine Tochter fest in die Arme schließend. »Was werden wir alles erfahren, Amy!«
Sie aber wandte sich mitten in der Umarmung mit dem Gesicht zu dem Jäger und fragte:
»Gibt es sonst keinen zu nennen, keinen?«
»Noch einen, aber der ist nun auch der letzte.«
»Wer ist es? Wer? Um Gottes willen, reden Sie.«
»Es war ein sehr schöner, junger Mann, der trotz der Verschiedenheit der Jahre dem alten Grafen sehr ähnlich sah.«
»Wie hieß dieser junge Mann?« fragte der Lord.
»Sternau sagte Mariano zu ihm.«
»Ma — ri — ano!« hauchte Amy.
Sie glitt an dem Vater auf die Knie nieder und brach in ein herzbrechendes, aber erlösendes Schluchzen aus. Da bog der Lord sich zu ihr herab, legte ihr die Hand auf das Haupt und sagte, während auch ihm die Tränen über die Wangen rollten:
»Mein Kind, mein liebes, liebes Kind!«
Geierschnabel schlich sich durch die halbgeöffnete Tür hinaus. Draußen spuckte er seinen Priem über die ganze Breite des Deckes hinweg in das Wasser des Stromes, zog aus der Tasche ein anderes Stück Kautabak, schob es langsam in den Mund und murmelte selbstgefällig:
»Das hast du gut gemacht, Alter! Ganz ausgezeichnet. Ich bin doch eigentlich ein kluger Kerl! Hätte ich die Nachricht mit einem Male gebracht, so wäre Miß Amy in alle möglichen Ohnmachten gefallen. Diese Frauen sind aus ganz anderem Holz wie wir: Aber hole mich der Teufel, dennoch steht auch mir das Wasser in den Augen.«
Dann schlich er sich wieder zur Kajüte, vor deren Tür er stehenblieb, um zu warten, bis man ihn rufen würde.
Drinnen ertönten halblaute Stimmen, dann hörte er Amy fragen:
»Wo aber ist Geierschnabel?«
»Hier bin ich, Mylady«, sagte er, schnell eintretend.
»Wir müssen noch einige Fragen an Sie stellen. Haben Sie über die genannten Personen weiter nichts erfahren, als was Sie uns mitteilten?«
»Oh, Mylady, ich kann keine Ohnmacht sehen. Ich falle sonst gar selbst mit um!«
»Sie wollten mich schonen?«
»Ja, das wird vielleicht das richtige sein, kalkuliere ich.«
Da faßte sie ihn bei der Hand und bat im dringenden Ton:
»Sprechen Sie, sprechen Sie! Jetzt können Sie alles, alles sagen, denn ich bin nun vorbereitet, alles zu hören.«
»Auch von diesem Mariano?« fragte er mit schalkhaftem Lächeln.
»Auch von ihm«, antwortete sie errötend. »Aber warum sprechen Sie gleich diesen Namen aus?«
»Weil Señor Mariano das reine Pulver war, als ich sagte, daß ich ein Bote von Sir Henry Lindsay sei.«
»Was sagte er?«
»Als er erfuhr, daß Miß Amy sich bei ihrem Vater befinde. wollte er mit mir in mein Kanu, um mit nach El Refugio zu gehen.«
»Warum brachten Sie ihn nicht mit?«
»Weil mein Kanu nur für einen Mann gebaut ist und weil die anderen ihm abredeten. So werden Sie ihn erst bei Juarez sehen, aber er hat mir so viele Grüße aufgetragen, daß ich glaube, ich habe unterwegs einige Millionen davon verloren. Es bleiben aber noch so viele übrig, daß man die ganze Erde damit tapezieren könnte.«
»War er gesund? Wie sah er aus? Wie war er gekleidet?«
»Er war gesund; er sah aus wie der Erbe eines gräflichen Hauses und war ganz so gekleidet, wie es hier in Mexiko Sitte ist.«
»Haben die genannten Personen sich auch mit am Kampf beteiligt?« fragte der Lord.
»Ja. Ich glaube, ohne ihre Hilfe wäre es gar nicht gelungen, der Franzosen Herr zu werden. Das weiß Juarez auch anzuerkennen.«
»Gott!« sagte Amy ängstlich. »Sie gehen mit nach Chihauhua. Sie werden jedenfalls dort auch zu kämpfen haben, und in Cohahuila abermals.«
»Tragen Sie keine Sorge um diese Leute, Mylady. Sie scheinen sich freiwillig unter das Kommando Sternaus begeben zu haben, und der ist ein Kerl, der sehr genau weiß, was er tut. Er wird sich und die Seinen keiner unnötigen Gefahr aussetzen, davon bin ich überzeugt.«
»Aber wo haben denn die Verschwundenen während dieser langen Zeit gesteckt?«
»Es ist am besten, ich erzähle Ihnen gleich alles, was ich darüber erfahren habe. Aber, Mylord, meine Kehle ist wieder so hart und spröde, daß —«
»Hier steht die Flasche«, fiel Sir Lindsay ein. »Schenken Sie sich nur ein!«
Es ist unnötig, zu sagen, daß die beiden Zuhörer mit gespanntester Aufmerksamkeit auf jedes seiner Worte über die lange Verbannung auf der Insel lauschten. Als der Jäger geendet hatte, fügte er hinzu:
»So, das ist alles, was ich weiß. Das Ausführliche werden Sie von den Herren selbst erfahren, wenn wir den Sabina erreicht haben.«
»Also Señorita Elvira und Karja kommen auch mit nach Cohahuila?« fragte Amy.
»Jedenfalls.«
»Und zum Sabinafluß?«
»Das glaube ich nicht. Aber man reitet in einem Tage hin, deshalb werden Sie die Damen sehr leicht sehen können.«
»Ich habe Sie noch viel, viel zu fragen.«
»Oh, Mylady, ich weiß nichts mehr!« versicherte er.
»Sie wissen noch vieles. Man muß nur danach fragen. Ihr Männer denkt nur nicht gleich an alles. Es gibt so viele Nebenumstände, die ihr für überflüssig haltet, die aber für uns Frauen von großer Wichtigkeit sind. Ihr besinnt euch nicht darauf; wenn man euch aber daran erinnert, erhält man dennoch eine Antwort. Wo hatte beispielsweise der kleine André, den Sie einen Deutschen nannten, seine Heimat?«
»In der Rheinpfalz. Ein Bruder von ihm ist Förster bei einem alten Hauptmann und Oberförster.«
»Vielleicht in Rheinswalden?« fragte sie schnell.
»Ja, so heißt das Ding.«
»Der Hauptmann heißt Rodenstein?«
»Ich glaube fast, daß dies der richtige Name ist.«
»Könnten wir doch aufbrechen! Ist es nicht möglich?«
»Mylord fragte bereits. Es ist nicht schwer.«
»Aber Sie werden ermüdet sein?«
»Pah, ein guter Jäger kennt keine Müdigkeit. Wenn Sie aufbrechen wollen, Mylord, so stehe ich zur Verfügung. Sind Ihre Leute beisammen?«
»Alle. Auch die Kessel sind geheizt, wie Sie wohl bemerkt haben.«
»Sie verteilen die Frachtboote auf die beiden Dampfer?«
»Natürlich. Ich werde auf dem vordersten Dampfer sein.«
»Und Mylady?«
»Ihre Kajüte befindet sich auf dem anderen Schiff.«
»Das gefällt mir nicht. Könnte nicht Mylady auf unserem Dampfer sein?«
»Warum? Das würde die Bequemlichkeit stören.«
»Aber Myladys Sicherheit erhöhen. In diesem Lande und bei diesen Zeiten darf man nicht unvorsichtig sein. Wir werden daher niemals, wie man es sonst tut, des Abends am Ufer vor Anker gehen, sondern stets in der Mitte des Stromes bleiben. Sind Ihre Leute gut bewaffnet?«
»Ja, alle. Übrigens habe ich Geschütze auf den Booten. Wir haben also gar nichts zu befürchten, Master Geierschnabel.«
»Das sollte man denken, doch wollen wir trotzdem nichts versäumen. Treffen Sie die Vorbereitungen zur Abfahrt, ich werde mir die Leute ansehen.«
Der Jäger begab sich von Boot zu Boot und traf unter den für die Fahrt angeworbenen Leuten mehrere Bekannte. Auch die anderen machten den Eindruck auf ihn, daß man sich aufsie verlassen könne. Er erteilte dem Steuermann des zweiten Dampfbootes den Befehl, sich dicht hinter dem ersten Zug zu halten, und kehrte dann zurück.
Nun Wurden die Schlepptaue ausgegeben und die Kähne aneinandergehängt. Die Bootspfeife gab das Zeichen, die Anker zu heben, und bald setzten sich die beiden Züge, einer hinter dem anderen, stromaufwärts in Bewegung.
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Wenn man von Rio Grande stromaufwärts fährt, trifft man am rechten Ufer bald auf den Ort Mier. Von da an legt der Strom eine Strecke von etwa fünfzehn deutschen Meilen zurück, ehe man nach Revilla und Bellevilla gelangt. wo der Sabinafluß sich in den Rio Grande ergießt.
Auf dieser langen Strecke sieht man fast nur Wald an beiden Ufern. Dieser Wald ist von dichtem Buschwerk eingesäumt, aber schon in geringer Entfernung vom Fluß hört es auf, und der Hochwald erhebt seine riesigen Stämme wie gigantische Säulen gen Himmel.
Unter diesem Säulendach ist das Fortkommen selbst zu Pferde leicht, während das Ufergestrüpp die Schnelligkeit außerordentlich beeinträchtigt.
Im tiefen Schatten dieses Waldes ritt eine ansehnliche Reiterschar parallel zum Flußufer stromaufwärts. Sie war sehr gut bewaffnet, aber ihre Pferde schienen ungewöhnlich angegriffen zu sein.
Zwei ritten an der Spitze. Der eine von ihnen war Pablo Cortejo, der lächerliche Prätendent der Präsidentschaft von Mexiko. Seine Züge waren düster; er schien sich in sehr schlechter Stimmung zu befinden. Auch jedem einzelnen seiner Leute sah man an, daß sie die üble Laune ihres Anführers teilten. Dieser führte mit seinem Nachbarn eine halblaute Unterhaltung, bei der sich mancher Fluch hören ließ.
»Verdammter Einfall, zwei Dampfer vorzuhängen!« sagte Cortejo.
»Das möchte noch gehen, Señor«, meinte der andere. »Noch verdammter aber ist der Einfall, niemals am Ufer anzulegen. Wir hatten auf eine nächtliche Überrumpelung gerechnet. Damit aber ist es nichts!«
»Der Teufel hole diesen Engländer! Wir reiten von San Juano an mit ihm um die Wette, treiben unsere Pferde fast in den Tod, und alles ohne Erfolg.«
»Wir können ihn nur durch List fangen, Señor.«
»Wie? Der Engländer legt doch nicht an.«
»Das soll er auch nicht. Er soll nur selbst ans Ufer kommen.«
»Er wird es nicht tun.«
»Das laßt nur meine Sorge sein, Señor, ich kenne eine Stelle, wo es glücken wird.«
»Du wolltest das wirklich wagen?«
»Ja, aber natürlich gegen die versprochene Belohnung.«
»Die sollst du haben. Wann kommen wir an den Ort?«
»In einer halben Stunde. Er ist geeignet für unser Vorhaben. Ich bin eimnal vorübergekommen und habe eine Nacht dort kampiert.«
»Deine Ansicht scheint mir nicht ganz unrichtig zu sein. Fangen wir den Engländer, so ist das andere auch unser. Aber ihn nur erst haben!«
»Wir bekommen ihn, Señor, ich bin überzeugt davon!«
Der Mann hatte die Zeit richtig geschätzt. Nach Verlauf einer halben Stunde erreichten sie eine Stelle, wo der Fluß eine sehr scharfe Krümmung machte. Die dadurch entstandene, in das Wasser hineinragende Halbinsel bestand aus felsigem Boden und war nur mit einem niedrigen Pflanzenwuchs besetzt. Diese Stelle bot einen freien Ausblick über die ganze Breite des Flusses, konnte aber auch von diesem aus deutlich überblickt werden. Erst etwa fünfzig Schritte vom Ufer begann der Wald. Was in ihm vorging, konnte man vom Fluß aus nicht sehen. Dort machte die Truppe Cortejos halt.
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Unterdessen war Lord Lindsay in die Nähe dieser Stelle gelangt, ohne zu ahnen, daß ihm auf dem rechten Ufer eine so bedeutende Schar von Männern folgte, die im Sinn hatte, ihm seine Ladung fortzunehmen.
Die Sonne stand ziemlich tief, als der vorderste Dampfer die Krümmung erreichte. Der Lord stand mit Geierschnabel neben dem Steuermann. »Wie weit haben wir es noch bis zur Mündung des Sabina?« fragte der erstere.
»Wir werden sie morgen mittag erreichen und dann in den Sabina einbiegen. Wir fahren da allerdings einen Winkel. Wer den Weg kennt und ein gutes Pferd besitzt, kann den Ort, an dem wir erwartet werden, in kürzerer Zeit erreichen. Aber, sehen Sie, Mylord! Steht dort links an der kahlen, offenen Bank nicht ein Mann?«
»Allerdings«, antwortete der Gefragte. »Jetzt setzt er sich nieder.«
»O nein«, meinte der Steuermann. »Der hat sich nicht niedergesetzt, sondern ist niedergesunken. Der Mann scheint verletzt zu sein.«
»Jetzt erhebt er sich wieder, aber nur höchst mühsam«, versetzte Geierschnabel. »Er winkt. Es scheint, wir sollen ihn mitnehmen.«
»Tun wir das«, hat Amy, die herbeigekommen war. »Wollen wir nicht ein Boot aussetzen, Papa?«
»Ich denke allerdings, daß wir dies tun sollten«, antwortete der Lord. »Wir dürfen einem Unglücklichen, der hilflos in der Wildnis liegt, den Beistand nicht verweigern.«
»Hören wir erst. Er ruft«, sagte Geierschnabel.
Sie sahen, daß der Mann die Hände an den Mund legte. »Juarez!«
Nur dies eine Wort rief er herüber. und es schien die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen.
»Ein Bote des Präsidenten«, sagte der Lord. »Wir müssen ihn aufnehmen. Ich selbst werde mit ans Ufer gehen, um mit ihm zu sprechen.«
»Das werden Sie nicht tun, Mylord. Wir befinden uns hier im Urwald, und Sie dürfen sich keiner Gefahr aussetzen. Es genügt, ein Boot hinüberzuschicken und den Mann zu holen. Das werden wir jetzt sogleich tun.«
Der Steuermann gab den Befehl, und bald ruderten zwei Männer dem Ufer zu. Man sah von dem kleinen Dampfer aus, der unterdessen beigelegt hatte, daß die beiden Ruderer an das Ufer stiegen, das Boot befestigten und sich zu dem Mann begaben, der liegen blieb. Sie sprachen mit ihm, kehrten aber ohne ihn mit dem Boot zurück. Während der eine im Boot blieb, kann der andere an Bord.
»Nun, warum bringt ihr ihn nicht mit?« fragte der Lord.
»Er ist vom Pferd gestürzt und hat sich dabei schwer verletzt. Er leidet fürchterliche Schmerzen, wenn man ihn anfaßt. Damm bat er uns, ihn liegen zu lassen; er sei tödlich verletzt und werde sowieso sterben müssen. Sein Pferd sei im Wald mit ihm durchgegangen und habe ihn an einen Baum geschleudert. Als er wieder zu sich gekommen sei, habe er sich bis ans Ufer geschleppt.«
»Der arme Mann. Man muß ihn dennoch holen«, sagte Amy.
»Warum winkte er uns, wenn er unsere Hilfe von sich weist?« fragte Geierschnabel.
»Er ist ein Bote von Juarez. Er hat den Auftrag erhalten, sich am Fluß aufzustellen und Lord Lindsay zu erwarten, um ihm eine höchst wichtige Nachricht mitzuteilen«, antwortete der Mann.
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Juarez weiß, wo er uns zu er warten hat. Sendet er uns wirklich einen Boten entgegen, so kann es nur sein, weil er den Treffpunkt verändert hat oder Grund findet, uns vor irgendeiner Gefahr zu warnen. Übrigens, warum richtete der Mann da drüben seine Botschaft nicht an dich aus?«
»Er verlangt, Sir Lindsay selbst zu sprechen, weil die Botschaft zu wichtig sei. als daß er sie einem anderen sagen könne.«
»Das kommt mir verdächtig vor. Hast du sein Pferd gesehen?« fragte der in höchstem Maße mißtrauisch gewordene Geierschnabel.
»Nein. Es war ja mit ihm durchgegangen.«
»Gab es keine Fußtapfen in der Nähe?«
»Man konnte nichts sehen. Der Boden ist felsig.«
»Den nahen Waldrand hast du nicht beobachtet?«
»Doch, aber es war nichts Verdächtiges zu bemerken.«
»Ich werde wohl hinüberfahren müssen«, meinte der Lord.
»Papa, bleibe hier!« bat Amy. »Ich ahne, daß du dich dort in Gefahr befindest.«
»Ich muß aber doch wissen, was Juarez mir sagen läßt.«
»Der Bote wird es auch einem anderen mitteilen.«
»Nein, das tut er nicht«, bemerkte der Bootsmann. »Er hat mir ausdrücklich aufgetragen, daß er es keinem anderen sagen darf.«
»So muß man noch einmal versuchen, ob er nicht doch mit herüberkommt«, meinte der Lord.
»Er kommt nicht. Er behauptet, im Sterben zu liegen. Jede Bewegung und jede Berührung verursachten ihm so ungeheure Schmerzen, daß ein Transport ganz unmöglich ist.«
»Nun, so fahre ich hinüber«, erklärte der Lord. »Ich nehme eine bewaffnete Begleitung mit, um vollständig sicher zu sein.«
Geierschnabel spuckte höchst ungeduldig aus.
»Wissen Sie, Mylord, wie viele Leute dort hinter den Bäumen versteckt sein können?« fragte er.
»Dann gehe ich gar nicht an Land. Ich kann ja vom Boot aus mit dem Mann sprechen.«
»Aber man kann Sie vom Wald aus mit einer Kugel töten.«
»Um Gottes willen, Papa, bleibe hier!« bat Amy.
Da stieß Geierschnabel ein kurzes, lustiges Lachen aus, hustete einige Male, spuckte in den Fluß und sagte:
»Mylord, da kommt mir ein guter Gedanke. Ich selbst werde gehen.«
»Aber er wird Ihnen ja nichts sagen, da ich es bin, den er verlangt.«
»Ich werde mich einfach für Sir Henry Lindsay ausgeben.«
Der Lord machte ein verwundertes Gesicht und erwiderte lachend:
»Sie scherzen, Geierschnabel.«
»O nein. Es ist mein völliger Ernst. Der Kerl wird Sie noch nie gesehen haben und folglich nicht kennen!«
»Aber es wird trotzdem ein Wagnis für Sie sein.«
»Ein Wagnis? Es ist im Gegenteil ein Spaß, ein Gaudium für mich. Ich kalkuliere, daß ich den Lord nicht übel spielen werde.«
Er zog dabei eine äußerst spaßhafte Miene. Amy sah seine lange Nase, seine sehnige, ausgetrocknete Gestalt, seine bloße behaarte Brust, seine zerrissene, herumschlotternde Kleidung und sagte heiter:
»Ja, ich glaube auch, daß Sie ein außerordentlich spaßhafter Lord sein würden.«
»Nun, an der nötigen Gravität soll es mir gewiß nicht fehlen«, antwortete der Jäger. »Wir sind von gleicher Länge, Mylord. Haben Sie nicht vielleicht einen Anzug bei sich, wie man ihn in London oder New York trägt?«
»Oh, mehrere.«
»Zylinderhut, Handschuhe, Krawatte und Augenglas, vielleicht auch einen Regenschirm?«
»Das versteht sich.«
»Nun, wollen Sie mir diese Kleinigkeiten nicht einmal borgen?«
Diese Frage rief eine schnell und heitere Verhandlung hervor, deren Resultat war, daß Geierschnabel als Lord Lindsay an Land gehen sollte.
Er begab sich mit dem Engländer in dessen Kajüte und erschien in kurzer Zeit als ein leibhaftiger englischer Lord auf dem Verdeck.
Amy machte Miene, in ein lautes Lachen auszubrechen. Der verkleidete Englishman aber gab ihr einen schnellen beschwichtigenden Wink und sagte warnend: »Still, Mylady! Das Lachen einer Dame dringt sehr weit. Man könnte es am Ufer hören.«
»Aber man kann bei Ihrem Anblick doch nicht ernsthaft bleiben«, sagte sie, indem es ihr nur mit Mühe gelang, ihre Heiterkeit zu unterdrücken.
»Haben Sie keine Sorge. Die da drüben werden sicherlich nicht über mich lachen.«
»Aber Sie sind unbewaffnet«, warnte Lindsay.
»Ich werde mein Messer und zwei Revolver einstecken; das genügt.«
»Lord« Geierschnabel gab allerdings hier im Urwald eine höchst seltsame Figur ab. Ein Anzug aus grauem Tuch, Gamaschen, Lackschuhe, grauer Zylinderhub gelbe Handschuhe, Regenschirm und ein Zwicker auf der langen, ungeheuren Habichtsnase gaben ihm ein Aussehen, das selbst in einer großen, belebten Stadt, um wieviel mehr aber hier, im höchsten Grade auffallen mußte.
Der seltsame Lord meinte:
»Es sind jetzt zwei Fälle möglich. Entweder der Kerl da drüben ist wirklich ein Bote von Juarez, oder die ganze Geschichte ist eine Falle. die über Ihnen, Lord Lindsay. zuklappen sollte.«
»Ich hoffe das erstere«, meinte der Lord.
»Und ich vermute das zweite«, behauptete der Jäger. »Haben Sie recht, so bin ich bald wieder hier. Bestätigt sich aber meine Ahnung, so weiß ich allerdings noch nicht, wie und wann das alles enden wird.«
»Was hätten wir in diesem zweiten Fall zu tun, Master Geierschnabel?«
»Sie bleiben hier vor Anker liegen, bis ich wiederkomme.«
»Und wenn Sie nicht wiederkommen?«
»Dann warten Sie bis übermorgen früh und dampfen vorsichtig weiter. Sie werden Juarez auf alle Fälle finden. Aber ich bitte Sie, streng Wache zu halten. Nimmt man mich da drüben fest, dann hat man die Absicht, sich Ihrer Ladung zu bemächtigen. Man wird Sie also während der Nacht zu überfallen versuchen.«
»Wir werden nicht schlafen, sondern wachen.«
»Laden Sie Ihre Geschütze mit Kartätschen, und zwar sofort, aber so, daß man es drüben nicht sieht. Die Geschütze sind übrigens mit Wachsleinwand zugedeckt. Man wird also gar nicht merken, was vorgeht.«
»Aber Sie? Ich befürchte sehr Schlimmes für Sie!«
»Haben Sie keine Sorge, Lord. Mich hält man nicht fest. Selbst wenn man mich gefangennehmen sollte, werde ich entkommen. Ich eile dann zu Juarez.«
»Aber wie wollen Sie zu diesem gelangen?«
»Zu Pferde natürlich.«
»Sie haben ja kein Pferd.«
»Ich nicht, aber die da drüben. Übrigens kenne ich die Ecke, die zwischen hier und dem Sabinafluß liegt, sehr genau. Es ist jetzt noch ziemlich licht. Ehe es Nacht wird, erreiche ich die Prärie und bin, wenn das Pferd nur leidlich ist, mit Tagesanbruch bei Juarez. Dieser wird dann jedenfalls sofort aufbrechen, um die Kerle zu fassen.«
»Aber wie soll ich wissen, ob man Sie feindlich behandelt oder ob Sie entkommen sind?«
»Die feindliche Behandlung werden Sie mit den Augen sehen, das Entkommen aber mit den Ohren hören. Sitze ich einmal auf dem Pferd, so werde ich ganz sicher nicht eingeholt. Ist Ihnen der Schrei des mexikanischen Geiers bekannt?«
»Ja, sehr gut.«
»Nun, wenn ich einen solchen Schrei ausstoße, bin ich frei; beim zweiten sitze ich zu Pferde, beim dritten bin ich der festen Überzeugung, daß ich entkommen werde. Hören Sie dann aus der Ferne noch einen vierten Schrei, so ist dies das Zeichen, daß ich zu Juarez unterwegs bin.«
»Wir werden scharf aufpassen, Master.«
»Gut. Dann kann das Abenteuer beginnen.«
Geierschnabel griff in die Tasche seiner funkelnagelneuen Stoffhose, zog eine riesige Rolle Kautabak hervor und biß ein gehöriges Stück ab.
»Aber, Sir, ein Lord kaut gewöhnlich nicht«, lachte Amy.
»Pah! Auch ein Lord kaut«, antwortete er.
Mit diesen Worten nahm er den Regenschirm unter den Arm und sprang in das Boot. Dann gab er den beiden Männern, die noch wartend im Boot saßen, das Zeichen, die Ruder auszulegen.
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Das kleine Fahrzeug glitt schnell durch die Flut und erreichte in kurzer Zeit das Ufer.
Der scheinbar verunglückte Mexikaner hatte diesen Augenblick mit größter Ungeduld erwartet. Seine Augen funkelten, und er murmelte:
»Endlich! Aber diese Engländer sind doch verfluchte Kerle. Sogar hier im Urwald können sie ihre Mucken nicht lassen. Der Spleen bringt sie noch alle um den Verstand. Teufel! Hat der Kerl eine lange Nase!«
Geierschnabel stieg ans Ufer und kam, während seine beiden Ruderer im Boot zurückblieben, langsam auf den Liegenden zugeschritten. Er hatte den Bootsleuten befohlen, sofort zu fliehen, wenn sich etwas Feindseliges zeigen sollte. Er verzichtete also in diesem Fall von vornherein darauf, sich in das Boot und mit ihm zu retten.
Der »Kranke« tat, als ob er sich nur mit Mühe auf den Ellbogen erheben könne.
»O Señor, welche Schmerzen habe ich zu leiden!« stöhnte er.
Geierschnabel ließ den Klemmer bis auf die Nasenspitze rutschen, betrachtete sich den Mann mit einem schiefen Blick, stieß ihn mit dem Ende seines Regenschirmes leise an und sagte in schnarrendem Ton:
»Schmerzen? Where? Tut weh?«
»Natürlich!«
»Ah! Miserabel! Sehr miserabel! Wie heißt?«
»Frederico.«
»Was bist?«
»Vaquero.«
»Bote von Juarez?«
»Ja.«
»Welche Botschaft?«
Der Mexikaner zog ein Gesicht und stöhnte, als ob er die fürchterlichsten Qualen zu ertragen habe.
»Sind Sie Lord Lindsay?«
»Ich bin Lindsay. Was hast du zu sagen?«
»Juarez ist bereits unterwegs. Er läßt Sie bitten, an dieser Stelle anzulegen und ihn hier zu erwarten.«
»Ah! Wonderful! Wo ist er?«
»Er kommt den Fluß herab.«
»Wo aufgebrochen?«
»In El Paso del Norte vor zwei Wochen. In kürzerer Zeit kann die Fahrt nicht gemacht werden.«
»Schön! Gut! Werde aber doch weiterfahren. Kommt Juarez auf dem Fluß herab, werde ich ihn treffen. Gute Nacht.«
Er drehte sich gravitätisch um und tat, als wollte er sich wieder an das Ufer zurückbegeben. Da aber schnellte der Mann plötzlich empor und umschlang ihn von hinten.
»Bleiben Sie, Mylord, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!« rief er.
Geierschnabel blieb ganz steif stehen, als ob der Schreck ihn gelähmt hätte, und rief: »Zum Henker, was ist das?«
»Sie sind mein Gefangener!« antwortete der Mann.
»Ah! Täuschung! Nicht krank?«
»Nein«, lachte der Mexikaner.
»Spitzbube! Warum?«
»Um Sie zu fangen, Mylord!«
»Warum fangen?« fragte Geierschnabel.
»Ihrer schönen Ladung wegen, die sich dort in den Booten befindet.«
»Meine Leute werden mich befreien!«
»Oh, glauben Sie das nicht. Dort sehen Sie, daß Ihre beiden Ruderer bereits die Flucht ergreifen. Und da, blicken Sie sich um.«
Die Bootsleute hatten sich, wie ihnen ja geheißen werden war, sofort zurückgezogen, als sie bemerkten, daß Geierschnabel sich freiwillig überrumpeln ließ. Als dieser sich jetzt umdrehte, sah er eine Schar Reiter aus dem Wald hervorbrechen. In zwei Sekunden war er von ihnen umzingelt.
Er machte ein höchst erstauntes Gesicht und nestelte in größter Verlegenheit an seinem Regenschirm herum. Die Reiter sprangen alle von den Pferden. Cortejo näherte sich dem Gefangenen, machte aber, als er ihm gegenüberstand, ein höchst enttäuschtes Gesicht.
»Wer sind Sie?« fragte er den anderen barsch.
»Oh, wer sind Sie?« fragte dieser in einer sehr steifen Haltung.
»Mein Name ist Cortejo.«
»Cortejo? Ah, Pablo?«
»So heiße ich«, sagte der Gefragte in stolzem Ton.
»Thunderstorm! Das ist einzig!«
»Einzig, nicht wahr?« lachte Cortejo. »Das habt Ihr nicht erwartet. Aber nun sagt mir auch, wer Ihr seid, Señor.«
»Ich heiße Lindsay«, antwortete der Gefragte.
»Lindsay? Das ist eine Lüge!«
»Wer wagt das zu sagen?«
»Ich, ich kenne Lord Lindsay sehr gut. Ihr seid es nicht!«
Geierschnabel erschrak, doch faßte er sich schnell. Einen Mann wie ihn konnte so etwas nicht aus der Fassung bringen. »Nein, das bin ich nicht.«
»Warum gabt Ihr Euch für Lindsay aus?«
»Weil ich es bin.«
»Zum Teufel, wie habe ich das zu verstehen? Ihr seid es nicht und seid es doch?«
Geierschnabel fragte, ohne eine Miene zu verziehen:
»Einmal in Altengland gewesen?«
»Nein.«
»Ah, dann kein Wunder, daß nicht wissen. Lord nur ältester Sohn, spätere Söhne nicht Lord.«
»So sind Sie der spätere Sohn eines Lindsay?«
»Yes.«
»Wie ist Ihr Vorname?«
»Sir David Lindsay.«
»Hm; ist es so? Aber Sie sehen Ihrem Bruder ganz und gar nicht ähnlich.«
Geierschnabel spuckte hart am Gesicht des Sprechers vorbei und antwortete: »Nonsens, Unsinn!«
»Sie leugnen, Ihrem Bruder nicht ähnlich zu sehen?«
»Leugne dies allerdings sehr.«
»Inwiefern? Warum?«
»Pah! Haben unrecht. Nicht ich bin Bruder unähnlich, sondern er sieht nicht aus wie ich.«
»Aber ich erwarte doch Ihren Bruder.«
»Lord Henry? Warum ihn erwarten?«
»Ich erfuhr, daß er es sei, der die Ladung begleiten werde.«
»Irrung! Ich bin es!«
»Miß Amy sollte bei ihm sein.«
»War bei ihm.«
»Wer ist die Dame, die man von hier aus auf dem Verdeck sieht?«
»Eben Miß Amy.«
»Aber wo ist ihr Vater?«
»Bereits bei Juarez.«
»Ah! Also ist er bereits voran! Wo befindet sich Juarez?«
»Weiß nur, daß er in El Paso del Norte ist.«
»Und wie weit soll Ihre Ladung gehen?«
»Bis Fort Guadeloupe.«
Da ging ein höhnisches, siegesgewisses Lächeln über das Gesicht Cortejos. »So weit wird sie allerdings wohl nicht kommen.«
»Wie weit sonst?«
»Sie werden sie nur bis hierher bringen. Sie werden hier landen und mir alles übergeben.«
Der Engländer warf einen Blick im Kreise herum. Dieser Blick schien außerordentlich gleichgültig, fast geistesabwesend zu sein, und dennoch besaß er eine verborgene Schärfe, mit der er sämtliche Pferde musterte. In diesem Augenblick wußte er bereits, welchen Tieres er sich bemächtigen werde. »Ihnen übergeben?« fragte er. »Warum Ihnen?«
»Weil ich alles sehr notwendig brauche, was Sie bei sich führen.«
»Ah, sehr notwendig? Kann aber leider nichts verkaufen. Gar nichts.«
»O Señor, um das Verkaufen handelt es sich gar nicht. Ich werde vielmehr die ganze Ladung mitsamt den Dampfem und Booten geschenkt erhalten.«
»Geschenkt? Ich verschenke nichts.«
»O doch, denn ich werde Sie dazu zwingen!«
»Zwingen?« fragte der Engländer mit der gleichgültigsten Miene.
Dabei zuckte er die Schultern, spitzte den Mund und spritzte einen gewaltigen Strahl Tabaksbrühe so kunstgerecht aus, daß der Saft den Rand von Cortejos Hut traf und von der breiten Krempe herabtropfte.
»Donnerwetter!« rief der Getroffene. »Was fällt Ihnen ein! Wißt Ihr, was das für eine Beleidigung ist?«
»Gehen Sie weg!« sagte Geierschnabel ruhig. »Bin Englishman. Gentleman kann spucken, wohin er will. Wer nicht will sein getroffen, kann ausweichen.«
»Diese Mode werden wir Ihnen abgewöhnen! Sie haben jetzt zu erklären, daß Sie die Ladung mir übergeben wollen! Sonst sind Sie gefangen!«
»Pchtsichchchchchch!« fuhr Cortejo ein neuer Strahl gerade an der Nase vorüber. Geierscbnabel aber nestelte abermals an seinem Regenschimn herum und sagte: »Gefangen? Weiß gar nichts davon!«
»So sage ich es Ihnen hiermit.«
»Ah! Interessant! Sehr interessant! Habe längst einmal gefangen sein wollen!«
»Nun, dann ist Ihr Wunsch ja in Erfüllung gegangen. Sie haben jetzt Ihren Leuten zu befehlen, daß sie nicht weiterfahren.«
»Gut! Werde es tun!«
Der Jäger sagte dies in einem Ton, als sei er ganz und gar mit dem Mexikaner einverstanden. Er nahm den Regenschirm unter den Arm, legte die beiden Hände an den Mund und rief so laut, daß man es deutlich auf dem Dampfer verstehen konnte, über das Wasser hinweg:
»Hier halten bleiben! Pablo Cortejo ist es!«
Der Genannte faßte ihn am Arm und riß ihn zurück.
»Alle Teufel! Was fällt Ihnen ein! Wozu brauchen diese Leute denn zu wissen, wer ich bin?«
»Warum haben Sie es mir denn gesagt?« fragte der Engländer gleichmütig.
»Doch nicht, damit Sie es weiterbrüllen. Übrigens meinte ich nicht bloß, daß die Boote hier halten sollen. Ich meine vielmehr, sie sollen hier anlegen, um ausgeladen zu werden.«
Der Engländer schüttelte langsam den Kopf und erwiderte im treuherzigsten Ton: »Das werden sie nicht tun; ich verbiete es ihnen.«
»Das werden wir Ihnen zu wehren wissen! Wie viele Leute haben Sie bei sich?«
»Weiß nicht!«
»Das werden Sie doch wissen.«
»Vergesse zuweilen etwas. Fällt mir später wieder ein.«
»Nun, wir werden es ja leicht erfahren. Jetzt befehlen Sie, daß die Dampfer anlegen.«
»Fällt mir nicht ein!«
Da legte Cortejo Geierschnabel die Hand auf die Schulter und sagte in drohendem Ton: »Señor Lindsay, die Boote müssen am Ufer liegen, noch bevor es dunkel wird. Wenn Sie den Befehl nicht sofort erteilen werde ich Sie zu zwingen wissen!«
»Zwingen? Womit?«
Geierschnabel hatte den Regenschirm noch immer unter dem Arm und steckte jetzt die beiden Hände gleichmütig in die Hosentaschen. Es sah aus, als ob er ganz und gar keinen Begriff von der Gefährlichkeit seiner Lage habe, so unbefangen war seine Miene.
»Mit Hieben!« antwortete Cortejo.
»Hiebe? Was heißt das?«
»Ich lasse Ihnen fünfzig Hiebe aufzählen!«
»Fünfzig? Nur?«
»Señor, Sie sind verrückt!«
»Well! Sie aber auch!«
»Wenn Ihnen fünfzig zuwenig sind, so lasse ich Sie, um Ihnen einen Gefallen zu tun, so lange prügeln, bis Sie den Befehl geben.«
Geierschnabel zog beide Schultern hoch und machte ein unbeschreiblich verächtliches Gesicht.
»Prügeln? Mich, einen Englishman?« fragte er.
»Ja. Sie mögen tausendmal ein Englishman und zehnmal der Sohn und Bruder eines Lords sein, ich werde Sie dennoch peitschen lassen, wenn Sie nicht sofort gehorchen!«
»Versuchen Sie es!«
»Absteigen!« kommandierte der Mexikaner.
Er sah nicht, was für ein Blick jetzt aus dem Auge des vermeintlichen Engländers zu einer prachtvollen Rotschimmelstute hinüberglitt, deren Reiter eben aus dem Sattel stieg. Er sah auch nicht, daß der Engländer die Hände schon halb aus den Taschen zog und in jeder einen Revolver hatte. Er drohte ihm vielmehr:
»Sie werden jetzt vor meinen Augen geschlagen werden wie ein gewöhnlicher Wasserträger, wenn Sie nicht sofort gehorchen.«
»Dies ist Ihr Ernst?« fragte Geierschnabel.
»Natürlich!«
»Ah! Sie drohen wirklich einem Englishman?«
»Wie Sie sehen.«
»Und wollen mich wirklich vor Ihren Augen sch1agen lassen?«
»Ja, vor meinen Augen.«
»Nun, wir wollen sehen, ob Ihre Augen das wirklich erleben werden.«
Nach diesen letzten Worten folgte eine hlitzschnelle Szene: Geierschnabel hatte im Nu den Regenschirm zwischen die Zähne genommen. Es fiel diesem kühnen Mann nicht ein, selbst in der Gefahr, der er sich preisgab, den Schirm zu opfern. Zwei kräftige Fausthiebe trafen Cortejo. Im nächsten Augenblick hatte er seine beiden Revolver gezogen, und gleich darauf erfolgten in rasender Aufeinanderfolge seine Schüsse. Jeder Schuß warf einen Mann zu Boden.
Auch Cortejo lag auf der Erde. Die Schläge hatten seinen Kopf so getroffen, daß er einstweilen nicht sehen konnte. Er stampfte mit Händen und Füßen und brüllte wie ein Jaguar. Seine Leute waren eine Minute lang fassungslos. Einen so plötzlichen Angriff hatte man diesem spleenigen Engländer unmöglich zutrauen können. Aber diese an und für sich so kurze Zeit genügte.
