ORBIT HOSPITAL

James White

Die letzte Diagnose

Orbit Hospital Band 10

HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY

Band 06/5114 Titel der englischen Originalausgabe Code FINAL DIAGNOSIS

Copyright © 1996 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

ISBN 3-453-13336-6

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1. Kapitel

Der orligianische medizinische Offizier sagte keinen Ton, während er Hewlitt durch den Bordtunnel hindurch zum Hospitaleingang begleitete, und das war dem Terrestrier auch nur recht so. Er mochte nämlich keine Extraterrestrier, und bei den seltenen Gelegenheiten, wo ein Kontakt unvermeidlich war, zog er es vor, sich mit ihnen auf möglichst weite Distanz per Kommunikator und ohne eingeschalteten Bildschirm zu unterhalten. An diesem Orligianer widerten ihn insbesondere dessen aus dem bräunlich grauen Fell hervorstehenden Stacheln an, die hin und wieder ekelerregend zuckten. Allein bei dem Gedanken an all die Parasiten, die auf dieser Kreatur siedeln mochten, bekam er einen Juckreiz. Deshalb fielen ihm etliche Steine vom Herzen, als sie endlich die enge Tunnelröhre verließen und den Empfangsbereich betraten, denn nun konnte er zu diesem haarigen und unansehnlichen Wesen einen größeren Abstand einhalten.

Ein anderer Extraterrestrier, dessen Herkunft und Erscheinung ihm völlig unbekannt war, stand neben einer mit Schwerkraftneutralisatoren ausgerüsteten Trage und erwartete sie offenbar schon. Dieser ET war sehr groß, kräftig gebaut und stand auf sechs Tentakeln, von denen einer mit einer Art Armbinde ausgestattet war, die vermutlich zur Bestimmung des Dienstgrads oder der Identität des Wesens diente. Ansonsten war dieser Alien unbekleidet und zu Hewlitts großer Erleichterung unbehaart, wenngleich er auf der im Grunde glatten Lederhaut etliche Stellen hatte, die wie abbröckelnde Farbe aussahen und alles andere als hygienisch wirkten. Zwar konnte Hewlitt noch zwei lidlose, vertiefte Augen erkennen, die von einer festen, durchsichtigen Schicht überzogen waren, doch bis auf eine fleischige Membran, die wie ein Hahnenkamm oben aus dem Kopf wuchs, besaß das Wesen keine hervorstechenden Merkmale. Als es sich ihm näherte und mit ihm sprach, vibrierte die Membran heftig; offensichtlich diente sie als Sprechorgan.

„Eigentlich erwarte ich die Ankunft eines DBDG-Patienten. Nun sind Sie zwar eindeutig ein Terrestrier der physiologischen Klassifikation DBDG,aber Sie scheinen weder verletzt zu sein, noch irgendwelche anderen Krankheitssymptome aufzuweisen. Vielleicht ist mir ja ein Fehler unterlaufen, und Sie sind gar nicht der Patient, den ich…“

„Das hat schon alles seine Richtigkeit, Schwester“, mischte sich der Orligianer ein. „Ich bin Stabsarzt Turragh-Mar vom Monitorkorps-Versorgungsschiff Treevendar, das eigens abgestellt wurde, um Ihren Patienten von seinem Heimatplaneten zum Orbit Hospital zu transportieren. Aber jetzt muß ich unverzüglich zu meinem Schiff zurückkehren. Es handelt sich übrigens um Patient Hewlitt, und das hier ist seine Krankenakte.“

„Danke, Doktor.“ Die Schwester nahm das Band entgegen und steckte es in eine Aussparung auf dem Kontrollpult der Trage. „Gibt es noch irgendwelche aktuellen Informationen, die der diensthabende Arzt wissen sollte?“

Turragh-Mar zögerte, bevor er antwortete: „Seit der Patient vor sechs Tagen von seinem Heimatplaneten auf die Treevendar überstellt wurde, hat sich sein Zustand nicht verändert. Wie man sehen kann, wirkt er auf den ersten Blick völlig gesund. Ganz unabhängig von seiner langen und komplizierten Krankheitsgeschichte bin ich während der letzten Tage immer mehr zu der Überzeugung gelangt, daß bei dem Problem des Patienten auch eine psychologische Komponente eine gewisse Rolle spielt.“

„Ich verstehe, Doktor, aber ich kann dem Patienten Hewlitt versichern, daß wir all seine Probleme, so kompliziert diese auch sein mögen, lösen werden.“

Turragh-Mar gab ein kurzes Bellen von sich, das vom Translator nicht übersetzt wurde, und fügte hinzu: „Na, dann wünsche ich Ihnen viel Glück dabei.“ Mit diesen Worten verschwand der Orligianer imBordtunnel.

„Bitte steigen Sie jetzt auf die Trage, und machen Sie es sich bequem, Patient Hewlitt“, forderte die Schwester den Neuankömmling auf. „Ich werde Sie auf die Station sieben im neunundzwanzigsten Stock bringen, wo man Sie …“

„Ich werde auf gar nichts steigen!“ protestierte Hewlitt, wobei seine Stimme durch die Mischung aus Zorn, Verunsicherung und instinktiver Abneigung gegenüber dieser monströsen Kreatur lauter als beabsichtigt klang. „Mit mir ist alles in bester Ordnung, insbesondere mit meinen Beinen. Deshalb werde ich zu Fuß gehen!“

„Bitte glauben Sie mir, Patient Hewlitt, auf der Trage werden Sie sich sehr viel wohler fühlen.“

„Vor allem würde ich mich sehr viel wohler fühlen, wenn Sie mich nicht wie ein Kind behandeln würden. Diese Witzfigur von einem orligianischen Arzt hat mich auch schon die ganze Zeit wie ein Mündel behandelt, wenn er sich mit den anderen Schiffsoffizieren über mich unterhalten hat! Und kaum bin ich hier, geht das schon wieder los. Denken Sie also freundlicherweise in Zukunft daran, daß ich ein erwachsener Mensch bin, Schwester!“

Eine ganze Weile zeigte die Schwester keinerlei Regung, dann antwortete sie: „Ich weiß, daß Sie kein Kind, sondern ein erwachsenes Wesen sind. Aufgrund meiner Ausbildung in fremdweltlerischer Anatomie weiß ich auch, daß Sie ein männlicher Terrestrier der Klassifikation DBDG sind, dennoch muß ich Sie, wie jeden anderen Patienten auch, ganz neutral behandeln. Würden Sie jetzt also bitte auf die Trage steigen?“

„Sagen Sie mal, ist Ihre Spezies schwer von Kapee?“ fuhr Hewlitt die Schwester an. „Ich habe gesagt, daß ich zu Fuß gehen will!“

Statt zu antworten, lehnte sich die Schwester zurück, so daß ihr enormes Gewicht auf die mittleren und hinteren Tentakel verlagert wurde. Die zwei vorderen Gliedmaßen streckten sich plötzlich aus, und bevor Hewlitt reagieren konnte, hatte sich eine davon um seinen Bauch gewickelt, während die andere seine Beine in Kniehöhe umschlang. Dann wurde er hoch in die Luft gehoben und sanft auf der Trage abgesetzt. Er versuchte erst gar nicht, sich aus dem festen, aber nicht unangenehmen Griff zu befreien, da die kräftigen Tentakel, die sich wie warmes, biegsames Metall anfühlten, jeden Widerstand zwecklos erscheinen ließen.

Während des kurzen Augenblicks in der Luft hatte Hewlitt erkennen können, daß die Gliedmaßen, die sich um ihn herumgewickelt hatten, der Schwester gleichzeitig als Arme und Beine dienten. Auf der Rückseite der beiden vorderen Tentakel befanden sich aufgerauhte Knöchel, auf denen das Wesen ging, während es die komplizierteren Extremitäten, die in Fingern endeten, nach oben hin einrollte.

Dann wurden die gepolsterten Befestigungsbügel der frei schwebenden Trage nach innen geschwenkt, so daß er die Oberschenkel nicht mehr bewegen konnte. Schließlich fuhren an beiden Seiten zwei durchsichtige Verschalungen heraus, die sich oben zu einer Art Kuppel verbanden, die aber nicht ganz verschlossen wurde, und dank einer hochklappbaren Rückenlehne saß er nun aufrecht. Wenigstens durfte er hören und sehen, was sich um ihn herum abspielte.

Da er sich nur allzu gut an die vielen Fahrten mit Rolltragen in terrestrischen Krankenhäusern erinnern konnte, bei denen es stets nichts anderes als die Neonröhren an den Decken endlos langer weißer Korridore zu sehen gegeben hatte, wußte er diesen Umstand sehr zu schätzen.

„Für Neuankömmlinge, ob sie nun Patienten oder Mitarbeiter sind, ist es anfangs in der Regel ein äußerst einschüchterndes Erlebnis, wenn sie sich zu Fuß durch die Flure des Orbit Hospitals bewegen“, klärte ihn die Schwester auf, ohne auch nur mit einem Wort auf die grobe Behandlung einzugehen, die sie Hewlitt erst kurz zuvor hatte zuteil werden lassen. „Sie können sich glücklich schätzen, daß es Ihnen als neu eingelieferter Patient nicht gestattet ist, allein durch die Korridore zu spazieren.“

„Aber ich kann gehen!“ protestierte Hewlitt, während die Trage behutsam zum Ausgang gelenkt wurde.