Als er den letzten Schuß abgegeben hatte, stieß er laut den schrillen Schrei des Geiers aus. Im nächsten Moment bereits ertönte der zweite Schrei, denn Geierschnabel saß auf dem Rotschimmel. Er drückte ihm die Fersen in die Weichen, und die Stute flog dem Wald entgegen. Am Waldrand drehte er sich noch einmal um, und als er bemerkte, daß die Mexikaner noch immer ganz starr am Platze verhielten, ahmte er zum drittemnal den Ruf des Raubvogels nach. Dann war er zwischen den säulenartigen Baumstämmen verschwunden.
Erst jetzt rafften sich die Mexikaner auf.
»Ihm nach! Ihm nach!« brüllten sie.
Während die meisten Mexikaner wieder auf ihre Pferde sprangen, blieben einige bei Cortejo zurück, um ihm den nötigen Beistand zu leisten.
»Meine Augen, meine Augen!« brüllte dieser. Er sah allerdings schrecklich aus. Beide Augenhöhlen waren blutig gestoßen.
»Zum Wasser, zum Wasser!« brüllte er. »Kühlung! Kühlung!«
Die Leute erfaßten ihn und zogen ihn zum Fluß, um dem Verletzten mit dem Wasser Linderung der furchtbaren Schmerzen zu verschaffen.
Allmählich stellte sich die Wirkung des kalten Wassers ein. Das Wimmern ließ nach, und nachdem die Augen mit einem nassen Tuch verbunden waren, fühlte sich Cortejo imstande, hier und da ein Wort in das Gespräch zu werfen, das seine Untergebenen führten.
Die Verfolger Geierschnabels waren nämlich sehr bald wieder zurückgekehrt. Sie sagten, daß sie nicht vermocht hätten, die Spur des Entflohenen aufzufinden. Die Wahrheit jedoch war, daß ihnen die Boote mit ihrem reichen Inhalt mehr am Herzen lagen als der verrückte Engländer, der doch außer seinen beiden Revolvern nichts bei sich getragen hatte, was sie für ihre Mühe hätte entschädigen können.
Nur den Besitzer der Rotschimmelstute ärgerte es, daß er um sein Pferd gekommen war. Doch war Ersatz vorhanden. Geierschnabel hatte mit seinen zwölf blitzschnell abgeschossenen Revolverkugeln sechs Männer getötet, fünf schwer und einen leicht verwundet. Die Pferde dieser sechs waren jetzt zu haben, und der Mann suchte das beste davon für sich aus.
Mit den sechs toten Mexikanern wurde wenig Federlesens gemacht. Man warf sie ganz einfach in den Strom. Aber die Verwundeten waren in höchstem Grade hinderlich. Es fragte sich, was mit ihnen anzufangen sei.
»Ich wüßte wohl einen Ort, wo sie Unterkunft finden könnten« sagte der Mannschaftsführer.
»Wo?« fragte Cortejo, dessen Schmerzen sich gelindert hatten.
»Zunächst muß man damit rechnen, daß sie hier auf diesem Ufer nicht sicher sein würden. Drüben aber habe ich einen alten Bekannten, der etwa drei englische Meilen von hier am linken Ufer eine Blockhütte hat. Dort sind sie sicher und können ihre Heilung abwarten.«
»Könnte ich da mit?« rief Cortejo.
»Wer verbietet Ihnen das?«
»Kann ich denn hier fort?«
»Warum nicht? Sie können nichts sehen und daher auch nichts nützen.«
»Vielleicht bessert sich das eine Auge in dieser Nacht.«
»Möglich. Aber dennoch ist es besser, Sie pflegen sich, Señor. Lassen Sie Ihre Befehle hier. Wir werden sie genau befolgen.«
»Nein. Ich bleibe.«
Der Mannschaftsführer zog sich nach diesem Versuch zurück. Der Abend war hereingebrochen, und man brannte ein Feuer an. Der Mannschaftsführer saß daran in tiefes Nachdenken versunken. Später erhob er sich und winkte einigen seiner Kameraden, die die tüchtigsten zu sein schienen, ihm zu folgen, was diese sofort taten.
»Was willst du?« fragte ihn einer.
»Ich habe einen außerordentlich guten Gedanken«, sagte er. »Davon braucht aber dieser Cortejo nichts zu wissen.«
»Wir sollen ihn erfahren?«
»Sagt mir zunächst, was ihr von diesem Cortejo in Wahrheit haltet.«
Sie schwiegen, unentschlossen, ob sie die Wahrheit sagen sollten. Endlich antwortete einer:
»Sage zunächst, was du von ihm hältst.«
»Nun, ich denke, daß er ein Schafskopf ist.«
»Das hast du dir bisher nicht merken lassen.«
»Dann wäre ich ein großer Esel gewesen.«
»Wenn du es jetzt eingestehst, ist es keine Eselei mehr?«
»Nein. Habt ihr denn jemals geglaubt, daß dieser Cortejo wirklich Präsident werden könnte? Dazu ist er viel zu dumm. Der Panther des Südens hat sich mit ihm verbunden, um ihn auszunützen. Können wir es nicht ebenso machen?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, können wir die Boote da drüben nicht für uns nehmen?«
»Ohne Cortejo?«
»Ohne ihn!«
»Alle Teufel, das wäre allerdings ein außerordentlicher Fang.«
»Nun. Was sagt ihr zu meinem Gedanken?«
»Prachtvoll!«
»Und leicht auszuführen«, meinte der Führer. »Wenn ich nur wußte, ob ihr die Kerle seid, mit denen man aufrichtig reden darf.«
»Das sind wir. Rede getrost!«
»Nun gut. Glaubt ihr wohl, daß ein Hahn danach krähen würde, wenn Cortejo plötzlich verschwände?«
»Ein Mord? Brr!«
»Unsinn! Denkt einmal, was sich alles auf den Booten befindet. Ich weiß von Cortejo selbst, daß sich auch Hilfsgelder aus England dort befinden. Es sind viele Millionen. Wollen wir dieses Geld Cortejo lassen, damit er es mit seiner wahnsinnigen Idee, Präsident zu werden, zum Fenster hinauswirft?«
»Weißt du das von dem Geld gewiß?«
»Ganz gewiß. Die Spione des Panthers haben es ausgekundschaftet.«
»Dann wären wir fürchterliche Toren, ihm das Geld zu lassen.«
»Wir nehmen es für uns. Seid ihr einverstanden?«
»Ja«, antworteten die anderen.
»Cortejo muß auf die Seite geschafft werden. Wenn Millionen zu verteilen sind, gibt es keine großen Bedenken. Die Hauptsache ist, daß wir im stillen verarbeiten. Wir mischen uns unter die Kerle und horchen sie aus, ehe wir mit unseren Absichten herausrücken.«
»Aber Cortejo war unser Anführer, er hat nie geknausert und sehr oft die Augen zugedrückt. Hat er uns nicht erst kürzlich die Hazienda del Erina plündem lassen? Ich möchte nicht, d aßer getötet wird. Wir könnten uns ja auf andere Weise seiner entledigen. Wir bauen zum Beispiel ein kleines Floß und setzen ihn darauf. Er kann den Strom hinabschwimmen, bis man ihn findet.«
»Das wäre allerdings ein Ausweg. Ich denke, daß dieser Vorschlag nicht schlecht ist. Was meint ihr dazu?«
Die Gefragten waren einverstanden. Nach einer nur sehr kurzen Beratung wurde beschlossen, Cortejo auf einem Floß auszusetzen.
»Was tun wir mit den Verwandeten? Machen sie mit, so wird unser Anteil kleiner. Ich denke, sie sind auch überflüssig.«
»Das ist wahr.«
»Wollen wir sie nicht zu Cortejo auf das Floß tun?«
»Nein«, sagte ein anderer, der doch nicht ganz so gewissenlos war. »Sie sind unsere Kameraden. Vielleicht sterben sie noch diese Nacht. Laßt sie liegen, wir wollen es erst abwarten. Es genügt, Cortejo los zu sein, denn dadurch werden wir an seiner Stelle Eigentümer der Beute. Ohne einen Anführer aber geht es nicht. Es ist notwendig, einen zu wählen, und ich denke, wir besprechen uns jetzt gleich darüber und suchen einen von uns aus.«
Auch dieser Gedanke wurde für gut befunden, und nach einigem Hin- und Herreden sah sich der, der als Lockvogel auf dem Felsen gelegen hatte, zum Anführer der Truppe gewählt.
Jetzt bildeten sich einzelne Gruppen, in denen eine leise Unterhaltung geführt wurde. Die Gruppen näherten sich nach und nach einander und flossen schließlich wieder zu einem Ganzen zusammen. Die Unterhaltung war jetzt so leise und heimlich geworden, daß es Cortejo endlich auffiel.
»Was gibt es? Warum flüstert Ihr?« fragte er argwöhnisch.
»Wir fragen uns, was werden soll«, antwortete der Anführer.
»Was werden soll? Die Dampfer liegen doch noch da. Sie werden die Rückkehr des Engländers erwarten. Wir nehmen sie vorher weg.«
»Aber wie? Wenn wir nur Boote hätten! Meint Ihr; daß wir uns Flöße bauen sollen?«
Cortejo sann ein wenig nach und sagte dann:
»Das ist nicht vorteilhaft. Flöße lassen sich schlecht lenken. Könnte ich sehen, dann wären diese Dampfer und Boote in einer Stunde unser.«
»Wohl schwerlich, Señor! Wir haben keine Boote und sollen auch keine Flöße bauen!«
»Ganz richtig! Aber wer hindert uns denn, hinüberzuschwimmen?«
»Das ist wahr. Aber nicht alle können schwimmen.«
»Ist das notwendig? Wächst hier nicht Holz und Schilf genug. Wenn sich jeder ein tüchtiges Bündel macht, auf das er sich mit dem Oberkörper legt, so möchte ich den sehen, der nicht hinüberkornmt.«
»Aber das Pulver wird naß.«
»Nein, denn die Büchsen bleiben zurück. Wenn jeder seine Machete mitnimmt, genügt es. Kommen wir einzeln angeschwommen, so werden wir nicht bemerkt. Wir haben die Dampfer und Boote bestiegen, ehe die Bemannung eine Ahnung hat, und stoßen sie nieder. Dann wird die Ladung an Land bugsiert. Oh, wenn ich nur sehen und dabeisein könnte!«
»Dabeisein könntet Ihr ja, Señor! Wir richten für Euch ein größeres Floß her und nehmen Euch mit.«
»Ich kann es doch nicht lenken.«
»Das ist nicht nötig. Ihr nehmt Euch zwei oder drei Mann mit.«
»Das ginge. Die Schmerzen haben ziemlich nachgelassen. Ich hoffe zwar, morgen auf einem Auge wieder sehen zu können, aber wenn wir mit dem Angriff bis dahin warten, kann uns der Fang leicht entgehen.«
»Darum stimmen wir Euch bei, so bald wie möglich anzugreifen.«
»Gut«, sagte Cortejo. »Seht ihr noch Lichter auf dem Schiff?«
»Kein einziges.«
»Sie schlafen. Sie denken, die Gefahr sei vorüber. Ihr müßt euch im voraus einteilen, damit jeder weiß, welchen Dampfer oder welches Boot er zu besteigen hat. Auch müssen wir das Feuer auslöschen, sonst werden wir von seinem Schein verraten. Geht und haut Schilf und Zweige ab und baut mir ein Floß!«
»Wohin wollt Ihr gerudert sein, Señor?«
»Zum vordersten Dampfer. Dort wird die Señorita sofort gefesselt, Die Ladung bleibt natürlich bis morgen unberührt.«
»Warum, Señor?«
»Ich muß sehen können.«
Die Leute warfen sich vielsagende Blicke zu und gingen an ihre Arbeit.
Es war jedenfalls von Cortejo eine Dummheit, sich in seinem Zustand zum Dampfer flößen zu lassen. Aber er traute seinen Leuten nicht und glaubte, den Inhalt der Boote sicherer zu haben, wenn er persönlich dabei war, obgleich er sich an dem Kampf nicht beteiligen konnte.
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Als das Boot, mit dem Geierschnabel vom Dampfer stieß, an das Ufer gerudert wurde, war die ganze Besatzung in größter Spannung, was geschehen werde.
Sie beobachteten den Vorgang mit atemloser Erwartung, bis plötzlich ein Schuß erscholl und gleich darauf eine ganze Reihe von weiteren Schüssen.
»O Gott, sie schießen ihn nieder!« jammerte Amy.
»Nein«, antwortete der Steuermann. »Zwar habe ich kein Fernrohr, aber ich glaube im Gegenteil, daß er sie niederschießt.«
Der erste Schrei des Geiers erscholl und gleich darauf der zweite.
»Gott sei Dank, er befreit sich!« rief Amy entzückt.
»Siehst du ihn dort auf dem Pferd?« fragte der Lord, die Hand ausstreckend.
»Ja. Er galoppiert gerade zum Wald.«
Der dritte Geierschrei erscholl, und gleich darauf der vierte. Der Reiter war verschwunden.
»Er ist gerettet!« jubelte Amy.
»Er reitet zu Juarez!« fügte der Vater hinzu. »Dem Himmel sei Dank. Mir war bange um ihn. Aber noch ist er nicht gerettet. Sieh, man verfolgt ihn!«
Die Mexikaner verschwanden im Walde.
»Oh, er wird sich nicht einholen lassen; er hat uns das versichert«, meinte Amy. »Wen bringt man dort ans Ufer, Papa?«
Der Lord richtete sein Fernrohr und antwortete nach einer Weile:
»Das ist ja Cortejo.«
»Was ist mit ihm?«
»Er muß im Gesicht verwundet sein. Mehr kann ich nicht erkennen.«
Die Männer in den Booten hörten das Brüllen und Wimmern Cortejos, das nach und nach leiser wurde und endlich ganz aufhörte.
»Die Verwundung muß sehr schmerzhaft sein«, sagte Amy.
»Recht so. Er hat es verdient«, antwortete der Lord. »Ich gäbe viel darum, wenn der Mann in meine Hände fiele.«
»Juarez kommt und wird ihn fangen, Papa.«
»Ich hoffe es. Leider ist es jetzt dunkel. Wer weiß, was geschieht. Vielleicht verlassen sie den Platz, weil ihre Kriegslist mißglückt ist.«
Die Annahme erwies sich als unbegründet, denn bald sah man die zahlreichen Verfolger zurückkehren. Sie lagerten sich, und als der Abend hereinbrach, wurde drüben sogar ein Feuer angebrannt, dessen Schein auf das Wasser fiel.
»Sie bleiben, Papa«, sagte Amy. »Ist das schlimm für uns?«
»Schlimm nicht, obgleich ich vermute, daß sie uns einen Besuch machen werden.«
»Aber ihre List ist ja nicht gelungen!«
»Eben deshalb. Sie wollten mich in ihre Hand bekommen, und mit meiner Person auch die Ladung. Sie haben sich geirrt und. werden infolgedessen, um ihr Ziel zu erreichen, einen Angriff wagen.«
»Da sind wir doch in großer Gefahr.«
»Wir werden wachsam sein. Wir werden hören, wenn sie kommen, und ich lasse die Geschütze vorher so richten, daß sie die ganze Oberfläche bestreichen. Jedenfalls bauen sie sich ein Floß.«
Nach einer halben Stunde erlosch plötzlich das Feuer am Ufer. Die goldenen Lichtstrahlen verschwanden, und es lag tiefste Finsternis über der Flut.
»Nun wird es wohl beginnen«, flüsterte Amy.
»Höchstwahrscheinlich. Gehe in die Kajüte, mein Kind.«
Amy ging schweigend. Da rief auch schon der Steuermann. der fortgesetzt die Wasserfläche beobachtete:
»Sie scheinen zu kommen!«
»Soll ich Licht geben?«
»Ja, es ist Zeit.«
Einige Augenblicke später zischten Raketen empor. Man konnte die ganze Oberfläche des Stromes deutlich überblicken. Der Steuermann hatte richtig gesehen. Vom Ufer sah man Kopf an Kopf die Mexikaner herüberschwimmen.
»Feuer!« rief Lindsay mit lauter Stimme.
Ein lauter Donner war die Antwort; ein prasselndes Plätschern folgte. Die Boote schaukelten auf und nieder. Schreie erschollen auf dem Strom, dann wurde es wieder still und dunkel.
»Mehr Raketen«. rief der Steuermann.
Eine neue Feuergarbe stieg empor. Da sah man nun. daß die Schüsse nicht vergebens gewesen waren. Viele Feinde schienen zwar nicht getötet worden zu sein, doch konnte man deutlich bemerken, daß sie alle wieder dem Ufer zustrebten. Eine Art von Floß wurde stromab getrieben, und der darauf lag, schien tot zu sein. Hätte Lindsay geahnt, daß dieser Mann Cortejo war, so hätte er sicherlich ein Boot ausgesandt, um sich seiner zu bemächtigen.
»Sie fliehen dem Ufer zu, wir haben gewonnen«, jubelte Amy.
»Für dieses Mal, ja«, antwortete der Lord. »Es ist aber zu erwarten, daß sie einen zweiten Angriff unternehmen.«
»Wollen wir ihm nicht ausweichen?« fragte der Steuermann.
»Auf welche Weise?«
»Wir dampfen ganz einfach eine Strecke aufwärts.«
»Glauben Sie nicht, daß uns die Mexikaner folgen werden?«
»Bei diesem Dunkel, durch den Wald und das Ufergestrüpp? Das ist unmöglich. Sie werden sich die Köpfe einrennen.«
»Aber laufen wir nicht auf dem Strom Gefahr?«
»Nein. Wir haben zwar eine gefährliche Krümmung vor uns, aber wir werden sie langsam durchfahren.«
»So will ich Ihnen den Gefallen tun.«
Der Steuermann gab seine Befehle, die mit halblauter Stimme von Boot zu Boot weitergegeben wurden, und bald setzten sich die Dampfer in langsame Bewegung.
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Am Ufer standen die Mexikaner in tiefer Dunkelheit. Der Anführer ließ zunächst das Feuer wieder anschüren, so daß jeder seine abgelegten Oberkleider und Schußwaffen wiederfinden konnte.
Nun stellte sich auch heraus, welchen Schaden die Kartätschen angerichtet hatten. Es fehlten gegen dreißig Mann.
»Der Teufel hole diese Halunken«, knirschte der Mann. »Wie kamen sie dazu. Raketen steigen zu lassen, als wir unterwegs waren?«
»Sie haben uns gehört«, antwortete einer.
»Unmöglich, das muß eine andere Bewandtnis haben.«
»Ich kann es mir denken. welche«, meinte ein anderer. »Sie sind dadurch aufmerksam geworden, daß wir unsere Feuer ausgelöscht haben. Sie haben sich denken können, weshalb wir das taten.«
»Richtig! So ist es. Wir müssen den Angriff wiederholen, lassen aber die Feuer dieses Mal brennen.«
»Dann sehen sie uns kommen.«
»Nein. Wir gehen eine Strecke stromaufwärts, schwimmen so weit wie möglich hinüber und lassen uns dann abwärts treiben, so daß wir von der anderen Seite. wo sie uns gar nicht vermuten, an sie herankommen.«
»Das wäre wohl praktisch, wird aber zu nichts führen. Da schaut nur.«
Aller Augen richteten sich auf den Fluß. Aus den Essen der beiden Dampfer flogen Funken; dann hörte man das Rauschen der Räder.
»Donnerwetter, sie dampfen fort«, rief der Anführer.
»Ja, sie entgehen uns.«
»Nun können wir ihnen morgen abermals nachsetzen.«
»Und unsere Verwundeten mitschleppen.«
Die Dampfessen warfen jetzt lange Funkenschweife, da die Maschinen mit Holz geheizt wurden. Die Mexikaner sahen diese Garben hinter der Krümmung des Flusses verschwinden.
»Was nun?« fragte einer.
Der Anführer blickte finster zu Boden und antwortete:
»Es bleibt uns nur eins zu tun, ihnen den Weg abzuschneiden. Der Fluß macht hier eine große Biegung. Wenn wir diese Ecke abschneiden, kommen wir ihnen zuvor.«
»Wann brechen wir auf?«
»Heute natürlich nicht, sondern erst bei Tagesanbruch. Jetzt wird geschlafen.«
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Als Cortejo sich bei dem Angriff der Mexikaner auf einem Floß in die Nähe der Dampfer bringen ließ, ahnte er nicht, daß er mit diesem Entschluß der Absicht seiner Leute entgegenkam, die ihn auf diese Weise los werden wollten, um die Beute allein unter sich zu teilen.
Mitten auf dem Strom hörten Cortejo und seine zwei Begleiter auf dem Floß die laute Stimme des Lords, der »Feuer« kommandierte.
Die Geschütze krachten, und einen Augenblick lang schien das Wasser des Flusses sich in Wallung zu befinden. Es spritzte unter der Gewalt der einschlagenden Kartätschen hoch auf. Unterdrückte Schreie und Flüche wurden ringsum doch noch hörbar, und die Köpfe vieler der Schwimmenden verschwanden von der Oberfläche des Flusses.
Eine Kugel hatte auch einen der beiden getroffen, die das Floß Cortejos lenkten.
»Santa Madonna, hilf!« rief er.
»Was ist’s?« fragte Cortejo.
»Ich bin in den Arm getroffen. Ich kann nicht mehr!«
Damit ließ der Verwandete das Floß fahren, und als in diesem Augenblick die Raketen abermals hochstiegen, sah sein Gefährte ihn sinken.
»Halte dich mit dem unverletzten Arm fest«, rief Cortejo.
»Es ist bereits zu spät, Señor«, antwortete der andere. »Der arme Teufel ist untergegangen. Er ist wahrscheinlich nicht nur in den Arm getroffen worden.«
»So bleibe du nur am Platz. Wie sieht es aus? Ich habe nichts gesehen.«
»Man hat vom Schiff aus Raketen steigen lassen.«
»Donnerwetter! Und mit Kanonen geschossen? Hat es getroffen?«
»Ja, Señor.«
»So mag man sich beeilen, an Bord zu kommen.«
»Oh, damit ist nichts! Sie fliehen alle dem Ufer zu, alle, die noch übrig sind.«
»Hölle und Teufel! Alle? So ist der Angriff mißlungen?«
»Vollständig, Señor!«
»Oh, daß ich nicht sehen kann! Es würde ganz anders ausgegangen sein.«
»Es würde nicht anders sein. Das Augenlicht schützt nicht vor Kartätschen.«
»Rudere auch mich an das Ufer!«
»Fällt mir gar nicht ein«, antwortete der Mann, auf einmal in einen ganz anderen Ton übergehend.
»Wie? Was meinst du?« fragte Cortejo erstaunt.
»Daß ich Sie nicht mehr rudere.«
»Warum?«
»Weil es mir verboten ist, Sie wieder ans Ufer zu bringen.«
Cortejo war starr. Ihm ging plötzlich eine Ahnung auf, in welcher Gefahr er sich infolge seiner Blindheit befand. Es war dies eine Gefahr, an die er bisher noch gar nicht gedacht hatte. Eine entsetzliche Angst begann sich seiner zu bemächtigen.
»Was will man mit mir tun?« fragte er bebend.
»Erst wollte man Sie töten …«
»Heilige Madonna! Das ist doch ganz unmöglich!«
»Dann hat man beschlossen, Sie auf diesem Floß dem Strom zu übergeben. Das Weitere wird sich von selbst finden.«
»Und das wolltest du tun?«
»Ja, ich muß.«
»Daran werde ich dich denn doch hindern.«
Cortejo hatte sich auf das Floß hingestreckt. Sein Kopf befand sich ganz in der Nähe der Stelle, wo der Schwimmer das Floß gefaßt hatte.
»Wie wollen Sie das anfangen?« fragte der Mann.
»In dieser Weise!« entgegnete Cortejo und griff, obgleich er nichts sehen konnte, zu, um die Hand des Mannes zu umfassen.
»Ah«, sagte dieser, »Sie wollen mich festhalten? Lassen Sie mich los!«
Sie waren jetzt mit dem Floß dem Ufer nahegekommen.
»Nein, ich lasse dich nicht los!«
Mit diesen Worten klammerte Cortejo seine Finger mit doppelter Kraft um das Handgelenk des Mannes.
»Nun, so brauche ich Gewalt!« rief dieser.
Dabei zog er mit der anderen Hand seine Machete aus dem Gürtel und legte die Schneide des haarscharfen Messers auf die Hand Cortejos. Als dieser den Stahl fühlte, rief er erschreckt:
»Du willst mich verletzen?«
Cortejo zog rasch seine Hand zurück.
»So!« sagte jetzt der andere. »Schwimmt, wohin Ihr wollt.«
Dann gab er dem Floß einen kräftigen Stoß, so daß es wieder der Mitte des Stromes zutrieb, und schwamm ans Ufer.
Cortejo fühlte den Stoß.
»Bist du fort?« fragte er.
Keine Antwort ertönte.
»Antworte! Ich bitte dich um Gottes willen, antworte!«
Aber so sehr er auch lauschte, es ließ sich nichts hören.
»Allein! Blind und verlassen! Bei lebendigem Leibe dem sicheren Tode übergeben! Wie rette ich mich?«
Cortejo besaß Tatkraft genug, um die Partie noch nicht aufzugeben.
»Ah!« sagte er. »Wer hindert mich, selbst an das Ufer zu rudern? Dann werde ich zu ihnen treten und ein strenges Gericht halten. Es wird noch viele unter ihnen geben, die zu mir halten. Vorwärts also!«
Er glitt vom Floß herab, hielt sich an ihm fest und arbeitete sich, wie er meinte, dem Ufer entgegen. Aber er konnte nichts sehen. Das Floß hatte sich gedreht und drehte sich noch immer. Er merkte dies daran, daß er abwechselnd die Strömung mit sich und gegen sich hatte. Es war ihm unmöglich, die Richtung einzuhalten.
»Es geht nicht!« jammerte er, als er sich fast außer Atem gearbeitet hatte. »Ich bin verloren, es gibt keine Rettung mehr. Selbst wenn ich um Hilfe rufe, habe ich nichts zu hoffen. Dieser englische Lord wird mich hören und eins seiner Boote nach mir senden; ich falle dann in seine Hände. Nur ein günstiger Zufall kann mich retten. Ich muß abwarten, ob die Strömung mich vielleicht ans Ufer treibt.«
Das Arbeiten im Wasser hatte ihn geschwächt. Seine Augen schmerzten wieder außerordentlich, und er nahm das Tuch ab, um es ins Wasser zu halten und die Augen zu kühlen.
So wurde er von der Strömung weitergetragen.
Trotz der in jenen Ländern herrschenden Tageswärme sind die Nächte kalt. Cortejos Kleidung war durchnäßt, und bald zitterte er vor Kälte. Dazu kamen das Wundfieber und der Schmerz der Augen, der auch bei ihrer Kühlung mit Wasser nicht weichen wollte. Er getraute sich nicht zu wimmern, und doch hätte er vor Schmerz laut aufbrüllen mögen.
Viertelstunden wurden ihm zu Ewigkeiten, aber es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß er diese Qualen durch eigene Schuld erlitt.
Endlich fühlte er einen Ruck. Das Floß war an das Ufer gestoßen. Er tastete mit der Hand herum und ergriff einen Zweig, an dem er sich festhielt. Bei einer Untersuchung merkte er, daß das Floß so weit über das flache Ufer heraufgetrieben worden war, daß es festsaß.
Er blieb noch liegen um seiner Augen willen, die des kalten Wassers so sehr bedurften, und die unausgesetzte Kühlung hatte wirklich zur Folge, daß der Schmerz sich verminderte. Auch das Fieber ließ nach.
Jetzt kroch er an Land und ging eine Strecke durch Schilf und Sträucher, um sich eine Lagerstelle zu suchen.
»Zunächst muß ich mich verstecken«, murmelte er, »damit mich meine Leute nicht finden, wenn sie mich etwa suchen sollten.«
Nur durch den Tastsinn konnte er sich davon überzeugen, daß er an einer Stelle war, die ihm Deckung bot. Dann streckte er sich hin.
»Wenigstens bin ich nicht ertrunken!« sagte er sich. »Noch hatte ich Glück. Wer weiß, auf welche Art ich noch Rettung finde!«
Die Anstrengung, der Schmerz und das Fieber hatten ihn so angegriffen, daß er in einen Schlaf versank, der zwar unruhig war, ihm aber doch für einige Zeit Vergessenheit gewährte. Endlich wurde er durch die Kälte geweckt und fühlte an dem Hauch des sich erhebenden Windes und an dem eigentümlichen Nebel, daß der Morgen nahe war.
»Was wird der Tag bringen?« fragte er sich.
Eine Antwort konnte er sich allerdings nicht geben. Doch bald bemerkte er etwas, das ihm tausendmal lieber war, als wenn er sich diese Frage hätte beantworten können. Er stellte nämlich fest, daß das Sehvermögen seines linken Auges noch nicht erloschen war. Als die Sonne ihre ersten Strahlen auf das Wasser warf und die Oberfläche goldig glitzerte, war es ihm, als ob er dieses Gold leuchten sähe. Es war keine Täuschung. Zwar war das Auge noch sehr entzündet, aber von Viertelstunde zu Viertelstunde besserte es sich, und als es Mittag war, konnte er bereits seine Hände sehen, wenn er sie nahe genug ans Auge hielt.
»Lord« Geierschnabel
Zur Zeit des mißglückten Angriffs der Mexikaner und in ziemlicher Entfernung von ihnen kam Juarez mit den Seinen am Zusammenfluß des Sabina mit dem Rio Salado an. Trotz der Dunkelheit wurde das Ufer des Flusses gesucht, aber es fand sich keine Spur von dem erwarteten Engländer. Darum wurde ein Lager errichtet, nachdem man vorher die Pferde versorgt hatte.
In diesem Lager sah es ganz anders aus als in jenem der Mexikaner des Cortejo. Hier sorgten Wachen für die Sicherheit des Ganzen.
Der Ritt war anstrengend gewesen; darum schlief man fest und tief bis zum Anbruch des Morgens, an dem die Jäger sich rüsteten, in der Umgebung jagdbares Wild aufzutreiben.
Bärenherz und sein Bruder Bärenauge waren die ersten, die sich in den Sattel schwangen. Kaum hatten sie von der Erhöhung aus einen freieren Ausblick, als Bärenherz rief:
»Uff! Wer ist das?«
»Kommt jemand?« fragte Juarez.
Der Indianer streckte seinen Arm aus, um die Richtung anzudeuten.
Der Lagerplatz war hinter Büschen versteckt, durch deren Lücken man eine weite Prärie erblickte. Über die Ebene kam ein Reiter im rasenden Galopp dahergejagt. Er war bereits so nahe, daß man alle Einzelheiten an ihm genau erkennen konnte.
»Ein sonderharer Mensch«, lachte Juarez. »Der Mann hat einen Regenschirm aufgespannt. Zu welchem Zweck eigentlich?«
»Der Kleidung nach scheint es ein Engländer zu sein«, bemerkte Sternau.
»Vielleicht ein Bote von Sir Lindsay.«
»Hm! Sollte der Lord auch Pferde an Bord haben? Übrigens reitet dieser Mann nicht wie ein Engländer, sondern wie ein Indianer.«
»Er richtet sich im Sattel auf. Er scheint etwas zu suchen. Wollen wir uns ihm zeigen?«
»Ja.«
Sie traten zwischen den Büschen hervor, und der Reiter erblickte sie sofort. Erst schien er zu stutzen, dann lenkte er sein Pferd gerade auf sie zu.
Als er näher gekommen war, schwang er mit der Rechten den aufgespannten Regenschirm, mit der Linken den Zylinderhut und stieß einen lauten Ruf der Freude aus.
Einige Augenblicke später hielt er vor ihnen, sprang aus dem Sattel und versuchte, unter Verwendung des Hutes und Schirmes, einige noble Verbeugungen zustandezubringen, was ihm aber schauderhaft mißglückte.
Sie erblickten die große Nase, sie starrten auf den grauen Anzug. Sie wußten sich das nicht zu erklären, aber aus aller Munde erklang ein Name:
»Geierschnabel!«
»Ja, Geierschnabell Habe die Ehre, Mesch’urs und Señores«, sagte der Reiter unter abermaliger Verbeugung.
Dabei klappte er den Regenschirm zu, spießte ihn in die Erde, stülpte den Hut darüber und riß den Rock herunter, den er über den Hut legte »Verdammte Verkleidung!« fluchte er. »Einmal Engländer gespielt, aber niemals wieder, meine Herren!«
»Sie haben den Engländer gespielt?« fragte Juarez erstaunt, »Warum?«
»Um mich fangen zu lassen.«
»Ich verstehe Sie nicht. Sie wollten sich fangen lassen?«
Der Mann zog eine Rolle Kautabak hervor, biß ein Stück davon ab und antwortete:
»Ja. Und ich war auch gestern am Rio del Norte gefangen.«
»Von wem?«
»Von einem gewissen Pablo Cortejo.«
»Pablo Cortejo?« fragte Sternau. »Ich denke, der ist am San Juano?«
»O nein, Sir! Wenn Sie ihn sehen und fangen wollen, können Sie ihn bereits kurz nach Mittag haben.«
»Erzählen Sie, erzählen Sie! Sie haben Sir Lindsay doch in El Refugio glücklich angetroffen?«
»Das versteht sich, und wir sind sofort nach dem Sabina aufgebrochen.«
Geierschnabel erzählte nun weiter bis zu seinem gestrigen Abenteuer, dann fuhr er fort:
»Ich bin die ganze Nacht geritten, so scharf, daß ich sogar vergessen habe, ein Stück Virginia in den Mund zu nehmen.«
»Der Lord erwartet uns also an jener Flußkrümmung?« fragte Juarez.
»Ja, Señor.«
»Er kommt nicht hierher?«
»Nein, denn ich sagte ihm, daß ich Sie holen werde.«
»Und was sagten Sie von Cortejo? Er sei blind?«
»Ich nehme an, daß er es ist. Ich habe ihm beide Revolver mit aller Gewalt in die Augen gestoßen. Er kann seiner Gefangennahme gar nicht entgehen.«
»Werden seine Leute den Lord nicht angegriffen haben?«
»Jedenfalls. Doch ich bin überzeugt, daß er sich wie ein Mann verteidigt hat.«
»Und wenn seine Ladung doch in ihre Hände gefallen ist?«
»So holen wir sie uns wieder, Señor.«
»Brechen wir auf! Können Sie uns führen, oder sind Sie zu müde?«
»Müde?« fragte er, indem er einen Tabakstrahl an der Nase des Präsidenten vorüberspritzte. »Geben Sie mir nur ein anderes Pferd!«
Es wurde ein kurzer Kriegsrat gehalten, dessen Ergebnis war, daß ein Teil der Leute bei den Pferden zurückbleiben, die anderen sofort aufbrechen sollten, um dem Lord zu Hilfe zu kommen.
Eine Viertelstunde nach Ankunft Geierschnabels brauste die Truppe im schnellstem Galopp über die Ebene dahin, Sternau mit Geierschnabel als Führer an der Spitze. Dieser letztere hatte den Zylinder wieder auf und hielt den aufgespannten Regenschirm über dem Kopf.
»Machen Sie ihn doch zu«, sagte Sternau lachend. »Es reitet sich ja schwerer.«
»Ich habe ihn aber nun einmal.«
»Deshalb ist es doch nicht notwendig, ihn aufzuspannen.«
»Ein Schirm ist zum Aufspannen da, nicht zum Zumachen. Ich habe ihn, und deshalb nehme ich ihn auch in Gebrauch, wie es sich gehört.«
Bald hielten sich nicht Sternau und Geierschnabel allein an der Spitze, Mariano hatte sich zu ihnen gesellt. Er war fieberhaft erregt. Es ging ja einem Wiedersehen entgegen, das er jahrelang nicht für möglich gehalten hatte. Sein Pferd lief mit allen Kräften und doch war ihm der Trab noch zu langsam. Sternau bemerkte das und sagte:
»Euer Gaul muß ja zusammenhrechen, Mariano. Laßt ihm Luft!«
»Vorwärts!« war die einzige ungeduldige Antwort Marianos.
Die Pferde der beiden Männer waren ausgezeichnete Läufer. So kam es, daß sie den anderen eine bedeutende Strecke voraus waren.
Es mochte gegen Mittag sein. Sternau musterte zufällig den Horizont, und dabei bemerkte sein Auge eine Bewegung an der äußersten Gesichtslinie. Er hielt sofort das Pferd an und zog sein Fernrohr hervor.
Auch die beiden Gefährten parierten ihre Pferde.
»Was gibt es?« fragte Mariano, ärgerlich über die Verzögerung.
»Es kommen Reiter, und zwar gerade auf uns zu«, antwortete Sternau.
»Vom Fluß her?« fragte Geierschnabel schnell. »Das könnte ja nur Cortejo mit seinen Leuten sein. Geben Sie mir einmal das Fernrohr.« ’
Er erhielt es und blickte hindurch. Die anderen waren unterdessen näher gekommen. Das Glas ging von Hand zu Hand.
»Ich lasse mich hängen, wenn das nicht Cortejos Leute sind«, meinte Geierschnabel.
»Sehen Sie das genau?« fragte Sternau.
»Nicht ganz, dazu sind sie noch zu weit entfernt.«
»So warten wir ab!«
Da langte auch Juarez mit den anderen bei ihnen an.
»Was gibt es?« fragte er.
»Da vom kommen Leute, die ich für Cortejos Reiter halte«, antwortete Geierschnabel.
»So kämen sie zurück?«
»Ich vermute es einstweilen, doch werde ich mich wohl nicht irren, kalkuliere ich.«
»Was tun wir, Señor Sternau?«
»Wir gehen links hinter das Buschwerk und bilden drei Abteilungen, eine vorn, eine in der Mitte und eine hinten. Die erste und dritte hat den Feind zu umgehen, sobald Geierschnabel das Zeichen gibt. Vorwärts!«
Die Truppe zog sich nun hinter die Büsche zurück und gehorchte der Einteilung, die Sternau getroffen hatte. Geierschnabel hielt neben diesem. Er rückte unruhig im Sattel hin und her und sagte:
»Señor, darf ich mir einen Spaß machen? Ich bin diesen Leuten gestern ausgerissen. Sie sollen das Vergnügen haben, mich wieder zu fangen.«
»Das ist zu gefährlich für Sie.«
»Pah! Bitte noch einmal Ihr Rohr!«
Er betrachtete jetzt hinter den Zweigen hervor die Nahenden zum zweiten Male und sagte dann, indem er das Fernrohr zusammenschob:
»Sie sind es! Der, welcher voranreitet, ist der Kerl, der sich für einen Boten des Präsidenten ausgab. Señores, laßt mir meinen Spaß!«
Damit stieg Geierschnabel ab und zog sein Pferd vor den Busch.