„Die meisten unserer eingelieferten Patienten sind kaum in der Lage zu gehen, zu sprechen, sich umzuschauen oder gar mit ihrer Schwester zu streiten. Das ist hier nun mal so üblich, und da gibt es auch keine Ausnahme, verstanden?“

Als sich die Tür zum Flur automatisch öffnete, schloß Hewlitt sofort die Augen, und es dauerte eine ganze Weile, ehe er sich dazu überwindenkonnte, sie wieder zu öffnen. Mit einem Mal war er sogar sehr froh darüber, daß er wenigstens an den Seiten von der durchsichtigen Kuppel umgeben war.

In dem breiten Korridor zogen in beide Richtungen Wesen an ihm vorbei, die ihm bislang allenfalls in seinen schlimmsten Alpträumen begegnet waren, und er entdeckte einige neue Kreaturen, die ihn höchstwahrscheinlich demnächst noch im Schlaf verfolgen würden. Aufgrund der Tatsache, daß hin und wieder ein Terrestrier darunter war, wirkten die Fremdweltler nur um so furchterregender. Einige von ihnen waren ohne Gesellschaft, aber meistens waren sie in Gruppen unterwegs, die sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten dicht aneinander vorbeidrängten. Es gab vieltentakelige Wesen, deren Körpergröße und -kraft ihm Angst einjagten, und andere, bei deren Anblick ihm speiübel wurde, da ihre schrecklich mißgestalteten Körper mit einer schleimig glänzenden Haut oder mit widerlichen Auswüchsen überzogen waren. Einige Gestalten sahen derart absurd aus, daß er seinen Augen kaum trauen mochte. Eins dieser Wesen besaß ein silbergraues Fell, das sich andauernd kräuselte und zu starren Büscheln aufrichtete, während es sich auf etwa drei Dutzend Beinen in wellenförmigen Bewegungen an der Trage vorbeischlängelte. Er erinnerte sich daran, ein Bild von einem dieser Wesen schon einmal irgendwo gesehen zu haben und daß ihr Heimatplanet Kelgia genannt wurde, und allmählich gelang es ihm sogar, aus dieser an ihm vorbeiziehenden Menagerie extraterrestrischer Kreaturen einige weitere ihm nicht ganz unvertraute Gestalten zu identifizieren.

Die große elefantenartige Kreatur mit den vier Tentakeln, sechs Beinen und einem unbeweglichen birnenförmigen Kopf war ein Tralthaner; bei dem länglichen, krabbenähnlichen Wesen mit dem Ektoskelett und dem hübsch gezeichneten Rückenpanzer, das auf sechs dünnen mehrgelenkigen Beinen klickend an ihm vorbeizockelte, handelte es sich um einen Melfaner; der kleine Zweifüßer, der mit seinem gekräuselten roten Fell wie ein als Teddybär verkleideter halbwüchsiger Mensch aussah, stammte vom Planeten Nidia.

Der Nidianer stieß gerade im Vorübergehen sanft mit der Trage zusammen und beschwerte sich augenblicklich laut bellend bei der Schwester, die sich aber offensichtlich nicht weiter darum scherte. Um sich herum nahm Hewlitt fast ausschließlich bellende, grunzende, knurrende, piepsende und pfeifende Geräusche wahr, und dieser entsetzliche Lärm ging ihm gehörig auf die Nerven.

Demnach war der Übersetzungscomputer der Tragbahre lediglich auf seine und die Sprache der Schwester programmiert, und er verabscheute es, wenn er von den Gesprächen in seiner Umgebung nichts mitbekam. Ob er während seines Klinikaufenthalts wohl einen eigenen mehrsprachigen Translator erhalten würde? Höchstwahrscheinlich nicht, denn, sollten sich die Ärzte im Orbit Hospital genauso verhalten wie die, die er auf der Erde kennengelernt hatte, dann würde man auch hier den Patienten nicht alles wissen lassen wollen.

Insbesondere dann nicht, wenn sie sich selbst nicht über alles im klaren waren.

Seine unangenehmen Erinnerungen an viele erfolglose Behandlungen auf der Erde wurden vom Anblick eines großen, zischenden Ungetüms aus Metall abgelenkt, das mit hoher Geschwindigkeit direkt auf sie zusteuerte. Hewlitt fuchtelte wild mit den Armen und brüllte: „Vorsicht, nicht so schnell, Schwester! Weichen Sie doch endlich aus!“

Aber die Hudlarerin tat nichts dergleichen, und das Metallmonster unternahm im letzten Augenblick einen Richtungswechsel und huschte nur wenige Zentimeter an ihnen vorbei, wobei durch die geöffnete Kuppel der Trage hindurch heißer, geruchloser Dampf hereindrang.

„Keine Angst, für uns geht keine Gefahr von diesen Dingern aus. Bei diesem Gerät handelt es sich übrigens um einen fahrbaren Schutzpanzer für TLTUs, die normalerweise überhitzten Dampf atmen und einen viel größeren Druck und eine beträchtlich höhere Schwerkraft als die meisten anderen Wesen benötigen“, klärte ihn die Schwester auf. Dann nahm sie einen ihrer Tentakel vom Steuerpult und zeigte damit den Korridor entlang. „Wie Sie sicherlich schon bemerkt haben werden, teilen sich die Wesen, die Sie hier sehen können, in zwei deutlich unterscheidbare Kategorien auf nämlich in jene, die anderen Platz machen, und in jene, denen Platz gemacht wird. Das liegt an den unterschiedlichen medizinischen Rängen. Die verschiedenen Dienstgrade sind an den Farbmarkierungen auf den Armbinden zu erkennen, die zumeist an den Extremitäten oder an sonstigen vorstehenden Körperteilen getragen werden. Ich gebe Ihnen diese Information schon jetzt, weil Sie auf diese Weise die Dauer der Betriebszugehörigkeit und den Rang der Mitarbeiter bestimmen können, denen Sie während Ihrer Behandlung begegnen werden. Den Unterschied zwischen den Farbmarkierungen, die ich als Lernschwester trage, und denen einer Stationsschwester, eines Pflegers, Assistenzarztes, Chefarztes, Diagnostikers oder eines Mitarbeiters der psychologischen Abteilung werden Sie schon sehr bald selbst erkennen können.

Theoretisch hat das Personalmitglied mit der längeren Dienstzugehörigkeit Vorfahrt“, setzte die Schwester ihre Ausführungen fort. „Dennoch halten es die meisten für ziemlich töricht, sich durch eine strikte Auslegung dieser Regel blaue Flecken oder gar Quetschungen zuzuziehen, und wenn das ihnen entgegenkommende Wesen sehr viel kräftiger gebaut ist als sie selbst, dann gehen sie ihm schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb und ganz unabhängig vom Dienstgrad lieber aus dem Weg. Deshalb weichen mir übrigens auch fast alle anderen aus, obwohl ich nur eine Lernschwester bin. Unabhängig davon hat ein Patient, der wie Sie vermutlich einer dringenden Behandlung bedarf, immer Vorfahrt, und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, welchen Rang die Schwester bekleidet, die für den Transport verantwortlich ist.“

Aufgrund dieser beruhigenden Worte traute sich Hewlitt nun, die Wesen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, anstatt sich andauernd zusammenzukauern und die Augen zu schließen.

Man kann sich an alles gewöhnen, dachte er, doch nur wenige Minuten später war er sich dessen überhaupt nicht mehr so sicher.

„Was… was war denn das für eine eklige Horrorgestalt, die da eben vorbeigekommen ist?“

Die Schwester antwortete nicht. Erst als sie an einer Kreuzung abgebogen waren und sich die Kreatur außer Sichtweite befand, sagte sie: „Dieses Wesen gehört der physiologischen Klassifikation PVSJ an und ist ein illensanischer Chloratmer, der in einer sauerstoffreichen Atmosphäre einen Schutzanzug tragen muß. Die Illensaner haben ein sehr gutes Gehör. Zukünftig sollten Sie lieber daran denken.“

Hewlitt konnte sich nicht daran erinnern, auch nur irgend etwas Ähnliches wie ein Ohr, ein Auge, eine Nase oder einen Mund an dem Wesen entdeckt zu haben. Er hatte lediglich einen stacheligen, membranartigen Körper erkennen können, der in dem gelben Chlor des durchsichtigen Schutzanzugs wie eine wahllose Aufschichtung öliger, giftiger Pflanzen ausgesehen hatte.

„Wie auch immer meine zukünftige Behandlung aussehen wird, solch ein Monster will ich auf keinen Fall in meiner Nähe haben, Schwester!“ stellte er mit Entschiedenheit klar.

Die Sprechmembran der Schwester vibrierte zwar leicht, aber aus dem Translator kam zunächst kein Ton, doch dann sagte sie: „In wenigen Minuten werden wir auf Station sieben eintreffen. Ich nehme an, daß man mir gestatten wird, bei Ihrer Krankenpflege zu assistieren, Patient Hewlitt, und falls ich Ihnen noch auf andere Art behilflich sein kann oder Sie nichtmedizinische Ratschläge oder Informationen benötigen, dann lassen Sie esmicheinfach…“

„Gibt es hier denn gar keine terrestrischen Ärzte und Schwestern?“ unterbrach Hewlitt die Hudlarerin aufgebracht. „Ich will von Angehörigen meiner eigenen Spezies behandelt werden!“

„Zwar gehören zum medizinischen Personal auch viele terrestrische DBDGs, aber wahrscheinlich haben die gar keine Lust, Sie zu behandeln, Patient Hewlitt“, antworte die Schwester.

Für einen Moment war er vor ungläubigem Staunen sprachlos, und erst als die Trage in einen schmaleren und weniger bevölkerten Korridor geschwenkt wurde, beschloß die Schwester, die Frage zu beantworten, dieer vor lauter Wut nicht hatte stellen können.

„Sie vergessen, daß dies ein Krankenhaus für die verschiedensten Lebensformen ist und in der ganzen galaktischen Konföderation als das größte und unbestritten beste Hospital gilt“, klärte sie ihn auf. „Die Leute, die hier eingestellt werden oder auch nur zur Fortbildung im Orbit Hospital sind, werden aus der medizinischen Elite ihrer Heimatplaneten ausgewählt, und sie kommen hierher, um die Heilverfahren und Operationstechniken fremder Spezies zu erlernen und zu praktizieren. Deshalb haben Sie sicherlich Verständnis dafür, daß sich kein Terrestrier Ihres Falls freiwillig annehmen wird, es sei denn, aus medizinischen Gründen wird ausdrücklich etwas anderes angeordnet. Ein terrestrischer DBDG-Arzt hat nun einmal nicht den ganzen Weg hierher ins Orbit Hospital zurückgelegt, nur um einen Angehörigen seiner eigenen Spezies zu behandeln, wenn es davon zig Millionen auf der Erde und auf erdverwandten Planeten gibt.

Ihre terrestrischen Ärzte und Schwestern wollen lieber an den für sie interessanteren Alien-Fällen arbeiten. Auch Sie werden diesen Umstand schon sehr bald zu schätzen wissen, weil einem außerplanetarischen Wesen mehr Sorgfalt und Aufmerksamkeit sowie ein größeres Maß an persönlichem und professionellem Interesse entgegengebracht wird. Wenn ein Arzt einen Patienten seiner eigenen Spezies behandelt, kann es zu gewissen medizinischen Abkürzungsverfahren oder Irrtümern kommen, zumal wichtige Krankheitssymptome durch die Übervertrautheit mit der Physiologie des Patienten übersehen werden können. Zwar treten solche Fälle nur äußerst selten auf, aber wenn ein speziesfremder Arzt die Behandlung durchführt, dann betrachtet er nichts an seinem Patienten als selbstverständlich, und er ist aufgrund der physiologischen Unterschiede zu äußerster Sorgfalt verpflichtet, so daß das Risiko einer Fehldiagnose oder eines ärztlichen Kunstfehlers sehr viel geringer ist. Glauben Sie mir, Sie werden in sehr guten Händen sein… na ja, oder auch in entsprechenden anderen Extremitäten.

Und vergessen Sie eins nicht, Patient Hewlitt“, fügte die Schwester hinzu, während die Trage erneut einen Schwenk vollzog und auf eine breite Tür zusteuerte, „für mich sind Sie ein ganz normaler Terrestrier, in meinen Augen also ein Alien, mit allem, was dazugehört. Wir sind übrigens da.“

Wie Hewlitt sehen konnte, war Station sieben ein großer, hell beleuchteter Raum, etwa fünfmal länger als breit, und zwischen den beiden sich gegenüberstehenden Bettreihen war noch viel freier Platz. Trotz der absurden Formen und Größen der Gestelle und der ebenso merkwürdigen Gerätschaften, die über einigen hingen, war er sich ziemlich sicher, daß es sich dabei um Betten handelte, denn am hinteren Ende des Raums stand eins, das auch für einen Terrestrier geeignet schien. Direkt am Eingang befanden sich zu seiner Linken ein Personalraum und eine Vorrichtung zur Essenszubereitung mit transparenten Wänden, aber seine Trage schwebte viel zu schnell daran vorbei, als daß Hewlitt hätte sehen können, wer dort drinnen gerade arbeitete.

Da diese Kombination aus Personalraum und Küche ziemlich viel Platz beanspruchte, konnten auf der linken Seite nur acht Betten stehen, während sich auf der gegenüberliegenden Seite immerhin zwölf befanden. Um einige Betten herum waren Sichtblenden angebracht, und ob es sich bei dem leisen Krächzen und Bellen fremdartiger Stimmen, das bis zu ihm herüberdrang, um eine ärztliche Konsultation, um ein freundschaftlich geführtes Gespräch oder gar um das Wehklagen eines extraterrestrischen Patienten handelte, konnte Hewlitt ohne einen Translator beim besten Willen nicht sagen.

Doch bevor es ihm gelang, sich danach zu erkundigen, hielt die Trage an, und er wurde sanft in die Luft gehoben und auf einen Stuhl neben seinem zukünftigen Bett gesetzt, das sich ganz hinten rechts im Raum befand.

Die Schwester zeigte der Reihe nach auf die drei Türen in der hinteren Wand, die parallel zu seinem Bett verlief, und sagte: „Die erste Tür führt zu den Entsorgungseinrichtungen für die Exkremente bewegungsfähiger Patienten, die zweite zum Waschraum und die dritte ist für diejenigen Patienten bestimmt, die für die Ausübung dieser Tätigkeiten Hilfe benötigen. Ihr Nachttisch ist fast derselbe wie der den Sie auf der Treevendar hatten, und die wenigen persönlichen Habseligkeiten, die sie mitbringen durften,wird man Ihnen noch heute im Laufe des Tages bringen. Für den Fall, daß Sie Hilfe brauchen, gibt es einen Rufknopf, und falls Sie ihn nicht selbst bedienen können, ist für den Notfall in der Decke eine Überwachungskamera eingebaut, die mit den Monitoren im Personalraum verbunden ist. Ihre Leselampe ist mit einem Richtstrahler ausgestattet, damit Sie andere Patienten während deren Ruhephasen nicht belästigen. Außerdem steht Ihnen ein Kopfhörer und ein kleiner Bildschirm zu Verfügung, auf dem Sie sich die hausinternen Unterhaltungsprogramme ansehen können. Die Sendungen sind allerdings schon vor langer Zeit aufgezeichnet worden, so daß Sie sich die Programme wahrscheinlich gar nicht ansehen wollen, es sei denn, Sie ziehen es vor, ohne Beruhigungsmittel einzuschlafen.

Ihr Bett hat die Nummer zwanzig“, fuhr die Schwester fort. „Damit haben Sie nicht nur die bequemste Position zu den sanitären Einrichtungen, sondern sind auch am weitesten vom Stationseingang und dem Personalraum entfernt. Übrigens herrscht im Orbit Hospital die allgemeine Überzeugung, der, nebenbei bemerkt, von offizieller Seite auch noch nie widersprochen wurde: Je näher ein Patient am Stationseingang liegt, wo der diensthabende Arzt und die Schwestern und Pfleger ihn mit Minimalverzögerung erreichen können, desto ernster ist sein Gesundheitszustand. Dieses Wissen tröstet Sie vielleicht über einiges hinweg.

So, und nun ziehen Sie sich bitte aus, und legen Sie schnell die Krankenhauskleidung an, bevor die Oberschwester kommt, Patient Hewlitt“, forderte die Lernschwester ihn plötzlich auf. „Ich warte vor der Trennwand. Falls Sie Hilfe benötigen, brauchen Sie mir nur Bescheid zu sagen.“

Die Hudlarerin trat mit der Trage beiseite, und aus Vertiefungen in der Decke wurden leise Sichtblenden herabgelassen.

Eine ganze Weile hielt Hewlitt ein unförmiges Kleidungsstück regungslos in den Händen. Es war sauber, weiß und wie all die anderen, die er in seinem Leben hatte tragen müssen: wenigstens zwei Nummern zu klein. Erhatte schlichtweg keine Lust, sich dieses Ding anziehen und damit im Bett liegen zu müssen, und wollte wenigstens ein Gefühl der Unabhängigkeit behalten und mit seiner eigenen Kleidung im Stuhl sitzen. Aber dann erinnerte er sich an die ungeheure Kraft der Schwester und an deren letzte Bemerkung, daß er nur Bescheid zu sagen brauche, falls er Hilfe benötige. Hatte es sich dabei womöglich um eine höflich formulierte Drohung gehandelt, daß er notfalls auch mit Gewalt ausgezogen werden würde, falls er es nicht selbst täte?

Auf keinen Fall wollte er diesem Tentakelmonster die Befriedigung verschaffen oder vielleicht gar das Vergnügen bereiten, einen ihrer ›interessanten‹ Aliens auszuziehen.