Er selbst setzte sich ins Gras, schob den Zylinderhut ins Genick und spannte den Regenschirm über sich auf. Das hatte ganz das Aussehen, als habe er schon lange Zeit hier gesessen. Übrigens kehrte er den Nahenden den Rücken zu. Den Zwicker auf der Nase, schien er ganz in sich versunken.
Sie hatten ihn bis jetzt noch nicht bemerkt. Nun aber waren sie in solche Nähe gekommen, daß er gesehen werden mußte. Der Anführer hielt erstaunt sein Pferd an.
»Alle Teufel!« rief er. »Schaut dorthin, dort sitzt einer auf der Erde!«
Seine Begleiter folgten seinem ausgestreckten Arm und erblickten einen großen Regenschirm, über dessen oberen Rand der Deckel eines grauen Zylinderhutes sichtbar war.
»Bei allen Heiligen, das ist ja gar der Engländer! Jetzt haben wir gewonnen.«
Mit diesen Worten setzte der Anführer sein Pferd in Bewegung, und die anderen folgten. Bei Geierschnabel angekommen, hielten sie.
»Holla, Señor, sind Sie es oder ist es Ihr Geist?« wurde von allen Seiten gefragt.
Jetzt erst drehte Geierschnabel sich ruhig um, erhob sich langsam, klappte den Regenschirm zu, betrachtete die Leute durch die Brille und antwortete:
»Mein Geist! Bin ja gestern erschossen oder totgeprügelt werden!«
»Reden Sie keine Albernheiten, Sir. Es ist Ihnen gestern geglückt, uns zu entkommen. Heute glückt Ihnen das nicht zum zweiten Male.«
»Fällt mir auch gar nicht ein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Will Ihnen gar nicht entkommen, werde Sie vielmehr festhalten.«
»Wo waren Sie in dieser Nacht?«
»Im Walde.«
»Sie haben doch ein anderes Pferd. Wie kommt das?«
»Ist kein anderes Pferd.«
»Gestern ritten Sie auf einem Rotschimmel davon, und dieser hier ist ein Fuchs.«
»Fuchs ist auch nur Geist von Rotschimmel!«
»Scherzen Sie nicht! Sie haben gestern zwölf unserer Leute getötet und verwundet. Sie werden das heute zu büßen haben. Wissen Sie, wo sich jetzt Ihre Dampfer und Boote befinden?«
»In Ihrem Besitz. Sie wollten ja alles nehmen.«
»Das gelang gestern leider nicht. Ihre Leute haben mit Kartätschen auf uns geschossen. Sie werden das zu bezahlen haben. Steigen Sie auf! Sie werden uns stromaufwärts folgen, wo wir Ihre Schiffe finden werden. Sie werden uns alles übergeben oder das Leben verlieren!«
Geierschnabel spitzte den Mund und spritzte dem Sprecher den Tabaksaft auf den Hut.
»Wo ist Ihr Anführer?« fragte er.
»Der bin ich. Übrigens lassen Sie Ihr verdammtes Spucken, sonst lehre ich Sie begreifen, welcher Unterschied zwischen einem Spucknapf und dem Sombrero eines Caballero ist!«
Der vermeinte Engländer zuckte die Schultern.
»Caballero? Pah«, sagte er, »ich wollte nach Cortejo fragen.«
»Ihre Leute haben ihn ermordet.«
»Donnerwetter! Womit?«
»Mit den Kartätschen. Er befand sich während der Salve auf dem Fluß und wurde erschossen oder ist ertrunken.«
»Schade, hätte ihn gern aufgehängt.«
»Diese Prozedur werden wir mit Ihnen vornehmen. Zunächst aber kommen Sie mit uns. Vorwärts, Sir, sonst helfe ich nach!«
»Nachhelfen, in welcher Weise?«
»In dieser!«
Der Anführer zog seine Pistole, hielt sie Geierschnabel vor die Stirn und fuhr fort:
»Wenn Sie nicht sofort aufsteigen, jage ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf, darauf können Sie sich verlassen!«
»Kosten Sie selbst diese Kugel!« antwortete der Bedrohte.
Mit einem gedankenschnellen Griff entriß er dem Mann die Pistole, hielt ihm die Mündung entgegen und drückte ab. Der Mexikaner stürzte, durch die Brust getroffen, vom Pferd. Die anderen rissen ihre Waffen hervor, um den Tod des Anführers zu rächen, aber sie kamen nicht dazu. Mehr als hundert Büchsen krachten hinter den Büschen, und ebenso viele Reiter brachen heraus. Die Überfallenen wurden umzingelt und niedergemacht, ehe sie imstande waren, einem der Angreifer Schaden zu tun.
»So«, sagte Geierschnabel. »Jetzt sind wir mit ihnen fertig.«
»Lebt keiner mehr?« fragte Juarez.
»Keiner«, erklärte Sternau nach einer raschen Untersuchung der Gefallenen.
»Das ist schade. So kann uns keiner auf unsere Fragen Rede und Antwort stehen.«
»Das ist nicht notwendig«, erklärte Geierschnabel. »Ich weiß alles.«
»Nun, wo werden wir das Schiff finden?«
»Genau da, wo ich es verlassen habe.«
»Aber wo werden die Güter gelandet werden?«
»Am Sabinafluß, wie es vorher bestimmt gewesen ist.«
»Dann wäre es ja gar nicht notwendig, daß die ganze Truppe mitreitet.«
»Nein. Sie müssen den Weg wieder zurück.«
»Aber wenn wir einen neuen Kampf zu erwarten hätten!«
»Gewiß nicht.«
»Ich stimme Geierschnabel bei«, erklärte Sternau. »Ich bin darüber erfreut, daß dieser Zwischenfall so glücklich abgelaufen ist, doch gefällt es mir nicht, daß Cortejo nicht in unseren Händen ist. Ein solches Ungeziefer pflegt nicht mit einem Male zu sterben. Es wäre mir lieb, ihn zu finden.«
»Suchen wir!« meinte Juarez.
»Gut. Nehmen wir nur fünfzig Reiter mit. Die anderen mögen in das Lager zurückkehren. Bei diesen fünfzig bleiben Señor Juarez, Mariano und ich. Die anderen erwarten uns im Lager.«
So geschah es. Während der Rest umkehrte, setzten die fünfzig den Weg fort, mit Juarez, Sternau und Geierschnabel an der Spitze, die darauf brannten, die Schiffe zu erreichen.
Es war nicht mehr weit dorthin. Geierschnabel als Führer deutete durch die Bäume und sagte:
»Jetzt wird es vor uns licht. Da ist der Fluß!«
Sie hielten nun auf demselben Platz, auf dem gestern Geierschnabel als Engländer gefangengenommen worden war. Ringsum zeigten deutliche Spuren, daß die Leute Cortejos dort nachts kampiert hatten. Auf der Mitte des Stromes aber lagen die Boote bereits wieder vor Anker.
Lindsay hatte mit Amy schon stundenlang auf dem Verdeck geweilt. Als die Fahrzeuge am Vormittag an ihren Ankerplatz zurückkehrten, waren die Mexikaner bereits aufgebrochen. Dennoch war den Gegnern nicht zu trauen. Man hütete sich, an Land zu gehen. Aber man hielt die Kähne bereit.
Amy schlang die Arme um den Vater. Er ließ sie so an sich geschmiegt stehen. Plötzlich aber schob er sie von sich fort.
»Schau, Kind!« sagte er, nach dem Ufer deutend.
Man sah Reiter aus dem Wald kommen. Unter den Voranreitenden erkannte man sehr leicht einen, der grau gekleidet war, einen grauen Zylinderhut trug und einen aufgespannten Regenschirm in der Hand hielt.
»Das ist Geierschnabel«, sagte der Lord.
»Und wer sind die anderen, Pa?« fragte sie mit zittemder Stimme.
Lindsay setzte das Glas an die Augen.
»Ich sehe Juarez«, entgegnete er.
»Und die anderen?«
»Die lange, breite Gestalt — ah, das kann nur Sternau sein.«
Der Lord sprang ins Boot und befahl leise, ihn ans Ufer zu bringen, wo er die Ankommenden begrüßen wollte. Als er landete, trat Geierschnabel auf ihn zu.
»Mylord, hier bringe ich Ihren Anzug zurück«, sagte er. »Es wurde gar nichts daran ruiniert, obgleich das ein wahres Wunder ist!«
»Behalten Sie ihn, wenn Sie ihn so gern haben!«
»Danke, Sir! Solche Kleider kann ich nicht brauchen. Ich würde mit den Beinen in die Rockärmel und mit den Armen in die Hosenbeine fahren. Meine alten Lumpen sind viel bequemer. Aber hier ist Señor Sternau!«
Der Genannte stand vor ihm in seiner ganzen Breite und Höhe. Das Auge leuchtete in reinster Freude aus dem ernsten Gesicht.
»Sagen Sie, Mylord, wußten Sie, daß Ihnen Pablo Cortejo gegenüberstand?«
»Ja, Geierschnabel rief es mir zu.«
»Haben Sie mit ihm gekämpft?«
»Ob er sich persönlich an dem Kampf beteiligt hat, weiß ich nicht.«
»Sie konnten es nicht erkennen?«
»Es war dunkel.«
»Geierschnabel glaubt, ihn blind gemacht zu haben.«
»Das ist möglich. Ich hörte ihn vor Schmerzen schreien und sah, daß man ihm das Gesicht mit dem Wasser des Flusses kühlte.«
»In diesem Fall kann er sich nicht mit am Kampf beteiligt haben. Es liegt uns natürlich außerordentlich viel daran, über sein Verbleiben Aufklärung zu erhalten. Wir trafen vor kurzer Zeit auf den Rest seiner Truppe, die vollständig vernichtet wurde.«
»Sie haben es verdient. Wo war es?«
»In der Prärie jenseits des Waldes. Der Anführer sagte, Cortejo sei tot, entweder von Ihren Kugeln getroffen oder im Fluß ertrunken. Ist das wahrscheinlich?«
»Das Wahrscheinlichste ist, daß er von seinen eigenen Leuten ermordet wurde.«
»So mögen fünfzig Männer das Ufer sorgfältig absuchen. Das Resultat erwarten wir auf dem Dampfer.«
»Ich stelle Ihnen alle meine Boote zur Verfügung, Herr Doktor, damit die Leute auch an das jenseitige Ufer gelangen können. Jetzt aber steigen Sie ein, um an Bord zu kommen.«
Als sie das Schiff erreichten, wurden sie von Amy erwartet. Juarez, der neben dem Lord erschien, wandte sich nach der Begrüßung an Sternau:
»Mylord hat mir den Vorschlag gemacht, nicht zu Pferde zurückzukehren, sondern mit dem Schiff zum Sabina zu fahren. Was meinen Sie dazu?«
»Es ist bequemer für uns«, antwortete Sternau.
»Aber unsere Pferde?«
»Wir können sie ja den Apachen übergeben, die den Rückweg sofort antreten werden, nachdem sie ihre Suche nach der Leiche Cortejos beendet haben.«
»Das geht. Aber werden die Apachen den Rückweg sicher finden?«
Sternau konnte sich eines Lächelns nicht enthalten.
»Haben Sie keine Sorge um diese Leute«, antwortete er. »Sie würden sich sogar in der tiefsten Wildnis zurechtfinden, selbst wenn sie diese noch nie betreten hätten. Der Ortssinn dieser Menschen ist erstaunlich.«
»So wollen wir auch hoffen, daß sie Cortejo entdecken oder wenigstens eine Spur von ihm. Das ist von großer Bedeutung.«
Der Lord hatte den Roten seine Boote zur Verfügung gestellt, um zum linken Ufer überzusetzen. Sie benutzten sie aber in einer anderen Weise. Eine Anzahl von ihnen ritt nämlich, trotz der Breite des Stromes, auf schwimmenden Pferden hinüber, um am jenseitigen Ufer forschend aufwärts zu reiten, während andere diesseits dasselbe taten. Eine dritte Abteilung hatte sich in die Boote verteilt und suchte, den Fluß hinabfahrend, die beiden Ufer von der Wasserseite ab. Das Resultat dieser sorgfältigen Untersuchung mußte abgewartet werden.
Unterdessen hatte der Lord sich mit Juarez in die Kajüte begeben, während Sternau mit Mariano und Amy auf dem Deck zurückgeblieben waren, um die beiden bei ihren wichtigen, diplomatischen Verhandlungen nicht zu stören, denn Lindsay brachte nicht nur Unterstützung an Geld und Waffen, sondern er hatte mit dem Präsidenten auch wichtige Abmachungen zu treffen, die sich auf Englands Verhalten bei fernerem Verweilen der Franzosen im Staate Mexiko bezogen.
Da erschallte ein heller Ruf vom Ufer herüber.
»Ein Indianer«, sagte Mariano. »Was mag er wollen?«
Sternau trat an Bord und fragte hinüber.
»Mein weißer Bruder mag kommen«, antwortete der Mann.
»Warum? Was gibt es?«
»Eine Spur.«
Da die Boote alle fort waren, machte Sternau das kleine, einruderige Gig, das für den persönlichen Gebrauch des Lords bestimmt war, los und ruderte ans Ufer, wo der Mann auf ihn wartete.
Sternaus Pferd stand noch an derselben Stelle, wo er von ihm abgestiegen war. Er band es los und folgte dem anderen im Galopp. Der Indianer hielt erst an, als sie wohl eine Wegstunde zurückgelegt hatten. Dort hielten sämtliche Reiter, die am rechten Ufer gesucht hatten, und auch die Boote lagen am Land. Man sah es jedoch der Aufstellung dieser Leute an, daß sie einen Platz zwischen sich hatten, von dem sie ihre Pferde zurückhielten.
Dort saß ein Indianer auf der Erde. Die Rabenfeder, die er im Schopf trug, deutete an, daß er unter den übrigen eine Art von Rang einnahm. Er mochte die Suche geleitet haben, und er erhob sich, als er Sternau sah.
»Der Fürst des Felsens mag zu mir kommen«, sagte er.
Sternau stieg ab, übergab die Zügel seines Pferdes einem anderen und trat zu dem Mann. Dieser deutete zur Erde.
»Mein weißer Bruder sehe!«
Sternau blickte zu Boden, wurde aufmerksam und bückte sich hinab.
»Ah, die Spur eines Reiters«, sagte er.
»Bemerkt mein Bruder die Anzahl seiner Pferde?«
»Ja. Eins hat er geritten, und das andere geführt. Er hat zwei Tiere bei sich gehabt.«
»Mein Bruder gehe weiter.«
Der Indianer deutete dabei mit der Hand zum Ufer hin. Sternau folgte dieser Richtung, indem er dabei die Spur im Auge behielt.
»Er ist in den Fluß geritten«, sagte er, »vorher aber abgestiegen, um Schilf abzuschneiden. Er hat also über den Fluß gewollt und einige Schilfbündel gemacht, die seinem Pferd die Last erleichtern sollten, indem sie als Schwimmgürtel dienten.«
»Mein Bruder hat das Richtige geraten. Wer mag der Mann gewesen sein?«
»Vielleicht der Jäger, der uns heute begegnete. Seine Richtung ging ungefähr auf diese Stelle zu. Man müßte nach Anzeichen forschen.«
»Die roten Männer haben dies bereits getan.«
»Haben sie etwas gefunden?«
»Ja. Der Fürst des Felsens mag hier herübertreten und die Fährte betrachten.«
Der Indianer zeigte einen Ort, der von Pferdehufen ziemlich zerstampft war. Hieraus klug zu werden, war jedenfalls ein Meisterstück der Spürkunst, dennoch aber sagte Sternau bereits nach einigen Sekunden:
»Hier haben die Pferde geweidet, während der Mann das Schilf abschnitt; sie sind dabei in einen kleinen Streit geraten. Es ist anzunehmen, daß sie sich gebissen haben. Vielleicht sind dabei Haare verlorengegangen. Man müßte suchen, ob welche zu finden sind.«
»Die roten Männer haben bereits gesucht. Mein Bruder betrachte dieses Haar aus dem Schwanz eines Pferdes.«
Der Indianer reichte Sternau ein Pferdehaar hin, das allerdings so lang war, daß es nur vom Schwanz stammen konnte.
»Ein schwarzes Pferd«, sagte Sternau.
»Und dieses Büschel?«
Der Rote zeigte in der anderen Hand eine Anzahl zusammengefilzter Haare, die von keiner großen Länge waren. Sternau betrachtete sie genau und erwiderte:
»Rotbraun! Dieses Büschel besteht aus unteren Kammhaaren. Das eine Pferd ist schwarz und das andere rotbraun gewesen. Der Jäger, der uns heute begegnete, ist’s. Er hatte zwei solche Pferde.«
»Die roten Männer sind noch sorgfältiger gewesen.«
Bei diesen Worten zeigte der Indianer zum Wald, aus dem soeben zwei Apachen auf schaumbedeckten Pferden hervorkamen.
»Wo sind sie gewesen?« fragte Sternau.
»Mein Bruder spreche mit ihnen selbst.«
Als die Apachen herangekommen waren, fragte Sternau sie.
»Meine Brüder haben wohl die Fährte rückwärts verfolgt?«
»Der Fürst des Felsens hat es erraten«, antwortete der eine.
»Wohin führt die Fährte?«
»Genau in die Richtung des Ortes, an dem wir dem Jäger begegneten.«
Sternau konnte sich denken, daß man ihm noch nicht alles gesagt hatte.
»Aber warum widmen meine roten Brüder diesem Jäger eine solche Aüfmerksamkeit?« fragte er den Anführer. »Haben sie noch mehr entdeckt?«
»Ja. Der Fürst des Felsens denkt, der Jäger ist über den Fluß geritten?«
»Allem Anschein nach hat er es getan.«
»Die Krieger der Apachen haben es auch gedacht, aber als sie weiter abwärts ritten, haben sie seine Fährte wiedergefunden.«
»Er ist also hier in den Fluß geritten und hat ihn weiter unten wieder verlassen?«
»Ja.«
»Das ist schwer zu begreifen. Um die Tiere zu tränken, braucht man nicht in das Wasser zu reiten, und um den Fluß so bald wieder zu verlassen, wären doch die Schilfgürtel nicht notwendig gewesen. Es bleibt also nur die Ansicht, daß er übersetzen wollte, aber durch etwas abgehalten wurde.«
»Der Fürst des Felsens hat sehr scharfe Gedanken.«
»Ah! Meine roten Brüder haben etwas gefunden?«
»Ja. Mein Bruder folge mir!«
Der Indianer drängte sich in das Schilf hinein, und Sternau folgte ihm. Es war hier ein schweres Fortkommen, aber die Mühe und Anstrengung wurde sehr bald belohnt. Als sie ungefähr hundert Schritte getan hatten und der Indianer am Rand des Wassers stehenblieb, erblickte Sternau ein Floß, das aus Schilfbündeln und Baumzweigen zusammengesetzt war. Es war von einer solchen Länge und Breite, daß sich ein Mann damit recht gut über Wasser halten konnte.
»Sieht mein weißer Bruder dieses Floß?« fragte der Indianer.
»Ja. Hat mein roter Bruder ein Zeichen gefunden, woraus sich schließen läßt, wer es benutzt hat?«
»Ein sehr deutliches Zeichen. Hier!«
Der Indianer griff abermals in den Gürtel und brachte ein buntes Taschentuch hervor, das zusammengelegt und an den beiden Zipfeln durch einen Knoten verbunden war. Es hatte ganz den Anschein, als sei es von einem Menschen benutzt werden, der Kopf- oder Zahnschmerzen gehabt hat. Als Sternau das Tuch genauer untersucht hatte, sagte er:
»Hier klebt Blut im Innern. Das Tuch ist um verwundete Augen getragen werden. Wo fand man es?«
»Es hing an einem Zweig des Floßes.«
»Welche Unversichtigkeit von diesem Cortejo! Denn er ist es gewesen.«
Dabei betrachtete er den Boden. Er fand mehrere Fährten.
»Haben die Söhne der Apachen weiter gesucht?« fragte er.
Der Indianer nickte.
»Was haben sie gefunden?«
»Mein Bruder folge mitr«
Es war hier durch das dichte Schilf eine gangbare Bahn gebrochen, Die beiden folgten ihr und gelangten bald an eine Stelle, wo vom Wasser herauf eine doppelte Pferdespur kam.
»Ah, da ist der Jäger wieder aus dem Wasser gekommen«, sagte Sternau.
»Und dorthin ist er geritten«, fügte der Indianer hinzu, nach rechts deutend.
Sie folgten dieser neuen Fährte bis an eine kleine Lichtung im Schilf, deren Boden ganz und gar zerstampft war.
»Haben meine Brüder hier etwas gefunden?« fragte Sternau.
»Hier hat Cortejo gelegen«, antwortete der Apache, »und da ist der weiße Jäger zu ihm gekommen.«
»Wohin führt nun die Spur?«
»Sie führt wieder in den Wald hinein.«
»Ist sie verfolgt worden?«
»Nein. Der Fürst des Felsens sollte erst gefragt werden.«
»Gut. Mein Bruder denkt, daß der Jäger Cortejo mitgenommen hat?«
»Ja. Er hat ihn auf das andere Pferd gesetzt.«
»So mag mein Bruder mit noch einigen Männern aufbrechen und der Spur folgen, um zu sehen, ob sie nach der Gegend von Candela, Naria und Saltillo führt. Es wird genügen, der Spur bis morgen zu folgen, wenn die Sonne am höchsten steht. Dann weiß man bereits, in welcher Richtung sie weiterführt. Die Söhne der Apachen können mir dann Nachricht bringen!«
»Wohin?«
»Nach Cohahuila.«
»Ugh!«
Der Indianer sagte dieses eine Wort und begab sich zu den Seinen zurück. Ein Wink von ihm genügte, da saßen fünf seiner Gefährten mit ihm auf und folgten ihm, als er, ohne über sein Fortreiten eine Silbe zu verlieren, auf der Fährte des Jägers davonritt.
Sternau gab jetzt den Befehl, die Nachforschungen einzustellen und die Boote wieder an die Schiffe zu bringen, bestieg sein Pferd und ritt zurück. Als er dann auf der Gig wieder an dem Dampfer anlangte, hatte man ihn dort bereits mit großer Ungeduld erwartet.
»Gefunden?« rief ihm Juarez schon von weitem entgegen.
»Ja«, antwortete er.
»Ihn selbst?«
»Nein, leider nur seine Spur.«
»O weh! So lebt er noch?«
»Jedenfalls. Hier dieses Tuch hat er um die Augen gebunden gehabt.«
Bei diesen Worten schwang Sternau sich an Bord und zeigte das Tuch.
»Was wissen Sie von ihm?« fragte der Lord.
»Erstens, daß er sicher an den Augen verletzt ist. Zweitens, daß er auf einem kleinen Floß stromab geschwommen ist.«
»So mag das richtig sein, was mein Steuermann vermutete, nämlich, daß seine eigenen Leute sich seiner entledigt haben.«
»Dann wird er einige sehr böse Stunden erlebt haben. Es ist kein Spaß, blind auf einem Floß schwimmen zu müssen.«
»Sie nehmen also an, daß er wirklich erblindet ist?«
»Jetzt wenigstens, ja. Hätte er nur ganz wenig zu sehen vermocht. so wäre es ihm nicht eingefallen, das Tuch zurückzulassen. Es ist ihm auf irgendeine Weise vom Kopf geglitten, und er konnte es nicht finden.«
»Aber was dann?«
»Sein kleines, aus Schilf erbautes Floß wurde ans Ufer getrieben. Er fühlte Boden und schlich an Land, wo er im Schilf gefunden wurde.«
»Von wem?«
»Von dem Jäger, der uns heute begegnete, Señor Juarez.«
»Ah, von diesem! Da sind unsere Apachen leider zu spät gekommen.«
»Ja, leider, denn dieser Jäger ist mit ihm, wie es scheint, in südlicher Richtung, davongeritten.«
»Das ist ja immer noch vorteilhaft. Er ist im Lande geblieben. Wäre er aber aus andere Ufer, also nach Texas gegangen, so hätten wir die Macht über ihn verloren. Haben Sie eine Ahnung, wohin er ging?«
»Ja«, antwortete Sternau. »Nach der Hazienda del Erina.«
»Warum dorthin?«
»Weil seine Tochter dort ist. Er befindet sich als Erblindeter in einem sehr hilflosen Zustand und muß nun vor allen Dingen darauf bedacht sein, zu Leuten zu gelangen, denen er Vertrauen schenken kann. Da steht ihm seine Tochter natürlich am nächsten.«
»Sie glauben, daß dieser Jäger ihn zur Hazienda bringt? Was sollte er für ein Interesse daran haben?«
»Cortejo wird ihm eine hohe Belohnung versprochen haben.«
»Das ist wahrscheinlich. Möglich ist aber auch, daß die beiden sich bereits kennen.«
»Dann müßte man sich beeilen, sie in die Hände zu bekommen. Was für Maßregeln haben Sie getroffen?«
»Ich habe einige Apachen auf ihre Spur geschickt. Diese Leute sollen sich überzeugen, ob die Fährte in Richtung Saltillo führt, und mir dann Nachricht nach Cohahuila bringen.«
»Aber wollen wir Cortejo entkommen lassen?«
»Nein. Allerdings ist es nur auf der Hazienda möglich, ihn festzuhalten. Das können wir nun freilich ohne die Hilfe von Señor Juarez nicht.«
»In welcher Weise wünschen Sie meine Hilfe?« fragte der Präsident.
»In der Hazienda hat sich eine große Zahl von Cortejos Anhängern festgesetzt. Wir brauchen also Mannschaften, Señor.«
»So lassen Sie uns sehen, wie viele Leute ich entbehren kann. Ich werde mein möglichstes tun. Die Hazienda ist ein wichtiger Punkt, da sie in der Nähe des großen Verkehrsweges zwischen Süden und Norden liegt. Sie und Cortejo in meine Gewalt zu bringen, bin ich zu jeder Anstrengung bereit. Ich denke, es wird gut sein, möglichst bald hier aufzubrechen, damit wir schnell wieder nach Cohahuila kommen.«
»Wir müssen leider die mit den Apachen ausgesandten Boote abwarten.«
»Wann können sie zurück sein?«
»In frühestens einer Stunde.«
»Wir holen diese Zeitversäumnis rasch auf, wenn wir die Dampfer schneller arbeiten lassen.«
Sternau hatte recht gehabt. Die Apachen brachten die Boote erst nach einer Stunde zurück. Die Kessel waren geheizt, und die beiden Dampfer zum Aufbruch bereit. Sie setzten sich in Bewegung, nachdem die Roten die Weisung erhalten hatten, auf dem heute zurückgelegten Weg wieder in das Lager zu gehen.
Während der Fahrt hatte Juarez Zeit, sich mit dem Lord zu besprechen. Ihre gegenseitigen Abmachungen wurden zu Papier gebracht und von beiden unterzeichnet. Napoleon III. ahnte nicht, daß mitten in den Wildnissen des Rio Grande del Norte ein Vertrag geschlossen wurde, der ihn in der Folge zwang, Mexiko Juarez zu überlassen und seine Truppen aus diesem Land zu entfernen.
Das Feuermal der Mixtekas
Unterdessen war die Fahrt der Dampfer mit ihrer Fracht gut vonstatten gegangen. Natürlich saßen Amy und Mariano während der ganzen Reise beisammen, um sich für eine so lange Zeit der Trennung zu entschädigen. Geierschnabel stand am Bug des ersten Dampfers. Er hatte die Führung des Schiffszuges übernommen.
Man war bereits am anderen Morgen aus dem Rio Grande del Norte in den Sabina eingefahren und näherte sich dem Punkt immer mehr, wo die beiden Flußarme sich vereinigen. Dort stieß die Dampfpfeife des Schiffes einen langen, lauten Signalton aus. Man war am Lager.
In ihm herrschte, wie man bereits vom Fluß aus sehen konnte, außerordentlich reges Leben. Die Reiter waren nicht mehr allein da, sondern auch die hierher bestellten Ochsenwagen waren angekommen. Man konnte die ganze Versammlung deutlich überblicken, da man sich auf offenem Präriegelände befand.
Das Ausladen begann sofort.
Dabei zeigte es sich nun, welche Hilfsmittel dem Präsidenten übergeben wurden; kleine Fäßchen, mit Goldstücken gefüllt, Tausende von Gewehren, Messern, Pistolen und Revolvern, große Vorräte von Pulver, Blei, fertigen Patronen, telegraphische Feldapparate mit Leitungsdrähten, viele Meilen lang, Patenttragbahren für Verwundete, alle möglichen und nötigen Requisiten für Kampf und Kriegskrankenpflege.
Der Lord leitete die Ausschiffung und Juarez den Empfang und die Verpackung. Sternau war dem ersteren behilflich.
»Was wird mit den Schiffen geschehen?« fragte er.
»Sie gehen nach El Refugio zurück.«
»Und Sie mit?«
»Nein. Ich bleibe bei Juarez.«
»Als Bevollmächtigter Englands?«
»Ja.«
»Und Miß Amy?«
»Bleibt natürlich bei mir.«
»Aber haben Sie auch bedacht, welche Gefahren Ihnen und ihr drohen, Mylord?«
»Ja. Was mich betrifft, so darf ich diese Gefahren nicht achten. Meine Gegenwart wird übrigens auch dem Präsidenten von Nutzen sein. Wir wollen sehen, ob die Franzosen ein Heer, bei dem sich der Vertreter Großbritanniens befindet, wirklich wie eine Schar Banditen behandeln. In einigen Tagen wird sich auch der Vertreter der Vereinigten Staaten einstellen, und dann — hinaus mit den Franzosen! Und was Amy betrifft, nun, so wollte sie sich nicht von mir trennen. Sie nimmt teil an meinen Freuden und Leiden.«
»Wird der Umstand, daß Mariano jetzt zugegen ist, nicht vielleicht etwas daran ändern?«
»Möglich, aber ich glaube es nicht.«
»Mariano wird sich natürlich Ihnen und der Braut anschließen wollen und hat doch noch andere Pflichten. Auch befindet sich Graf Ferdinando, der sein Oheim ist, krank in Fort Guadeloupe.«
»Ich denke, das wird sich alles vereinigen lassen. Bevor wir in Mexiko einziehen, wird sich in Sachen der Rodriganda nichts tun, und so ist es am besten, Sie alle bleiben mit mir bei Juarez, dessen Heer so schnell anwachsen wird, daß wir in kurzer Zeit in der Hauptstadt sein werden. Ich weiß genau, daß dem Kaiser der Franzosen ein sehr engstes Ultimatum der Regierung der Vereinigten Staaten zugegangen ist.«
»Welchen Inhalts?«
»Wenn Napoleon seine Truppen nicht aus dem Land zieht, wird die Union die ihrigen marschieren lassen.«
»Gegen die Franzosen?«
»Natürlich. Ich habe gewisse Anhaltspunkte dafür, daß bereits geheime Verhandlungen im Gange sind, um die Art und die Zeit zu bestimmen, in der die Franzosen zurückgehen müssen. Sie haben den Erzherzog Max zum Kaiser gemacht. Sie werden ihn bewegen, freiwillig abzudanken, und wie ich ihn, besonders die Kaiserin und seine Ratgeber kenne, wird er es nicht tun. Die Franzosen werden also gezwungen sein, ihn sich selbst zu überlassen. Sie werden sich zurückziehen und Stadt für Stadt, Provinz für Provinz ihm überlassen. Er aber wird nicht imstande sein, sich an einem Ort für die Dauer zu behaupten, und dann wird das Land Juarez zufallen. In Wahrheit wird es allerdings ganz so sein, als ob Bazaine das Land direkt an Juarez zurückgibt.«
»Und Kaiser Max?«
»Er wird die Folgen zu tragen haben. Er hat Napoleon vertraut, und dieser läßt ihn fallen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als mit den Franzosen das Land zu verlassen oder sich bis auf den letzten Mann zu verteidigen und zu — sterben.«
»Mein Gott! Das letztere doch wohl nicht!«
Der Lord zuckte die Schultern.
»Welch ein Schicksal! Könnte ich bei ihm sein, um ihn zu warnen!«
»Doch genug von dieser Sache! Da kommt einer, von dem es scheint, daß er Sie sprechen will.«
Der, den der Lord meinte, war Anton Helmers, der »Donnerpfeil«. Er warf einen forschenden Blick auf das ringsum herrschende geschäftige Treiben und fragte:
»Wie lange wird es dauern, bis man hier fertig ist, Herr Doktor?«
»Wohl gut zwei Tage.«
»Ah! Und die Hazienda del Erina?«
»Darüber sprechen wir später, mein Lieber.«
Helmers spielte an seinen Revolvern und sagte:
»Dann erst? Wäre es nicht besser, gleich darüber zu sprechen? Ich hörte von den Apachen, daß Cortejo entkommen ist!«
»Ja, leider.«
»Er wird nach der Hazienda gehen. Mir ist bange um meinen Schwiegervater. Ich kann nicht länger warten; ich reite zur Hazienda.«
Sternau erschrak.
»Was denken Sie! Die Gegend steckt voller Franzosen.«
»Das ist mir gleich.«
»Man wird Sie festhalten.«
»Das glaube ich nicht. Büffelstirn reitet mit mir. Kommen Sie mit uns!«
Helmers schritt, ohne Sternaus Antwort abzuwarten, wieder über die Planken zurück, die vom Schiff zum Ufer führten, und Sternau folgte ihm. Drüben standen Büffelstirn und Bärenherz beisammen. Der erstere trat ihnen entgegen und fragte Helmers:
»Was will der Herr des Felsens tun?«
»Er rät mir, zu warten.«
»Unser Warten hat lange genug gedauert!«
»Mein Bruder Büffelstirn will also wirklich mit?« fragte Sternau.
»Ja«, antwortete der Gefragte. »Ich bin ein freier Indianer, aber die Hazienda ist Karja, meiner Schwester, eine Heimat gewesen, und Señor Arbellez war mein Freund und Bruder. Ich gehe, ihn zu retten.«
Aus diesen Worten und dem Ernst des Häuptlings ersah Sternau, daß er fest entschlossen war, sein Vorhaben auszuführen. Gegenreden konnten nichts daran ändern; dennoch sagte er zu ihm:
»Aber wie will mein Bruder ihn retten? Die Gegend steckt voller Franzosen?«
Der Mixteka machte eine Gebärde der Geringschätzung.
»Büffelstirn lacht über die Franzosen!« antwortete er.
»Aber ihrer sind viele!«
»Der Mixtekas sind noch mehr!«
»Mein Bruder will seine Stammesgenossen zusammenrufen? Das nimmt viel Zeit in Anspruch.«
»Nein, es dauert eine Nacht. Wenn der Häuptling der Mixtekas auf dem Berg Reparo das Feuerzeichen gibt, sind am anderen Abend tausend Männer um ihn versammelt.«
Sternau sah die entschlossenen Mienen der drei Männer. Er blickte einige Augenblicke lang zu Boden und sagte:
»Meine Brüder haben recht. Wir können nicht warten, bis Juarez uns Truppen zur Verfügung stellt. Unser Freund Arbellez ist in Gefahr, und es ist unsere Pflicht, ihm so schnell wie möglich beizustehen.«
Da leuchteten die Augen Büffelstirns freudig auf.
»Ich wußte, daß mein Bruder mitreiten würde«, sagte er. »Nun werden wir die Franzosen nicht zu fürchten haben, denn wenn der Fürst des Felsens bei uns ist, können wir nicht unterliegen.«
Juarez, der Lord und die anderen waren nicht wenig überrascht, als die vier Männer ihnen ihr kühnes Vorhaben mitteilten. Sie versuchten zunächst, ihnen abzuraten. Als es nichts fruchtete, boten sich Mariano und der Steuermann Helmers’ zur Begleitung an. Aber dies wurde abgeschlagen. Sternau wollte Mariano nicht von seiner Braut trennen, und der Steuermann war zuwenig Prärieläufer, um ihnen von großem Nutzen sein zu können.
»Hätte ich mehr Leute«, erklärte Juarez, »würde ich Ihnen so viel mitgeben, daß Sie Ihren Weg nicht heimlich zu machen brauchten. Doch ich hoffe, daß das Vertrauen, das Büffelstirn in seine Mixtekas setzt, in Erfüllung geht. Dann werde ich in kürzester Frist zu Ihnen stoßen.«
Nach einem herzlichen Abschied saßen die vier auf und ritten davon. Sie hatten sich einen Vorrat an Proviant mitgenommen, um unterwegs nicht jagen zu müssen, da sie sich durch Schüsse hätten verraten können.
Erst als Juarez am dritten Tage darauf nach Cohahuila kam, hörte er von der amerikanischen Freischar, die angekommen war. Er traf sofort Anstalten, sie an sich zu ziehen, und brach dann auf, um den Freunden nachzufolgen und Hilfe zu bringen, falls sie einen Mißerfolg haben sollten.
Diese hatten einen Umweg eingeschlagen und waren in das weniger bewohnte Gebirge von Monclova gezogen. Darum brauchten sie mehr Zeit, als es sonst der Fall gewesen wäre, doch erreichten sie unbemerkt die Hazienda, auf der sie sich allerdings zunächst nicht sehen ließen.
Sie umritten sie in weitem Bogen und hielten auf den Berg El Reparo zu.
Es war dies jener Berg, in dessen Innern sich die Höhle mit dem Königsschatz befand und auf dessen Kuppe sich die grausigen Begebenheiten am Teich der Krokodile zugetragen hatten.
Mitten auf der Spitze des Berges befand sich eine pyramidenförmige Erhöhung, die man für ein Werk der Natur hätte halten können. Dort blieb der Häuptling der Mixtekas stehen.
»Das ist das Feuermal meines Stammes«, sagte er.
»Ein verborgener Pechofen?« fragte Sternau.
»Ja. Er ist mit Pech, Harz, Schwefel und trockenem Gras gefüllt. Öffnen wir ihn!«
Der Indianer trat an die eine Seite der Pyramide und nahm einen Stein fort, der mit Erde bedeckt und mit Gras überwachsen war.
»Das ist das Zugloch«, vermutete Sternau.
Das bestätigte der Häuptling mit einem Kopfnicken. Dann stieg er zur Spitze empor. Dort befand sich der Stamm eines mittelstarken Baumes, der das Aussehen hatte, als ob er durch einen Blitzschlag seine Gestalt erhalten habe. Büffelstirn zog ihn hin und her, bis der Stamm sich lockerte und fortnehmen ließ. Dadurch entstand ein Loch, das Büffelstirn erweiterte so daß es den Durchmesser eines Mannes erlangte.
»Es ist dunkel geworden«, sagte er. »Wir wollen das Zeichen des Krieges anbrennen. Büffelstirn ist jahrelang nicht bei den Seinen gewesen, aber meine Brüder werden bald sehen, daß seine Anordnungen noch gelten.«
Er kniete nieder und schlug Feuer. Bald brannten einige trockene Splitter, die er aus dem Stamm geschlitzt hatte. Er warf sie in das Loch und stieg dann von der Pyramide herab.
Erst ließ sich ein Knistern und Prasseln hören, das bald in ein lautes Zischen überging. Eine zwei Fuß hohe Flamme stieg empor.