Während er artig ins Bett stieg, hörte Hewlitt, wie sich jemand anders näherte, jemand, der beim Gehen ein leises, rutschendes Geräusch verursachte, das nicht einmal im entferntesten an schlurfende Füße erinnerte. Und als dieses Wesen zu sprechen begann, war neben den übersetzten Wörtern im Hintergrund ein unangenehmes Zischen zu hören „Ihre Farbe bröckelt übrigens ab, Lernschwester“, sagte die Stimme. „Geben Sie mir bitte die Krankenakte des Patienten, und erstatten Sie mir kurz Bericht. Anschließend begeben Sie sich umgehend in die für Ihre Spezies zuständige Kantine.“

„Selbstverständlich“, antwortete die Lernschwester gehorsam. „Als der medizinische Offizier der Treevendar, ein Stabsarzt des Monitorkorps namens Turragh-Mar, mir diese Krankenakte übergab, sagte er, daß der Patient auf den ersten Blick völlig gesund wirke und sich sein Zustand nicht verändert habe, wandte aber ein, daß womöglich eine gewisse psychologische Komponente ein Rolle spiele. Der einzige Beweis, der nach meinen Dafürhalten bislang für diese These spricht, ist die ausgeprägt fremdenfeindliche Reaktion, die der Patient während des Transports hierher an den Tag gelegt hat. Wie ich aus unserem vorangegangenen Gespräch entnommen habe, hat der Patient bislang, falls überhaupt, nur sehr beschränkten Kontakt mit Extraterrestriern gehabt. Offenbar fühlte er sich von dem Anblick der Mitarbeiter, die uns in den Korridorenentgegenkamen, belästigt. Ich hatte die Anweisung erhalten, den Patienten während des Transports alles sehen und hören zu lassen, damit er einen ersten Eindruck gewinnen konnte und ihn auf zukünftige nähere Kontakte mit Extraterrestriern vorbereitet würde. Als wir auf der Station ankamen, schien der Patient seine Xenophobie wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu haben, mit Ausnahme einer Spezies, die er noch immer optisch abstoßend findet und… “

„Danke, danke“, unterbrach die andere Stimme die Lernschwester. „Und jetzt gehen Sie sofort in die Kantine, und lassen Sie sich mit Ihrem Nahrungspräparat einsprühen, bevor Sie mir hier noch vor Hunger zusammenbrechen. Ich werde mich ab jetzt selbst um den Patienten kümmern.“

Die Sichtblenden wurden hochgezogen, und noch während sie in der Decke verschwanden, enthüllten sie ein gräßliches Etwas, das am Fußende von Hewlitts Bett stand. Bei dem fruchtlosen Versuch, zwischen sich und dem Ungetüm mehr Abstand zu schaffen, preßte er sich instinktiv mit aller Kraft gegen die Rückenlehne.

„Na, wie geht's uns denn, Patient Hewlitt?“ erkundigte sich das Ungetüm freundlich. „Ich bin übrigens Oberschwester Leethveeschi, und wie Sie sicherlich schon bemerkt haben werden, bin ich eine Illensanerin… “

2. Kapitel

Die dicken, fleischigen, gelbgrünen Blätter in der Chlorhülle zuckten, dann öffneten sie sich und zwei stummelartige Beine kamen zum Vorschein, die von etwas bedeckt waren, das wie ölige Pusteln aussah. Damit bewegte sich das Wesen ein Stück vom Fußende zurück.

„Keine Angst, Patient Hewlitt, ich habe überhaupt nicht vor, mich Ihnen zu nähern, und ich will Sie auch ganz bestimmt nicht anfassen, es sei denn, es ist aufgrund eines medizinischen Notfalls unumgänglich“, beruhigte Leethveeschi ihren neuen Patienten. „Vielleicht hilft es Ihnen ja weiter, wenn Sie einmal darüber nachdenken, welche optische Wirkung Ihr weicher Körper mit seiner rosafarbenen, glatten Haut auf mein ästhetisches Empfinden hat. Also hören Sie bitte auf damit, sich mit dem Rücken durch die Wand drücken zu wollen. Falls es Ihnen hilft, können Sie ja die Augen schließen, während Sie mir zuhören. Erstens, haben Sie in letzter Zeit etwas gegessen? Zweitens, verspüren Sie einen starken Drang, Körperabfälle auszuscheiden?“

„A-also… ich…“, stammelte Hewlitt. Wider Erwarten ließ er die Augen offen und versuchte, die eklige Kreatur feindselig zu fixieren. Doch entdeckte er viel zu viele dunkle, nasse Verdickungen, die sich überall zwischen den öligen Farnwedeln und Membranen zeigten, als daß er hätte sagen können, welche davon Augen waren. „Gegessen habe ich, kurz bevor ich vom Schiff gegangen bin, und auf die Toilette muß ich auch nicht.“

„Dann haben Sie auch keinen Grund, das Bett zu verlassen“, stellte die Oberschwester klar. „Bleiben Sie also bitte liegen, bis Sie von Chefarzt Medalont untersucht worden sind und er ganz offiziell die Erlaubnis erteilt hat, daß Sie sich ohne Pflegepersonal auf der Station bewegen dürfen. Die nächste Mahlzeit wird in gut drei Stunden serviert, die Untersuchung wird noch vorher stattfinden. Es gibt aber überhaupt keinen Grund zur Besorgnis, Patient Hewlitt, denn das Verfahren wird sich überwiegend verbal und ohne körperlichen Kontakt abspielen.Falls man Ihnen gestattet, das Bett zu verlassen“, fuhr Leethveeschi fort, „erhalten Sie einen Translator, der für die Sprachen programmiert ist, die von den Patienten und Mitarbeitern dieser Station gesprochen werden. Anscheinend haben Sie bislang nur selten die Möglichkeit gehabt, mit fremden Spezies in Kontakt zu treten. Nun, hier werden Sie genügend Gelegenheit dazu finden. Sobald Sie die Lust dazu verspüren, sich mit den anderen Patienten zu unterhalten, und solange Sie dadurch nicht die Arbeit des Klinikpersonals behindern, sollten Sie das auch tun. Patienten, die Sichtblenden um ihre Betten haben, werden entweder gerade untersucht, ruhen sich aus oder sind aus anderen Gründen abgeschirmt und dürfen nicht gestört werden. Die meisten werden aber mit Ihnen reden wollen, wenn Sie sich nach Gesellschaft sehnen. Ach, und wegen deren äußeren Erscheinung brauchen Sie sich wirklich keine Sorgen zu machen, schließlich sind hier alle Patienten häßlich, unförmig und optisch abstoßend. Ohne Ausnahme!“

Noch während er die Wörter der Oberschwester vernahm, fragte sich Hewlitt, ob er tatsächlich so etwas wie ein ironisches Grinsen in einigen der dunklen, nassen Blasen entdeckte, die ihn ansehen mochten, doch er tat diesen Gedanken gleich wieder als lächerlich ab.

„Im Bett gegenüber befindet sich Patient Henredth, ein Kelgianer“, unterrichtete ihn Leethveeschi. „Links daneben liegt Patientin Kletilt vom Planeten Melf und direkt neben Ihnen ist ein Ianer namens Makolli, der noch heute auf Ebene siebenundvierzig verlegt wird, so daß Sie wahrscheinlich keine Gelegenheit mehr haben werden, sich mit ihm zu unterhalten. Ich weiß allerdings nicht, wen man uns an seiner Stelle bringen wird. So, dabei wollen wir es erst einmal bewenden lassen, Patient Hewlitt. Bis der Doktor eintrifft, sollten Sie versuchen, sich etwas auszuruhen oder zu schlafen, wenn Sie können.“

Als sich verschiedene Körperteile Leethveeschis kräuselten und krümmten oder sich auf abstoßende Art einrollten, wurde Hewlitt klar, daß die Oberschwester im Begriff war zu gehen. Eigentlich war er erleichtert, daß sich dieses widerliche Ding endlich zurückzog, und um so mehr wunderte er sich, daß er Leethveeschi noch einmal aufhielt, zumal dieFrage, die er stellen wollte, hätte warten können.

„Schwester, ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mich hier mit irgend jemandem zu unterhalten, es sei denn, daß es wegen meiner Behandlung unerläßlich ist. Allerdings gibt es eine Person, mit der ich reden könnte, ohne gleich größeres Unbehagen zu verspüren, und zwar handelt es sich dabei um die Lernschwester, die mich hierhergebracht hat. Ich hätte auch nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie an meiner Behandlung teilnehmen könnte, und ich würde es sogar vorziehen, sie zu rufen, Ms ich mal etwas brauche. Könnten Sie mir bitte ihren Namen verraten?“

„Nein“, antwortete Leethveeschi knapp. „Da sie aber die einzige hudlarische Schwester auf meiner Station ist, werden Sie keine Probleme haben, sie auch so zu identifizieren. Zeigen Sie einfach mit einem Ihrer Greiforgane auf sie und rufen Sie laut › Schwester! ‹“

„Wo ich herkomme, wäre das allerdings der Gipfel schlechter Manieren“, reagierte Hewlitt erstaunlich gefaßt. „Sind Sie eigentlich absichtlich so ungefällig? Sie haben mir doch auch die Namen der in meiner Nähe liegenden Patienten gesagt, warum verraten Sie mir also nicht den Namen der Hudlarerin?“

„Weil ich ihn selbst nicht kenne“, antwortete Leethveeschi.

„Das ist doch lächerlich!“ platzte es aus Hewlitt heraus, als er gegenüber diesem ekelerregenden und offenbar engstirnigen Wesen seine Geduld nicht mehr länger zügeln konnte. „Schließlich sind Sie für die Schwestern auf dieser Station verantwortlich, und jetzt soll ich Ihnen allen Ernstes glauben, daß Sie nicht einmal deren Namen kennen? Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Ach, vergessen Sie's einfach! Sobald ich die Hudlarerin das nächste Mal sehe, werde ich sie einfach selbst nach ihrem Namen fragen.“

„Das hoffe ich nicht, Patient Hewlitt!“ widersprach die Oberschwester heftig. Dann unternahm sie etwas mit ihrem Körper, wodurch sich dieser drehte und bedrohlich nah neben sein Bett geriet.

„Was den Grad Ihrer Dummheit betrifft, Patient Hewlitt, so gebietet es mir meine Höflichkeit, diesbezüglich lieber zu schweigen“, fuhrLeethveeschi fort. „Allerdings besteht die Möglichkeit, daß Sie eher uninformiert als dumm sind, und es ist mir durchaus gestattet, das Niveau Ihrer Unwissenheit zu senken.

Unsere hudlarische Lernschwester trägt an einer Gliedmaße eine Armbinde, auf der man anhand der Farbmarkierungen ihren Dienstgrad und die Personalnummer ablesen kann“, fuhr Leethveeschi fort. „Die Nummer wird normalerweise für Verwaltungszwecke verwendet, ist bei Hudlarern aber auch gleichzeitig das einzige uns bekannte Identitätsmerkmal. Weil andere Spezies die Hudlarer unmöglich auseinanderhalten können, wenn mehrere von ihnen zusammen sind, spricht man sie einfach mit den letzten Ziffern der Personalnummer an. Da die Hudlarer ihren Namen für den intimsten Privatbesitz halten, sollte man ihn auch nicht verwenden. Innerhalb der eigenen Spezies nennt man sich nur im engeren Familienkreis oder mit dem zukünftigen Lebensgefährten beim Namen.

Anscheinend haben Sie an unserer hudlarischen Lernschwester Gefallen gefunden, und das freut mich. Dennoch halte ich es unter den gegebenen Umständen für angebracht, es nicht zu einem Namensaustausch kommen zu lassen.“

Während Leethveeschi zum Personalraum zurückkehrte, gab sie widerliche, unübersetzbare Laute oder Geräusche von sich, die sich zwar anhörten, als stünde sie kurz vor einem Lungenversagen, aber wahrscheinlich handelte es sich dabei nur um illensanisches Gelächter.

Hewlitt war felsenfest davon überzeugt, mittlerweile vor Verlegenheit und Zorn innerlich derart zu glühen, daß die ganze Station dadurch aufgewärmt wurde. Als er sich peinlich berührt ins Bett zurückwarf und in die Linse der Überwachungskamera an der Decke starrte, fragte er sich, ob durch die plötzliche Schamröte in seinem Gesicht jemand auf ihn aufmerksam werden würde oder ob bereits irgendeine andere Horrorgestalt zu ihm unterwegs war, um nach dem Rechten zu sehen.

Anscheinend war das nicht der Fall, denn die nächsten Minuten verstrichen ohne weitere Visiten. Nichtsdestoweniger empfand er lediglich eine Mischung aus Erleichterung und Zorn, und er fragte sich, ob er erst ausdem Bett fallen, sich den Arm brechen oder zu einer sonstigen melodramatischen Geste greifen müßte, um auf sich aufmerksam zu machen. Zwar spürte er keine Verlegenheit mehr, doch war sie lediglich durch die ihm nur allzu gut vertrauten Gefühle hilfloser Wut und Verzweiflung ersetzt worden.

Ich hätte niemals hierherkommen sollen!

Nur zögernd blickte er an den großen und kompliziert aussehenden Bettgestellen entlang, deren Insassen leider nicht alle durch Sichtblenden abgeschirmt wurden. Erst in der Höhe des Personalraums wirkten die Umrisse der Aliens aufgrund der Entfernung etwas weniger furchteinflößend. Natürlich entging ihm auch nicht das leise Bellen, Jaulen und Krächzen der anderen Patienten, die sich anscheinend miteinander unterhielten. Gegenüber Fremden und selbst gegenüber Verwandten, die er lange nicht mehr gesehen hatte, war er schon immer mißtrauisch gewesen, weil sie für ihn normalerweise nichts anderes als eine Veränderung und Unterbrechung seines recht betulichen, gut organisierten, einsamen und einigermaßen glücklichen Lebens darstellten, das er für sich so sorgsam eingerichtet hatte. Und jetzt befand er sich unter Fremden, die fremder waren, als er es sich jemals hätte vorstellen können, und das alles hatte er seiner eigenen Dummheit zu verdanken.

Dabei war ihm von einer ganzen Reihe terrestrischer Ärzte, die mit seiner Krankenakte vertraut waren, abgeraten worden, sich ins Orbit Hospital zu begeben, da er sich dort nicht wohl fühlen würde. Bislang war jedoch keiner von ihnen in der Lage gewesen, etwas gegen seine Krankheit zu unternehmen, außer obligatorisch festzustellen, daß seine Symptome ungewöhnlich vielschichtig und untypisch und die angezeigten Behandlungsmethoden praktisch wirkungslos seien. Einige gingen sogar davon aus, daß seine Probleme an einem hyperaktiven Verstand liegen könnten, der einen unverhältnismäßig großen Einfluß auf den zu ihm gehörigen Körper ausübe.

Als Einzelgänger, zu dem er eher notgedrungen als freiwillig geworden war, trug er die alleinige Verantwortung für sein körperliches Wohlergehen,und dazu gehörte auch, sich vor Unfall-, Krankheits- oder Infektionsgefahren zu schützen. Dennoch war er kein Hypochonder, jedenfalls nicht durch und durch. Er wußte, daß mit ihm ganz ernsthaft etwas nicht stimmte, und beim heutigen Stand der medizinischen Forschung hatte er als Bürger der galaktischen Föderation verlangt, daß ihm von irgendwem irgendwo geholfen wurde.

Auch wenn er sich nicht gern unter Fremden aufhielt, so gefiel ihm genausowenig die Aussicht, für den Rest seines Lebens periodisch unerklärlich krank zu sein, und deshalb hatte er auch auf seinem Recht bestanden. Jetzt fragte er sich allerdings, ob es für ihn nicht besser gewesen wäre, bis zum Rest seines Lebens bequem auf der Erde zu bleiben. Hier bereiteten ihm die Behandlungsmethoden und erst recht die Ärzte, die sie verordneten, bestimmt mehr geistige Qualen als die eigentliche Krankheit selbst.

Mit einem Mal wollte Hewlitt unbedingt wieder zu Hause sein.

Doch unversehens wurde seine Aufmerksamkeit auf den Eingang zum Personalraum gelenkt, aus dem zwei Kreaturen aufgetaucht waren, die nun den Mittelgang entlang direkt auf ihn zusteuerten. Der erste Alien war ein raupenähnliches Wesen mit einem silbergrauen Pelz, das sich auf mehr Beinen wellenförmig über den Boden fortbewegte, als er zählen konnte, und das derselben Spezies wie Patient Henredth im Bett gegenüber angehörte. Dieses kelgianische Wesen wurde von der hudlarischen Lernschwester begleitet, deren lederner Hautpanzer anscheinend neu angestrichen worden war, seit Hewlitt sie das letzte Mal gesehen hatte – und die er aus einem unerfindlichen Grund heraus als seine Schwester zu betrachten begann, möglicherweise weil sie so höflich und ihm einigermaßen vertraut war.

Für einen Moment fragte er sich, ob seine Schwester von anderen Hudlarern für hübsch gehalten wurde, dann richtete er sich im Bett auf und wappnete sich für seine erste ärztliche Untersuchung, die von einer riesigen extraterrestrischen Raupe vorgenommen werden würde. Aber die beiden blieben am Nachbarbett von Patientin Kletilt stehen, verschwanden hinterden Sichtblenden und ignorierten ihn völlig.

Insgesamt konnte er drei verschiedene Stimmen leise miteinander reden hören. Da war einmal das modulierte Jammern, das vom kelgianischen Arzt stammen mußte, dann unregelmäßig schabende und klickende Geräusche, die er noch nie zuvor gehört hatte, die aber eindeutig von der melfanischen Patientin herrührten, und schließlich noch – allerdings seltener häufig, was auf kurze Antworten auf Fragen oder Instruktionen schließen ließ – die vertrauten Laute aus der vibrierenden Sprechmembran der Lernschwester. Keiner der Translatoren war auf die terrestrische Sprache eingestellt, so daß Hewlitt keine Ahnung hatte, worüber sich die drei unterhielten.

Das ärgerte ihn, weil alle paar Minuten der Stoff der Sichtblenden nach außen anschwoll, als ob sich dahinter etwas Großes und Rundes wie die Flanken der Hudlarerin sowie etwas undefinierbares Kleines und Spitzes hin und her bewegte. Trotz der Tatsache, daß es ihn wahrscheinlich entsetzt hätte, wollte Hewlitt unbedingt wissen, was dort vor sich ging.

Auf jeden Fall dauerte es etwa zwanzig Minuten, bis der kelgianische Arzt hinter der Sichtblende hervor wieder auftauchte und sich wellenförmig in Richtung des Personalraums schlängelte, ohne Hewlitt auch nur eines Blickes zu würdigen. Dann hörte er, wie sich die hudlarische Schwester um Kletilts Bett herumbewegte und anscheinend etwas mit oder für die Patientin tat, bis auch sie wieder auftauchte und dem Arzt folgte. Weder winkte Hewlitt nach ihr, noch rief er › Schwester! ‹ wie Leethveeschi es ihm geraten hatte, sondern fuchtelte wild mit den Armen in der Luft, um auf sich aufmerksam zu machen.