»Das ist zu niedrig«, meinte Helmers.
»Mein Bruder warte ein wenig«, antwortete der Häuptling. »Die Söhne der Mixtekas verstehen es, Kriegsflammen zu erzeugen.«
Er hatte recht, denn kaum eine Minute später begann die Flamme emporzusteigen, und nach fünf Minuten hatte sie eine ungeheure Höhe erreicht. Sie hatte die Gestalt einer Säule, die oben in gewaltigen Strahlen auseinandergeht, und besaß eine solche Leuchtkraft, daß es auf der ganzen Spitze des Berges hell wie am Tage wurde.
»Ein Feuermah wie ich noch keins gesehen habe!« bemerkte Sternau.
»Wir werden sehr bald Antwort haben«, antwortete Büffelstirn.
»Gibt es mehrere Orte mit solchen Öfen?«
»So weit die Mixtekas wohnen. Mein Bruder sehe!«
Das Feuer hatte etwa eine Viertelstunde gebrannt. Der Häuptling zeigte nach Süden. Dort erhob sich gleichfalls eine Flamme, und zwar in einer Entfernung, die man wegen der Nacht nicht genau schätzen konnte. Im Norden folgte eine zweite, und bald konnte man ringsum fünf gleiche Feuersignale sehen.
Da schritt Büffelstirn zu einem Stein, der in der Nähe lag. Er schob ihn trotz seiner Größe weg. und nun wurde eine Öffnung sichtbar, in der einige Kugeln, so groß wie Billardbälle, lagen. Er nahm drei davon. warf sie in die Flamme und deckte dann den Stein wieder zu.
»Warum diese Kugeln?« fragte Sternau.
»Mein Bruder wird es sogleich bemerken.«
Er hatte dies kaum gesagt, so schossen drei Flammen himmelhoch empor und bildeten dort drei große Feuerscheiben, die sich lange Zeit in gleidaer Höhe hielten und dann langsam wieder niedersenkten.
Kurze Zeit darauf erblickte man bei jedem der fünf anderen Male dieselben Zeichen.
»Was bedeutet das?«
»Jeder Ort hat sein Zeichen«, antwortete Büffelstirn. »Ich habe das des Berges El Reparo gegeben, damit die Mixtekas wissen, wo sie sich versammeln sollen.«
»Aber die Feinde werden diese Feuer auch bemerken.«
»Sie werden nicht wissen, was sie zu bedeuten haben. Jetzt brennt die Flamme nieder. Meine Brüder mögen noch einige Augenblicke warten, dann können wir diesen Ort verlassen.«
Das Feuermal sank mit derselben Schnelligkeit herab, mit der es aufgestiegen war. Dann war es dunkel wie vorher.
Büffelstirn legte den Stein wieder genau vor das Zugloch und brachte den Baum an Ort und Stelle. Obgleich dies in der Dunkelheit geschah, verstand er es, jede Spur sorgfältig zu entfernen.
»Wenn ein Feind hierher kommt«, sagte er, »um den Ort zu suchen, wo die Flamme war, wird er ihn nicht finden. Wir aber werden jetzt den Berg verlassen.«
»Wohin gehen wir?«
»Dahin, wo wir bis morgen abend verborgen bleiben können.«
»Bis morgen abend?« fragte Helmers. »Können wir am Tage nichts für die Hazienda und Arbellez tun?«
»Nein. am Tage nicht. Aber am Abend wird die Hazienda unser sein.«
Sie kehrten zu den Pferden zurück. stiegen auf und ritten den Berg hinab, machten einen Bogen und gelangten nach einer halben Stunde in eine Schlucht, deren Eingang fast ganz von Büschen verdeckt war.
»Hier werden wir warten«, sagte Büffelstirn.
Sie titten bis an den hinteren Teil der Schlucht, banden ihre Pferde an und lagerten im Moos. Ihre halblaute Unterhaltung bezog sich natürlich auf die bevorstehenden Ereignisse, dann suchten sie den Schlaf.
Die Nacht verging in tiefster Ruhe, ebenso der Tag. Ungefähr um sechs Uhr begann es zu dunkeln, doch wartete Büffelstirn noch zwei Stunden, ehe er zum Aufbruch mahnte. Dann ritten sie fort.
Als sie aus der Schlucht aufwärts kamen, vemahmen sie vor und hinter sich Pferdegetrappel.
»Wer reitet da?« fragte Helmers leise.
»Mein Bruder sorge sich nicht«, antwortete Büffelstirn. »Es sind die Söhne der Mixtekas, die meinem Ruf folgen.«
Als sie oben anlangten, herrschte dort Ruhe, aber um den Teich der Krokodile konnte man, zwar undeutlich nur, Menschen und Pferde Kopf an Kopf erkennen. Sie waren gekommen, um zu erfahren, was das Feuersignal zu bedeuten habe.
Die vier Freunde gelangten zwischen den Indianern hindurch an das Ufer des Teiches. Dort hielt der Häuptling, ohne abzusteigen, und rief mit lauter Stimme:
»Ila! Na atui!«
Das heißt auf deutsch: »Ruhe, ich will sprechen!«
Ein leises Waffengeräusch ließ sich hören, dann fragte eine andere Stimme: »Payn omi — wer bist du?«
»Na Mokaschi-motak — ich bin Büffelstirn!«
»Mokaschi-motak!« so ging das Wort ringsum von Mund zu Mund. Es war trotz der Dunkelheit zu bemerken, welch ungeheures Aufsehen dieser Name machte. Die vorherige Stimme ließ sich hören:
»Büffelstirn, der Häuptling der Mixtekas ist tot.«
»Büffelstirn lebt. Er wurde von seinen Feinden gefangengehalten und ist jetzt zurückgekehrt, um sich zu rächen. Wer hat mit mit gesprochen?«
»Das wiehemde Pferd«, lautete die Antwort.
»Das wiehernde Pferd ist ein großer Häuptling, er ist der erste Mann nach Büffelstirn und wird bisher die verlassenen Kinder der Mixtekas befehligt haben. Er komme mit einer Fackel herbei, um mich zu sehen.«
Einige Augenblicke später sah man den Schein einer Fackel aufleuchten, und mehrere Männer drängten sich durch die Menge bis zum Häuptling hin. Einer von ihnen, in die Tracht eines Büffeljägers gekleidet, gerade so. wie sie Büffelstirn früher getragen hatte, hielt dem Häuptling die Fackel nahe und blickte ihm in das Gesicht.
»Mokaschi-motak!« rief er dann laut. »Freut euch, ihr Söhne der Mixtekas! Euer König ist zurückgekehrt. Schwingt eure Messer und Tomahawks, um ihn zu rächen!«
Es brauste Freudengeheul um den Teich auf, dann wurde es wieder still. Jetzt erhob Büffelstirn abermals die Stimme:
»Die Wächter mögen sagen, ob wir hier sicher sind.«
»Es ist kein Fremder da, außer vier Männern, die mit einem Mixteka gekommen sind!« rief es von weitem.
»Ich selbst war es, mit dem sie kamen. Wie viele Männer wurden gezählt?«
»Elfmal zehnmal zehn und vierzig und zwei.«
»Meine Brüder mögen hören!« begann der Häuptling. »Morgen werden sie erfahren, wo Büffelstirn so lange gewesen ist. Jetzt aber sollen sie vemehmen, daß Juarez, der Zapoteke, aufgebrochen ist, um die Franza aus dem Land zu treiben. Büffelstirn wird ihm die Krieger zu führen, die mit ihm kämpfen. Heute aber reiten wir zur nahen Hazienda del Erina, um die dort befindlichen Männer des Cortejo zu besiegen. Es sind die schlimmsten Bleichgesichter, denen der Mixteka keine Gnade gewährt. Wer von ihnen nicht entkommt, muß sterben. Meine Brüder mögen sich in zehn und zehn teilen und mir folgen.
Da, wo ich in der Nähe der Hazienda halten werde, bleiben die Pferde zurück und fünfmal zehn Männer bei ihnen. Der Häuptling Wieherndes Pferd, mag sie auswählen. Die anderen gehen leise um die Hazienda herum, bis die Krieger einen Kreis gebildet haben. Wenn der erste Schuß fällt, dringen sie auf die Feinde ein. Der Sieg ist unser, denn ich habe den Fürsten des Felsens mitgebracht, Bärenherz, den Häuptling der Apachen, und Donnerpfeil, das tapfere Bleichgesicht.«
»Uff!« ertönte es rund um den Teich. Es war der Ausdruck der Freude über die Anwesenheit so berühmter Krieger.
Dann begannen die Massen, sich langsam in Bewegung zu setzen. Büffelstirn mit seinen Freunden voran, schlängelte sich der lange Reiterzug langsam den Berg hinab, aber unten wurden die Pferde in - Galopp gesetzt. Als Berg und Wald hinter ihnen lagen, befanden sie sich in der weiten Ebene, kaum eine englische Meile von der Hazienda entfernt. Alle stiegen von ihren Tieren, nur Sternau blieb sitzen.
»Warum steigt mein Bruder nicht ab?« fragte Büffelstirn.
»Ich reite zur Hazienda.«
»Warum? Willst du dich töten lassen?«
»Nein, aber es könnte der Fall sein, daß die Angegriffenen, wenn sie sehen, daß es für sie keine Rettung gibt. Arbellez töten. Das werde ich verhindern.«
»Mein Bruder hat recht!«
»Und ich reite mit!« sagte Helmers.
»Gut, so sind wir zu zweit«, meinte Sternau. »Aber wir werden warten, bis die Hazienda umzingelt ist. Ich werde sehen, wie es in der Hazienda steht, und den Schuß als Zeichen zum Angriff geben.«
Ein sonderbarer Wilddieb
Geierschnabel, der vertraute Kundschafter von Sir Lindsay und Juarez, hatte sich an dem Unternehmen von Sternau und den Mixtekas nicht beteiligt. So wünschenswert auch die Vertreibung des Verbrechers Cortejo von der Hazienda del Erina sein mochte, wichtiger erschien es ihm. Juarez’ Botschaft an Kurt Helmers in Deutschland persönlich zu überbringen und den Angehörigen von Sternau und Helmers zu berichten, daß ihre Lieben noch am Leben waren und sich auf das baldige Wiedersehen in der Heimat freuten. Geierschnabel wäre nicht der unternehmungslustige, findige Jäger gewesen, wenn er sich nicht auch das zugetraut hätte.
»Auf denn«, sagte er sich, »über den großen Teich, und zunächst dorthin, wo ich Freunde von Sternau finden werde.«
Es war in Deutschland frischer Schnee gefallen, wie ihn jeder Jäger gern hat, weil sich die Fährte des Wildes dann am leichtesten erkennen und ablesen läßt. Nur noch einzelne Flocken wirbelten hernieder und setzten sich als glitzemde Sternchen an die Zweige der Tannen und Kiefern, die beide Seiten der Straße säumten, die nach Rheinswalden in der Pfalz führte.
Der Wintertag begann zu dämmern, aber trotz dieser frühen Morgenstunde gab es doch bereits ein menschliches Wesen, das auf dieser Straße daherkam.
Es war ein Mann, dessen Erscheinung höchst eigentümlich genannt werden mußte. Die herrschende Kälte schien auf ihn keinen Eindruck zu machen, obgleich seine Kleidung ungewöhnlich leicht war. Er trug Schuhe oder vielmehr Halbstiefel von einer in dieser Gegend fremden Form, kurze, blaue, sehr weite Leinwandhosen, die hier und da zerrissen waren, eine ebensolche Jacke, die ihm zu kurz und zu eng zu sein schien, und auf dem Kopf eine Mütze, die an den Nähten aufgeplatzt war. Jacke und Hemd waren nicht geschlossen und ließen eine nackte Brust sehen, die aussah, als ob sie Jahre hindurch allen Winden und Wettern ausgesetzt gewesen war. Um den langen, hageren Hals schlang sich ein alter Schal, von dem sich nicht bestimmen ließ, welche Farbe er früher einmal gehabt hatte. Zwischen Hose und Jacke wand sich ein Gürtel um den Leib. Auf dem Rücken trug dieser Mann einen ziemlich großen, gefüllten Leinwandsack, und über die linke Schulter hing ihm ein alter, langer Lederschlauch, dessen Bestimmung ein Uneingeweihter wohl schwerlich erraten haben würde.
Das Sonderbarste an diesem Mann aber war sein Gesicht. Es war hager und von Sonne und. Witterung hart und dunkel gegerbt. Sein breiter Mund hatte fast keine Lippen. Die kleinen Augen blickten außerordentlich scharf und sicher unter den Lidern hervor, und die Nase war fast ungeheuerlicih zu nennen.
Der Fremde folgte eben einer Krümmung der Straße, als er bemerkte, daß er nicht der einzige Wanderer war, denn eine kurze Strecke vor ihm schritt ein kleines, hageres Männchen denselben Weg dahin.
»Well, ein Menschenkind«, murmelte der Fremde. »Das ist mir lieb, denn ich kalkuliere, daß es hier bekannt sein wird und mir Auskunft geben kann. Ich werde es einholen.«
Seine Schritte wurden nach diesen Worten rascher. Man sah aber nicht, daß ihn dies Anstrengung gekostet hätte, doch ein Pferd hätte Trab laufen müssen. Dabei wurden seine Schritte durch den Schnee so gedämpft, daß der Vorangehende ihn nicht eher bemerkte, als bis er angerufen wurde.
»Good morning, Sir«, rief der Fremde und fuhr in einem ziemlich gebrochenen Deutsch fort: »Wohin geht diese Straße, Freund?«
Der Angerufene drehte sich rasch um, fuhr aber beim Anblick des Sprechenden erschrocken zurück, denn dieser glich eher einem Vagabunden als einem ehrlichen Mann.
»Nun, warum antworten Sie nicht?« fragte der Fremde barsch.
Diese Frage brachte das Männchen zu sich. Es schien einzusehen, daß es geraten sei, zu einem solchen Strolch möglichst höflich zu sein.
»Guten Morgen«, sagte er. »Diese Straße geht nach Rheinswalden.«
»Sind Sie dort bekannt?«
»Ja.«
»Wohnen Sie vielleicht dort?«
»Nein.«
»Was sind Sie eigentlich?« fragte der Fremde mit einem forschenden Blick auf den anderen.
»Tierarzt«, antwortete dieser.
»Tierarzt? Hm! Ein schönes Handwerk. Das Vieh ist leichter zu kurieren als das Menschenpack. Da habt Ihr wohl in Rheinswalden zu tun?«
»Ja, ich wurde vorhin zu einer kranken Kuh geholt. Sie hat die Perlsucht.«
»Wem gehört sie?«
»Frau Helmers auf dem Vorwerk neben dem Schloß.«
»Helmers? Ist diese Frau Witwe?«
»Ja und nein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ihr Mann wird wohl gestorben sein, aber sie kann es nicht beweisen. Er hat nämlich eine weite Reise gemacht und ist nicht mehr zurückgekehrt. Die letzte Nachricht ist aus Mexiko gekommen.«
»Hm«, meinte der Fremde nachdenklich, »Rheinswalden ist ein Schloß?«
»Ja.«
»Wem gehört es?«
»Dem Hauptmann und Oberförster von Rodenstein.«
»Ist dieser Mann verheiratet?«
»Nein, aber er hat einen Sohn.«
»Der wohnt mit auf Rheinswalden?«
»Nein, auf Rodriganda.«
»Rodriganda? Was ist das?«
»Ein Schloß in der Nachbarschaft von Rheinswalden. Es gehört dem Herzog von Olsunna, der der Schwiegervater des Malers Otto von Rodenstein ist.«
»Ah, ist dieser Herzog nicht der Vater eines gewissen Sternau?«
»Darüber kann ich nichts sagen, aber es wohnt bei ihm Frau Rosa Sternau, die eigentlich eine Gräfin Rodriganda ist. Ihre Tochter ist das Waldröschen. Warum erkundigen Sie sich so eingehend?«
»Das kann Ihnen gleichgültig sein.«
»Möglich. Aber Sie sehen nicht so aus wie einer, der Veranlassung hat, sich nach so vornehmen Leuten zu erkundigen.«
»Nicht? Wieso denn?«
Der Kleine warf einen geringschätzigen Blick auf den Fremden und antwortete:
»Na, das müssen Sie doch zugeben, daß Sie wie ein echter Bummler aussehen.«
Der Fremde faßte den Kleinen bei den Hüften, hob ihn empor und schüttelte ihn derart, daß ihm Hören und Sehen verging, worauf er ihn behutsam wieder zur Erde niedersetzte.
»So, Zwerg«, sagte er. »das ist für den ›Bummler‹. Nun aber reiß aus und lauf, was die Beine herhaltenl Denn wenn ich dich in einer Minute noch einmal erwische, quetsche ich dir die ganze ›hochgeehrte Wissenschaft‹ aus dem Leibe.«
Der Tierarzt holte tief Atem. Er wollte reden, seine Augen funkelten vor Wut, aber er besann sich, wandte sich um und war im nächsten Augenblick zwischen den Bäumen verschwunden.
»Eine kleine Krötel Aber mutig!« schmunzelte der Fremde. »Jedenfalls sehen wir uns in Rheinswalden wieder. Bin doch neugierig, was er da sagen wird! Geierschnabel und ein Bummler! Der Teufel hole diese verdammte Zivilisation, die jeden, der nicht einen schwarzen Frack um die Rippen hängen hat, für einen Bummler erklärt!«
Er setzte seinen Weg fort, blieb aber nach kurzer Zeit plötzlich stehen, sprang rasch über den Straßengraben und duckte sich hinter einen Busch nieder, der dicht genug war, ihn zu verbergen.
Er hatte nämlich ein Geräusch gehört, das er als Präfiejäger nur zu wohl kannte. Im nächsten Augenblick trat ihm gegenüber ein prächtiger Rehbock langsamen Schrittes aus dem Wald hervor.
»Ein Bock!« flüsterte er. »Und was für ein Kapitalkerl! Donnerwetter, welch ein Glück, daß mein altes Schießeisen geladen ist!«
Ohne daran zu denken, daß er sich keineswegs mehr im Wilden Westen von Amerika befand, riß er den alten Lederschlauch von der Schulter und nahm die Büchse heraus. Der Hahn knackte. Der Bock hörte es und hob lauschend den Kopf. In demselben Augenblick aber krachte auch der Schuß, und das Tier brach im Feuer zusammen.
»Hallo!« rief der Schütze laut. »Das war ein Schuß! Jetzt hin zu ihm!«
Er sprang hinter dem Busch hervor und auf das Tier zu, warf Leinwandsack und Lederschlauch von sich, zog das Messer hervor und begann, den Bock regelrecht aufzubrechen.
Während dieser Arbeit hörte er nahende Schritte, aber das kümmerte ihn, den das Jagdfieber ergriffen hatte, nicht im mindesten. Er fuhr in seiner Arbeit ruhig fort, bis der Nahende hinter ihm stand.
Dieser ergriff zunächst das am Boden liegende Gewehr des Wildfrevlers, betrachtete es mit einem erstaunten Blick und sagte:
»Donnerwetter, was fällt denn diesem verfluchten Kerl hier ein?«
Jetzt erst drehte Geierschnabel den Kopf herum und antwortete:
»Was mir einfällt? Das sehen Sie ja!«
»Natürlich sehe ich es! Er hat den Bock geschossen!«
»Jawohl«, antwortete der Jäger mit einem Kopfnicken.
»Aber wer hat es Ihm denn geheißen?«
»Geheißen? Niemand.«
»Niemand? Nun, warum tut Er es dennoch?«
»Warum? Na, soll ich mir denn soch einen Bock entgehen lassen?«
Bei diesen Worten hatte der Fremde sich erhoben, um einen außerordentlich bestürzten Blick auf den Sprecher zu werfen. Er konnte nicht umhin, in ebenso erstauntem Ton zu fragen:
»Kerl, ist Er denn verrückt?«
»Verrückt? Pah! Pchtichchchch!«
»Millionensduockschwerebrett! Was fällt Ihm ein? Hält Er mich etwa für einen holländischen Spucknapf?«
»Nein, aber für einen Erzgrobian!«
»Ich? Ein Erzgrobian? Das wird ja immer bunter!«
»Ja, ein Erzgrobian ist Er! Ich sage ›Sie‹ zu ihm, und er nennt mich ›Er‹. Wenn das höflich ist. so lasse ich mich aufhängen.«
»Höflich oder nicht. Aber aufgehangen oder so etwas wird Er bestimmt.«
»Von wem?« fragte Geierschnabel lächelnd.
»Das wird Er merken, ohne daß ich es Ihm zu sagen brauche. Weiß Er denn nicht, daß die Wilddieberei hier mit soundsovielen Jahren Zuchthaus bestraft wird?«
Da sperrte Geierschnabel den Mund so weit auf, daß man alle seine zweiunddreißig prächtigen Zähne zu zählen vermochte.
»Zucht —- haus —«, sagte er.
»Ja, Zuchthaus, Er Erzhalunke!«
»Donnerwetterl Daran habe ich weiß Gott nicht gedacht!«
»Ja, das glaube ich wohl. Diese Kerle denken erst dann an die Strafe, wenn sie in der Patsche stecken. Wer ist Er denn?«
»Ich? Wer sind denn Sie?«
»Ich bin der Ludwig Straubenberger.«
Da ging ein heiterer Blitz über das Gesicht des Amerikaners.
»Ludwig Straubenberger?« sagte er. »Was geht das mich an!«
»Sehr viel sogar geht Ihn das an. Ich stehe im Dienst des Herrn Oberförsters von Rodenstein.«
»Sie tragen doch keine Jägeruniform.«
»Weil ich Diener des Oberleutnants Helmers bin.«
»Und dennoch stehen Sie im Dienst des Oberförsters? Wie paßt das zusammen? Dienen Sie zwei Herren?«
»Zweien oder zwanzig, das geht Ihn ganz und gar nichts an. Er ist mein Arrestant und hat mir zu folgen.«
»Zum Herrn Oberförster?«
»Ja. Zu wem denn sonst, Er Schlingel?«
Da reckte sich Geierschnabel empor und sagte:
»So schnell geht das nun allerdings nicht. Sie tragen keine Uniform. Legitimieren Sie sich mir als Forstbeamter.«
Das war dem braven Ludwig noch niemals vorgekommen.
»Hölle und Teufel!« rief er. »Verlangt so ein Spitzbube gar noch eine Legitimation von mir! Ich werde Ihn legitimieren, daß Ihm der Buckel braun und blau anlaufen soll. Seine Flinte ist bereits konfisziert. Geht er gutwillig mit oder nicht?«
»Ich habe es nicht nötig.«
»So werde ich nachzuhelfen wissen.«
Ludwig faßte den Fremden beim Arm.
»Tun Sie die Hand von meinem Arm!« sagte dieser jedoch in befehlendem Ton.
»Er wird ja immer renitenter! Ich werde Ihn erziehen!«
»Pchtichchchch!«
Ein Strahl braunen Tabaksaftes fuhr Ludwig an den Rock. Da ließ er den Arm des Wilderers los und rief in höchstem Zorn:
»Alle Teufel! Auch noch anspuckenl Das soll Er teuer bezahlen!«
In diesem Augenblick rief eine Stimme hinter einem der nächsten Bäume:
»Soll ich Ihnen helfen, mein lieber Herr Straubenberger?«
Ludwig drehte sich um.
»Ah, der Kuhdoktor!« sagte er. »Was machen Sie denn hier?«
Der kleine Mann trat langsam und vorsichtig hinter dem Baum hervor.
»Ich wollte nach Rheinswalden. Da traf ich diesen Menschen.«
»Und weiter?«
»Er fing ein Gespräch mit mir an, und dann kamen wir in Streit. Soll ich Ihnen helfen, ihn zu arretieren?«
»Ich habe Sie nicht nötig, denn ich bin selbst Manns genug, um mit einem solchen Halunken fertig zu werden. Aber besser ist besser; er scheint nicht gutwillig mitzugehen. Wir wollen ihm die Hände ein wenig auf den Rücken binden!«
Da zuckte es eigentümlich um den Mund Geierschnabels.
»Das wäre allerdings lustig genug!« sagte er.
»Wieso?« fragte Ludwig. »Dabei finde ich gar nichts Lustiges.«
»O doch! Oder ist es nicht spaßhaft, wenn ein Wilddieb seinen Wildbrethändler arretiert?«
»Wildbrethändler? Wie meint Er das?«
»Ich meine mich damit. Ich bin Wildbrethändler aus Frankfurt.«
»Ah!« meinte Ludwig erstaunt.
»Und dieser Kleine da ist der eigentliche Wilderer«, fuhr Geierschnabel fort. »Er hat mir seit drei Jahren alles geliefert, was er in den Rheinswaldener Forsten zusammengeschossen hat.«
Der kleine Tierarzt traute seinen Ohren nicht, als er diese Worte hörte. Auch Ludwig machte ein verblüfftes Gesicht.
»Donner und Doria!« rief er. »Da muß doch gleich der helle, lichte Teufel drin sitzen! Ist das wahr, Kleiner?«
Erst jetzt kam dem vom Staunen Übermannten die Sprache wieder.
»Ich ein Wilddieb?« fragte er. Und alle zehn Finger wie zum Schwur in die Höhe streckend, fügte er hinzu: »Ich schwöre tausend Eide, daß ich noch keine Maus, viel weniger einen Rehbock geschossen habe!«
»Oho, jetzt will er sich weißbrennen!« lachte Geierschnabel. »Wem gehört dem dieser alte Schießprügel da?«
»Ja, wem?« fragte Ludwig.
»Und wer hat den Bock geschossen? Ich nicht, sondern der Doktor da. Ich habe ihn bloß aufgebrochen und ausgenommen.«
»Ist so etwas möglich!« zeterte der Kleine, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend. »Glauben Sie es nicht, mein lieber Herr Straubenberger.«
»Zum Teufel, ich weiß da allerdings nicht, was ich denken soll!«
Bei diesen Worten blickte Ludwig den Fremden ratlos an.
»Denken Sie, was Sie wollen«, meinte dieser. »So viel aber ist gewiß, daß ich mich allein nicht arretieren lasse. Ich bin so dumm gewesen, mit meinem Lieferanten auf den Anstand zu gehen, aber ich werde nicht so dumm sein, die Strafe allein zu tragen.«
»Heilige Mutter Maria, wo will das hinaus!« rief der Kleine. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Flinte in der Hand gehabt.«
»Aber an der Wange«, sagte Geierschnabel. »Ich kann es beweisen, und die Untersuchung wird alles aus Licht bringen.«
Da wandte Ludwig sich mit ernster Miene an ihn:
»Sagt Er wirklich die Wahrheit?«
»Ja.«
»Kann Er es beschwören?«
»Mit tausend Eiden.«
»Da kann ich Ihm nicht helfen, Kleiner; ich bin gezwungen, auch Ihn als Wilderer zu arretieren.«
Der Arzt tat vor Schreck einen Sprung zurück.
»Um Gottes willen, Sie machen Spaß!« rief er.
»Nein, es ist mein voller Ernst!«
»Aber ich bin ja so unschuldig wie die liebe Sonne am Himmel!«
»Das wird die Untersuchung ergeben. Sie sind mein Arrestant!«
»Arrestant? Himmel, ich reiße aus!«
Der Kleine wandte sich um und wollte fliehen, aber Ludwig war schnell genug, ihn zu fassen und festzuhalten.
»Ah, schießen die Preußen so?« rief er. »Entfliehen will er? Damit hat er seine Schuld eingestanden. Ich werde diese beiden Kerle zusammenbinden, damit keiner mir entweichen kann.«
»Das lasse ich mir gefallen«, meinte Geierschnabel, »ich will nicht der einzige Schuldige sein. Wenn es gerecht zugeht, lasse ich mich ohne alle Gegenwehr binden und fesseln.«
»Gut, das ist verständig von Ihm. Gebt Eure Hände her. Hier habe ich die Schnur.«
»Aber ich schwöre bei allen Heiligen, daß ich unschuldig bin!« versicherte der Kleine. »Dieser Spitzbube will mich unglücklich machen!«
»Das wird sich herausstellen«, versicherte Ludwig.
»Aber Sie werden mich doch nicht etwa gefesselt nach Rheinswalden schleppen. Das wäre ja fürchterlich.«
»Schleppen? O nein, Sie werden selber laufen müssen.«
»Aber meine Ehre, meine Ambition, meine Reputation!«
»Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangenl Auf die Reputation eines Wilddiebes gibt kein Mensch einen Pfifferling. Wie ist es? Geben Sie die Hand freiwillig her oder muß ich Gewalt anwenden?«
Geierschnabel bückte sich zur Erde nieder, hob seinen Leinwandsack auf, warf ihn sich über den Rücken und sagte:
»Ich füge mich freiwillig. Hier ist meine Hand.«
»Und ich füge mich gezwungen«, rief der Kleine. »Hier ist meine Hand, aber ich werde Genugtuung verlangen.«
»Das ist nicht meine Sache«, meinte Ludwig. »Ich tue meine Pflicht, alles andere wird der Herr Oberförster untersuchen.«
Er fesselte die rechte Hand Geierschnabels mit der linken des Arztes zusammen. Dann sagte er:
»So, das ist abgetan. Aber den Bock, den soll doch nicht etwa ich nach Hause schleppen. Das ist Eure Sache.«
»Ich habe schon meinen Packen«, meinte Geierschnabel.
»Was ist denn in dem Sack?«
»Fünf Hasen.«
»Hasen? Donnerwetter! Woher sind sie?«
»Der Doktor hat gestern Schlingen gelegt, und heute vor Tagesanbruch gingen wir, sie abzusuchen; es hingen diese fünf darin.«
Der Kleine war ganz starr. Er brachte kein einziges Wort hervor. Ludwig aber machte ein grimmiges Gesicht und sagte:
»Also auch Schlingensteller! Das verschlimmert die Sache bedeutend.. fünf Hasen hat er zu tragen, da mag der Doktor den Bock auf sich nehmen.«
»Aber das ist ja Lüge, infame Lüge!« stieß jetzt endlich der kleine Mann hervor. »Er hat die Hasen selbst gefangen!«
»Das wird sich alles, alles finden«, meinte Ludwig ungerührt, indem er sich niederbückte, um die Läufe des Bockes zusammenzubinden.
»Herr Straubenberger, ich verklage Sie!«
»Meinetwegen!«
»Ich lasse Sie bestrafen.«
»Kümmert mich nicht; ich tue meine Pflicht.«
»Aber mein ganzer guter Ruf ist zum Teufel.«
»Die Hasen und der Bock auch. Hier ist er, da!«
Ludwig hing dem Kleinen das Tier über den Rücken.
»Heiliger Ignatius«, jammerte dieser, »jetzt muß ich unschuldiges Menschenkind auch noch das schwere Viehzeug schleppen!«
»Der Bock ist noch lange nicht so schwer wie die anderen alle, die du schon auf dem Gewissen hast«, sagte Geierschnabel.
»Mensch! Kerl! Ich vergifte dich, wenn ich erst wieder frei bin.«
»Sapperlot, das wird immer schlimmer«, meinte Ludwig. »Also auch ein Giftmischer! Da wollen wir nur machen, daß wir nach Rheinswalden kommen. Der Herr Oberförster wird sich wundern, was für Galgenvögel ich ihm bringe!«
Er gab den beiden einen Stoß, und der interessante Marsch begann. Der Doktor bat, drohte, jammerte und klagte umsonst. Ludwig war ganz darauf versessen, seine Pflicht zu tun. und so sehr sich der Kleine auch sträubte, der kräftige Amerikaner zog ihn ohne große Anstrengung mit sich fort. —
Um dieselbe Zeit befand sich der Oberförster in seinem Arbeitszimmer. Er war erst vor kurzem aufgestanden und trank seinen Morgenkaffee. Seine Laune war nicht gut.
Da ertönten draußen rasche Schritte. Ludwig trat ein und blieb in strammer Haltung an der Tür stehen, um die Anrede des Oberförsters zu erwarten.
»Was bringst du?« fragte dieser kurz und mürrisch.
»Wilddiebe!« lautete die noch kürzere Antwort.
Da fuhr der Alte von seinem Stuhl auf.
»Wilddiebe? Höre ich recht?«
»Zu Befehl, Herr Oberförster, Wilddiebe«, bestätigte Ludwig.
»Wieviele?«
»Zwei.«
»Heiliger Hubertus, endlich einmal zwei! Wo hast du sie?«
»Im Hundeschuppen.«
»Wer hat sie festgenommen?«
»Ich selber«, lautete die Antwort, die der brave Ludwig im Ton stolzen Selbstbewußtseins gab.
»Du selbst? Erzähle!« befahl der andere.
»Es war eine Frische gefallen, Herr Oberförster, und da machte ich mich auf die Beine, um in aller Frühe die bekannten Wechsel zu begehen. Als ich nun so die Straße hinabtrolle, fällt plötzlich ein Schuß. Ich schleiche mich rasch hin und erblicke einen Kerl, der unseren schönsten Bock geschossen hat; er kniete vor ihm, um ihn aufzubrechen.«
»Dem Kerl sollen neunundneunzig Donnerwetter in die Haut fahren. Kanntest du ihn?«
»Nein; er ist ein Wildbrethändler aus Frankfurt.«
»Seit wann schießen die Kerle ihre Böcke selber?«
»Er hat ihn gar nicht selber geschossen, sondern der andere.«
»Kanntest du den?«
»Sehr gut sogar. Ich bemerkte ihn nicht sofort, bekam ihn aber doch sehr bald vor die Augen.«
»Wer ist es?«
»Ich traute meinen Blicken nicht, als ich ihn sah. Aber er hat in dieser Nacht bereits fünf Hasen in der Schlinge gefangen.«
»In der Schlinge? Fünf Hasen in einer Nacht? Das Wild in dieser jämmerlichen Weise umzubringen!«
»Er hat schon seit Jahren für den Frankfurter Händler geliefert.«
»Schändlich! Und wir haben ihn nicht erwischt! Da sieht man wieder, wie man sich auf seine Leute verlassen kann. Augen haben sie wie die Ofenlöcher und Ohren wie die Borstenwische, aber sehen und hören tun sie nichts. Wer war denn dieser Halunke?«
»Unser Viehdoktor!« berichtete Straubenberger.
»Unser Vieh …«
Das Wort blieb dem Alten vor Schreck im Munde stecken.
»Doktor«, ergänzte Ludwig das Wort.
»Kerl, bist du vielleicht übergeschnappt?«
»Zu Befehl, nein, Herr Oberförster.«
»Unser Viehdoktor, unser Tierarzt sollte ein Schlingensteller sein? Das ist unmöglich. Das kann nicht wahr sein.«
»Es ist wahr, Herr Oberförster.«
»Hast du den Bock mitgebracht?«
»Ja. Der Doktor hat ihn selber schleppen müssen.«
»Ihm ist ganz recht geschehen. Und wie steht es mit den Hasen?«
»Alle fünf sind da. Der Wildhändler hat sie im Sack.«
»Gut, gut. Ich werde diese beiden Kerle sofort verhören. Ich werde sie ins Gebet nehmen, daß sie vor Angst Baumöl und Sirup schwitzen. Geh und hole das Volk zusammen! Sie sollen sofort alle in meine Amtsstube kommen. Wenn ich dir dann winke, bringst du die beiden Verhafteten herauf. Ich werde ihnen zeigen, was ein Bock und fünf Hasen zu bedeuten haben. Ich werde ein Exempel statuieren.«
Ludwig entfernte sich. Als er in den Hof kam, hatte einer der Burschen gerade ein gesatteltes Pferd aus dem Stall gezogen, denn der gestrenge Herr Oberförster hatte einen Ritt machen wollen.
»Laß das jetzt und hilf mir die Leute zusammentrommeln«, meinte Ludwig. »Der Herr Oberförster hält erst Gericht.«
»Mit den Wilddieben?«
»Ja. Die Leute sollen alle dabeisein.«
»Gut, gut, ich laufe schon.«
Der dienstbeflissene Knecht ließ das angebundene Pferd stehen und eilte davon. In fünf Minuten waren die wenigen Bewohner von Rheinswalden versammelt. Der Oberförster ließ sie auf Stühlen einen Halbkreis bilden, in dessen Mitte er in eigener Person Platz nahm, nachdem er zuvor durch das Fenster hinab in den Hof gewinkt hatte. Dort stand Ludwig an der Tür des Hundestalles. Als er den Wink seines Herrn bemerkte, öffnete er den Stall und ließ die beiden Verbrecher heraus.
»Halt, Doktor«, sagte er, »Sie haben den Bock zu tragen.«
»Auch in das Verhör?«
»Das versteht sich. Er ist ja der Corpus Defektus, der Euch ins Zuchthaus bringt, nebst den Hasen, die auch solche Corpusse sind.«
»Aber ich bin unschuldig.«
»Sagen Sie das dem Herrn Oberförster selber. Ich verstehe von der Kriminalität nicht soviel wie er.«
Der Arzt mußte den Bock aufladen, und Geierschnabel trug seinen Sack. Sie waren noch immer an den Händen zusammengebunden. Als sie über den Hof geführt wurden, bemerkte der Amerikaner das Pferd, und ein lustiges Lächeln zuckte eine Sekunde lang um seine Lippen.
Ludwig führte sie die Treppe empor und. öffnete eine Tür. Ein rascher Blick Geierschnabels fiel auf ihr Schloß. Sie traten ein, und LudWig zog die Tür hinter sich und ihnen zu.
»Hier sind sie, Herr Oberförster«, meldete er. »Soll ich ihm den Bock abnehmen?«
Der Alte saß mit der Miene und der Grandezza eines spanischen Oberinquisitors inmitten seiner Leute.
»Nein«, antwortete er, »der Kerl mag ihn selber heruntertun.«
»Aber er ist ja angebunden.«
»Das ist überflüssig. Binde sie auseinander, ich habe einmal gehört, daß die Verbrecher während eines Verhörs nicht gefesselt werden dürfen, und so wollen wir es auch hier halten.«
Ludwig band die beiden Arrestanten los. Dabei breitete sich ein befriedigtes Lächeln über das Gesicht Geierschnabels. Der Tierarzt beeilte sich, seine Unschuld zu beteuern, noch ehe das Verhör begonnen hatte.
»Herr Oberförster«, rief er, »es ist mir ein furchtbares Unrecht geschehen. Ich soll diesen Bock geschossen haben, und bin doch…«
»Ruhig«, unterbrach ihn der Oberförster mit donnernder Stimme. »Hier habe nur ich zu reden.«
Der Kleine schwieg. Der Alte wandte sich an Geierschnabel.
»Den anderen kenne ich. Wer aber bist du, he?«
»Ich bin Wildbrethändler in Frankfurt«, antwortete der Gefragte.
»Wie ist dein Name?«
»Henrico Landola.«
Da fuhr der Alte von seinem Stuhl empor.
»Henrico Landola?« fragte er. »Donnerwetter. Was bist du für ein Landsmann?«
»Ich bin ein geborener Spanier.«
Der Hauptmann blickte ihn mit stieren Augen an.