Die Schwester blieb stehen, verstellte etwas am Translator und sagte dann: „Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Patient Hewlitt?“

Das ist doch wohl offensichtlich, daß hier was nicht in Ordnung ist! empörte er sich in Gedanken, versuchte aber, höflich zu klingen, als er antwortete: „Ehrlich gesagt, hatte ich erwartet, endlich untersucht zu werden, Schwester. Was wird hier eigentlich gespielt? Dieser kelgianische Arzt hat mich nicht einmal angesehen!“

„Dieser kelgianische Arzt hat die Verlegung der Patientin Kletilt auf eineandere Station vorbereitet“, stellte die Schwester klar. „Und ich habe die Patientin während der Untersuchung einige Male in eine andere Position bringen müssen. Das war übrigens Chefarzt Karthad, der zur Zeit am Orbit Hospital der größte Spezialist für Geburtshilfe und Gynäkologie ist und an Ihrem Fall keinerlei Interesse hat. Sie müssen sich nur noch ein wenig gedulden, dann wird auch der für Sie zuständige Arzt eintreffen, um Sie zu untersuchen, Patient Hewlitt.“

3. Kapitel

Zwar hatte Hewlitt schon etliche Fotos von Melfanern gesehen, und während der Fahrt zur Krankenstation waren ihm auch einige dieser Wesen in voller Lebensgröße in den Korridoren begegnet, aber dieser hier war der erste, der ihm so bedrohlich nahe kam und der zudem keinerlei Regung zeigte. Selbst aus der Nähe betrachtet, sah dieses Wesen immer noch wie eine übergroße Krabbe mit einem Ektoskelett aus, wenngleich ihm dieses Mal die sechs röhrenförmigen Beine, die aus den schmalen Öffnungen ragten, wo sich der knöcherne Panzer und die Körperunterseite miteinander verbanden, kaum auffielen, denn er starrte auf den Kopf mit seinen großen Augen und den senkrecht stehenden Lidern, dem gewaltigen Unterkiefer und den Zangen, die an den Stellen hervorstießen, an denen eigentlich Ohren hätten sein müssen. Die beiden Fühler, die aus den Mundwinkeln herausragten, waren derart lang, dünn und zerbrechlich, daß sie im Vergleich zum restlichen Körper geradezu albern wirkten. Der scheußliche Kopf dieser Kreatur bewegte sich plötzlich auf ihn zu und sprach ihn unweigerlich an: „Na, wie geht's uns denn, Patient Hewlitt?“

Genauso unweigerlich, wenn auch sehr viel knapper, antwortete Hewlitt: „Gut.“

„Sehr schön. Ich bin übrigens Doktor Medalont“, stellte sich ihm der Melfaner vor. „Falls Sie nichts dagegen haben, möchte ich an Ihnen eine Voruntersuchung durchführen und Ihnen ein paar Fragen stellen. Bitte schlagen Sie die Decke zurück, und legen Sie sich auf den Bauch. Die Kleidung können Sie ruhig anbehalten, die Scannerdarstellungen werden dadurch nicht beeinträchtigt. Während der Untersuchung werde ich Ihnen alles erklären.“

Der Scanner war ein flaches rechteckiges Gerät, das Hewlitt von der Form her an ein Buch aus alten Zeiten erinnerte. Wie Medalont ihm erklärte, befanden sich an der Seitenblende die Regler für Vergrößerungseffekte und die Tiefenschärfe, während die mattschwarze Unterseite, die gerade langsam über jeden Zentimeter seines Körpersgeführt wurde, mit Mikrosensoren ausgestattet war, so daß auf der Oberseite des Scanners eine Darstellung der darunterliegenden organischen Strukturen erschien. Ein vergrößertes Scannerbild wurde auf den Bildschirm neben dem Bett übertragen, wahrscheinlich als Information für die Krankenschwester. Hewlitt verrenkte sich fast den Hals, um selbst einmal einen Blick aufsein › Innenleben‹ werfen zu können.

„Hören Sie bitte auf, so herumzuzappeln, Patient Hewlitt!“ ermahnte ihn der Arzt. „So, und jetzt legen Sie sich bitte auf den Rücken. Danke.“

Eine der Zangen des Melfaners griff behutsam nach Hewlitts Handgelenk und bog seinen Arm gerade. Ein Fühler krümmte sich herunter und legte sich senkrecht in die Armbeuge, während ihm der andere wie eine flauschig weiche Feder über Mund und Nase strich, so daß er gegen den plötzlichen Drang zu niesen ankämpfen mußte. Einige Minuten später zog der Arzt Zange und Fühler zurück und richtete sich wieder auf.

„Falls ich mich an die Anatomie und die Herz-Kreislauf-Funktionen der DBDG-Terrestrier richtig erinnere“, begann Medalont und fügte eine Reihe leiser und unübersetzbarer Schnalzlaute hinzu, die womöglich dem verhaltenen Lachen eines Melfaners entsprachen, „dann bin ich geneigt, mit Ihrer Selbstdiagnose übereinzustimmen. Mit Ausnahme einer geringfügigen allgemeinen Muskelverspannung, die in Anbetracht der Umstände verständlich ist, sind Sie in einer sehr guten körperlichen Verfassung.“

Wie Hewlitt befürchtet hatte, hielt ihn also auch dieser Arzt für gesund, und somit endete diese Untersuchung mit demselben Ergebnis wie sämtliche anderen, die an ihm über all die Jahre vorgenommen worden waren. Anfangs war er sogar von einigen Ärzte ausgelacht worden, oder sie hatten ihm vorgeworfen, daß er nur ihre Zeit vergeude. Obwohl dieser Medalont ein Extraterrestrier war, schien er doch einigermaßen höflich zu sein, und nach Hewlitts Erfahrung würde er sich wahrscheinlich gleich Klarheit verschaffen, indem er laut überlegte, was der Patient hier zu suchen haben könnte.

Doch zu seiner Verwunderung sagte der Melfaner: „Ich würde Ihnen nun gern ein paar Fragen stellen, Patient Hewlitt. Dabei handelt es sich umFragen, die Ihnen bestimmt schon oft gestellt worden sind und deren Antworten bereits in der Krankenakte festgehalten wurden. Dennoch besteht die Möglichkeit, daß diese Antworten gerade aufgrund der ständigen Wiederholungen ungenau oder unvollständig geworden sein könnten, und vielleicht gelingt es mir, die von meinen Vorgängern übersehenen Informationen aufzudecken. Abgesehen davon, daß Sie als Säugling und als kleines Kind auf Etla gewesen sind, haben Sie nie Reisen außerhalb der Erdatmosphäre unternommen, richtig?“

„Ja“, antwortete Hewlitt.

„Hatten Sie auf Etla irgendwelchen Kontakt mit anderen Spezies?“

„Ich kann mich zwar daran erinnern, einige Extraterrestrier gesehen zu haben, aber nicht so genau, als daß ich sie jetzt beschreiben könnte. Ich war gerade mal vier Jahre alt und hatte Angst vor ihnen. Meine Eltern haben mir zwar damals gesagt, daß ich meine Abneigung eines Tages ablegen würde, aber jedesmal, wenn wir Besuch von anderen Spezies bekamen, haben sie mich von ihnen ferngehalten. Offensichtlich habe ich diese Angst bis heute nie richtig überwinden können.“

„Nun, es ist noch nicht zu spät dafür“, ermutigte ihn Medalont. „Hatten Sie irgendwelche Kinderkrankheiten? Wenn ja, dann beginnen Sie bitte mit der ersten, an die Sie sich erinnern können.“

„Soweit ich weiß, bin ich nicht oft krank gewesen“, antwortete Hewlitt. „Wie ich später erfuhr, soll ich als Kleinkind ziemlich gesund gewesen sein. Aber als meine Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben kamen, wurde beschlossen, mich zu meinen Großeltern auf die Erde zurückzubringen, wo ich die üblichen Impfungen gegen terrestrische Kinder- und Erwachsenenkrankheiten erhielt. Danach begannen die eigentlichen Probleme. Damals lebten nur sehr wenige Terrestrier auf Etla, und da meine Eltern nicht vorgehabt hatten, zur Erde zurückzukehren, hielten sie es auch nicht für notwendig, mich vorsorglich impfen zu lassen.“

„Kennen Sie denn den wahren Grund dafür?“ hakte der Arzt nach.

„Sicher“, antwortete Hewlitt leicht verdutzt.„Dann sagen Sie ihn mir bitte“, forderte Medalont ihn auf. „Wenn wir uns darüber unterhalten, nimmt Ihnen das vielleicht auch ein wenig von Ihrer Besorgnis, hier von Extraterrestriern umgeben zu sein.“

Hewlitt mochte es nicht, wenn man sich lustig über ihn machte. Weder war er ein kleines Kind, noch ein seniler Greis, und es ärgerte ihn, wenn ein medizinischer Besserwisser ihm unterstellte, daß er geistlos oder, schlimmer noch, ungebildet war. „Wenn Sie niesen, kann ich mich durch ihre melfanischen Bazillen nicht anstecken, und umgekehrt gilt dasselbe, wie sich übrigens alle artfremden Lebensformen hier im Krankenhaus gegenseitig nicht anstecken können. Das hängt mit der Evolution und den Umweltbedingungen zusammen. Krankheitserreger, die sich auf dem Planeten X entwickelt haben, können Wesen, die vom Planeten Y stammen, nicht befallen. Wie es heißt, soll es auf der Erde immer noch einige zumeist sehr alte oder schlecht geführte Krankenhäuser geben, in denen man sich bei anderen Menschen anstecken kann, obwohl man eigentlich darauf hofft, die eigene Krankheit loszuwerden.