»Mensch, Kerl, Schaft, Halunke, ist das wahr? Seit wann bist du Wildhändler?«
»Erst seit einigen Jahren.«
»Was warst du vorher?«
»Kapitän.«
»Seeräuben nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Geierschnabel mit betonter Ruhe.
»Dich soll der Geier reiten. Aber, Mensch, wie kommst du mit diesem Tierarzt zusammen?«
»Er hat mir die Gifte gemacht, wenn ich irgend einen vergiften wollte.«
Da machte der Kleine vor Entsetzen einen Luftsprung.
»Alle guten Geister, es ist nicht wahr! Kein Wort ist wahr!«
»Ruhe, Giftmischer!« donnerte ihn der Oberförster an. »Heute ist der Tag der Rache! Heute sitze ich selber zu Gericht. Heute werden alle entlarvt, die bisher kein anderer entlarven konnte. Henrico Landola, wie viele Menschen hast du vergiftet?«
»Zweihundertneunundsechzig.«
Da erschrak selbst der Alte. Es kam ihm ein Grauen an.
»Satanas«, rief er. »So viele, so viele! Warum denn?«
»Dieser Viehdoktor wollte es nicht anders. Ich mußte, sonst hätte er mich selbst umgebracht.«
»Herr Jesses, Herr Jesses«, schrie der Kleine. »Es ist kein wahres Wort daran. Es kann kein einziger Mensch auftreten und sagen, daß ich ihn umgebracht habe.«
Geierschnabel zuckte die Schultern.
»Er leugnet natürlich. Aber früher war er der blutgierigste von allen meinen Seeräubern. Ich kann es beweisen.«
»Mensch, du bist ein Ungeheuer. Ich bin niemals etwas anderes als Tierarzt gewesen.«
»Ruhig, nicht muksen«, gebot der Oberförster. »Sie sind erst seit drei Jahren in dieser Gegend. Das könnte stimmen.«
»Ich war aber vorher im Elberfeldschen.«
»Das wird sich zeigen. Sie schweigen! Ich habe es jetzt mit diesem Landola zu tun. Mensch, Räuber, Schuft, kennst du einen Cortejo?«
»Ja«, antwortete Geierschnabel.
»Ah, wie hast du ihn kennengelernt?«
»Durch diesen Tierarzt. Er war der Schwager des Cortejo.«
»Nein, nein«, rief der Kleine. »Ich kenne keinen Cortejo, ich habe diesen Namen noch niemals gehört.«
»Ruhe, sonst lasse ich Sie hinauswerfen«, donnerte ihn der Alte an. »Ich werde schon herauskriegen, wer Ihr Schwager ist.« Und zu Geierschnabel gewandt, fuhr er fort: »Haben Sie mit diesem Cortejo Geschäfte gemacht? Ich verlange die Wahrheit.«
»Ja, sehr viele sogar«, antwortete der Gefragte. »Mein Seeräuberschiff war sein Eigentum.«
»Wie hieß es?«
»Die ›Lion‹, und ich nannte mich damals Grandeprise.«
»Das stimmt. Der Kerl hat wenigstens den Mut, die Wahrheit zu sagen. Kennst du vielleicht einen gewissen Sternau?«
»Ja.«
»Hat er dich nicht einmal fangen wollen?«
»Ja.«
»Was hast du da gemacht?«
»Das, was ich jetzt mache. Ich bin ausgerissen. Adieu, Herr Oberförster.«
Geierschnabel hatte seinen Leinwandsack noch auf dem Rücken. Bei den letzten Worten drehte er sich blitzschnell um und sprang zur Tür. Im nächsten Augenblick war er draußen, warf die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel um, so daß ihm niemand folgen konnte. Drei, vier Stufen nehmend, sprang er die Treppe hinab und hinaus in den Hof. Dort rannte er auf das Pferd zu, band es los, sprang in den Sattel und galoppierte davon.
Dieser ebenso kühne, wie unvorhergesehene Vorgang hatte die Versammlung so überrascht, daß zunächst keiner daran dachte, ein Glied zu bewegen. Der Oberförster war der erste, der sich faßte.
»Er will fliehen«, rief er. »Rasch, schnell ihm nach!«
Er sprang an die Tür, um sie zu öffnen.
»Tausend Teufel. Er hat den Schlüssel umgedreht.« Er eilte ans Fenster und blickte hinab.
»Bomben und Granatenl Da springt er auf das Pferd und reitet zum Tor hinaus. Wenn das so weitergeht, entwischt er uns, ehe wir ihn wiederhaben.«
Niemand dachte daran, zum Fenster hinauszuspringen. Alles rannte zur Tür, um daran zu trommeln, bis eine alte Magd kam, die der Gerichtssitzung nicht beigewohnt hatte. Sie öffnete, und nun stürmte alles hinaus und in den Hof hinab.
»Holt die Pferde heraus«, gebot der Alte. »Wir müssen ihm nach.«
So viele Pferde vorhanden waren, so viele Reiter stürmten eine Minute später zum Tor hinaus, der Oberförster allen voran. Ein Bauer kam ihnen entgegen.
»Thomas«, rief ihm der Oberförster zu, »hast du nicht einen Kerl zu Pferde gesehen?«
»Ja, auf Ihrem Pferd«, lautete die Antwort.
»Wohin ritt er?«
»Er schien große Eile zu haben, aber er hielt doch bei mir an und fragte mich nach dem Weg nach Rodriganda.«
»Gut, dann holen wir ihn ein. Vorwärts, Jungens! Wer von euch mir diesen Kerl wiederhringt, bekommt eine ganze Jahresgage gratis und einen neuen Anzug obendrein.«
So alt er war, er blieb von allen Verfolgern doch der vorderste.
Inzwischen stand der Tierarzt allein im Zimmer und starrte auf die in Tür, durch die alle fortgestürmt waren.
»Jesses Maria«, sagte er. »Ich, ein Wilddieb, ein Giftmischer und Seeräuber? Wenn ich jetzt glücklich zum Tor hinauskomme, verstecke ich mich acht Wochen lang, bis sich meine Unschuld herausgestellt hat.«
Er schlich die Treppe hinab. Auf dem Hof war kein einziger Mensch zu sehen. Daher gelang es dem vor Angst zittemden Männchen, unbemerkt zu entkommen. Draußen vor dem Haus wich er sofort von der Straße ab und schlug sich in die Büsche.
Frau Helmers wartete vergeblich auf den Doktor für ihre perlsüchtige Kuh …
Einige Zeit vorher war ein leichter Wagen die Straße nach Rheinswalden und Rodriganda dahergerollt. Man sah auf den ersten Blick, daß es ein Mietwagen war. Der Insasse war ein junger Mann, dessen militärischer Überrock in ihm einen Offizier erkennen ließ.
Nach kurzer Zeit tauchte das prächtige Gebäude des neuen Rodriganda vor ihm auf. Das Hofportal stand bereits offen. Der Offizier stieg aus, entlohnte den Kutscher und stieg die Freitreppe empor.
Von allen Seiten kamen die Bewohner des Schlosses herbei, um ihn willkommen zu heißen und nach dem neuen Reiseziel zu fragen. Der Herzog und die Herzogin von Olsunna, Otto von Rodenstein nebst seiner Frau, und Rosa Sternau, die schöne Mutter des Waldröschens. Er berichtete, daß er Befehl habe, nach Mexiko zu reisen. Er schickte sich an, ihnen ausführliche Auskunft zu geben, wurde aber darin unterbrochen denn ein Reiter sprengte in den Hof, dessen sonderbare Erscheinung die Augen aller Anwesenden auf sich zog. Es war Geierschnabel.
Er sprang vom Pferd, ließ es stehen und stieg, seinen Sack auf dem Rücken. die Freitreppe empor. Dort trat ihm Alimpo, der Kastellam entgegen.
»Wer sind Sie?« fragte er.
»Wer sind denn Sie?« fragte der Amerikaner.
»Ich bin Alimpo, der Kastellan dieses Schlosses.«
»Ah, das genügt. Sind seine Bewohner zu sprechen? Ich bringe den Herrschaften eine höchst wichtige Botschaft.«
»Wen von den Herrschaften meinen Sie?«
»Alle. Was ich bringe, wird alle interessieren.«
»Man ist jetzt gerade versammelt. Aber Sie sind eigentlich nicht in der Verfassung, bei Herrschaften zu erscheinen.«
»Gerade dazu bin ich in der Verfassung.«
Geierschnabel schob Alimpo ohne alle Umstände beiseite und trat in die Vorhalle. Er hatte die Gesichter hinter den Fenstern gesehen und erreichte leicht den Salon, in dem sich die Herrschaften befanden. Alimpo hatte ihn noch beim Eintreten von hinten erfaßt und rief:
»Zurück, zurück. Ich muß Sie ja erst melden.«
»Das werde ich selbst besorgen.«
Mit diesen Worten machte der Amerikaner sich gewaltsam von Alimpo los. Der Herzog trat ihm entgegen und fragte in strengem Ton:
»Sie dringen hier ein. Welchen Grund haben Sie zu diesem ungewöhnlichen Verhalten?«
Der Gefragte blickte furchtlos und antwortete:
»Den Grund, daß ich eben das Ungewöhnliche liebe.«
»Zu wem wollen Sie?«
»Zu Ihnen allen.«
»Wer sind Sie?«
»Man nennt mich Geierschnabel.«
Ein leises Lächeln ging über das Gesicht des Herzogs. Dieser zerlumpte Mensch hatte infolge seiner Nase ganz recht, diesen Namen zu tragen.
»Woher kommen Sie?« fragte Olsunna weiter.
»Ich bin — — ah, da kommen sie wahrhaftig schon. Ich hätte nicht gedacht, daß dieser alte Oberförster meine Fährte so bald finden werde.«
Er war bei diesen Worten ans Fenster getreten, so ungeniert, als ob er hier zu Hause sei. Die anderen hatten unwillkürlich dasselbe getan. Sie sahen den alten Rodenstein von seinem dampfenden, ungesattelten Pferd springen. Alimpo hatte den Hufschlag vemommen und war hinausgetreten.
»Guten Morgen, Alimpo«, hörten sie den Oberförster rufen. »Sag’ schnell, ob hier ein Reiter angekommen ist.«
»Ja. Soeben erst. Ganz zerlumpt und mit einem Sack auf dem Buckel.«
»Gott sei Dank! Wo ist der Kerl?«
»Bei den Herrschaften im Salon.«
»Alle Teufel, das ist gefährlich! Ich muß gleich hinein, ehe ein Unglück geschieht.«
Zwei Augenblicke später riß Rodenstein die Tür auf und trat ein. Den Flüchtling erbliéken und auf ihn zustürzen, war eins.
»Halunke, habe ich dich wieder!« rief er. »Du sollst mir nicht wieder entkommen.«
»Was, um Gottes willen, ist denn los?« fragte der Herzog. »Wer ist denn dieser Mann, lieber Oberförster?«
»Dieser Mann, dieses Subjekt, oh. er ist der größte Verbrecher, den es unter der Sonne gibt. Er hat über zweihundert Menschen vergiftet.«
Die Anwesenden blickten ihn erstaunt an.
»Ja, guckt mich immer an«, sagte er. »Sperrt die Augen auf und glaubt es nicht, es ist aber dennoch wahr.«
»Wie heißt er denn?«
»Ludwig hatte ihn gefangen, er ist aber wieder entwichen, er heißt Henrico Landola.«
»Henrico Landola?« fragte Kurt Helmers, der junge Husarenoffizier, »er soll der Seeräuber sein? O nein, der ist er nicht. Den kenne ich.«
»Doch, doch! Er hat es ja selbst gestanden.«
»Daß er Landola ist? Unmöglich.«
»Fragen Sie ihn selbst.«
Der Amerikaner hatte sich unterdessen die einzelnen Personen gleichmütig und höchst aufmerksam betrachtet.
»Wie hängt das zusammen? Sie haben sich für einen gewissen Landola ausgegeben?« fragte ihn Kurt.
»Ja«, nickte der Gefragte.
»Kennen Sie diesen Menschen?«
»Ich habe von ihm gehört.«
»Aber wie kommen Sie dazu, sich für ihn auszugehen?«
Der Amerikaner zuckte lächelnd die Schultern.
»Jux«, antwortete er kurz.
»Dieser Jux könnte Ihnen teuer zu stehen kommen. Landola ist keine Person, der man hier freundlich gesinnt ist.«
»Ich weiß es.«
»Er ist es aber dennoch«, behauptete der Oberförster. »Der Halunke hat sogar meine fünf Hasen im Sack.«
»Was haben Sie in Ihrem Sack?«
Diese Frage war an Geierschnabel gerichtet.
»Das sollen Sie sogleich erfahren«, erwiderte der Gefragte, und sich zu Kurt wendend, sagte er: »Ich habe Sie noch nie gesehen, aber der Beschreibung nach sind Sie Oberleutnant Kurt Helmers?«
»Der bin ich allerdings.«
»Nun. so habe ich Ihnen dieses hier zu übergeben.«
Geierschnabel öffnete dabei den alten Sack, griff hinein und zog ein Mahagonikästchen heraus. Aus seiner Hosentasche brachte er dann ein Schlüsselchen hervor und übergab dem Oberleutnant beides. Das Kästchen war außerordentlich schwer.
»Von wem ist es, und was befindet sich darin?« fragte Kurt.
»Sehen Sie selbst.«
Kurt nahm das Schlüsselchen und öffnete. Die anderen traten hinzu, Beim Anblick des Inhalts stießen alle einen Ruf des Erstaunens aus. Das Kästchen enthielt Schmuck und Geschmeide, durchweg alte, mexikanische Arbeit.
»Um Gottes willen, woher haben Sie diese Sachen?« fragte Kurt.
Aller Augen richteten sich in gespannter Erwartung auf Geierschnabel.
»Ihr Vater bekam von Büffelstirn einen Teil des Königsschatzes der Mixtekas geschenkt«, sagte dieser. »Eine Hälfte davon wurde Ihnen durch Juarez geschickt. Das hier ist die zweite Hälfte.«
»Gott! Eine Nachricht aus Mexiko!« rief Rosa de Rodriganda. »Kommen Sie aus Mexiko?« fragte sie in größter Spannung weiter.
»Ja. Auch Sie habe ich noch nie gesehen, aber der Beschreibung nach sind Sie Frau Rosa Sternau, geborene Rosade Rodriganda?«
»Die bin ich allerdings.«
»Dann habe ich auch für Sie etwas.«
Geierschnabel griff in den Sack und zog einen Brief hervor.
»Von Miß Amy Lindsay«, anwortete er.
»Sie kennen sie? Sie kennen den Lord?«
»Sehr gut.«
»Er ging wohl nach Mexiko, um Juarez Waffen und Gelder zu überbringen?« fragte Frau Rosa Sternau.
»Ja. Ich war dabei sein Führer und Begleiter. Wir haben vieles, sehr vieles erlebt und ich bin bereit, Ihnen alles zu erzählen.«
»Welch eine Fügung, welch ein Glück! Haben Sie sonst noch etwas für uns?«
»Nein. Das andere ist Reisegepäck, das mir gehört.«
»So heißen wir Sie willkommen! Wir möchten nur gern erfahren, wer und was Sie sind. Das werden Sie begreiflich finden.«
»Wer und was? Hm! Daß ich Geierschnabel heiße, versteht sich von selbst, ich habe die geeignete Nase dazu. Und daß ich Präriejäger bin, geht eigentlich nur mich etwas an.«
»Präriejäger«, brummte der Oberförster. »Ah, darum ist er so auf das Wild erpicht.«
»Ja. Darum konnte ich auch nicht an mich halten, als ich vorhin den Bock sah. Ich nahm die Büchse und schoß ihn nieder.«
»Donnerwetter, also haben Sie ihn geschossen?«
»Ja, ich.«
»Nicht der Viehdoktor?«
»Nein.«
»Da schlage das Wetter drein! Aber er hat Ihnen doch mehrere Jahre lang das Wild geliefert?«
»Gott bewahre!« lachte Geierschnabel.
»Wirklich nicht?« fragte der Oberförster erstaunt. »Dann ist er also gar kein Wilddieb?«
»Ebensowenig wie ich ein Frankfurter Wildbrethändler bin.«
»Donner und Doria! So haben Sie mich belogen?«
»Ja«, antwortete Geierschnabel sehr gleichmütig.
Da fuhr der Alte im höchsten Grimm auf ihn zu und donnerte ihn an:
»Kreuzmillionenschwerebrett, wie können Sie das wagen! Kommen Sie etwa aus Mexiko herüber, nur um sich über mich lustig zu machen. so baue ich Ihnen dieses Mexiko so lange um den Kopf, bis Sie weder Mexi noch ko sagen können. Verstehen Sie mich? Und nun will ich wissen, welchen Grund Sie hatten, mich so zu täuschen.«
»Grund?« fragte der Amerikaner. »Gar keinen.«
Der Alte öffnete den Mund so weit wie möglich und blickte den Sprecher im höchsten Grade verblüfft an.
»Was?« fragte er. »Keinen Grund? Gar keinen? So haben Sie sich wohl nur einen Spaß mit uns machen wollen?«
»Ja«, antwortete Geierschnabel im gleichgültigsten Ton.
»Ah! Also wirklich nur einen Spaß! Da soll doch gleich das ganze Pulver platzen! Da soll doch gleich der helle, lichte Teufel dreinschlagen! Mensch, wie kommen Sie dazu, mich für einen Mann zu halten, mit dem man sich einen Spaß machen kann?«
»Oh, das kam ganz von selbst. Ich traf den kleinen Tierarzt. Dieser belferte mich an wie ein Schoßhündchen einen großen Neufundländer. Das kam mir so spaßig vor, daß ich ganz lustig gestimmt wurde.«
»Aus Spaß haben Sie ihn also für einen Wilddieb ausgegeben?«
»Natürlich.«
»So ist er also auch kein Seeräuber gewesen?«
»Ist ihm gar nicht eingefallen.«
»Und auch kein Giftmischer?«
»Auch nicht. Ich habe den Mann noch niemals gesehen, ich kenne ihn gar nicht. Hat er Gifte gemischt, so hat er höchstens eine alte Kuh oder einen Ziegenbock damit umgebracht.«
»Er ist also unschuldig an allein?«
»Vollständig unschuldig.«
»Bomben und Granaten! Und diese unschuldige Seele ist arretiert und mit dem eigentlichen Missetäter zusammengebunden werden. Ich habe ihn angebrüllt und angeschnauzt, als ob er mich selber erschossen oder vergiftet hätte! Das fordert Strafe! Wie aber kommt es, daß Sie gerade nach Rodriganda durchgebrannt sind?«
»Weil ich hier sehr Wichtiges zu tun habe. Ich komme als Abgesandter in Angelegenheiten der Familie Rodriganda.«
»Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«
»Warum haben Sie mich nicht gleich gefragt?«
»Warum gaben Sie sich denn für diesen verteufelten Landola aus?«
»Herr Oberförster, der Hafer stach mich.«
»Nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht von noch etwas anderem gestochen werden! Ich werde jetzt hören, was für eine Botschaft Sie uns bringen, dann soll sich finden, wieweit ich Ihnen wegen des Bockes auf das Leder knie.«
Die anderen Anwesenden hatten die beiden ungehindert sprechen lassen. Teils machte ihnen die drastische Art der Unterhaltung Spaß, teils erkannten sie in Geierschnabel eine jener selbständigen, originellen Naturen, wie sie im Westen Nordamerikas nicht selten sind. Sie wußten bereits jetzt, daß unter den obwaltenden Umständen der alte Oberförster gar nicht daran denken würde, den Jäger anzuzeigen. Darum ließen sie die beiden ungestört sich aussprechen, bis der Herzog wieder das Wort nahm.
»Also Ihren Namen und Ihr Gewerbe kennen wir jetzt«, sagte er.
»Wollen Sie uns sagen, wie Sie mit diesen Personen, an denen wir so großen Anteil nehmen, zusammengekommen sind?«
»Das können Sie«, antwortete dieser. »Wissen Sie, was ein Scout ist?«
»Nein.«
»Sie wissen es nicht?« fragte er. »Das weiß doch jedermann. Unter Westmännern gibt es nämlich einige wenige, die einen so scharfen Ortssinn besitzen, daß sie niemals irregehen. Sie kennen jeden Weg, jeden Fluß, jeden Baum und Strauch und finden sich auch da, wo sie noch nie gewesen sind, mit wunderbarer Sicherheit zurecht.«
»Ich habe gehört, daß es solche Leute gibt«, meinte der Herzog.
»Solche Leute nennt man Scouts. Man kann sie bei wichtigen Angelegenheiten nicht entbehren. Jede Expedition, jede Karawane, jede Jägergesellschaft muß einen oder mehrere Scouts bei sich haben, wenn sie nicht zugrunde gehen will. Ein solcher Scout bin ich.«
»Donnerwetter«, meinte der Hauptmann, »so kennen Sie alle Wege der amerikanischen Wildnis? Man sieht es Ihnen aber gar nicht an!«
Geierschnabel verschränkte die Arme über die Brust und antwortete:
»Was sind alle Ihre Hauptleute und Oberförster gegen unsere Westmänner, die an einem Tag mehr erleben, als solch ein livrierter Maulaffe in seinem ganzen Leben. Glauben Sie etwa, ein hiesiger Oberförster sei klüger als ein guter Präriejäger? Oder meinen Sie, ein Hauptmann der großherzoglichen Armee könne es mit einem Scout aufnehmen? Wenn Sie mich nach dem Kleid beurteilen, das ich heute trage, so sind Sie sehr auf dem Holzweg. Sie werden bald sehen, daß Sie sich da jammervoll getäuscht haben. Ich pflege die Leute nach der Art und Weise zu behandeln, wie sie mit entgegentreten. Wer mich ›Er‹ tituliert und mich für dumm zu verkaufen gedenkt, der existiert für mich nicht, er ist einfach nicht da. Sie mögen sich so verhalten, daß ich Ihre Gegenwart respektieren kann. Merken Sie sich das!«
Geierschnabel sprach das Deutsche im fremden Tonfall. Dennoch hatte er seine Rede so korrekt und deutlich, so eindrucksvoll vorgetragen, daß sie auf den alten Oberförster einen nicht geringen Eindruck machte. Er fühlte, daß er sich hier einem Original gegenüber befand, das ihm an Grobheit und Schlagfertigkeit mehr als gewachsen war. Er kratzte sich hinter den Ohren und sagte:
»Himmelelement, ist dieser Mensch höflich! Na, ich werde vorderhand den Mund halten. Das weitere wird sich dann ergeben, wenn ich weiß, woran ich mit ihm bin.«
»Daran tun Sie recht«, meinte Geierschnabel, indem er jetzt einen höflicheren Ton anschlug. Zu den anderen gewandt, fuhr er fort: »Also ein solcher Scout bin ich. Eines Tages befand ich mich in El Refugio und wurde von einem Engländer engagiert, der den Rio Grande del Norte hinauffahren wollte.«
»Sir Lindsay?« fragte Gräfin Rosa.
»Ja.«
»War Miß Amy bei ihm?«
»Das versteht sich. Sie wollte ihren Vater nicht verlassen.«
»Sie ist eine sehr liebe Freundin von mir. Befand sie sich wohl?«
»Höchstwahrscheinlich. Wenigstens habe ich nichts davon gehört, daß sie Zahnreißen oder Kopfschmerzen gehabt hätte. Ich wurde geschickt, nach El Paso del Norte zu gehen, um dem Präsidenten Juarez zu melden, daß der Lord ihm Waffen und Geld bringe.«
»Sie trafen den Präsidenten?« fragte Kurt mit Interesse.
»Ja, aber nicht in El Paso, sondern in einem kleinen Fort, das Guadeloupe genannt wird. Vorher traf ich dort noch andere Leute, für die Sie sich interessieren werden. Zunächst war da ein Jäger, der früher der Fürst des Felsens genannt wurde.«
»Wie hieß er?« fragte der Herzog.
»Doktor Sternau, ein Deutscher.«
»Mein Mann!« rief Rosa. »Aber, mein Gott, wie kam er nach diesem Fort? Woher kam er, und was hat er dort getan, anstatt die Heimat aufzusuchen?«
»Das werden Sie hören. Vorher aber muß ich noch einige andere Personen erwähnen.«
»War ein gewisser Mariano dabei?« fragte Rosa schnell.
»Ja.«
»Ein Helmers?«
»Sogar zwei. Ferner zwei Indianerhäuptlinge.«
»Die sind uns gleichgültig.«
»Sie werden Ihnen aber nicht gleichgültig bleiben. Sodann war eine Señorita Elvira da.«
»Die Tochter des Haziendero, die auch verschwunden war?«
»Ja.«
»Eine gewisse Karja.«
»Die Indianerin?«
»Sie war eine Tochter der Mixtekas. Ferner war da ein spanischer Gärtner, den Sie vielleicht kennen, namens Bernardo Mendosa.«
»Der Name kommt mir allerdings bekannt vor. Wo war dieser Gärtner her?«
»Er war aus Manresa.«
»Aus Manresa in Spanien? Das ist ja in der Nähe von Rodriganda.«
»Allerdings. Dieser Mann hat sogar auf Schloß Rodriganda als Gärtner gearbeitet. Aber weil er verschiedenes gesehen und beobachtet hat, ist er von Cortejo auf ein Schiff gelockt und nach Afrika geschafft worden.«
»Welch eine Teufelei!« rief Kurt. »Was hat er denn beobachtet?«
»Das weiß ich leider nicht.«
»An welchen Ort brachte man ihn?«
»Ich weiß nur, daß er in Harrar gewesen ist. Und dort traf er auf einen Mann, den Sie alle kennen werden, auf den Grafen Ferdinando de Rodriganda.«
Dieser Name verursachte größte Aufregung. Als diese sich gelegt hatte, fragte Rosa:
»Haben Sie den Grafen selbst gesehen?«
»Ja, mit diesen meinen Augen.«
»Welches Schicksal! Welches Zusammentreffen! Woher aber waren diese Personen gekommen?«
»Über den Ozean herüber, von einer öden Insel.«
»Wo sie so lange Jahre gefangen gewesen waren?«
»Ja.«
»Wo liegt diese Insel?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie heißt sie?«
»Man hat es mir nicht gesagt.«
»Was haben die Verschleppten während dieser langen Zeit dort getrieben?«
»Ja, darüber muß man ausführlicher erzählen.«
»Und wie sind sie endlich befreit werden?«
»Ein deutscher Kapitän, namens Wagner, hat sie geholt.«
»Warum fuhren sie nicht direkt in die Heimat?«
»Weil es vorher in Mexiko wichtige Dinge zu ordnen gab.«
»Aber was wollten sie in dem Fort?«
»Sie wollten Juarez treffen, um unter dessen Schutz nach der Hazienda del Erina zu reisen.«
»Er gewährte ihnen seinen Schutz?«
»Natürlich, denn sie hatten ja auch ihm geholfen, das Fort gegen die Franzosen zu verteidigen.«
»Mein Gott! So haben sie gegen die Franzosen gekämpft und sich in Lebensgefahr begeben?«
»Natürlich! Das ist ja bei jedem Kampf der Fall.«
»Welche Unversichtigkeit! Wir haben sie so lange Jahre als tot betrauert, und nun, da sie gerettet sind, werfen sie ihr Leben wieder in die Waagschale, und zwar für eine Sache, die ihnen fremd sein muß.«
»Fremd? Da irren Sie sich.«
»Inwiefern? Was gehen uns die Franzosen an?«
»Was geht Sie der Teil der Herrschaft von Rodriganda an, der in Mexiko liegt?«
»Allerdings sehr viel.«
»Was geht Sie Pablo Cortejo an?«
»Er ist uns freilich höchst wichtig.«
»Er muß entlarvt werden. Die Herrschaften waren einmal in Mexiko und zogen also vor, das zu tun, was dort zunächst zu tun war, anstatt nach Europa zu gehen und dann wieder nach Mexiko zurückzukehren.«
»Haben Sie Cortejo getroffen?«
»Ja und nein. Ich werde es Ihnen ausführlich erzählen.« Geierschnabel berichtete nun alles, was von seinem ersten Erscheinen in Fort Guadeloupe im Gefolge von Juarez bis zu seiner Abreise nach Deutschland geschehen war.
Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Rosas Gesicht glühte vor Freude, zu wissen, daß der geliebte Mann noch am Leben war und von allen seinen Bekannten so hoch geschätzt und geachtet wurde. Sie hörte schweigend bis zum Ende zu und fragte dann:
»Wohin werden Sie gehen, wenn Ihre jetzige Sendung vollendet ist?«
»Wieder nach Mexiko.«
»Gedenken Sie, sich lange in Deutschland aufzuhalten?« fragte Kurt.
»Ganz und gar nicht. Dieses Land ist mir zu schläfrig. Unsereiner ist an andere Dinge gewöhnt, als sie hier passieren.«
»Sagen Sie, wie lange Ihr Aufenthalt ungefähr dauern wird.«
»Ich habe ausgerichtet, was ich auszurichten hatte, bin also eigentlich fertig und habe nur auf die Antwort zu warten, die ich dem Präsidenten und Sir Lindsay überbringen soll. Ich könnte schon heute fort.«
»Wollen wir zusammen reisen?«
»Gern. Ich denke, daß ich Ihnen drüben nützlich sein kann. Aber, wann wollen Sie fort?«
»Es war für morgen festgesetzt. Doch erlauben Sie mir eine Frage. Welcher Partei gehören Sie drüben an?«
»Ich halte zu Juarez.«
»Juarez kennen Sie?«
»Sehr gut.«
»Sind Ihnen die neuesten Ereignisse bekannt?«
»Ganz genau. Ich befand mich ja stets in der nächsten Nähe und Umgebung des Präsidenten.«
»So sind Sie jedenfalls besser informiert als unsere Berichterstatter?«
»Das versteht sich.«
»Wenn nun einer der preußischen Minister ehrliche Auskunft von Ihnen verlangte, würden Sie ihm diese gewähren?«
»Wenn er es ebenso ehrlich mit uns meinte!«
»Zweifeln Sie daran?«
»In solchen Sachen muß man sehr vorsichtig sein. Preußen ist kein Freund von Frankreich. Wie aber steht es mit Österreich?«
»Wir haben es soeben geschlagen.«
»Das ist wahr. Ich denke also, daß Preußen sich aus dem guten Max von Mexiko nicht viel machen wird. Warum aber fragen Sie?«
»Weil ich einen Minister kenne, den es wohl interessieren würde, mit Ihnen über Mexiko zu reden.«
»Wie heißt er?«
»Bismarck.«
Geierschnabel machte ein sehr erstauntes Gesicht.
»Bismarck selbst, der Teufelskerl?«
»Ja, er selbst.«
»Alle Wetter! Wenn ich den einmal sehen könnte!«
»Wollen Sie?«
»Geht das denn zu machen? Werden Sie das fertigbringen?«
»Jedenfalls.«
»Gut. Diesem Man würde ich die aufrichtigste Auskunft geben. Aber ich denke, Sie müssen schon morgen abreisen?«
»Ich habe allerdings Order, bereits morgen aufzubrechen. Ich bekam nur diesen heutigen Tag geschenkt, um mich hier in Rheinswalden und Rodriganda zu verabschieden. Aber ich glaube es wagen zu können, Sie zu Bismarck zu bringen.«
»Wo steckt der Minister jetzt?«
»In Berlin.«
»Gut, dann müssen wir hin!«
»Ich danke Ihnen. Aber — hm!«
Bei diesen Worten warf Kurt einen bedeutungsvollen Blick auf die Kleidung des Präriejägers.
»Ihre äußere Erscheinung ist für einen derartigen Besuch unpassend.«
»So? Ich habe hier im Sack eine bessere. Einen echt mexikanischen Anzug.«
»Den dürfen Sie auf keinen Fall anlegen, weil man nicht einen Mexikaner in Ihnen vermuten darf. Sie müssen inkognito bei Bismarck erscheinen.«
»Inkognito? Donnerwetter, klingt das vornehm! Wie aber soll ich das anfangen?«
»Sie legen einen gewöhnlichen Zivilanzug an. Ich werde Ihnen einen solchen gern besorgen.«
»Besorgen? Das soll heißen, bezahlen?«
»Ja.«
»Damit bleiben Sie mir vom Leibe! Geierschnabel ist nicht der Kerl, der sich einen Anzug bezahlen läßt. Ein Bote, der solche Kostbarkeiten über die See herüberschleppt, hat schon so viel Geld, daß er Jacke, Hosen und Halsbinde selbst bezahlen kann. Also, wann reisen wir?«
»Heute abend mit dem letzten Zug.«
»Zusammen?«
»Natürlich.«
»Das paßt mir nicht, weil ich das nicht gewöhnt bin. Ich liebe es, auf mich selbst angewiesen zu sein. Geben Sie mir lieber einen Ort in Berlin an, wo wir uns treffen wollen.«
»Hm. Ich kann nicht in Sie dringen, und so sollen Sie Ihren Willen haben. Wir wollen uns also morgen mittag um drei Uhr im Magdeburger Hof treffen. Die Straße, in der er liegt, heißt …«
Da fiel Geierschnabel ihm in die Rede:
»Halt! Es macht mir Spaß, mich selbst zurechtzufinden. Einer, der sich im Urwald nicht verläuft, wird wohl auch Ihren Magdeburger Hof zu finden wissen.«
»Meinetwegenl Also abgemacht! Diese Herrschaften werden Sie jetzt noch nach vielem zu fragen haben. Ich aber habe meine Vorbereitungen zu treffen und suche darum mein Zimmer auf!«
Der Spaßvogel
Einige Stunden später schlenderte Geierschnabel langsam durch die Gassen von Mainz und betrachtete die Ladenschilder mit neugierigen Blicken. Endlich blieb er vor einem Haus stehen.
»Kleider von Hirsch«, brummte er. »Ich trete ein!«
Als er die Tür öffnete, wurde er von einem kraushaarigen kleinen Mann mit forschenden Blicken empfangen. Das Äußere des Eintretenden versprach ihm offenbar nicht viel.
»Was wünscht der Herr?«
»Einen Anzug.«
»Einen Anzug? Einen ganzen?«
»Natürlich einen ganzen!« meinte der Jäger. »Zerrissen darf er nicht sein.«
»Ist der Herr von hier?«
»Nein.«
»Nehmen Sie die Sachen auf Kredit?«
»Ich bezahle gleich!«
»Das ist schön. Also hat der Herr Geld genug, um einen vollständigen Anzug zu bezahlen. Der besteht aus Rock, Hose und einer feinen Weste?«
»Hm!« meinte Geierschnabel nachdenklich. »Ich brauche einen, in dem man mich nicht erkennt.«
»So will der Herr sich verkleiden?«
»Ja. Man soll nicht merken. woher ich komme.«
»Dann muß ich wenigstens wissen, wohin oder zu wem der Herr inkognito gehen will.«
»Hm! Ich will — ja, ich muß zu einem Minister.«
Der Händler blickte ihn zweifelnd an, sagte dann aber:
»Zu einem Minister? Da wird der Herr keinen Rock tragen.«
»Was sonst? Soll ich in Hemdsärmeln gehen?«
»Nein. Wenn man zu einem Minister geht, darf man nur im Frack erscheinen, weil dies die Kleidung der Etikette und Höflichkeit ist.«
»Schön. Zeigen Sie mit einen Frack!«
»Ich werde Ihnen einen Frack vorlegen, wie ihn der große Metternich zur Zeit des Kongresses getragen hat, der in der Hauptstadt Wien gegen den französischen Kaiser Napoleon gehalten wurde.«
»Wer war Metternich?«
»Ein Minister und Fürst, mächtig wie ein Kaiser und reich wie der große Mogul, der zweimal größer ist als ein Elefant.«
Das schmeichelte dem Trapper.
»Gut, geben Sie den Frack her!«
Der Händler holte aus dem verborgensten Winkel seines Gewölbes das Kleidungsstück. Es hatte eine braunrote Farbe und war mit Puffen, Patten und tellergroßen Knöpfen versehen. Geierschnabel sah es an und fragte:
»Was kostet dieser Ministerfrack?«
»Ich kann ihn unmöglich unter zwölf Taler und zehn Silbergroschen abgeben.«
Der Jäger war amerikanische Preise gewöhnt.
»Das ist billig«, sagte er. »Hier sind dreizehn Taler.«
Er griff in seinen Leinwandsadk und zog einen großen Beutel heraus, aus dem er dreizehn blanke Taler vorzählte. Der Händler war außerordentlich überrascht von dieser Großzügigkeit. Er sagte:
»Darf ich eine Weste bringen?«
»Natürlich. Aber auch sie muß mich inkognito machen.«
»Da muß ich vorher fragen, als was der Herr erscheinen will.«
»Als was? Als was kann man denn erscheinen, wenn man inkognito reist?«
»Als vielerlei. Zum Beispiel als Kandidat und Geistlicher?«
»Nein, die sind mir zu fromm.«
»Als Müller oder Bäcker?«
»Die sind mir zu mehlig.«
»Als Gerber oder Schuster?«
»Die sind mir zu ledern.«
»Darin mag der Herr nicht als Handwerker, sondern als Beamter gehen.«
»Gut! Was für Beamte gibt es?«
»Kreisamtmänner und Chausseegeldeinnehmer?«
»Paßt mir nicht.«
»Finanzräte und Weichensteller?«
»Auch nicht.«
»Bankdirektoren und Nachtwächter?«
»Auch nicht.«
»Will der Herr nicht lieber als Künstler gehen?«
»Künstler? Donnerwetter, ja! Dazu passe ich. Dazu bin ich wie geschaffen. Aber wie viele Sorten von Künstlern gibt es?«
»Dichter?«
»Danke. Die hungern zuviel.«
»Bildhauer?«
»Die hämmern zuviel.«
»Architekten?«
»Ihre Häuser halten nur von heute bis morgen.«
»Komponisten und Musikusse?«
»Das wäre nicht übel. Komponist und Musikus? Das gefällt mir eher. Was für eine Weste müßte ich dann haben?«
»Ich werde dem Herrn eine grüne Weste mit soviel blauen Blumen geben, daß man ihn für eine Wiese mit lauter Vergißmeinnicht hält.«
»Donnerwetter, ja, diese Weste muß ich haben!«
Sie wurde mit vier Talern bezahlt.
»Und die Hosen?« fragte der Händler. »Was soll ich für Hosen bringen?«
»Sie müssen auch inkognito sein.«
»So werde ich schwarzgraue Hosen bringen, wie sie Mode gewesen sind zu Zeiten Sebastian Bachs, der gewaltig alle Orgeln geschlagen und dazu viele Tragkörbe voll Noten komponiert hat.«
»War er berühmt?«
»So berühmt, daß man ihn nach zehntausend Jahren noch kennen wird.«
»Gut.«
Geierschnabel machte ein undefinierbares Gesicht, als er die Hosen erblickte, bezahlte aber sofort die drei Taler, die dafür verlangt wurden.
»Und nun die Stiefel. Was soll ich für welche bringen?« fragte der glückliche Handelsmann.!
»Inkognitol Man darf mich nicht kennen.«
»So werde ich Tanzschuhe vorschlagen. so fein und leicht, daß man in die Luft springt, sobald man sie angezogen hat. Solche Schuhe muß ein Herr tragen, der Komponist und Musikus ist.«
»Her damit!«
Sie wurden gebracht und sofort bezahlt.
»Will der Herr auch seinen Kopf bedecken?« fragte der Händler.
»Natürlich, aber auch inkognito.«
»So werde ich ihm einen Hut geben, so hoch und so. breit, wie ihn Orpheus getragen hat, ehe er in den Orkus hinabstieg.«
»Wer war dieser Orpheus?«
»Ein großer Komponist und Musikus, der die Ziehharmonika und das Klavier mit doppelten Saiten erfunden hat.«
»War er berühmt?«
»Außerordentlich. Wenn er die Ziehharmonika spielte, wurden die Steine lebendig.«
»Gut. Der Hut wird gekauft.«
Der Hut war fürchterlich. Die Krempe hatte drei Fuß im Durchmesser, und der Kopf war dementsprechend hoch.
»Der Herr trägt doch auch Handschuhe?«
»Freilich. Aber man darf ihnen nicht ansehen, wer ich hin.«
»So werde ich weiße Handschuhe geben, so zart wie Spinngewebe.«
Der pfiffige Händler brachte weiße Leichenbitterhandschuhe, für die der Amerikaner den sechsfachen Preis bezahlte. Geierschnabel glaubte, nun alles beisammen zu haben, aber er irrte sich sehr, denn der Händler forschte weiter in seinem Laden herum und fragte:
»Wenn der Herr als Musikus geht, muß er da nicht auch Noten haben, um zu zeigen, daß er ein großer Komponist ist?«
»Donnerwetter, ja, Noten, die hätte ich am Ende fast vergessen. Haben Sie welche hier?«
»Warum sollte ich nicht Noten haben? Dort liegen sie bei den Zeitungen. Will der Herr einen Taler geben?«
»Her damit!«
Der Händler brachte Gitarrenoten und eine Übungsschule für das Flageolett. Dann meinte er nachdenklich:
»Aber wenn man ein Komponist ist. muß man auch ein Instrument haben.«
»Das ist wahr. Haben Sie denn auch Instrumente?«
»Natürlich habe ich Instrumente!«
»Bringen Sie sie her!«
»Was? Eine Bratsche oder eine Posaune?«
»Eine Posaune ist mir lieber.«
»Hier ist sie.«
Der Händler zog das Instrument unter einem Haufen alter Sachen heraus.
»Alle Teufel!« meinte der Jäger. »Die hat aber Narben!«
»Kann es sein anders? Alle wirklich guten Instrumente sind alt.«
»Hm! Wenn’s so ist! Aber hier sind auch zwei Löcher!«
»Sind dem Herrn diese Löcher unbequem?«
»Nein. Aber sie gehören doch wohl nicht hinein!«
»Die Löcher sind vorteilhaft für die Musik und die Atmosphäre und die Lunge!«
»Inwiefern?«
»Man braucht die Luft nicht bis ganz hinten hinauszublasen, da sie bereits zu den Löchern herauskommt.«
»Das ist vorteilhaft! Was kostet die Posaune?«
»Ich gebe sie für acht Taler.«
»Gut, hier ist das Geld! Oder kann ich nicht lieber mit Banknoten bezahlen? Ich brauche das Silbergeld später.«
Geierschnabel griff in den Sack und zog eine Anzahl Zehntalerscheine hervor, wovon er einen auf den Tisch legte, die anderen steckte er in seine Hosentasche. Der Händler folgte dieser Bewegung mit Begierde und dachte, welch eine Unversichtigkeit es sei, zwanzig und noch mehr Zehntalerscheine so lose in die Taschen zu stecken.
»Ich bekomme zwei Taler heraus«, meinte Geierschnabel. »Geben Sie mir dafür eine Brille.«
»Was für eine wünscht der Herr?«
»Eine, durch die man hindurchsehen kann.«
»Soll ich Brille, Lorgnon oder Monokel geben?«
»Eine, die zum Inkognito paßt.«
»Dann werde ich einen antiquarischen Klemmer von der Nase des Meisters Gluck geben, der viele Stücke komponiert hat.«
»Gluck? War er berühmt?«
»Ungeheuer. Hier ist seine Brille. Sie kostet mich vier Taler, ich will sie aber für zwei geben, weil der Herr einen ganzen Anzug gekauft hat.«
»Schön! Ich werde ihn gleich anlegen. Gibt es hier einen Raum, wo man sich aus- und anziehen kann?«
»Eben dieses Geschäft ist der Raum, in dem die Kunden an- und ausgezogen werden. Der Herr mag in die Ecke treten, ich werde zu helfen bereit sein.«
»Hätten Sie nicht Lust, mir diesen alten Anzug abzukaufen?«
»Was soll man für solche Sachen geben! Ich werde ihn ansehen und dann bieten.«
Er wandte kein Auge mehr von Geierschnabel, der begann, die Kleider zu wechseln. Der Händler wußte, daß die Zehntalerscheine in der Tasche steckten, und wollte sich überzeugen, ob diese herausgenommen würden.
Als Geierschnabel den gekauften Anzug angelegt hatte, schob er den alten mit dem Fuß von sich und fragte:
»Nun, wie steht es? Kauft Er ihn?«
Der Händler hatte ganz genau aufgepaßt, er wußte, daß die Scheine nicht angerührt worden waren.
»Ich werde die Sachen ansehen«, sagte er.
Er nahm die Hosen zur Hand, griff — unbemerkt, wie er dachte — von außen an die Tasche und fühlte ganz deutlich, daß die kostbaren Papierehnter seinem Druck knitterten. Sie waren mehr als zweihundert Taler wert.
Seine Hände begannen zu zittern.
»Was soll ich für dieses Zeug geben, das kein Mensch kaufen wird?« sagte er. »Es ist nichts wert.«
»Was bieten Sie?« fragte Geierschnabel kurz.
»Ich gebe für die ganze Geschichte einen Taler.«
»Wo denken Sie hin? Her damit! Ich packe sie in meinen Sack.«
Da trat der Händler schnell zurück und sagte:
»Ich werde zwei Taler geben.«
»Fällt mir nicht ein«, meinte Geierschnabel, der zum Gehen fertig war und die Hand nach den Sachen ausstreckte.
»Drei Taler«, meinte der Händler.
»Unsinn.«
»Vier Taler.«
»Nein.«
»Fünf Taler.«
Der Schacherer bebte vor Angst, als ob ihn ein Fieber ergriffen hätte.
»Nein. Der Anzug ist mit nicht um vierzig Taler feil.«
»Vierzig!« rief der Händler, indem er die Augen fast ebenso weit aufriß wie den Mund. »Wie ist das möglich!«
»Das Zeug zu diesen Sachen ist von Faultierhaaren gesponnen. Wer solche Wolle trägt, bekommt nie Fieber.«
»Faultierwolle? Vierzig Taler! Ich werde zehn Taler geben, aber keinen Pfennig mehr.«
»Vierzig, und keinen weniger.«
»Zwölf!«
»Vierzigl Her damit! Ich habe keine Zeit!«
Der Händler tat einen Sprung rückwärts. Er durfte sich das Papiergeld nicht entgehen lassen!
»Zwanzig Taler!« rief er vor lauter Angst.
»Vierzig! Ich sage es zum letztenmal. Ich muß mit dem Zug fort und habe keine Minute Zeit zu verlieren.«
»Mit dem Zug fort?« dachte der Habgierige. Da ging der Mann ja fort, ohne wiederzukommen oder wiederkommen zu können. Das steigerte den Wert des Papiergeldes.
»Ist es wirklich Wolle vom Faultier?« fragte er hastig. »So gebe ich fünfundzwanzig.«
»Vierzig!«
»Sechsundzwanzig!«
»Ich gebe Ihnen noch eine Minute Bedenkzeit, dann aber gehe ich mit meinen Sachen ganz sicher fort!«
Der Händler tat noch einen krampfhaften Griff nach der Taschengegend.
»Dreißig Taler!« bot er.
»Vierzig!«
»Vierzig Taler für solche Lumpen!«
»Wer zwingt Sie, sie zu kaufen? Her damit!«
Geierschnabel faßte die Hosen und zog sie heran. Der Händler ließ sie nicht los und zog sie zurück, indem er in höchster Bedrängnis rief:
»Zweiunddreißig.«
»Vierzig!«
»Fünfunddreißig.«
»Vierzig!«
»Ich kann nicht. Es ist unmöglich!« rief der in die Enge Getriebene.
Es griff ihn am meisten an, daß es ihm nicht gelingen wollte, auch nur einen einzigen Taler abzuhandeln.
»So geben Sie endlich her!«
Mit diesen Worten machte der Amerikaner eine kräftige Anstren— gung, die Kleider wieder in seine Gewalt zu bekommen, aber der Händler ließ nicht los, sondern rief:
»Sechsunddreißig!«
»Vierzig.«
»Achtunddreißig!«
»Vierzig! Her mit den Sachen!«
»Es sind nicht des Herrn Sachen, sondern es sind meine, denn ich werde die vierzig Taler geben.«
Der Sprecher schwitzte im Gesicht.
»Gut. Her damit!« meinte Geierschnabel.
Der andere griff zu seiner Sicherheit noch einmal nach den Papieren, wickelte die Kleidungsstücke dann zusammen, legte sie fort und griff zum Geld. Bei jedem harten, blanken Taler, den er aufzählte, sah man ihm an, wie schwer es ihm wurde, die Summe auszuzahlen. Und dennoch beeilte er sich, den Fremden loszuwerden, damit diesem nicht noch einfallen möge, wo er sein Papiergeld gelassen habe.
»So, das sind vierzig Taler«. sagte er endlich. »Ein Heidengeld für solche Lumpen. Wir sind fertig. Der Herr kann gehen.«
Geierschnabel lachte ihm ins Gesicht und antwortete:
»Ja. wir sind fertig, ich kann gehen. Sie hatten mir ganz gehörige Preise angesetzt, aber ich habe nichts abgehandelt, weil das ein Gentleman nie tut. Demnach sind wir quitt. Adieu.«
»Adieu, der Herr.«
Kaum war Geierschnabel zur Tür hinaus, da öffnete sich die Tür eines hinter dem Gewölbe liegenden, kleinen Raumes. Dort: war das Wohnzimmer des Händlers. Seine Frau trat ein.
Sie rief, die Hände zusammenschlagend: »Was hast du für eine große, grausame Dummheit gemacht!«
Er verschloß den Laden von innen, damit der soeben Fortgegangene nicht wieder eintreten könne, blickte seiner Frau in das runzelige Gesicht und antwortete:
»Was soll ich gemacht haben? Eine Dummheit?«
»Ja, eine grausame und große.«
»Inwiefern?«
»Du hast doch für diese Lumpen vierzig Taler gegeben. Du bist doch wohl verrückt in deinem Kopf gewesen.«
»Nein, ich bin sehr klug gewesen. Ich habe soeben ein sehr gutes Geschäft gemacht.«
Das Gesicht der Frau erheiterte sich, indem sie sagte:
»Wer war der Mann?«
»Weiß ich es? Ein Dummkopf war es. Kauft mit die schlechtesten Sachen um einen wahnsinnigen Preis ab.«
»Und du kaufst diese Lumpen, die nicht zehn Silbergroschen wert sind, für einen noch wahnsinnigeren Preis.«
»Frau, was verstehst du davon?«
»Hast du nicht vierzig Taler gegeben?«
»Ja. Aber diese Lumpen sind viermal soviel wert.«
»Wohl, weil sie aus Faultierwolle sind, he?«
»Faultierwolle? Laß dich auslachen. Faultierwolle gibt es nicht. Man hat es diesem Menschen erzählt.«
»So ist es nur Schafwolle gewesen? Und du gibst vierzig Taler! Willst du dich einsperren lassen in das Haus, wo die Verrückten ihr Sommerlogis haben?«
»Diese Sachen sind hundertundvierzig Taler wert.«
»Wirst du das beweisen können?«
»Ich werde es dir beweisen. Sofort! Greife in die Tasche.«
Er zog die Öffnung der Hosentasche auseinander und hielt sie ihr hin.
»Was ist darin?« fragte sie zögemd.
»Greife hinein! Sieh, was du findest!«
Sie streckte die Hand hinein und sagte:
»Papier.«
»Ja. Nimm es heraus!«
Er blickte mit überlegener und gespannter Erwartung auf ihre Hände, die einige Stückchen Papier hervorbrachten.
»Was ist es?« fragte er.
Sie untersuchte die Stücke und antwortete:
»Zerschnittene Zeitung.«
»Verdammt! Ich habe die falsche Tasche erwischt. Greif schnell hier hinein!«
Er hielt die andere Tasche hin, und sie fuhr mit der Hand hinein.
»Nichts«, sagte sie.
Er erbleichte.
»Nichts?« fragte er. »Nichts, hast du gesagt? Und in der ersten Tasche?«
»Nur diese Papierfetzen.«
Jetzt untersuchte er selbst die Taschen. Es war nicht das mindeste darin zu finden. Er ließ vor Schreck die Hose fallen.
»Gott der Gerechte«, rief er, »ich bin betrogen werden um vierzig Taler!«
Er fühlte sich so schwach, daß er sich auf einen Stuhl niedersetzen mußte. Sie aber stemmte die Arme in die Seite und fragte:
»Was bist du? Pleite ist dein Gehirn!«
»Aber«, jammerte er, »er hatte doch über zwanzig Scheine in der Hose zu stecken.«
»Scheine? Was für Scheine?«
»Zehntalerscheine.«
»Das hast du gesehen?«
»Ja.«
»So hat er sie wieder herausgenommen!«
»Das habe ich nicht gesehen.«
»Wer ist er?«
»Weiß ich es?«
»Was bist du für ein Dummkopf!«
Als Geierschnabel das Geschäft verlassen hatte, brummte er lachend vor sich hin:
»Mein Lieber, wie dumm warst du! Ich steckte die Banknoten ja nur hinein, um dich zu meiern. Und als ich dir die Hosen anbot, waren die Scheine längst wieder heraus. Es ist doch wahr, fünf Gescheite deiner Sorte sind einem Yankee nicht gewachsen. Vierzig Taler für die alten Lappen! Es ist ungeheuer. Ich habe meine ganze neue Bekleidung umsonst und noch Geld darüber.«
In dieser neuen Aufmachung sah er nun freilich recht eigentümlich aus. Er hatte nicht das Äußere eines ernsthaften Menschen, sondern er sah nach einer Maskerade aus, wozu allerdings seine Nase nicht wenig beitrug. Sie gab dem wunderlichen Anzug erst das nötige Relief.
Er war nicht weit gekommen, da liefen ihm schon die Jungen nach. Sein Hut, sein Tellerfrack, die Lederhosen, die Tanzschuhe, der Nasenklemmer und die Posaune waren geeignet, Zuschauer herbeizulocken.
Er bemerkte das mit dem größten Vergnügen.
»Donnerwetter, muß mir der Anzug stehen«, schmunzelte er. »Es wird nicht lange dauern, dann läuft die ganze Jugend hinter mir her.«
So schritt er denn, Sack und Büchse auf dem Rücken, die Posaune aber im Arm tragend, von Straße zu Straße weiter. Sein Gefolge wuchs wie eine Lawine, es zählte bereits nach Hunderten und machte einen solchen Heidenskandal, daß rechts und links die Fenster aufgerissen wurden.
»Donnerwetter! Verursache ich hier ein Aufsehen! Mainz wird noch lange an Geierschnabel denken«, murmelte er. »Schade nur, daß sie nicht wissen, daß ich es bin, weil ich ja inkognito gehe.«
Sein lnkognito sollte aber nicht lange dauern. Ein Polizist kam um die Ecke, erblickte die sonderbare Gestalt und die Menschen, die ihr folgten, und blieb stehen, um den Haufen herankommen zu lassen.
Geierschnabel schien ihn gar nicht zu bemerken. Der Polizist schritt dem Amerikaner nach und faßte ihn beim Arm.
»Heda! Wer sind Sie denn eigentlich?«
Geierschnabel blieb stehen und betrachtete den Mann.
»Ich?« fragte er dann.
»Ja, Sie.«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Danach haben Sie nicht zu fragen.«
»Wer sind denn Sie?«
»Ich bin Stadtwachtmeister.«
»Schön. Dann sind wir Kameraden.«
»Wieso?«
»Ich bin Waldwachtmeister.«
»Unsinn! Den gibt’s nicht. Woher sind Sie?«
»Von drüben.«
»Von drüben? Was soll das heißen?«
»Daß ich nicht von hüben bin.«
»Donnerwetter, das weiß ich! Wie heißen Sie?«
»Geierschnabel.«
Jetzt wurde der Polizist ernstlich zomig.
»Wollen Sie mich foppen?« fragte er.
»Ganz, wie Sie denken.«
»Woher kommen Sie?«
»Daher.«
Geierschnabel zeigte nach hinten.
»Und wohin wollen Sie?«
»Dorthin.«
Er zeigte nach vorn.
»Das ist mir zu bunt. Sie sind entweder verrückt oder ein Dummkopf, der sich einen Spaß machen will, was Ihnen aber teuer zu stehen kommen wird.«
»Sollte einer von uns beiden ein Verrückter sein und der andere ein Dummkopf, so will ich gern der Verrückte sein.«
»Geht das auf mich?«
»Nein, sondern auf mich, den Verrückten nämlich.«
»Aber der Dummkopf bleibt für mich übrig!«
»Dafür kann ich leider nichts!«
»Ich sehe, daß mit Ihnen hier auf der Straße nichts zu machen ist. Folgen Sie mir! Vorwärts!«
»Wohin?«
»Das werden Sie sehen. Was haben Sie da in Ihrem Sack?«
»Reisegegenstände.«
»Und in diesem alten Schlauch?«
»Meine Jagdbüchse.«
»Haben Sie denn einen Waffenschein?«
»Ja, den habe ich.«
»Wer hat ihn ausgestellt.«
»Ich natürlich.«
»Na, dann machen Sie sich nur auf zwei Jahre Zuchthaus gefaßt.«
»Donnerwetter! Zwei Jahre? Weshalb?«
»Wegen Urkundenfälschung.«
Sie waren während dieser Unterhaltung schnell vorwärts gekommen, gefolgt von einer immer mehr wachsenden Menschenmenge. Jetzt war die Polizeiwache erreicht. Sie traten in den Flur des Hauses und von da in ein Vorzimmer, in dem einige Polizisten saßen. Auf einer Bank hockten mehrere Personen, die auf die Erledigung ihrer Angelegenheiten warteten. Auf diese Bank deutete der Polizist und gab Geierschnabel die Weisung:
»Setzen Sie sich hierher!«
Geierschnabel beachtete diese Weisung nicht. Er legte seinen Leinwandsack und das Büchsenfutteral auf den Fußboden und warf sich auf einen Stuhl, der bestimmt war, den Beamten als Sitz zu dienen.
»Halt! So ist es nicht gemeint«, sagte der Polizist. »Dieser Stuhl ist nicht für Ihresgleichen da.«
Geierschnabel zuckte die Schultern und fragte:
»Hm. Was für Leute verstehen Sie denn eigentlich unter meinesgleichen?«
»Solche, die dorthin auf die Bank gehören.«
»So setzen Sie sich gefälligst nur selber hin. Ich muß am besten wissen, auf welchen Platz ich gehöre.«
Da nahmen die Beamten der Polizeiwache den Ankömmling verblüfft in Augenschein, und einer von ihnen fragte den Polizisten, der ihn gebracht hatte:
»Ein renitenter Kerl! Wer ist er denn eigentlich?«
»Weiß es selber nicht«, meinte der Begleiter Geierschnabels.
»Der Mensch geht wohl auf einen Maskenball? Ist er verrückt?«
»Ich traf ihn auf der Straße, wo ihm das Volk massenhaft nachlief. Er wollte sich nicht legitimieren. Darum nahm ich ihn mit.«
»Er wird hier schon reden lernen!«
»Kann es bereits, alter Junge«, meinte Geierschnabel. »Hielt es nur nicht für notwendig, mich auf der Straße in eine große Sprecherei einzulassen. Hatte keine Lust dazu.«
»Hier werden Sie die Lust schon finden. Jetzt aber stehen Sie sofort vom Stuhle auf, und scheren Sie sich zur Bank hinüber, auf die Sie gehören!«
Geierschnabel machte es sich nun erst recht bequem. spreizte behaglich die Beine übereinander und antwortete:
»Sachte, sachte, alter Junge! Jeder, der auf diesem Stuhl gesessen hat, darf es sich zur Ehre schätzen, daß ich nun darauf sitze.«
»Also Widerspenstigkeit. Da werde ich Ihnen jetzt eine Wohnung anweisen, in der Sie es sich bequem machen können, ohne andere Leute zu genieren und zu beleidigen. Kommen Sie mit!«
»Wohin?« fragte der Amerikaner ruhig.
»Ins Loch!«
»Ins Loch? Habe verdammt wenig Lust dazu. Das will ich Ihnen sagen.«
»Wir fragen den Teufel danach, ob Sie Lust haben oder nicht. Was ich sage, das muß gelten. Vorwärts also!«
Der Polizist legte seine Hand auf Geierschnabels Arm. Der Präriejäger aber schüttelte ihn von sich ab, erhob sich und sagte:
»Mann, hören Sie einmal, was ich Ihnen jetzt sagen werde. Ich habe nichts Unrechtes getan und nicht das mindeste verbrochen. Ich kann mich kleiden, wie es mir beliebt, und wenn mir das Volk nachläuft, so ist es dumm genug. Als ich arretiert wurde, bin ich ruhig gefolgt. Ich werde mich zu legitimieren wissen, gehe aber nur dann Antwort und Auskunft, wenn man mich so behandelt, wie es ein Gentleman verlangen kann.«
Geierschnabels Haltung und seine Worte machten Eindruck. Der Polizist blickte ihn befremdet an.
»Gentleman?« fragte er verwundert. »Denken Sie nur nicht, daß man Ihnen das glauben wird!«
»Pah. Was Sie glauben oder nicht glauben, das ist mir sehr gleichgültig. Aber es scheint allerdings, daß Sie mit Gentlemen nicht umzugehen verstehen. Wenn Sie Polizist sein wollen, dann schaffen Sie sich vorher das halbe Lot Menschenkenntnis an, das dazu nötig ist.«
Das brachte den Beamten wieder in Zorn.
»Kerl, was fällt Ihnen ein«, rief er mit lauterer Stimme, als man hier im Vorzimmer gewöhnlich zu sprechen pflegte.
Da wurde eine Tür aufgerissen, ein bebrillter Herr steckte den Kopf herein und fragte in verweisendem Ton:
»Was geht hier vor? Ich verbitte mir diesen Skandal!«
Die anwesenden Polizisten stellten sich augenblicklich in Positur.
»Verzeihung, Herr Kommissar«, entschuldigte sich der eine, »wir haben hier einen Arrestanten, der im höchsten Grade widerspenstig ist.«
Der Kommissar betrachtete Geierschnabel.
»Alle Teufel, was ist das für ein Kerl?« fragte er.
»Wir wissen es nicht.«
»Wieso? Sie haben ihn doch zu fragen.«
»Er verweigert uns jede Auskunft.«
»Haben Sie nach seiner Legitimation gesehen?«
»Es würde vergeblich sein. Ich wollte ihn Ihnen zum Verhör anmelden, da er uns nicht für voll zu betrachten scheint.«
Der Kommissar warf Geierschnabel einen drohenden Blick zu.
»Und ich werde es wohl auch nicht erfahren?«
»Wenn Sie die dazugehörige Vollmacht besitzen und mich in höflicher Weise befragen, werde ich die Auskunft nicht verweigern.«
Der Kommissar lachte höhnisch.
»Nun, die nötige Vollmacht besitze ich, und mit Höflichkeit werde ich Sie soweit bedienen, als es mir angemessen erscheint. Was haben Sie da in dem Lederschlauch?«
»Wer wissen will, was drin ist, der mag nachsehen. Übrigens erlaube ich mit die Frage, ob dies hier das Zimmer ist, in dem Sie mit mir zu verhandeln haben. Ich habe bereits gesagt, daß ich zur Auskunft bereit bin, aber nicht vor jedermanns Ohren.«
»So treten Sie ein!«
Der Kommissar zog sich bei diesen Worten in sein Zimmer zurück und gab dem Polizisten einen Wink, den Sack und das Gewehr hineinzubringen.
Dem Kommissar war es anzumerken, daß er sich ärgerte, doch versuchte er dies möglichst zu verbergen. Er wandte sich an Geierschnabel:
»Ihre Büchse!« gebot er.
Der Angeredete zog die Büchse aus dem Futteral und reichte sie ihm.
»Hier ist sie«, sagte er.
»ist sie geladen?«
»Nein.«
»Der Waffenschein!«
Geierschnabel griff in die Tasche und zog ein Papier hervor, das er dem Beamten reichte. Das Dokument war richtig. Es lautete auf den Inhaber, so daß also der Trappemame »Geierschnabel« nicht angegeben war.
»Öffnen Sie den Sack!« befahl der Kommissar dem Polizisten.
Dieser kam der Aufforderung nach und zog zunächst einen Beutel heraus, der sehr schwer zu sein schien. Als er ihn öffnete, zeigte es sich, daß der Inhalt aus lauter Goldstücken bestand.
»Woher haben Sie dieses Geld?« fragte der Beamte streng.
»Verdient«, antwortete der Jäger kurz.
»Womit?«
»Das ist meine Sache.«
»Oho! Ich muß das wissen, denn dieses Gold läßt sich mit Ihrer Persönlichkeit keineswegs in Einklang bringen.«
»Soll meine Person des Einklanges wegen etwa auch golden sein?«
»Treiben Sie keinen Scherz. Es könnte Sie teuer zu stehen kommen. Was ist noch in dem Sack?«
»Zwei Revolver!« meinte der Polizist.
»Ah! Abermals Waffen. Suchen Sie schleunigst weiter!«
Diese Worte galten dem Polizisten, der wieder in den Sack gegriffen hatte und verschiedene Kleidungsstücke hervorzog. Sie waren aus den feinsten Stoffen gearbeitet und mit goldenen und silbernen Schnüren und Tressen besetzt.
»Was ist das?« fragte der Kommissar.
»Ein Anzug!« antwortete Geierschnabel.
»Das sehe ich! Woher haben Sie ihn?«
»Gekauft!«
»Diese Schnüre und Tressen sind echt; sie kosten viel Geld. Ein Straßenmusikant wie Sie hat nicht die Mittel, sich einen solchen Maskenanzug zu kaufen.«
»Wer sagt Ihnen denn, daß ich ein Musikant bin?«
»Ihre Posaune.«
»Oh, die Posaune hat nichts gesagt. Sie hat noch keinen einzigen Ton von sich gegeben. Ich habe sie mir erst vor einer halben Stunde von einem Händler gekauft. Auch der Anzug, den ich trage, ist von ihm.«
»Aber Mensch, wie kommen Sie denn dazu, sich mit einer so auffälligen Kleidung zu behängen?«
»Es gefällt mir so, das ist genug.«
»Wie heißen Sie?«
»William Saunders aus Saint Louis.«
»In den Vereinigten Staaten?«
»Ja.«
»Was sind Sie?«
»Gewöhnlich Präriejäger. Zu Kriegszeiten aber bin ich Rittmeister der Vereinigten Staaten-Dragoner.«
»Das glaube Ihnen der Teufel!«
»Der glaubt es; er ist gescheiter als andere, die es nicht glauben.«
»Keine Beleidigung! Können Sie Ihre Angaben beweisen?«
»Gilt ein Paß?«
»Ja.«
»Hier!«
Geierschnabel zog nun aus seinem Sack eine alte Ledertasche hervor, nahm eines der darin befindlichen Papiere heraus und reichte es dem Beamten. Dieser blickte hinein, prüfte es und sagte dann erstaunt:
»Wirklich, ein gültiger Paß, lautend auf Rittmeister William Saunders, der sich von New-Orleans nach Mexiko begeben will.«
»Hoffentlich stimmt auch das Signalement.«
»Allerdings! In dieser Nase kann man sich nicht irren. Aber wie kommen Sie nach Deutschland anstatt nach Mexiko?«
»Ich war bereits dort.«
»Können Sie das beweisen?«
»Ich denke. Haben Sie vielleicht einmal von einem gewissen Sir Henry Lindsay, Graf von Nothingwell, gehört, jenem englischen Bevollmächtigten, der den Auftrag hatte, Juarez Waffen zu bringen? Hier ist ein Zeugnis von ihm.«
Geierschnabel gab ein zweites Papier hin. Der Beamte las es durch und sagte dann mehr enttäuscht als erstaunt:
»Sie sind der Führer und Begleiter dieses Mannes gewesen?«
»Ja. Und kennen Sie diesen Juarez, von dem ich soeben sprach?«
»Wer sollte den Präsidenten Juarez von Mexiko nicht kennen!«
»Nun, hier haben Sie noch so ein Papier.«
Geierschnabel reichte ein drittes Papier hin. Darauf wurde der Kommissar ganz verlegen und rief aus:
»Mann, das ist ja eine warme Empfehlung des Präsidenten, geschrieben in englischer und französischer Sprache. Erlauben Sie mir die Frage, was Sie nach Deutschland führt?«
»Familien- und politische Angelegenheiten.«
»Familiensachen? Haben Sie denn Verwandte hier?«
»Nicht Verwandte, sondern Bekannte.«
»Wo?«
»In Rheinswalden.«
»Ah, ich kenne die dortigen Leute. Aber Sie sprachen da auch noch von politischen Angelegenheiten. Was soll ich darunter verstehen?«
»Dinge und Verhältnisse, auch Aufträge, von denen ich natürlich hier nicht reden kann. Das werden Sie einsehen.«
»Gut. Aber darf ich nicht vielleicht erfahren, wohin Sie von hier aus reisen werden.«
»Nach Berlin.«
»Mit geheimen Aufträgen?«
»Möglich.«
Der Beamte war jetzt davon überzeugt, daß Geierschnabel wirklich der sei, für den er sich ausgab. Die Papiere waren unzweifelhaft echt. Er sagte sich, daß eine Beschwerde dieses merkwürdigen Mannes ihn selbst und seine Untergebenen in Ungelegenheiten bringen könne. Daher bequemte er sich zu einer Bitte um Entschuldigung. Geierschnabel fragte lächelnd:
»Wie steht es, werde ich noch in die Zelle gesteckt?«
»Da Sie sich legitimiert haben, keineswegs.«
»Ich bin auch bereit zu warten. Schicken Sie, wenn Sie noch zweifeln sollten, einen Boten nach Rheinswalden, um sich nach mir zu erkundigen.«
»Das ist nicht nötig. Sie sind entlassen.«
»Schön. Dann will ich Ihnen für angenehme Unterhaltung meinen Dank sagen. Wissen Sie nun, warum ich mich nicht anders kleide?«
»Nein, warum?«
»Nur der Unterhaltung wegen. Ich bin so eine Art Spaßvogel, und nichts macht mit mehr Vergnügen, als wenn ich zuletzt über andere Leute lachen kann. Adieu, Senor Kommissario!«
Während der letzten Worte hatte Geierschnabel alles wieder in seinen Sack gesteckt und diesen nebst Büchse über die Schulter geworfen. Dann schritt er zur Tür hinaus.
»Welch ein Mensch«, meinte der Kommissar zu dem erstaunten Polizisten. »So ein Heiliger ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen.«
»Waren denn die Papiere wirklich echt?«
»Natürlich.«
»Würde es nicht besser sein, ihm einen Kollegen in Zivil nachzusenden, um wenigstens einen allzugroßen Auflauf zu verhüten?«
»Das können wir tun. Man muß ihm bis zum Bahnhof nachgehen.«
Das geschah.
___________
Geierschnabel wanderte, angestaunt und verfolgt von neugierigen Menschen, zum Bahnhof. Dort betrachtete er die Inschriften über den Türen; löste sich eine Fahrkarte erster Klasse, wartete aber bis zum Abgang des Zuges im Wartezimmer dritter Klasse.
Als der Zug bereitstand, wurde er erst im letzten Augenblick von einem Beamten darauf aufmerksam gemacht, daß er einsteigen müsse, wenn er noch mit fortkommen wolle. Er eilte hinaus und bemerkte mit einem raschen Blick, daß nur ein einziges Abteil erster Klasse vorhanden war. Der Schaffner, an den er sich wandte, blickte ihn erstaunt an.
»Erster Klasse wollen Sie fahren?« fragte der Mann, der es nicht begreifen konnte, daß ein so gekleideter Mensch sich der besten Klasse bedienen wollte.
»Zum Donnerwetter, ja doch«, antwortete der Gefragte.
»Haben Sie eine Fahrkarte?«
»Das versteht sich!«
»Zeigen Sie einmal!«
Geierschnabel gab sie ihm. Der Schaffner überzeugte sich, schüttelte den Kopf und meinte dann:
»Na, dann steigen Sie schnell ein, es läutet soeben zum drittenmal.«
Der sonderbare Passagier wurde samt Büchsenfutteral und Leinwandsack in das Abteil geschoben. In diesem Augenblick pfiff die Maschine, die Tür wurde zugeschlagen, und der Zug setzte sich in Bewegung.
»Kreuzmillion«, tönte es dem Jäger entgegen. »Was fällt Ihnen ein? Haben Sie denn eine Fahrkarte erster Klasse?«
»Geht Sie nichts an!« lautete die Antwort.
Da riß der Mitreisende das Fenster auf, um den Schaffner zu rufen. Der aber war bereits in seinem Dienstabteil verschwunden. Jener wandte sich nun wütend an Geierschnabel und sagte:
»Das geht mich wohl etwas an. Ich muß und will mich überzeugen, ob Sie wirklich berechtigt sind, hier einzusteigen.«
»Seien Sie doch froh, daß ich Sie nicht danach frage.«
»Kerl, wenn Sie erster Klasse fahren wollen, haben Sie sich nach den hier gebräuchlichen Umgangsformen zu richten, sonst lasse ich Sie hinausschaffen.«
»Wenn Sie mich provozieren wollen, so werde nicht ich hinausgeschafft, sondern Sie selbst sind es, den ich an die Luft setzen lasse.«
»Himmeldonnerwetter. Wollen Sie eine Ohrfeige haben, Sie Lump Sie?«
»Oh, ich kann mit derselben Ware dienen.«
Damit holte Geierschnabel aus und gab dem Gegenüber eine so kräftige Ohrfeige, daß der Getroffene mit dem Kopf an die Wand flog und ihm für kurze Zeit die Gedanken vergingen. Kaum aber war es ihm gelungen, seine Gedanken zu sammeln, da fuhr er wie ein Wütender hoch und brüllte:
»Hund, du wagst, mich zu schlagen?«
Im selben Augenblick warf er sich auf Geierschnabel, um ihn bei der Gurgel zu fassen, erhielt aber, ehe ihm dies gelang, eine zweite und so gewaltige Ohrfeige, daß er zurückflog und auf den Boden des Abteils stürzte.
Geierschnabel setzte sich mit größter Seelenruhe wieder auf seinen Platz. Der Gezüchtigte aber kochte förmlich. Er fand vor Aufregung keine Worte. Als er nach geraumer Zeit die Sprache wiedergefunden hatte, gab die Lokomotive das Zeichen, daß der Zug sich einer Station näherte.
»Schaffner! Hierher, hierher«, brüllte der Mann aus dem Fenster.
Der Gerufene hörte der Stimme an, daß Eile geboten war. Er kam rasch herbei und fragte:
»Mein Herr, was wünschen Sie?«
»Bringen Sie den Zugführer und den Vorsteher der Station!«
Die beiden gewünschten Herren kamen schleunigst herbei.
»Meine Herren, ich habe Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen.«
»In welcher Angelegenheit?« fragte der Zugführer.
»Hier zunächst meine Karte. Ich bin Graf Ravenow, Oberleutnant. Man hat mich in diesem Abteil überfallen.«
»Wer?« fragte der Stationsvorsteher.
»Dieser Mensch!«
Der Leutnant deutete bei diesen Worten auf Geierschnabel, der behaglich in dem offenen Abteil saß.
Die beiden Bahnbeamten traten näher, um sich den Amerikaner genauer zu betrachten.
»Wie kommen Sie hier herein?« fragte in strengem Ton der Stationsvorsteher.
»Eingestiegen bin ich«, lachte Geierschnabel.
»Haben Sie eine Fahrkarte erster Klasse?«
»Das hat er«, bestätigte der Schaffner.
»Auch nicht übel«, meinte der Vorsteher. »Solche Leute und erster Klasse! Herr Graf, was ist unter dem Wort ›überfallen‹ zu verstehen?«
»Er ist über mich hergefallen und hat mich geschlagen.«
»Er nannte mich einen Lumpen, sodann einen Hund. Für jedes dieser Worte habe ich ihm eine Ohrfeige gegeben. Haben Sie etwas dagegen?« fragte Geierschnabel.
Der Vorsteher beachtete die Frage nicht, sondern wandte sich an den Grafen:
»Ist es wahr, daß Sie sich dieser Ausdrücke bedienten?«
»Es fällt mir nicht ein, es zu leugnen. Sehen Sie den Menschen an. Soll ich mit etwa gefallen lassen, mit dergleichen Gelichter zusammenzutreffen, wenn ich erster Klasse bezahle?«
»Ich kann Ihnen allerdings nicht widersprechen, denn — —«
»Oho«, unterbrach ihn Geierschnabel. »Habe ich nicht dasselbe bezahlt?«
»Das mag sein«, meinte der Vorsteher schulterzuckend.
In diesem Augenblick gab der Maschinist durch einen kurzen Pfiff das Zeichen zur Weiterfahrt.
»Meine Herren«, meinte Ravenow, »ich höre, daß man fertig zum Abfahren ist. Ich verlange die exemplarische Bestrafung dieses frechen Menschen.«
»Frech?« rief Geierschnabel. »Willst du eine dritte Ohrfeige haben?«
»Ruhe!« gebot ihm der Stationsvorsteher. »Wenn Sie seine Bestrafung verlangen, so muß ich Sie ersuchen, die Reise zu unterbrechen, um Ihre Aussage zu Protokoll zu geben.«
»Ich halte es gar nicht für notwendig, hier ein Protokoll abzufassen. Arretieren Sie den Kerl, lassen Sie ihn vernehmen; dann mögen die Akten nach Berlin geschickt werden, um meine Aussage aufzunehmen. Meine Berliner Adresse haben Sie ja auf dieser Karte.«
»Ich stehe zu Diensten, Herr Graf.«
Mit diesen Worten trat der Beamte an die Tür des Abteils.