Ist das auch der Grund, weshalb es auf dieser Station immer nur jeweils einen Patienten einer Spezies gibt? Soll auf diese Weise das Risiko ausgeschlossen werden, daß sich Patienten derselben Spezies gegenseitig anstecken?“ fragte Hewlitt abschließend.

Doktor Medalont blinzelte so heftig mit den Augen, daß Hewlitt das Klimpern der Lider hören konnte, dann antwortete er: „Offiziell würde man das im Orbit Hospital zwar niemals zugeben, aber darüber hinaus gibt es wirklich noch andere Grunde. Nun, in medizinischer Hinsicht scheinen Sie ja recht gut informiert zu sein, dennoch wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich darüber unterrichten könnten, wann die Symptome Ihrer Krankheit zum ersten Mal aufgetreten sind.“

„Wenn Sie wüßten, wie viele Ärzte in all den Jahren über meinen Fall diskutiert haben, dann würden Sie sich nicht wundern, daß ich einiges davon verstehe“, erwiderte Hewlitt. „Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Als ich damals noch vor meiner Rückkehr zur Erde eine erste Impfung erhielt, wurde mir gesagt, daß mein Körper ausgesprochenheftig reagiert habe. Ich soll unter Fieber, Hautausschlag und Schleimhautentzündung gelitten haben. Diese Symptome müssen allerdings nach ein paar Tagen verschwunden sein, und wie man mir später erzählte, seien sie auch keine typische Reaktion auf die Impfung gewesen. Nachdem ich auf der Erde eingetroffen war, erkrankte ich erneut, wobei andere Symptome auftraten und der Genesungsprozeß immer länger dauerte. Und ich kann mich daran erinnern, daß es mir häufig sehr schlecht ging. Ich wurde oft schlagartig müde, auch wenn ich mich beim Spielen nicht besonders verausgabt hatte, oder mir wurde ohne ersichtlichen Grund übel, und ich mußte mich übergeben oder hatte leichtes Fieber oder bekam einen Ausschlag. Dennoch waren die Krankheiten nicht schwer genug, als daß ich mich an die genauen Einzelheiten erinnern könnte oder daran, wie lange sie anhielten. Meine Großeltern beobachteten mich zwar genau, aber sie waren nie ernsthaft besorgt um mich. Sie brachten mich zu einem Arzt in unserem Ort, der mit ihnen die Meinung teilte, daß ich einfach nur ein kränkliches Kind sei, das sich anscheinend jedes Virus einfing, das gerade im Schwange war.

Trotzdem bin ich kein kränkelndes Kind gewesen, wie man es mir manchmal vorwarf“, erzählte Hewlitt weiter, wobei er sich noch im nachhinein über derlei ungerechtfertigte Anschuldigungen ärgern mußte. „Zwischendurch bin ich sogar immer wieder in die Schulmannschaft berufen worden und hab an Laufwettbewerben teilgenommen, und das … “

„Patient Hewlitt“, unterbrach ihn Medalont. „Soweit Sie es damals einschätzen konnten, standen also die Übelkeit, der leichte Hautausschlag und all die anderen Symptome nicht im direkten Zusammenhang mit irgendwelchen Impfungen, richtig? Könnte es sein, daß diese Erscheinungen durch die Verabreichung anderer Medikamente ausgelöst wurden? Vielleicht durch leichte Palliative gegen Kopfschmerzen oder ein Schmerzmittel, das Ihnen nach einer Sportverletzung verabreicht wurde, und woran Sie sich aufgrund der damaligen Aufregung nicht mehr erinnern können? Oder haben Sie etwas gegessen, das Sie nicht vertragen haben, wie zum Beispiel rohe oder unreife Früchte oder Pflanzen?“„Nein“, widersprach Hewlitt. „Wenn mir damals jemand während eines Spiels in die Knochen getreten oder ich mich sonstwie verletzt hätte, würde ich mich noch heute daran erinnern. Und wenn ich etwas gegessen hätte, wovon mir schlecht geworden wäre, würde ich mich ebenfalls noch daran erinnern und hätte es mit Sicherheit nie wieder angefaßt. Ich bin doch nicht dumm, und das bin ich übrigens auch schon damals nicht gewesen.“

„Das glaube ich Ihnen gern“, besänftigte ihn der Arzt. „Aber bitte erzählen Sie weiter.“

Ungeduldig und leicht verärgert fuhr Hewlitt mit seiner Krankheitsgeschichte fort, die er schon so oft in der Vergangenheit etlichen Medizinern erzählt hatte, von denen die meisten nur halbherzig versucht hatten, beim Zuhören ihre Ungeduld zu verbergen. Er beschrieb den plötzlichen Ausbruch einer Vielzahl von Symptomen, für die es scheinbar keine Ursache gegeben hatte, und obwohl sie ihm lästig und manchmal auch peinlich gewesen waren, war er durch sie doch nie so stark beeinträchtigt worden, daß er durch sie ans Bett gefesselt gewesen wäre. Mit neun Jahren, also fünf Jahre nach seiner Rückkehr zur Erde, war er von seiner Tante zum Hausarzt der Familie gebracht worden. Dieser schon etwas ältere Arzt faßte damals den ersten richtigen - oder vielleicht auch völlig falschen – Beschluß, Hewlitt keine Medikamente mehr zu verabreichen, wann immer diese unerklärlichen und relativ schmerzfreien Symptome bei ihm auftraten. Er vertrat nämlich die Auffassung, daß die Anzahl und die Vielfalt der Symptome im direkten Zusammenhang mit der medikamentösen Behandlung stehen könnten, so daß es am vernünftigsten sei, nichts zu verschreiben und das Ergebnis abzuwarten. Zwar konnte er den Arzt jederzeit aufsuchen, wenn die Symptome wieder auftraten, doch von da an pflegten sie sich lediglich darüber zu unterhalten.

Man hatte ihn sogar zu einem Psychiater geschickt, der ihm über einige Wochen aufmerksam und mit viel Mitgefühl zugehört hatte, um dann seiner Großmutter mitzuteilen, daß Hewlitt ein völlig gesunder, hochintelligenter und sehr phantasievoller Junge sei, der mit Erreichen der Geschlechtsreife seine Probleme überwinden würde.„… später wurde mir klar“, fuhr Hewlitt fort, „daß mich niemand von denen wirklich für krank gehalten hat. Der Psychiater drückte das zwar nicht direkt so aus, aber unser Hausarzt tat das einzig Richtige, indem er gar nichts unternahm. Nach drei Jahren seiner ›Nichtbehandlung‹ traten die Krankheitssymptome nämlich seltener und weniger heftig auf, so daß ich sie niemandem gegenüber mehr erwähnte, es sei denn, ich bekam einen Ausschlag oder etwas Ähnliches auf einem sichtbaren Körperteil. Als ich dann in die Pubertät kam, ging der Ärger allerdings alle paar Wochen wieder von vorn los, und einige der Symptome waren ausgesprochen unangenehm. Dennoch blieb der Hausarzt bei seiner Methode und verabreichte mir keine Medikamente, und später brach die Krankheit auch tatsächlich wieder seltener aus. Von meinem vierzehnten bis zum zwanzigsten Lebensjahr wurde ich nur insgesamt dreimal richtig krank, wenngleich die Symptome und einige der Dinge, die dazwischen geschahen, sehr bedrückend und auch sehr peinlich waren… “

„Jetzt verstehe ich auch, warum in Ihrer Krankenakte davon abgeraten wird, Medikamente zu verschreiben, ohne sich vorher mit Ihnen unterhalten zu haben“, meinte Medalont. „Ihr ehemaliger Hausarzt hat viel gesunden Verstand bewiesen, an dem es einigen von uns jüngeren und übertrieben leidenschaftlich handelnden Medizinern manchmal mangelt, indem er sich dafür entschied, bei solch einer Ungewissen und nicht lebensbedrohlichen Krankheit lieber nichts zu unternehmen. Aber jetzt, wo die Symptome mehr Anlaß zur Besorgnis geben, sollten Sie uns vertrauen, denn wir werden nicht damit fortfahren, einfach weiterhin abzuwarten, sondern dafür sorgen, Sie zuheilen.“

„Das weiß ich“, pflichtete ihm Hewlitt bei. „Soll ich weitererzählen?“

„Später“, schlug der Arzt vor. „Die Hauptmahlzeit ist nämlich gleich fällig, und Leethveeschi schimpft mit mir, wenn ich einen Patienten absichtlich hungern lasse. Lassen Sie uns bitte das weitere Vorgehen besprechen, Schwester.“

Die beiden Wesen streckten eine Zange beziehungsweise einen mit einem Fingerbüschel besetzten Tentakel aus und drückten damit kurz auf ihrejeweiligen Translatoren. Danach war das Gespräch zwischen dem Arzt und der Schwester für Hewlitt nicht mehr zu verstehen. Zwar riß er sich solange wie möglich zusammen, doch nach drei Minuten gewannen Wut und Enttäuschung die Oberhand.