»Steigen Sie aus«, gebot er Geierschnabel. »Sie sind Arrestant!«
»Alle Wetter! Ich muß nach Berlin, ebenso wie dieser Graf.«
»Geht mich nichts an.«
»Er ist schuld an dem Vorgang.«
»Das wird sich finden. Steigen Sie aus!«
»Fällt mir nicht ein.«
»So werde ich Sie zu zwingen wissen.«
»Ich bin bereit, mich zu legitimieren.«
»Dazu ist nachher Zeit.«
»Donnerwetter, ich will es aber jetzt.«
»Zügeln Sie Ihr Mundwerk. Wollen Sie endlich aussteigen, oder soll ich meine Hilfsarbeiter herbeirufen?«
»Gut. Wenn Sie mich nicht weiterfahren lassen, mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Sie den Schaden zu tragen haben werden.«
»Wollen Sie mir noch drohen?«
»Ich komme schon, alter Freund.«
Bei diesen Worten stieg Geierschnabel aus, warf Leinwandsack und Gewehr über, ergriff seine Posaune und wartete, was nun mit ihm geschehen werde.
Der Graf verabschiedete sich mit einem gnädigen Kopfnicken von den Beamten. Der Stationsvorsteher gab das Zeichen, daß der Zug abgehen könne. Ein kurzer Pfiff des Zugführers, und die Räder setzten sich in Bewegung.
»Kommen Sie!« gebot der Stationsvorstand.
Sie begaben sich in das Büro des Vorstehers, der nach der Polizei schickte. Die betreffende Station war ein kleiner Ort. Darum dauerte es einige Zeit, bis ein Gendarm erschien. Der Vorstand teilte dem Gendarm das Geschehene mit.
Der Gendarm betrachtete den Gefangenen mit hochmütigen Blicken und fragte ihn dann:
»Sie haben den Grafen von Ravenow geohrfeigt?«
»Ja«, antwortete Geierschnabel.
»Warum?«
»Weil er mich beleidigte. Er hat mich Lump und Hund genannt, nachdem ich ihm nicht das geringste zuleide getan hatte. Wer ist da der Schuldige?«
»Sie hatten nicht zu schlagen.«
»Er hatte nicht zu schimpfen. Mich hat man festgenommen und den Schuldigen mit großen Komplimenten entlassen. Aber wir wollen sehen, ob ich einem Leutnant nachzustehen brauche. Wissen Sie, wer und was ich bin?«
»Das werde ich schon erfahren«, meinte der Polizist. »Haben Sie eine Legitimation bei sich?«
»Das versteht sich. Ich habe mich bereits dem Herrn Stationsvorsteher legitimieren wollen. Er aber hat es mir nicht erlaubt. Den Schaden wird er natürlich zu tragen haben.«
»So zeigen Sie her!«
Geierschnabel zog alle die Dokumente hervor, die er bereits dem Polizeikommissar in Mainz vorgelegt hatte. Der Gendarm las sie durch, und sein Gesicht wurde dabei immer länger. Als er fertig war, sagte er:
»Himmelelement, ist das eine verdammte Geschichte!«
»Was?« fragte der Stationsvorsteher bestürzt.
»Dieser Frack und dieser verdammte Anzug können einen irre machen. Wissen Sie, Herr Vorsteher, was dieser Herr ist? Zunächst Präriejäger und dabei amerikanischer Offizier. Der Herr Kapitän ist Gesandter des Präsidenten Juarez von Mexiko.«
Der Bahnbeamte erbleichte.
»Wirklich?« fragte er. »Sind die Papiere denn echt?«
»Das versteht sich. Und da ist noch eine Empfehlung des Herrn von Magnus, der preußischer Geschäftsträger in Mexiko ist.«
»Wer hätte das gedacht!«
Die beiden Männer blickten einander fassungslos an.
»Na, wie steht es nun?« fragte Geierschnabel.
»Aber mein Herr, warum kleiden Sie sich in dieser Weise!« rief der Stationsvorsteher.
»Darf ich mich etwa nicht kleiden, wie es mir beliebt? Nicht mein Gewand ist schuld, sondern Sie selbst haben sich anzuklagen.«
»Ich wüßte nicht, weshalb.«
»Ich habe Ihnen angeboten, mich zu legitimieren. Sie haben mir das nicht erlaubt; das ist Ihre Schuld. Ihre Unvorsichtigkeit wird Ihnen noch zu schaffen machen.«
Der Bahnbeamte erschrak.
»Ich hoffe, daß der Herr Kapitän sich mit meiner Bitte um Vereihung zufriedengibt«, sagte er.
»Zufrieden? Ich? Meinentwegen! Ich bin eine gute Seele. Wie aber andere die Sache aufnehmen werden, das weiß ich nicht.«
»Andere? Darf ich fragen, wer da gemeint ist?«
»Eigentlich nicht. Aber unter dem Siegel des Dienstgeheimnisses will ich es Ihnen anvertrauen. Ich gehe zu Herrn von Bismarck.«
Der Stationsvorsteher trat einen Schritt zurück.
»Zu Bismarck?« rief er erschrecken, »ich hoffe, daß da das fatale Vorkommnis nicht erwähnt wird.«
»Nicht? Im Gegenteil. Ich muß doch sagen, warum ich zu der anberaumten Konferenz nicht erscheinen konnte.«
Jetzt war es dem Beamten, als ob er eine fürchterliche Ohrfeige erhalten hätte. Er blickte den Amerikaner erstarrt an und fragte: »Eine Konferenz? Kommen denn der Herr Kapitän nicht noch zur rechten Zeit, wenn Sie den nächsten Zug benutzen?«
»Nein. Es war genau auf die Viertelstunde ausgerechnet.«
»Welch ein Malheur! Was ist da zu tun?«
»Gar nichts. Oder glauben Sie etwa, daß ich, um Ihre Dummheiten gutzumachen, einen Extrazug nehmen werde?«
Da atmete der geängstigte Mann tief auf.
»Einen Extrazug?« fragte er. »Ah, das ginge! Das wäre das einzige Mittel, die verlorene Zeit wieder einzubringen.«
»Das ist freilich wahr; aber ich kann damit nicht einverstanden sein. Soll ich etwa einen Extrazug bezahlen?«
»Herr Kapitän, das verlange ich ja gar nicht.«
»Nicht? Was denn?«
»Ich stelle Ihnen eine Maschine mit Wagen kostenfrei zur Verfügung.«
»Das ließe sich vielleicht überlegen.«
»Die Maschine bringt Sie, wenn Sie den Zug nicht eher erreichen, bis Magdeburg, wo Sie ihn dann sicherlich noch treffen.«
Geierschnabel blickte dem Beamten nachdenklich ins Gesicht. In seinen Zügen zuckte es eigentümlich. Er rieb sich die Nase, machte ein pfiffiges und höchst vergnügtes Gesicht und fragte:
»Sagte dieser Graf nicht, daß er nach Berlin will?«
»Ja.«
»Fährt er über Magdeburg?«
»Über Bebra und Magdeburg.«
»Muß er in Magdeburg aussteigen?«
»Er wird aussteigen. Dort ist ein längerer Aufenthalt.«
»Und ich kann den Zug vor Magdeburg noch einholen?«
»Es kann eingerichtet werden, daß Sie ihn auf einer Nebenstation überholen.«
»So daß ich also eher in Magdeburg bin als der Graf?«
»Ja.«
»Gut. Ich gehe auf Ihren Vorschlag ein. Ich mache aber die Bedingung, daß ich vor dem Grafen in Magdeburg bin.«
»Ich werde dafür sorgen, daß dies geschieht.«
»Und sodann verlange ich von Ihnen einige Zeilen.«
»Welchen Inhalts?«
»Daß ich mich legitimiert habe und daß Sie infolge der Angaben des Grafen in Unannehmlichkeiten geraten sind.«
»Darf ich erfahren, welchen Gebrauch Sie von diesen Zeilen machen wollen?«
»Der Graf wird mich in Magdeburg sehen und wohl von neuem Händel suchen. Ihre Zeilen sollen mir als Ausweis dienen, daß ich Ihnen nicht etwa entflohen bin.«
»Ich werde sie Ihnen schreiben, sobald ich die Depesche nach Mainz besorgt habe.«
Eine Stunde später kam die verlangte Maschine an. Geierschnabel stieg abermals in die erste Klasse, dieses Mal aber nicht von einem »Donnerwetter« empfangen. Dann rasselte der kurze Zug zum Bahnhof hinaus.
Es war schon längst Nacht, als der Zug, mit dem Ravenow fuhr, Börßum erreichte. Hier gab es einige Minuten Aufenthalt. Ravenow hatte es sich bequem gemacht und eine Zigarre angezündet. Da ertönte draußen der Ruf:
»Nach Magdeburg, erster Klasse!«
»Verdammt!« murmelte Ravenow. »Nun ist es aus mit dem Rauchen.«
Er stand bereits im Begriff, die Zigarre aus dem Fenster zu werfen, als das Abteil geöffnet wurde und sein Blick auf den Einsteigenden fiel. Er behielt die Zigarre in der Hand.
»Guten Abend«, grüßte der neue Reisende.
»Alle Teufel! Guten Abend, Herr Oberst«, antwortete Ravenow.
Der Neuangekommene betrachtete den Sprecher schärfer und fragte dann:
»Sie kennen mich, mein Herr? Mit wem habe ich die Ehre?«
Ravenow wußte nicht, was er denken sollte.
»Was, Sie kennen mich nicht?« fragte er.
»Leider, nein.«
»Das ist unmöglich.«
»Ich besinne mich wirklich nicht.«
»Sollte ich mich so verändert haben?«
»Möglich«, lächelte der Oberst. Plötzlich erkannte er den Offizier. »Was«, rief er erschrocken, »Sie sind Oberleutnant Ravenow?«
»Donner und Doria! Wer denn sonst?«
»Na, das hätte ich nicht denken können. Mensch, wie sehen Sie denn aus?«
Der Graf blickte den Oberst erstaunt an.
»Wie ich aussehe? Ich verstehe Sie nicht.«
»Mein Gott, dort ist der Spiegel. Haben Sie nicht hineingesehen?«
Ravenow war allerdings bis jetzt so mit seinem Zorn beschäftigt gewesen, daß er keinen Blick in den Spiegel geworfen hatte. Er stand auf, trat vor das Glas, fuhr aber sofort erschrocken zurück.
»Hölle und Teufel«, rief er. »So also bin ich zugerichtet! Na warte. Freundchen! Ich werde dir den Satan auf den Leib schicken. Ich kann mich weiß Gott vor keinem Menschen sehen lassen.«
»Das scheint mir auch so. Was haben Sie denn gemacht? Man müßte meinen, daß Sie aus einer recht intensiven Schlägerei kommen. Doch das ist ja unmöglich.«
»Oh, was das letztere betrifft, so gibt es sogenannte Unmöglichkeiten, die doch passieren. Ich werde Ihnen die Sache erzählen.«
»Man hat Ihnen eine Ohrfeige zu geben gewagt?«
»Eine? Viel mehr«, lachte Ravenow, aber sein Lachen war ein Lachen der Wut und des Grimms.
»Wer ist das gewesen? Hoffentlich ein — ein —- «
»Nun, ein …«
»… ein Mensch, dessen Berührung nicht ganz und gar vernichtend auf das wirkt, was man Ehre nennt?«
»Gerade das Gegenteil. Der Kerl war ein Vagabund.«
»Ravenow!« rief der Oberst erschrecken.
»Ein Vagabund«, wiederholte Ravenow. »ein herumziehender Musikant.«
»Da kann ich Sie nur bedauern, aber ich begreife Sie nicht.«
»Der Teufel hole Sie mit Ihrem Bedauern. Ich brauche es nicht.«
»Gut. Erzählen Sie!«
Ravenow erzählte nun den ganzen Vorgang.
»Ich staune. Sie bemächtigen sich natürlich des Burschen?« rief endlich der Oberst.
»Das versteht sich. Er befindet sich jetzt hinter Schloß und Riegel.«
Sie fuhren in eine kleine Station kurz vor Magdeburg ein, wo sie längere Zeit hielten. Dies fiel dem Oberst auf, daß er das Fenster öffnete, um sich nach der Ursache der Verzögerung zu erkundigen.
»Schaffner«, fragte er, »warum wartet man so lange?«
»Es ist ein Extrazug angekündigt, den wir vorüberlassen müssen«, lautete die AntWort.
Es dauerte auch nicht lange, da kam der Extrazug herangerollt. Er bestand aus der Maschine und nur einem Wagen. Aus einem Fenster des letzteren blickte ein Kopf, dessen Augen den hier haltenden Zug lebhaft musterten. Der Oberst erblickte den Kopf, obwohl der Extrazug mit großer Geschwindigkeit vorüberfuhr.
»Himmelbataillon!« rief er.
»Was denn?« rief Ravenow.
»Welch eine Nase. Aus dem Fenster guckte ein Kerl, der hatte eine Nase, fast so groß wie eine Pflugschar.«
»Größer kann sie unmöglich gewesen sein, als die Nase des Vagabunden, mit dem ich es heute zu tun hatte.«
___________
In Magdeburg stiegen in den haltenden Zug neue Reisende ein. Vor dem Abteil erster Klasse fragte eine laute Stimme:
»Nach Berlin, Schaffner?«
»Ja, weiter vorn.«
»Vorn ist ja die dritte Klasse.«
»Welche fahren Sie denn?«
»Erste.«
»Zeigen Sie Ihre Fahrkarte.«
»Hier.«
Der Schaffner betrachtete die Fahrkarte, dann hörte man ihn sagen:
»Richtig! Steigen Sie schnell hier ein. Es geht augenblicklich los.«
Er öffnete die Tür und stieg ein.
»Guten Morgen«, grüßte er höflich.
Er erhielt keine Antwort, denn Ravenow konnte vor Staunen nicht sprechen, und der Oberst antwortete nicht, da der Eingetretene kein Mann zu sein schien, dessen Gruß man zu beantworten brauchte.
Der Fremde setzte sich, und sofort brauste der Zug weiter.
»Herr, mein Heiland!« stieß Ravenow hervor.
»Was ist?« fragte der Oberst.
Der Gefragte deutete wortlos auf den Fremden, der es sich mit seinem Sack, seiner Flinte und Posaune so bequem wie möglich zu machen versuchte. Der Oberst betrachtete ihn ein Weilchen und richtete dann den Blick auf Ravenow.
»Oberst, wissen Sie, wer dieser Mensch ist?« fragte er hastig.
Der Gefragte antwortete halblaut:
»Ganz sicher jener Mann, dessen fürchterliche Nase mit dem Extrazug angerasselt kam.«
»Es ist der Vagabund, der — ach, die Ohrfeigen!«
»Ich denke, er ist gefangen?«
»Ja, er wird entflohen sein.«
»Mit einem Extrazug?«
»Wer kann wissen, wie es zugegangen ist.«
»Irren Sie sich nicht? Wissen Sie genau, daß er es ist?«
»Wie wäre bei dieser Nase und der Posaune ein Irrtum möglich!«
»Werde gleich sehen.«
Der Oberst warf sich in eine höchst unternehmende Haltung, wandte sich an Geierschnabel und fragte:
»Wer sind Sie?«
Geierschnabel antwortete nicht.
»Wer sind Sie?« wiederholte der Oberst die Frage fast brüllend. Da nickte Geierschnabel ihm äußerst freundlich zu und antwortete:
»Wer ich bin? Ein Reisender.«
»Das weiß ich!« rief der Oberst. »Ihren Namen will ich wissen!«
»Hm. Wann wollen Sie ihn denn wissen?«
»Natürlich gleich.«
»O weh! Ich habe ihn leider gerade nicht bei der Hand.«
»Treiben Sie keinen Blödsinn, Sie Lumpazivagabundus!«
»Lumpazi? Vagabundus? Hören Sie, Männchen, sprechen Sie in meiner Gegenwart diese beiden Wörter nicht wieder aus!«
Der Oberst bog sich in herausfordernder Art zu ihm herüber.
»Weshalb?« fragte er.
»Die Antwort könnte Ihnen nicht gefallen.«
»Soll dies etwa eine Drohung sein?«
»Nein, sondern eine Warnung.«
Endlich hatte Ravenow einen Entschluß gefaßt. Er sah in dem Oberst einen Verbündeten. Es bot sich die Gelegenheit, die Ohrfeigen mit Zinsen zurückzugeben und den Fremden dann arretieren zu lassen.
»Bitte, sprechen Sie nicht mit diesem flegelhaften Geschöpf«, sagte Ravenow daher zu dem Oberst. »Ich werde ihn der Polizei übergeben, die am besten weiß, was mit einem solchen Lampen anzufangen ist.«
Er hatte das letzte Wort noch nicht ausgesprochen, da geschah es: Geierschnabel hatte dem Sprecher eine so fürchterliche Ohrfeige verabfolgt, daß er von seinem Sitz herunterflog.
Da sprang der Oberst empor und faßte Geierschnabel bei der Brust. »Halunke!« rief er. »Das sollst du büßen!«
»Hand weg! Augenblicklich!« gebot Geierschnabel, und seine Augen funkelten.
Er saß noch auf seinem Platz, während der Oberst vor ihm stand.
»Was?« antwortete der letztere. »Befehlen willst du mir? Da nimm, was dir gehört!«
Er holte zu einer Ohrfeige aus, brach aber in demselben Augenblick mit einem lauten Schmerzensschrei zusammen. Geierschnabel hatte mit der Linken den Hieb pariert und ihm die rechte Faust boxgerecht in die Magengrube gestoßen, so daß er sofort kampfunfähig war.
»Das habt Ihr von dem Lumpazivagabundus!« rief Geierschnabel
»Mensch, was hast du gewagt!« stöhnte der Oberst. »Ich lasse dich arretieren.«
»Das wird sich sogleich zeigen.«
Die Maschine gab in diesem Augenblick das Zeichen, daß man an einer Station ankam. Als der Zug hielt, öffnete Geierschnabel das Fenster und rief den Schaffner. Dieser kam herbeigeeilt.
»Was befehlen Sie?« fragte er diensteifrig.
»Schnell den Zugführer und Stationsvorsteher! Ich wurde überfallen.«
Der Schaffner sprang davon, und zwei Sekunden später kamen die beiden Gewünschten herzu. Geierschnabel hatte die ganze Fensteröffnung eingenommen, so daß seine beiden Mitreisenden nicht gehört werden konnten.
»Was ist’s? Was wünschen Sie?«
»Herr Stationsvorsteher, ich bin heute zum zweitenmal überfallen werden. Ich bitte, meine beiden Mitreisenden festzunehmen.«
»Wer sind Sie, mein Herr?«
»Hier, mein Paß!«
Geierschnabel hatte ihn bereitgehalten. Der Vorsteher prüfte den Paß und sagte:
»Ich stelle mich zur Verfügung, Herr Kapitän. Wer sind die beiden?«
»Der eine gibt sich für einen Grafen aus. der andere ist sein Spießgeselle. Glücldicherweise ist es mir gelungen, sie einstweilen unschädlich zu machen. Darf ich aussteigen?«
»Ich bitte Sie darum. Leute her!«
Es war kein Polizist zugegen, aber es kamen einige Bahnarbeiter herbei, die genügten, die zwei Artestanten zu überwältigen. Das war viel schneller geschehen, als man zu erzählen vermochte.. Der Oberst und Ravenow hatten jedes Wort gehört, das gesprochen wurde, und beide waren über das unerwartete Vorgehen Geierschnabels so erstaunt und verwirrt, daß sie sprachlos sitzen blieben, selbst als der Schaffner die Tür öffnete und der Amerikaner hinaussprang.
Der Vorsteher bog sich in das Abteil hinein und befahl:
»Bitte, aussteigen. Aber schnell!«
»Das geht nicht«, antwortete der Oberst. »Wir sind …«
»Weiß schon«, unterbrach ihn der Beamte. »Heraus! Heraus!«
»Donner und Doria!« rief jetzt Ravenow. »Wissen Sie, daß ich Oberleutnant Graf von Ravenow bin!«
Der Beamte leuchtete ihm mit einer Laterne ins Gesicht und antwortete mit überlegenem Schulterzucken.
»Schön! Sie sehen ganz wie ein Graf aus. Steigen Sie endlich aus, sonst werde ich Gewalt anwenden müssen.«
»Unser Gepäck …«, wollte der Oberst sagen.
»Wird alles besorgt. Heraus, ihr Leute!«
Die beiden mußten heraus. Sie wurden einstweilen in einem sicheren Zimmer bewacht. Geierschnabel blieb bei dem Vorsteher, der sich um das Gepäck kümmerte.
»Schöne Sachen!« lachte einer der Arbeiter. Sie hielten Geierschnabels Gepäck für das Eigentum der beiden anderen, und er gab sich keine Mühe, sie über den richtigen Sachverhalt aufzuklären. Als das Abteil geleert war, rollte der Zug mit dem Gepäck der beiden Arrestanten, das sich im Gepäckwagen befand, davon.
»Bitte, wollen Sie mir folgen, Herr Kapitän?« bat der Vorsteher und geleitete den Amerikaner in sein Dienstzimmer.
Geierschnabel zog seine übrigen Papiere hervor.
»Ich will meine Legitimation vervollständigen«, sagte er. »Haben Sie die Güte, Einsicht zu nehmen.«
Der Beamte las die Dokumente durch. Er fühlte sich von Respekt durchdrungen. Ein Bekannter des berühmten Juarez! Nur eins kam ihm sonderbar vor: die Kleidung dieses berühmten Mannes. Daher sagte er:
»Hier haben Sie Ihre Papiere zurück, Herr Kapitän. Es genügte der zuerst gelesene Paß. Ich sehe nun, mit wem ich es zu tun habe. Würden Sie mir eine Frage gestatten?«
»Ich werde antworten.«
»Warum kleiden Sie sich nicht Ihrem Stande gemäß?«
Da machte Geierschnabel eine sehr geheimnisvolle Miene, legte die Hand an den Mund und antwortete:
»Inkognito.«
»Ah, so! Man soll nicht wissen, wer Sie sind.«
»Nein. Darum der Sack, das Futteral und die Posaune.«
»Ah, diese sind Ihr Eigentum?«
»Ja; ich reise als Musikus.«
»Ich begreife.«
»Ich hoffe, daß mein Inkognito bei Ihnen nicht Gefahr läuft.«
»Ich habe gelernt, zu schweigen. Darf ich nun vielleicht um Ihren Bericht bitten?«
»Ich gebe ihn zwar kurz, aber gern. Ich komme von Mainz. Als ich dort in die erste Klasse stieg, saß der Mensch darin, der der jüngere der beiden ist. Er gab sich für einen Grafen aus und fing Händel mit mir an. Ich vermute. daß er ein Spion ist, der mir folgt, um zu verhindern, daß ich bei Herrn von Bismarck erscheine, zu dem ich von Juarez geschickt werde.«
»Wir werden dafür sorgen. daß diesem Herrn alle weitere Lust zu Intrigen vergeht.«
»Ich hoffe es. Also, er fing Händel mit mir an, und ich gab ihm einige Ohrfeigen.«
»Recht so.«
»Freut mich, daß Sie mir beistimmen. Leider stieg er unterwegs aus, gab sich für einen Grafen aus und mich für einen Vagabunden. Der dortige Stationsvorsteher besaß nicht Ihren Scharfblick und Ihre Menschenkenntnis. Ich wurde festgehalten, den anderen aber ließ man weiterfahren.«
»Welch eine ungeheure Albernheit«, rief der geschmeichelte Beamte.
»Man sieht doch schon auf den ersten Blick, daß Sie ein einflußreicher Mann inkognito sind. Weiter!«
»Der sogenannte Graf hatte sich nur durch eine Visitenkarte legitimiert. Mich hörte man gar nicht an. Aber als ich später meine Dokumente vorlegte und erklärte, daß ich eine Konferenz versäume, zu der Bismarck mich erwarte, fühlte sich dieser Vorsteher geradezu niedergeschmettert. Eigentlich beabsichtigte ich, ihn bestrafen zu lassen, aber er gab so gute Worte. daß ich davon absah. Ich nahm bis Magdeburg einen Extrazug, um meinem Zuge nachzukommen, ließ mir aber von dem Vorstand erst diese Zeilen geben. Ich ahnte nämlich, daß der sogenannte Graf, sobald er mich wieder erblickte, mir neue Hindernisse in den Weg legen würde.«
Der Beamte las die Bescheinigung durch und sagte dann:
»Das ist mir von hohem Wert. Mein Kollege erklärt, daß er durch die falschen Angaben des Grafen getäuscht werden sei. Mich soll er nicht täuschen. Bitte, fahren Sie fort.«
»Ich kam nach Magdeburg und als ich in das Abteil stieg, erblickte ich meinen Widersacher. Ein zweiter war bei ihm.«
»Da begann wohl die Auseinandersetzung?«
»Ja. Sie fingen wieder Streit an. Der andere wollte mich prügeln.«
»Ich werde sie bei den Haaren nehmen. Aber halten Sie den anderen auch für einen Spion?«
»Vielleicht für einen Russen. Sie wissen doch, daß Rußland gerade die deutschen Grenzen besetzt.«
»Wir wollen ihm das Handwerk legen. Am besten ist es, wenn ich sie gleich verhöre. Natürlich sind Sie dabei. Ich bitte, mir zu folgen.«
Der Beamte führte Geierschnabel in das Zimmer, in dem die beiden Gefangenen untergebracht waren. Sie befanden sich dort unter der Aufsicht von zwei Bahnarbeitern.
Als die beiden eintraten, brauste Ravenow auf.
»Wie können Sie sich unterstehen, uns als Gefangene zu behandeln!«
»Ruhe!« rief ihm der Beamte entgegen.
»Ich frage, wie Sie es wagen können … «
»Und abermals Ruhe, sonst verschaffe ich mir welche! Sie haben nur dann zu antworten, wenn ich frage.«
Geierschnabel bekam einen Stuhl, und nun fragte der Stationsvorsteher zunächst den Obersten nach seinem Namen. Dieser nannte ihn.
»Haben Sie eine Legitimation bei sich?«
»Wozu? Ich werde doch nicht ein Dutzend Pässe einstecken, wenn ich von Wolfenbüttel nach Berlin fahre.«
»Also Sie haben keine Legitimation bei sich? Hm, hm. Sind Sie in Rußland bekannt?«
»Ich war einmal auf Urlaub dort.«
»Bei wem?«
»Ich habe Verwandte da. Warum?«
»Nicht Sie haben zu fragen, sondern ich.«
»Wie kommen Sie auf Rußland zu sprechen?« fragte trotzdem de Oberst.
»Das werden Sie besser wissen als ich.«
»Donnerwetter! Sie wollen mich wohl gar des Einvemehmens mit Rußland verdächtigen! Das wäre denn doch zu famos!«
»Was Sie für famos halten, ist mir gleichgültig. Einstweilen zu dem anderen. Wie heißen Sie, und. was sind Sie?«
»Ich bin Oberleutnant Graf von Ravenow.«
»Haben Sie eine Legitimation?«
»Ja, hier.«
Ravenow griff in die Tasche und brachte eine Visitenkarte hervor.
»Haben Sie nichts anderes?« fragte der Beamte. »Jeder kann sich Karten mit irgendeinem beliebigen Namen drucken lassen.«
»Alle Teufel, ich gebe mein Wort, daß ich der bin.«
»Was geht mich Ihr Wort an! Kennen Sie Frankreich?«
»Sehr gut. Warum?«
»Nur ich habe zu fragen. Sie aber haben zu antworten. Sie geben zu, daß Sie Frankreich kennen, das genügt«, fuhr der Beamte fort.
»Sie haben mir nun zu sagen, woher Sie kommen.«
»Aus Mainz.«
»Dort stieg dieser Herr mit ein?«
»Ja. Aber ein Herr soll er sein? Ein Lump ist er!«
»Bemühen Sie sich nicht, ihn anzuschwärzen. Ich kenne ihn genau. Sie haben ihn auf einer Station hinter Mainz arretieren lassen. Das kann Ihnen teuer zu stehen kommen. Der dortige Vorsteher schreibt mit, daß Sie ihn irregeleitet haben.«
»Wie könnte sein Brief bereits hier sein?«
»Das ist meine Sache.«
»Wo trafen Sie mit dem anderen zusammen, der sich für einen Obersten ausgibt?« fuhr der Stationsvorsteher fort.
»Unterwegs.«
»Sie hatten sich bestellt?«
»Nein, es war zufällig.«
»Sie kannten sich?«
»Ja, schon sehr lange.«
»Woher?«
Ravenow blickte den Oberst fragend an. Dieser antwortete:
»Keine weiteren Erklärungen. Diese Leute sind der Beachtung gar nicht wert. Man wird uns eine glänzende Genugtuung geben müssen.«
»Davon bin ich überzeugt. Aber wehe dann diesen Kerlen! Ich sage Ihnen, daß es Ihnen teuer zu stehen kommen wird.«
»Ein Graf, der sich Ohrfeigen geben läßt, wird uns nicht sehr gefährlich werden können«, meinte der Vorsteher. »Herr Kapitän, wünschen Sie, daß ein Protokoll aufgenommen wird?«
»Das ist nicht nötig. Der Prozeß wird in Berlin gemacht. Die Hauptsache ist, daß man sie hier nicht entkommen läßt.«
»Dafür werde ich sorgen. Ich werde sie den Gendarmen übergeben, bis dahin aber sollen sie im Gewölbe eingeschlossen werden.«
»Da haben wir einen wichtigen Fang gemacht«, sagte der Stationsvorsteher erfreut zu Geierschnabel.
»Einen höchst wichtigen«, antwortete dieser. »Wann geht der nächste Zug nach Berlin ab?«
»In drei Stunden.«
»Mit diesem fahre ich. Ich werde unseren Fang dort gleich melden, und dann empfangen Sie telegraphische Anweisungen.«
Bei Bismarck
Beim Aussteigen in der Residenz erregte Geierschnabels ungewöhnliche Erscheinung natürlich wiederum kein geringes Aufsehen. Er entging einem Auflauf dadurch, daß er sich in eine Droschke setzte und den Gasthof zur Stadt Magdeburg als Ziel angab. Als er dort den Wagen verließ, wurde er nicht weniger angestaunt. Schon sein Gesicht war auffällig, und seine Kleidung glich der eines Mannes, der auf einem Volksmaskenball als altmodischer Dorfmusikus erscheint.
Er lächelte bei den erstaunt auf ihn gerichteten Blicken wohlgefällig in sich hinein und fragte den Portier:
»Kann ich ein Zimmer bekommen?«
Der Kellner betrachtete sich den Mann genau und meinte:
»Sie sind jedenfalls nicht von hier?«
»Ich glaube nicht.«
»Haben Sie eine Legitimation?«
»Das glaube ich.«
»So kommen Sie. Wie hoch wollen Sie das Zimmer?«
»Neuntausendsechshundertfünfundachtzig Ellen.«
»Sie scheinen schwer von Begriff zu sein. Ich meine, wie hoch im Preis Sie das Zimmer verlangen.«
»Dann scheinen Sie schwer in Ausdrücken zu sein. Sprechen Sie deutlich, wie es sich für einen Mann gehört, dessen Pflicht es ist, Gäste zu bedienen. Ich verlange ein anständiges Zimmer. Der Preis ist Nebensache.«
Da machte der Kellner eine tiefe, höhnische Verbeugung und sagte: »Ganz wie Sie befehlen. Kommen Sie.«
Er führte Geierschnabel eine Treppe empor. Auf dem ersten Korridor stand eine Tür offen. Sie führte in ein fein ausgestattetes Vorzimmer, an das sich ein noch eleganteres Wohnzimmer anschloß. Durch eine zweite Tür konnte man in ein Schlafzimmer blicken.
»Genügt Ihnen das?« fragte der Portier, in der Erwartung, daß der Gast ganz erschrecken zurücktreten werde.
Dieser aber warf einen gleichmütigen Blick um sich und antwortete:
»Hm! Vornehm noch lange nicht, aber auch nicht übel!«
Es ärgerte den Portier, sich in seiner Erwartung getäuscht zu sehen. Er meinte schnell:
»Seine Erlaucht Graf Waldstetten hatten zwei Tage hier logiert.«
»Das wundert mich. So ein Graf pflegt Ansprüche zu stellen.«
»Sie doch nicht etwa auch?«
»Warum nicht? Ist der Titel vielleicht etwas Besonderes? Sind Sie zum Beispiel etwa ein geringerer Oran-Utang als so ein Graf?«
Der Mann hatte sich nur einen Scherz machen wollen. Jetzt erschrak er. Wie nun, wenn dieser Kerl wirklich hier blieb und dann nicht bezahlen konnte? Diese elegante Ausstattung, diese feinen, neuüberzogenen Betten, und dieser Mensch, der aus Großmutters Rumpelkammer zu kommen schien.
»Das Logis kostet acht Taler pro Tag«, rief er eilig.
»Mir gleich.«
»Ohne Pension.«
»Ganz gleich.«
»Und ohne Service.«
»Ist mir sehr gleichgültig.«
Da erschien die Gestalt eines Mädchens, das bisher im Schlafzimmer zu schaffen gehabt hatte. Sie hatte den kurzen Wortwechsel gehört und war nun neugierig, den Mann zu sehen. der ihrem Kollegen in dieser Weise zu schaffen machte.
»Ihre Legitimation?« sagte dieser jetzt.
»Dmnerwetter, ist das hier so eilig?« fragte Geierschnabel.
»Wir sind polizeilich angewiesen, kein Zimmer zu vergeben, ohne zu wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
»So ist Ihr Haus wohl eine ganz gewöhnliche Kneipe, in der man nicht weiß, was ein Fremdenbuch ist?«
Geierschnabel sprach das in einem imponierenden Ton.
»Sie können ein Fremdenbuch haben«, antwortete dieser.
»So bringen Sie es. Aber sagen Sie vorher, ob Sie einen gewissen Husarenleutnant Kurt Helmers kennen.«
»Nein.«
»Ist also nicht eingetroffen?«
»Weiß nichts von ihm.«
Da trat das Mädchen näher und sagte:
»Ich kenne den Leutnant recht gut.«
»Ah! Hat er bereits hier logiert?« fragte Geierschnabel.
»Nein. Ich kenne ihn, weil ich nicht weit von Rheinswalden her bin.«
»So, ich komme von Rheinswalden. Wir verabredeten uns hier.«
»So kommt er sicher«, meinte das Mädchen freundlich. »Sollen Sie auch für ihn ein Zimmer bestellen?«
»Davon sagte er mir allerdings nichts. Aber«, wandte Geierschnabel sich an den Portier, »was stehen Sie denn nun noch hier herum? Habe ich Ihnen nicht befohlen, mir das Fremdenbuch zu bringen?«
»Sofort, mein Herr«, meinte der Türhüter, jetzt allerdings in einem ganz anderen Ton. »Befehlen Sie noch etwas?«
»Etwas zu essen. Bringen Sie mir ein gutes Frühstück.«
Der Mann eilte fort. Geierschnabel warf seinen Sack, sein Futteral und seine Posaune auf die blauseidene Liege und wandte sich abermals an das Mädchen.
»Also aus Rheinswalden sind Sie? Dann sind Sie hier wohl nicht sehr bekannt?«
»O doch; ich bin bereits einige Zeit in Berlin.«
»Wissen Sie, wo Bismarck wohnt und wie man von hier aus gehen muß, um zu ihm zu kommen?«
»Ja.«
»Bitte beschreiben Sie es mir.«
Das Mädchen blickte den Gast erstaunt an und fragte:
»Sie wollen wohl gar zu ihm?«
»Ja, mein Kind.«
»Oh, das ist schwer. Sie müssen sich im Ministerium melden oder so ähnlich. Ich weiß das nicht genau.«
»Unsinn. Da wird gar nicht so viel Federlesens gemacht.«
Das Mädchen erklärte Geierschnabel nun den Weg.
Da kam der Portier und brachte das Fremdenbuch. Geierschnabel schrieb sich ein und mahnte dann wegen des Frühstücks zur Eile, da er keine Zeit habe.
Die beiden Bediensteten entfernten sich, und der wunderliche Gast machte sich an das Auspacken seiner Habseligkeiten, wobei er vom Kellner überrascht wurde, der das Essen brachte. Der machte sehr erstaunte Augen, als er den Inhalt des Sackes und des Futterals erblickte. Er eilte in die Küche, um seinem Chef Meldung zu machen.
Dieser wußte noch nichts, da er eben von einem Ausgang zurückgekommen war. Er war sehr bestürzt, als er hörte, was für einen Gast er bei sich habe.
»Und diesem Menschen haben Sie Nummer eins, das heißt, unser bestes Zimmer gegeben?« fragte er den Portier entsetzt.
»Ich führte ihn hinauf, um ihn zu foppen«, entschuldigte sich der Gefragte. »Er aber behielt es gleich.«
»Wie hat er sich eingetragen?«
»Als William Saunders, Kapitän der Vereinigten Staaten.«
»Herrgott, das ist doch nicht etwa abermals ein solcher Schwindler wie damals jener Parkett, der sich auch für einen Vereinigte-Staaten-Kapitän ausgab?«
»Das Aussehen hat er allerdings ganz. Eine Nase wie der Griff eines alten Regenschirmes!«
»Und was hat er alles bei sich?«
»Eine Büchse, zwei Revolver und ein großes Messer mit scharfer, gebogener Klinge.«
»Ich bin starr.«
»Ferner eine alte Posaune.«
»Eine alte Posaune? Das glaube ich nicht. Haben Sie ganz genau gesehen, daß es wirklich eine Posaune ist?«
»Ich glaube wenigstens, daß es eine ist.«
»War sie aus Messing?«
»Das ist freilich schwer zu sagen«, antwortete der Portier.
»Was hatte sie denn für eine Farbe?«
»Sie war gelb, wie Messing, aber nicht hellgelb, sondern dunkler, sehr verrostet.«
»Dunkler? Es wird doch nicht etwa Kanonenmetall gewesen sein?«
»Das wäre möglich.«
»Mein Gott, dann ist es vielleicht eine Art Gewehr, ein Geschütz, eine Höllenmaschine! Haben Sie nicht einen Hahn daran gesehen, einen Drücker, einen Zeiger oder irgend ein Räderwerk? Man muß sich überzeugen.«
»Aber wie? Er scheint nicht der Mann zu sein, der sich in seine Sachen blicken läßt.«
»Sieht er kriegerisch aus, herausfordernd?«
»Im höchsten Grade. Und maliziös dazu.«
»Was ist da zu tun?«
Der Türhüter sagte sich, daß er unvorsichtig gewesen war, diesen Mann aufzunehmen. Er versuchte, den Fehler jetzt gutzumachen.
»Etwas muß geschehen«, sagte er. »Ich traue dem Kerl ganz gut irgendein Attentat zu.«
Da ergriff das Zimmermädchen, das bisher schweigend zugehört hatte, das Wort, indem es rasch einfiel:
»Ein Attentat? Jesus Maria. Er hat nach Bismarck gefragt.«
Der Wirt erbleichte.
»Nach Bismarck?« rief er. »Was wollte er?«
»Ich mußte ihm beschreiben, wo Bismarck wohnt, und ihm den genauen Weg dorthin angeben.«
»Weshalb? Will er etwa hin?«
»Er will mit ihm reden.«
»Himmel. Da hat man das Attentat!«
»Ich sagte ihm, daß es nicht so leicht sei, bei Bismarck vorgelassen zu werden. Er aber meinte, daß er da kein Federlesens machen werde.«
»Da ist es richtig, daß er ein Attentat beabsichtigt. Er will den Minister erschießen. Was ist da nur zu tun?«
»Schleunige Anzeige bei der Polizei!«
»Ja. Ja. Ich laufe gleich selber hin.«
Der Wirt in seiner Angst eilte in größter Schnelligkeit davon. Auf dem Polizeiamt, das in ziemlicher Entfernung von seinem Hotel lag, konnte er vor Aufregung kaum Worte finden. Er schnappte nach Luft.
»Ich — ich —- bringe ein Attentat.«
Der Polizist erschrak.
»Ein Attentat?« fragte er.
»Ja, ich bringe es zur Anzeige.«
»Ach so. Das ist allerdings etwas sehr Ernstes. Haben Sie es sich auch reiflich überlegt, daß es sich dabei zwar um ein Verbrechen, eine große Gefahr, aber auch um eine ebenso große Verantwortung handelt, die Sie auf sich zu nehmen hätten?«
»Ich nehme alles auf mich, das Verbrechen, die Gefahr und auch die Verantwortung«, antwortete der Mann, der gar nicht bemerkte, wie konfus er war und sprach.
Der Polizist konnte ein Lächeln kaum unterdrücken.
»So sprechen Sie«, befahl er. »Gegen wen soll das Attentat gerichtet sein?«
»Gegen Herrn von Bismarck.«
»Alle Teufel. In Wirklichkeit?«
»Ja. Ich weiß es ganz genau.«
»In welcher Weise soll das Attentat ausgeführt werden?«
»Mit Büchse, Revolver, Messer und Höllenmaschine.«
Jetzt machte der Beamte ein sehr ernstes Gesicht.
»Sind Sie wirklich überzeugt davon?« fragte er.
»Ich glaube, es beschwören zu können.«
»Wer ist der Attentäter, und wer sind seine Komplizen?«
»Er hat sich geweigert, seine Legitimation vorzuzeigen, er hat vielmehr darauf bestanden, ihm das Fremdenbuch vorzulegen, in das er sich eingetragen hat.«
»Das ist allerdings ungewöhnlich. Wie nennt er sich?«
»William Saunders.«
»Ein englischer oder amerikanischer Name. Wann ist er angekommen?«
»Vor einer halben Stunde.«
»Wie ist er gekleidet?«
»Ganz ungewöhnlich. Er trägt Lederhosen, Tanzschuhe, einen Frack mit Puffen, Patten und Tellerknöpfen und einen geradezu regenschirmähnlichen Hut.«
»Hm. Der Mann scheint eher ein Sonderling als ein Verbrecher zu sein. Wer ein Verbrechen, ein Attentat beabsichtigt, der kleidet sich so unauffällig wie möglich.«
»Aber seine Waffen!«
»Welche Art von Waffen führt er bei sich?«
»Eine Büchse, zwei Revolver und ein Messer. Die Hauptwaffe aber besteht in einer posaunenartigen Vorrichtung aus Kanonenmetall. Wer kann wissen, womit dieses Mordwerkzeug geladen ist?«
»Haben Sie es gesehen?«
»Zwar nicht selbst, aber mein Portier.«
»Warum haben Sie nicht auch sich selbst überzeugt?«
»Das wäre dem Fremden vielleicht aufgefallen. Ich wollte keinen Verdacht in ihm erwecken, damit wir ihn desto sicherer haben.«
»Wie aber wissen Sie, daß er gegen Herrn von Bismarck ein Attentat beabsichtigt?«
»Er hat sich nach seiner Wohnung erkundigt und sich den Weg dorthin genau beschreiben lassen.«
»Hat er gesagt, wann er zu dem Minister gehen will?«
»Nein.«
»Wo befindet er sich jetzt?«
»Er frühstückt auf seinem Zimmer.«
»Gut. Vielleicht irren Sie sich. Auf alle Fälle aber ist es meine Pflicht, dem Mann auf den Zahn zu fühlen. Das kann ich aber nicht allein auf mich nehmen. Ich habe es vorher noch anderweitig zu melden, werde aber innerhalb einer halben Stunde bei Ihnen sein. Sie haben dafür zu sorgen, daß er bis dahin das Haus nicht verläßt.«
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Unterdessen hatte Geierschnabel ahnungslos sein Frühstück beendet.
»Soll ich etwa auf diesen Leutnant warten?« fragte er sich. »Oho, Geierschnabel ist schon der Kerl, ohne Empfehlung mit Bismarck zu sprechen. Allerdings werde ich mir mit ihm keinen Spaß machen dürfen wie mit den anderen. Meine Sachen bleiben also hier. Aber neugierig bin ich doch, was er für Augen machen wird, wenn ein so gekleideter Kerl Audienz bei ihm verlangt.«
Geierschnabel schaffte seine Habseligkeiten ins Schlafzimmer. Dieses verschloß er und zog den Schlüssel ab, den er zu sich steckte.
»Dieses Volk braucht während meiner Abwesenheit nicht zu erfahren, was in meinem Sack steckt«, brummte er. »Die Leute haben bereits genug gesehen. Und haben sie hier einen Nachschlüssel, so habe ich mein Sicherheitsschloß.«
Damit zog er das Schloß aus der Tasche, legte es an und ging.
Er wurde dabei nicht bemerkt, weil das Personal in der Küche war, um das hochwichtige Ereignis zu besprechen. Sie glaubten ihn beim Frühstück. So kam er ungesehen aus dem Haus und erreichte glücklich und unbelästigt sein Ziel. Der Großstädten selbst der großstädtische Schulbube, hat keine Lust, dem ersten besten Menschen, der sich auffallend kleidet, nachzulaufen.
Als er die Wache sah. die am Tor stand, trat er vertraulich an den Mann heran und fragte:
»Nicht wahr, hier ist Bismarcks Wohnung?«
»Ja«, fantwortete ihm der Wächter, indem er den Frager mit lustigem Lächeln musterte.
»Eine Treppe hoch?«
»Ja.«
»Ist der Master zu Hause?«
»Master? Wer?«
»Na, Bismarck!«
»Sie meinen Seine Exzellenz, den Fürsten von Bismarck?«
»Ja, ich meine den Fürsten, die Exzellenz und auch Bismarck selbst.«
»Ja, er ist zu Hause.«
»Da treffe ich es ja gut.«
Geierschnabel wollte an dem Posten vorüber, dieser aber faßte ihn am Arm und fragte:
»Halt! Wohin soll es denn gehen?«
»Zu ihm natürlich!«
»Zu seiner Exzellenz?«
»Natürlich!«
»Das geht nicht! In welcher Angelegenheit kommen Sie?«
»Das wird er erfahren, sobald ich bei ihm bin. Ich bitte Sie, mich passieren zu lassen. Meine Angelegenheit ist sehr wichtig.«
»Dann müssen Sie den vorgeschriebenen Dienstweg gehen. Ich muß wissen, in welcher Angelegenheit Sie kommen. Ist es eine Privatsache, eine diplomatische oder was sonst?«
»Es wird wohl ›was sonst‹ sein.«
»Wenn Sie denken, daß ich nur da bin, damit Sie sich einen Scherz mit mir machen können, dann irren Sie sich.«
Aber anstatt fortzugehen, wandte sich Geierschnabel dem Inneren des Gebäudes zu.
»Halt!« rief der Wachtposten. »So war das nicht gemeint. Ich habe Ihnen gesagt, daß Sie sich entfernen sollen!«
»Das tue ich ja auch«, meinte Geierschnabel.
»Ich meine aber auswärts.«
»Und ich meine einwärts.«
»Gehen Sie nicht gutwillig, so brauche ich mein Recht!«
»Und ich meine Hände.«
»Sie werden wegen Hausfriedensbruchs arretiert!«
»Möchte ich sehen, wer das fertigbringt!«
Dabei schob Geierschnabel den Mann zur Seite und erreichte die Treppe, ehe es dem Bediensteten gelang, ihn festzuhalten.
Es hätte sich jetzt ein viel heftigerer Wortwechsel entsponnen, wenn nicht ein Herr erschienen wäre, der die Treppe herabkam und die kleine Balgerei bemerkte. Er trug einen einfachen Uniformrock und eine Mütze auf dem grauen Haupt. Sein Gang war fest und sicher, seine Haltung militärisch stramm, aber in seinem Gesicht lag ein Zug herablassenden Wohlwollens, und seine Augen blickten mit einer Art freundlicher Mißbilligung auf die beiden Männer.
Der Posten stand beim Anblick dieser Erscheinung stramm. Geierschnabel bemerkte es nicht, er benutzte den Augenblick der Freiheit zu zwei raschen Schritten, mit denen er gleich drei und drei Stufen auf einmal nahm, so daß er nun auf derselben Stufe mit dem herabsteigenden Herrn stand.
Dann faßte er mit der Hand an seinen Hut und sagte:
»Good morning, alter Herr! Können Sie mir wohl sagen, in welcher Stube ich die Exzellenz von dem Minister Bismarck finde?«
Der »alte Herr« besah sich den Frager. Sein Schnurrbart zuckte.
»Sie wollen mit Exzellenz sprechen?« fragte er. »Wer sind Sie?«
»Hm. Das darf ich nur der Hoheit dieses Ministers sagen.«
»Sind Sie bestellt werden?«
»Nein, my old master!«
»Dann werden Sie sich wohl unverrichteterdinge entfernen müssen.«
»Das geht nicht. Meine Sache ist sehr wichtig.«
»Eine Privatsache?«
Der »old master« machte einen nicht gewöhnlichen Eindruck auf den Präriemann. Einem anderen hätte er keine Antwort gegeben, jetzt aber meinte er:
»Eigentlich brauche ich Ihnen das nicht zu sagen, aber Sie haben so ein Stück von einer Art von Gentleman an sich, und da will ich nachsichtig sein. Nein, es ist keine Privatangelegenheit.«
»Was für eine sonst?«
»Weiter kann ich wirklich nichts verraten.«
»Ist es denn ein gar so großes Geheimnis?«
»Das versteht sich.«
»Haben Sie keinen Herrn, der Sie bei Seiner Exzellenz einführen oder anmelden könnte?«
»Das schon. Aber er ist nicht hier. Er kommt erst später, und ich wollte nicht länger warten.«
»Wer ist diese Person?«
»Es ist der Gardehusarenoberleutnant Kurt Helmers.«
Über das milde Gesicht des »alten Herrn« ging ein rasches Zucken.
»Er will nach Berlin kommen, um Sie dem Grafen von Bismarck zu melden?«
»Ja.«
»Ist das so, dann werde ich an Stelle des Leutnants treten und Sie einführen, wenn Sie mir sagen wollen, wer Sie sind.«
»Hier nicht. Hier hört es dieser Wachsoldat.«
»So kommen Sie!« meinte der Mann lächelnd, indem er wieder umkehrte und voranschritt.
Sie erreichten ein Vorzimmer, in dem sich ein Diener befand. Dieser wollte sich bei ihrem Erscheinen in Positur werfen, aber der Begleiter Geierschnabels gab ihm einen heimlichen Wink.
»Nun, hier sind wir unter uns«, sagte er. »Jetzt können Sie sprechen.«
»Aber hier steht doch wieder solch eine Salzsäule.«
Dabei deutete Geierschnabel auf den Diener. Der Herr gab ihm einen zweiten Wink, worauf der Bedienstete sich zurückzog.
»Also jetzt«, sagte der andere in einem Ton, in den sich einige Ungeduld mischte.
»Ich bin Präriejäger und Dragonerkapitän der Vereinigten Staaten, mein alter Freund.«
»So, so. Ist das, was Sie da tragen, die Uniform der Vereinigten-Staaten-Armee?«
»Nein. Wenn Sie das für eine Uniform ansehen, so müssen Sie verteufelt wenig militärische Kenntnisse haben. Aber das ist ja auch gar nicht notwendig. Ich bin nämlich ein etwas wunderlicher Heiliger. Ich mache mir gern einen Spaß, und da habe ich mir diesen Anzug über das Fell gehängt, um meine Lust an den Maulaffen zu haben, die mich anstaunen.«
»Das ist ein eigentümlicher Sport! Wenn ich Sie hier einführen soll, so möchte ich aber doch vorher wissen, welcher Gegenstand es ist, den Sie mit Exzellenz verhandeln wollen.«
»Das ist ja eben das Ding, das ich nicht verraten darf.«
»Dann werden Sie auch keinen Zutritt finden. Übrigens können Sie mir getrost alles sagen, was Sie dem Fürsten mitteilen wollen. Er hat kein Geheimnis vor mir.«
»Dann sind Sie wohl so etwas wie Ordonnanz oder vertrauter Adjutant von ihm?«
»Man könnte es so nennen.«
»So will ich es wagen. Ich komme aus Mexiko.«
Das Gesicht des alten Herrn nahm sofort den Ausdruck großer Spannung an.
»Aus Mexiko?« fragte er. »Haben Sie dort gejagt, oder sind Sie Mitkämpfer gewesen?«
»Beides, mein alter Freund. Zunächst war ich Führer eines Englishman, der Waffen und Geld zu Juarez brachte.«
»So haben Sie Juarez gesehen?«
Man sah es dem alten Herrn an, daß er an dem Gespräch Interesse hatte.
»Täglich. Ich bin bis zu meiner Abreise nach Deutschland bei ihm gewesen.«
»Aber warum kommen Sie nach Deutschland?«
»Juarez hat mich gesandt. Habe ich soviel gesagt, so kann ich Ihnen auch meine Legitimationen zeigen. Hier sind sie.«
Geierschnabel zog seine Papiere hervor und reichte sie dem alten Herrn. Dieser überflog sie rasch, musterte den Mann noch einmal und sagte:
»Es muß eigentümliche Leute da drüben geben!«
»Hier auch«, unterbrach ihn der Jäger.
»Davon später. Ich werde Sie jetzt dem Fürsten vorstellen, denn …«
Der Sprecher wurde abermals unterbrechen, denn die Tür öffnete sich, und in ihr erschien Bismarck in eigener Person. Er hatte die Stimmen der Sprechenden vernommen, und da er sich durch sie gestört fühlen mochte, hatte er selbst nachsehen wollen, wer sich da unterhielt. Als er die beiden erblickte, zeigte sein Gesicht ein allerdings rasch unterdrücktes Staunen.
»Wie, Majestät befinden sich wieder hier?« fragte er, indem er sich mit einer Verneigung an den alten Herrn wandte.
»Majestät!« rief da Geierschnabel schnell. »Kreuzdonnerwetter!«
Bismarck blickte ihn beinahe erschrocken an. Der mit »Majestät« Angeredete aber nickte ihm freundlich zu und sagte:
»Sie brauchen nicht zu erschrecken.«
»Das fällt mir auch gar nicht ein«, antwortete Geierschnabel. »Aber wenn dieser Master Sie Majestät nennt so sind Sie wohl gar der König von Preußen?«
»Ja, der bin ich allerdings.«
»Alle Teufel! Was bin ich für ein Esel gewesen! Aber wer hätte das auch denken können. Kommt dieser alte, brave Herr still die Treppe herab, fragt mich nach diesem und jenem, und ist der König von Preußen in eigener Person. Na, Geierschnabel, für was für einen Dummkopf wird dich dieser König halten!«
»Geierschnabel? Wer ist das?« fragte der König.
»Das bin ich selbst. In der Prärie hat nämlich jeder seinen Beinamen, durch den er am besten kenntlich wird. Dem Kerl, der mir den Namen gab, hatte es meine Nase angetan. Aber Majestät, wer ist denn dieser Herr hier?«
»Kennen Sie ihn nicht?«
»Nein, habe nicht das Vergnügen gehabt.«
»Nun, es ist der Herr, zu dem Sie wollten.«
Da machte Geierschnabel den Mund auf, trat einen Schritt zurück und sagte:
»Was? Bismarck? Ich bitte Eure Majestät, dem Master Minister zu sagen, wer ich bin.«
Der König reichte dem Fürsten lächelnd die Dokumente Geierschnabels. Bismarck überflog sie. Ein durchdringender Blick fiel auf den Jäger; dann sagte er:
»Kommen Sie, Kapitän!«
Damit trat er hinter dem König und Geierschnabel in sein Kabinett.
Der Diener. der einige Augenblicke später in das Vorzimmer trat, merkte an den lauten, oft wechselnden Stimmen, daß da drinnen ein sehr angeregtes Gespräch geführt werde. Sein Inhalt aber war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt…
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Als der Wirt des Hotels von der Polizei kam, erkundigte er sich sofort nach seinem Gast.
»Er ist doch noch oben?« fragte er.
»Ja«, antwortete der Portier.
»Er darf das Haus nicht eher verlassen, als bis die Polizei erscheint.«
Dabei stieg der Wirt die Treppe hinauf und ließ sich auf einen Stuhl nieder, der im Korridor stand. Er ahnte nicht, daß der vermeintliche Attentäter das Zimmer bereits verlassen hatte.
Es war kaum eine Viertelstunde vergangen, als die Polizei erschien.
Dem Haus gegenüber stellten sich Detektive auf, die scheinbar harmlos auf und ab spazierten, aber die Fenster und die Tür des Gasthauses keinen Augenblick aus dem Auge ließen. Der Flur des Hotels und der Hof wurden besetzt, und eine Droschke hielt an der Ecke.
Einer der gewiegtesten Kriminalbeamten ging in Begleitung noch zweier Kollegen hinauf, um sich des Gesuchten zu bemächtigen.
»Ist er noch da?« fragte er leise den Wirt.
»Ja, dort in Nummer eins.«
Der Kriminalbeamte schritt mit seinen Assistenten auf die bezeichnete Tür zu. Der Oberkellner wurde durch die Neugier herbeigetrieben, aber sein Prinzipal warnte ihn:
»Wagen Sie sich nicht zu weit hinein.«
»So gefährlich wird es doch wohl nicht sein.«
»Was verstehen Sie von der Gefährlichkeit einer solchen Höllenmaschine, zumal in Posaunenform. So etwas ist ja noch gar nicht dagewesen.«
Da kehrte der Kriminalbeamte noch einmal zum Wirt zurück.
»Sie haben erzählt, daß der Mann mit einem Ihrer Mädchen gesprochen hat? Wo ist es?«
»In der Küche.«
»Ich halte es für geratener, wenn dieses zunächst einmal hineingeht. Das Mädchen hat Grund genug, bei ihm einzutreten, ohne Verdacht zu erwecken. Es kann uns dann sagen, wie es ihn angetroffen hat.«
»Holen Sie es herauf!«
Diese letzteren Worte des Wirtes wurden dem Kellner zugeflüstert. Der eilte hinab und brachte das Mädchen.
Als es auf wiederholtes Klopfen keine Antwort erhielt, trat es ein. Die Zurückbleibenden mußten eine ziemliche Zeit auf ihr Wiedererscheinen warten. Als sie endlich zurückkam, drückten ihre Gesichtszüge eine gewisse Besorgnis aus.
»Nun?« flüsterte der Beamte. »Was tut er?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete das Mädchen. »Er war nicht im Zimmer und nicht im Vorzimmer.«
»Gibt es noch ein Schlafzimmer?«
»Ja.«
»Dann war er dort?«
»Kaum. Es ist mit einem Sicherheitsschloß versperrt.«
»Er ist fort«, rief einer der Polizisten.
»Entwichen, entkommen«, fiel der andere ein.
»Die Sache ist noch schlimmer«, behauptete ihr Vorgesetzter. Und sich an das Mädchen wendend, fragte er: »Er hat zu Ihnen gesagt, daß er zu Bismarck wolle?«
»Ja.«
»Er hat sich fortgeschlichen, und es ist Gefahr im Verzug. Folgen Sie mir, meine Herren! Wir müssen sofort zu Bismarck.«
Die Polizisten winkten die Droschke herbei, stiegen ein und fuhren so schnell, wie das Pferd nur laufen konnte, davon.
Kaum waren sie fort, als eine andere Droschke vor dem Hotel hielt. Der junge Mann, der ihr entstieg, war kein anderer als Kurt Helmers. Er hatte keine Ahnung von dem, was geschehen war. Er ahnte auch nicht, daß viele der Fußgänger, die die Straße auf und ab schritten, verkleidete Polizisten waren, die den Gasthof bewachten. Er trat in die Gaststube und ließ sich von dem anwesenden Kellner, der ihn nicht kannte, ein Glas Bier geben.
Einige Minuten später trat auch das Zimmermädchen ein. Es erblickte ihn und erkannte ihn sogleich. Er nickte ihr grüßend zu, und sie trat zu ihm an den Tisch.
»Sie hier, Herr Leutnant«, sagte sie. »So ist es also doch wahr, daß Sie herkommen wollten!«
»Allerdings. Aber woher wissen Sie das?«
»Ein Fremder sagte es, der jetzt arretiert werden soll.«
»Arretiert? Warum?«
»Er beabsichtigt ein Attentat.«
»Was für ein Attentat?«
»Mit einer Höllenmaschine.«
»Um Gottes willen!« sagte Helmers, der immer noch nicht ahnte, daß hier von Geierschnabel die Rede war.
»Ja, das ganze Haus ist bewacht, und die Polizei ist bereits zu Bismarck geeilt.«
»Zu Bismarck? Warum zu ihm?«
»Weil das Attentat gegen ihn gerichtet sein soll.«
»Das wäre ja gräßlich! Wer ist der Kerl?«
»Der amerikanische Kapitän, der Sie hier erwartet.«
Jetzt erschrak Kurt Helmers noch mehr.
»Wäre es möglich!« rief er. »Der Mann sprach einen fremden Dialekt?«
»Ja. Mein Herr hat ihn angezeigt. Er will Bismarck ermorden. Er hat vielerlei Waffen und auch eine Höllenmaschine bei sich.«
»Unsinn! Er ist zu Bismarck gegangen? Und die Polizei hinter ihm her?«
»Ja.«
»Dann gilt es, keinen Augenblick zu verlieren. Ich muß ihm nach.«
Helmers sprang auf und eilte zur Tür hinaus …
Mittlerweile war Geierschnabels Unterredung mit den beiden hohen Herren beendet. Er hatte den Befehl erhalten, nach Kurt Helmers’ Eintreffen diesen sofort zu Bismarck zu schicken und dann zu warten, was ihm vom Minister zugehen werde.
Jetzt schlenderte er seelenvergnügt durch die Straßen. Er hatte zwar einen anderen Weg eingeschlagen, aber bei seinem ausgebildeten Ortssinn war ein Verirren unmöglich. So erreichte er die Straße, in der sein Hotel lag, und schlenderte langsam darauf zu.
»Will doch mal sehen«, murmelte er vor sich hin. »was dieser Leutnant sagen wird, wenn ich ohne ihn bereits bei Bismarck gewesen bin. Ja, Geierschnabel ist ein Teufelskerl. Dem tut es so leicht kein zweiter nach.«
Geierschnabel bemerkte nicht, daß fünf bis sechs Herren jeden seiner Schritte scharf bewachten.
So erreichte er das Hotel und trat ins Gastzimmer. Hinter ihm schritten seine Wächter, die er für gewöhnliche Gäste hielt. Einer kam an seinen Tisch, griff in die Tasche und zog eine Medaille heraus, die er Geierschnabel vor die Augen hielt.
»Packe dich fort mit deinem Geld!« rief der Jäger. »Bringst du mir deine Pranke noch einmal so nahe unter die Nase, so sorge ich dafür, daß es nicht zum zweiten Male geschieht.«
»Sie kennen diese Medaille nicht? Ich bin Beamter der Polizei.«
Erst jetzt wurde Geierschnabel aufmerksam. Er blickte sich im Zimmer um und ahnte nun sogleich, daß er es mit lauter Geheimpolizisten zu tun hatte.
»So! Polizist sind Sie?« meinte er. »Schön. Aber warum sagen Sie das gerade mir?«
»Weil ich mich außerordentlich für Sie interessiere. Ich fordere Sie auf, mir auf Fragen, die ich Ihnen jetzt stellen werde, wahrheitsgetreu zu antworten.«
Geierschnabel ließ seinen Blick abermals im Kreis umherschweifen, dann meinte er gleichmütig:
»Seit gestern früh ist dies nun bereits das dritte Mal, daß ich gefangengesetzt werden soll.«
»Sie ahnen, daß Sie arretiert werden sollen?«
»Das müßte jedes Kind sehen.«
»Sie waren gestern bereits zweimal arretiert und. sind wieder entkommen?«
»Mit heiler Haut.«
»Nun, dann werden Sie uns nicht abermals entwischen. Haben Sie die Güte, mir Ihre Hände zu reichen.«
Der Polizist griff in die Tasche und brachte eiserne Handschellen hervor. Das war dem Amerikaner denn doch zu bunt. Er erhob sich und fragte:
»Was? Fesseln wollen Sie mich?«
»Allerdings.«
»Hölle, Tod und Teufel! Ich will den sehen, der es wagt, Hand an mich zu legen. Was habe ich euch Kerlen getan?«
Die anderen Polizisten hatten sich Geierschnabel genähert und einen Kreis um ihn geschlossen. In sicherer Entfernung aber stand der Wirt mit seinen Angestellten, um dem interessanten Vorgang zuzuschauen.
»Was Sie uns getan haben?« fragte der Polizist. »Sie leugneten, noch weitere Waffen zu haben. Und doch führen Sie eine Donnerbüchse, eine Höllenmaschine oder etwas ähnliches bei sich.«
Geierschnabel blickte dem Mann erstaunt ins Gesicht.
»Donnerhüchse? Höllenmaschine?« fragte er.
»Ja, aus Messing oder Kanonenmetall!«
Da endlich wurde Geierschnabel die Lage klar. Er hätte am liebsten gerade hinauslachen mögen, aber er zwang sich, ernst zu bleiben.
»Ich weiß nichts davon«, sagte er.
»Wir werden Sie überführen. Wir haben das Verlangen, eine kleine, aber intime Bekanntschaft mit Ihrem Gepäck anzuknüpfen.«
»Meinetwegen. Ich bin nun einmal in Ihrer Gewalt. Aber ich warne Sie! Mit meinen Waffen versteht nicht jeder umzugehen.«
»Keine Sorge! Wir werden vorsichtig sein. Geben Sie her!«
Der Polizist hielt Geierschnabel die Fesseln entgegen.
»Was? Sie wollen meine Hände haben?« fragte dieser. »Ich habe ja gar nicht die Absicht, zu fliehen oder mich zu widersetzen!«
»Auch wenn Sie diese Absicht hätten, würden Sie es nicht eingestehen. Je gefährlicher ein Subjekt ist, desto vorsichtiger muß man es behandeln. Also her mit den Händen!«
Diese Worte wurden in gebieterischem Ton gesprochen. Geierschnabel gehorchte. Er ließ sich die Handschellen anlegen, sagte aber:
»Ich erhebe Widerspruch gegen diese Behandlung! Keiner von Ihnen hat das Recht, mich festzunehmen. Sie werden mir Genugtuung geben.«
»Sie werden sie erhalten, wenn Sie sie verdienen. Jetzt aber marsch zu Ihren Zimmer! Und merken Sie es sich, daß jede Bewegung, auch die kleinste, von uns beobachtet wird.«
»O bitte, beobachten Sie ganz so, wie es Ihnen beliebt.«
Geierschnabel wurde unter Begleitung nach Zimmer Nummer eins geführt. Er bemerkte sogleich, daß hier bereits nach ihm gesucht worden war. Vor der Tür zum Schlafzimmer blieb man mit ihm stehen.
»Haben Sie diese Tür verschlossen?« fragte der Polizist. »Weshalb?«
»Weil ich nicht wünsche, daß man mir im Gepäck herumschnüffelt. Finden Sie das nicht begreiflich?«
»Aber Sie haben nicht nur den Schlüssel abgezogen, sondern auch ein Sicherheitsschloß vorgelegt. Sind die Geheimnisse, die Sie zu verbergen haben, denn gar so gefährlich?«
»Überzeugen Sie sich doch!«
»Da müssen Sie zuerst öffnen.«
»Und Sie müssen die Fesseln lösen!«
»Verdammt.« Aber es blieb den Polizisten nichts weiter übrig. Sie mußten es tun.
Geierschnabel griff in seine Westentasche und zog den Schlüssel zum Sicherheitsschloß hervor. Die Tür konnte nun geöffnet werden. Aber der Beamte machte eine abwehrende Bewegung.
»Halt, nicht vorwärtsdrängen!« gebot er. »Der Arrestant mag vorangehen, nachdem wir ihn wieder gefesselt haben.«
Geierschnabel wurde von vier Händen gefaßt und vorsichtig ins Zimmer geschoben. Erst dann folgten die anderen nach. Der Beamte ließ den Blick umherschweifen. Er fiel zuerst auf die Büchse.
»Was ist das für ein Gewehr?«
»Eine Kentuckybüchse«, antwortete der Gefangene.
»Geladen?«
»Nein.«
»Aber das ist doch keine Büchse, kein Schießgewehr?«
»Ich bin doch nicht etwa arretiert und gefesselt werden, um Ihnen hier Unterricht in der Waffenkunde zu geben!«
»Geduld! Jetzt kommt die Hauptsache. Sagen Sie, was dort so gelb unter dem Sack hervorschimmert.«
»Die Höllenmaschine.«
»Donnerwetterl« rief der Polizist. »Sie gestehen es ein?«
»Ja.«
»Ist sie geladen?«
»Zum Zerplatzen.«
»Zum Zerplatzen? Meine Herren, also die größte Vorsicht! Halten Sie den Mann fest, damit er sich nicht bewegen kann. Arrestant, ich frage Sie, ob diese Maschine wirklich geladen ist!«
»Ja. Ich sagte es bereits.«
»Womit?«
»Mit Luft.«
»Ah, jedenfalls mit Knallgasen oder sonstigen tödlichen Luftarten. Kann man die Maschine berühren. ohne daß sie explodiert?«
»Ja«, antwortete Geierschnabel sehr ernsthaft.
Da stellte sich der Polizist feierlich vor ihn hin und sagte:
»Ich mache Sie nochmals auf die fürchterliche Sünde aufmerksam, die Sie begehen würden, falls Sie durch unwahre Angaben beabsichtigten, eine Explosion herbeizuführen. Also wir können die Maschine anrühren, ohne für unser Leben fürchten zu müssen?«
»Es ist gar keine Gefahr vorhanden.«
»Wir können auch die Kleidungs- und Wäschestücke entfernen, unter denen diese Maschine verborgen ist?«
»Tun Sie es ohne Sorge!«
»Aber wie wird dieses Ungeheuer zur Explosion, zur Detonation gebracht?«
»Einfach dadurch, daß man bineinbläst.«
»Gut, so wollen wir es wagen. Meine Herren, ich könnte Ihnen befehlen, das Ungeheuer von seiner Umhüllung zu befreien. Allein das hieße, den größten Teil der Gefahr auf Sie abzuwälzen. Ich bin bereit, mit dem Mut eines Beamten meine Pflicht zu tun. Ich selbst werde die Höllenmaschine zuerst berühren, denn ich bin bereit, die ersten Kugeln zu empfangen und mich für Sie zu opfern.«
Damit ergriff der Sprecher ein Hemd, eine Hose, eine Bluse und einige Strümpfe, die auf dem Instrument lagen. Alle diese Gegenstände faßte er mit den Spitzen zweier Finger an und zog sie behutsam fort. Endlich lag das »Ungetüm« bloß und unverhüllt vor ihm.
»Frappante Ähnlichkeit mit einer Posaune«, sagte er. »Darin liegt ja eben die Raffiniertheit dieses Bösewichtes. Einer solchen Mordmaschine eine solche unscheinbare Gestalt zu geben!«
Der Polizist hatte wohl in seinem Leben noch keine Posaune in der Hand gehabt. Er faßte sie nur an einem Ende an und hielt sie hoch empor, um sie auf ihre geheimnisvolle Konstruktion zu untersuchen.
Da plötzlich glitten die Züge auseinander, und der schwerere Teil fiel zu Boden.
Der gute Mann glaubte, daß jetzt die Höllenmaschine losgehen werde, schrie und stand da, als ob er den Tod erwartete.
Der Beamte war im ersten Augenblick ganz perplex; dann aber warf er auch den zweiten Zug, den er in der Hand behalten hatte, zornig zu Boden und donnerte Geierschnabel an:
»Mensch, ich glaube gar, Sie lachen über mich.«
»Über wen denn sonst?« fragte der Jäger, noch immer lachend.
»Ich verbiete es Ihnen, sich über mich lustig zu machen. Sie haben zu dem Mädchen gesagt, daß Sie zu Herrn von Bismarck gehen wollen und daß Sie mit ihm wenig Federlesens machen werden?«
»Nein. Ich habe nicht gesagt, daß ich mit Herrn von Bismarck wenig Federlesen machen werde, sondern ich habe bloß gesagt, daß ich bei Herrn von Bismarck wenig Federlesens machen werde, im Fall man mir Schwierigkeiten bereitet, vor den Minister zu kommen.«
»Das ist eine Ausrede. Wenn Sie sagen, falls man Sie nicht vorlassen werde, würden Sie wenig Federlesens machen, so tun Sie ja, als ob Sie Herrn von Bismarck zwingen könnten, Sie zu empfangen.«
»Das ist allerdings der Fall. übrigens will ich Ihnen sagen, daß ich bereits bei Herrn von Bismarck gewesen bin.«
»Wann denn?« fragte der Mann höhnisch.
»Kurz vor meiner Rückkehr.«
»Wurden Sie denn vorgelassen?«
»Ja. Seine Majestät der König hatte sogar selbst die Gnade, mich bei seinem Minister einzuführen.«
»Verrückter Kerl!«
Da ertönte es vom Eingang her:
»Kein verrückter Kerl. Er sagt die Wahrheit.«
Alle wandten sich um. Da stand Kurt Helmers, und hinter ihm erblickte man die Kriminalbeamten, die fortgeeilt waren, den Minister vor der ihm drohenden Gefahr zu warnen.
Ihr Vorgesetzter trat vor und befahl:
»Nehmen Sie diesem Herrn augenblicklich die Handschellen ab!«
Der Befehl wurde sofort ausgeführt. Dann fuhr der Kriminalbeamte, zu Geierschnabel gewandt, fort:
»Mein Herr, es ist Ihnen schweres Unrecht geschehen. Die eigentliche Schuld liegt an denen, die Sie zur Anzeige brachten, nämlich an dem Besitzer und dem Portier dieses Hauses. Es steht Ihnen natürlich frei, diese Leute zu belangen, wobei Sie unserer Hilfe sicher sein können. Aber auch ich habe hohen Befehl erhalten, Ihnen Abbitte zu leisten und Genugtuung zu geben. Ich bin dazu bereit und frage Sie, welche Genugtuung Sie fordern.«
Geierschnabel blickte sich im Kreise um. Dann erwiderte er:
»Gut. Eine Genugtuung will und muß ich haben. Dieser Herr hat meine alte Posaune für eine Höllenmaschine angesehen. Ich verlange, daß er sie als Geschenk von mir nimmt und sie als Andenken aufbewahrt an den wichtigen Tag, an dem er dem Fürsten von Bismarck beinahe das Leben gerettet hätte.«
Alle lachten. Auch der Beschenkte stimmte mit ein.
»Weiter verlangen Sie wirklich nichts?« fragte der Kriminalbeamte.
»Nein, ich bin zufriedengestellt, wünsche aber, nun wieder mein eigener Herr zu sein.«
Der Wunsch wurde ihm sofort erfüllt, indem sich alle entfernten.
Nur Kurt Helmers blieb zurück. Er betrachtete den Amerikaner erst jetzt genauer, brach dann in ein Lachen aus und rief:
»Aber Mann, wie können Sie eine solche Maskerade treiben!«
»Das liegt so in meinem Temperament«, lachte Geierschnabel.
»Was aber tun wir nun?«
»Wir brechen noch heute auf, über Havre de Grace nach Mexiko. Ich habe Instruktionen, die große Eile erfordern. Zwar habe ich auch für Sie verschiedene Mitteilungen, doch ist dazu noch später Zeit. Jetzt wollen wir erst den Anforderungen des Augenblicks genügen.«
Ende!
Nachwort
Dieses Buch zeigt den beliebten Schriftsteller von einer seiner liebenswürdigsten Seiten, der des Humors. Die Gestalt des amerikanischen Trappers Geierschnabel reiht sich mit ihren grotesk komischen Zügen in die Reihe der von Karl May geschaffenen und zu Lieblingen seiner großen Lesergemeinde gewordenen Originale ein.
Dabei ist auch hier Erdichtetes mit geschichtlichen Tatsachen bunt gemischt. Den historischen Hintergrund dieser um 1866 spielenden Erzählung bildet der Präsidentschaftskampf in Mexiko. Ihr Mittelpunkt ist Benito Juarez, der erste Präsident Mexikos indianischer Abstammung.
Als liberales Mitglied des Kongresses hatte Juarez den Hauptanteil an der neuen mexikanischen Verfassung von 1857. Er übernahm 1858 als Vizepräsident die Regierung, wurde von den Vereinigten Staaten anerkannt und erließ zahlreiche Reformgesetze. 1861 wurde er vom mexikanischen Kongreß zum Präsidenten gewählt. Frankreich nahm die vorübergehende Einstellung der Zinszahlungen für mexikanische Auslandsschulden zum Anlaß, bewaffnet einzugreifen. Es besetzte 1863 mit einem Expeditions-Korps die Hauptstadt Mexiko. Auf Veranlassung des französischen Kaisers Napoleon III. hatte eine Notabelnversammlung dem österreichischen Erzherzog Maximilian die mexikanische Kaiserkrone angetragen. Maximilian zog 1864 in die Hauptstadt ein. Juarez aber wurde mit seinem Anhang bis in den äußersten Norden seines Landes zurückgedrängt. Er hielt jedoch in einem jahrelangen Guerillakrieg aus, in dem ihm Karl May den Trapper Geierschnabel als Pfadfinder und Kurier zur Seite gestellt hat.
Nach dem von den Amerikanern erzwungenen Abzug der Franzosen gewann Juarez wieder die Oberhand und ließ 1867 Maximilian in Queretaro erschießen.
Der Indianerpräsident wurde Zum 1867 und 1871 wiedergewählt, konnte aber den inneren Frieden bis zu seinem Tod im Jahre 1872 nicht wieder herstellen.
1überarbeitet und gestrafft von Alfred Rauschmüller
2Nähreres über die Verbannung auf einer Koralleninsel im Pazifik enthält die Karl-May-Erzählung »Der Scheik von Harrar«, die in gleicher Ausstattung und zum gleichen Preis im Neuen Jugendschriften-Verlag, Hannover, erschienen ist.
3Alte englische Goldmünze gleich 20 damalige Deutsche Mark