„He, was reden Sie da über mich?“ fuhr er dazwischen. „Sprechen Sie gefälligst so, daß ich Sie verstehen kann, verdammt noch mal! Sie sind genau wie alle anderen. Bestimmt denken Sie auch, daß ich mir das alles nur einbilde und bis auf eine lebhafte Phantasie nichts habe, stimmt's?“

Erneut drückten der Arzt und die Schwester auf die Translatoren, und Medalont antwortete: „Wenn Sie wollen, können Sie uns gern zuhören, Patient Hewlitt. Mit Ausnahme unserer eigenen Verwirrung bezüglich Ihrer Krankheit haben wir nichts vor Ihnen zu verbergen. Ist es Ihnen denn wichtig zu wissen, was andere über Sie denken?“

„Ich habe etwas gegen Leute, die mich für einen Lügner halten oder die meinen, daß mir nichts fehlt“, klärte Hewlitt den Arzt mit etwas ruhigerer Stimme auf.

Medalont schwieg eine Weile, dann antwortete er: „Während der nächsten Tage oder vielleicht auch Wochen werden sich eine Menge fremder Wesen mit Ihnen unterhalten und in der ihnen eigenen fremden Art und Weise über Sie nachdenken, um eine Lösung für Ihr Problem zu finden. Aber eins werden sie mit Sicherheit nicht denken, nämlich daß Sie ein Lügner sind. Wenn Ihnen nichts fehlen würde, dann wären Sie nicht hier.

Es besteht wohl kaum ein Zweifel“, fuhr er fort und richtete die beiden großen, hervorstehenden Augen auf die Schwester, „daß bei dem Problem des Patienten eine psychologische Komponente eine gewisse Rolle spielt. Wenn wir mit der klinischen Arbeit beginnen, werden wir gleichzeitig eine Untersuchung durch die psychologische Abteilung durchführen lassen. In Anbetracht der Tatsache, daß die Symptome ein gewisses Maß an Xenophobie aufweisen, würde einer der Terrestrier, O'Mara oder Braithwaite, am geeignetsten dafür sein… “

„Bei allem Respekt, Doktor, aber O'Mara würde ich für diese Behandlung lieber nicht heranziehen“, wandte die Schwester ein.„Wahrscheinlich haben Sie recht“, pflichtete ihr Medalont bei. „O'Mara gehört zwar zur selben Spezies und ist ein fähiger Psychologe, aber er ist wahrhaftig nicht gerade das einfühlsamste Wesen. Eine etwas weniger aggressive Persönlichkeit wäre sicher besser geeignet. Dann also Lieutenant Braithwaite.

Vorläufig werden wir es dabei belassen, keine Medikamente einzusetzen, mit Ausnahme leichter Beruhigungsmittel, Ms es der Patient wünscht“, fuhr er fort. „Der Patient hat noch nie zuvor ein Zimmer mit Aliens geteilt und benötigt vielleicht ein Schlafmittel. Aber achten Sie unbedingt darauf, ob das Beruhigungsmittel womöglich die Krankheit erneut zum Ausbruch bringt. Die Symptome können nämlich sehr plötzlich und unverhältnismäßig heftig auftreten. Deshalb möchte ich, daß er neben der visuellen Überwachung auch ein eigenes Sensorenmeßgerät bekommt, das er ständig bei sich trägt, so daß die Daten rund um die Uhr auf dem Stationsmonitor kontrolliert werden können. Der Patient kann, wenn er möchte, jederzeit das Bett verlassen und auf der Station herumlaufen, um seine Neugier zu befriedigen oder um sich mit den anderen Patienten zu unterhalten – natürlich nur, solange seine Anwesenheit an einem anderen Bett medizinisch unbedenklich ist. Bezüglich der Ernährung bedarf es keinerlei Einschränkung, aber vorläufig sollte er seine Mahlzeiten lieber allein im oder am Bett zu sich nehmen.“

Doktor Medalont wandte seine Aufmerksamkeit erneut Hewlitt zu und sagte: „Viele der Wesen, die hierherkommen, empfinden nämlich anfangs eine Abneigung, wenn sie anderen Spezies beim Essen zusehen. Es besteht kein Grund, sich deswegen zu schämen. Als ich das erste Mal Kelgianern beim Essen von Glunce-Eintopf zugesehen habe, hat sich mir auch der Magen umgedreht.“

„Keine Sorge“, winkte Hewlitt ab, wobei er versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. „Ich habe sowieso nicht vor, mit einer dieser Kreaturen zusammen zu essen oder mich gar zu unterhalten, weder jetzt noch in Zukunft. Vor allen Dingen dieses … dieses riesige Elefantenmonster, das ich neben dem Personalraum beim Hereinkommen gesehen habe,blickte mich so an, als ob es mich am liebsten auffressen würde.“

„Patient Cossunallen ist ein Pflanzenfresser“, beruhigte ihn Medalont, „also besteht auch diesbezüglich kein Grund zur Besorgnis. Wir empfehlen lediglich, den Kontakt mit anderen Patienten zu suchen, was aber überhaupt keine Verpflichtung sein soll. Jedoch sollten Sie nicht vergessen, daß Sie gegenwärtig ein ungewöhnlich gesunder Patient sind, der, mit Ausnahme eines gelegentlichen Gangs zur Toilette, bestimmt nicht die ganze Zeit im Bett verbringen möchte. Die Langeweile selbst und nicht das Klinikpersonal wird Sie wahrscheinlich zwangsläufig dazu treiben, sich mit den anderen Patienten zu unterhalten.“

Hewlitt gab ein lautes, abwehrendes Geräusch von sich, das, wie er wußte, nicht zu übersetzen war.

„Ich muß jetzt leider gehen“, fuhr Medalont unbeeindruckt fort. „Falls Sie noch Fragen haben sollten, die das Pflegepersonal wider Erwarten nicht beantworten kann, werde ich noch einmal vor der Schlafenszeit nach Ihnen sehen. Für das Mittagessen wünsche ich Ihnen jedenfalls schon jetzt einen guten Appetit.“

Während kurz darauf das leichte Klappern melfanischer Füße und das lautere, aber dumpfer klingende Geräusch hudlarischer Tentakel in der Station verhallten, starrte Hewlitt auf die rings ums Bett heruntergelassenen Sichtblenden und überlegte mit Grauen, welche schrecklichen Sachen man ihm hier wohl zum Essen auftischen würde. Einige Minuten später schob sich die hudlarische Lernschwester durch die Sichtblenden und stellte ein zugedecktes Tablett auf dem Nachttisch ab.

„Bislang haben wir noch keine Informationen über Ihre bevorzugten Speisen erhalten. Deshalb haben wir eine Mahlzeit zusammengestellt, die zumindest von den meisten terrestrischen Mitarbeitern gern gegessen wird“, erzählte sie beiläufig. „Sie besteht aus einer braunen, flachen Scheibe – Steak genannt -, und dazu gibt es verschiedene klumpige vegetabilische Objekte, welche die Terrestrier als Gemüse bezeichnen. Warten Sie bitte noch mit dem Essen, bis ich diese Geräte an Ihrem Körper angebracht habe. Das Meßgerät auf Ihrer Brust wird uns im Personalraum fortwährendüber Ihren Zustand unterrichten, und der Translator, den ich Ihnen um den Hals hängen werde, ist auf die Sprachen programmiert, die von den Patienten dieser Station und vom Klinikpersonal benutzt werden. Auf diese Weise sind Sie stets darüber informiert, was jemand über Sie und alle anderen sagt.

Da ich davon ausgehe, daß Sie sich beim Essen in optischer Zurückgezogenheit wohler fühlen, zumindest bis Sie sich eingelebt haben, habe ich die Sichtblenden nicht hochgezogen. Ich muß jetzt gehen, aber Sie brauchen nur auf die Ruftaste drücken, falls Sie etwas benötigen. Ist sonst alles in Ordnung mit Ihnen, Patient Hewlitt?“

„Ja ja… ahm… danke auch“, stammelte er. „Moment noch, Schwester, ich… ich…“

Verwirrt hielt er inne, denn er hatte keine Ahnung, warum er sich gegenüber dieser monströsen Kreatur so dankbar fühlte, ja sogar das Bedürfnis verspürte, es nicht nur bei ein paar anerkennenden Worten zu belassen. Vielleicht könnte er ihr ja etwas Schmeichelhaftes sagen.

Die Hudlarerin, die sich gerade durch den Spalt zwischen zwei überlappenden Sichtblenden zurückzog und deren Körperfarbe dabei einen großen Farbklecks auf dem Gewebe hinterließ, blieb stehen. „Ja, was ist denn, Patient Hewlitt?“

„Schwester, ich… ich habe wirklich nicht erwartet, daß sich ein Wesen wie Sie so… nun ja … so rücksichtsvoll mir gegenüber verhält“, begann er etwas unbeholfen. „Ich meine, Sie sehen nicht gerade wie jemand aus, der von der Erde stammt und… “

„Also, das hoffe ich doch“, warf die Hudlarerin ein.

„Na ja, ich meine das natürlich nicht so wörtlich“, erwiderte er. „Ich wollte mich bloß bei Ihnen bedanken und… und Ihnen sagen, daß Ihr Körper-Make-up wirklich sehr hübsch aussieht.“

Die Schwester gab einen kurzen unübersetzbaren Laut von sich, dann sagte sie: „Hudlarer benutzen keine Körperfarben oder Make-up, Patient Hewlitt. Das ist mein Mittagessen.“

4. Kapitel

Während der ersten Nacht auf der Station bekam Hewlitt kein Auge zu, und das, obwohl sein Bett sehr bequem, das Licht der Nachttischlampe gedämpft und er völlig übermüdet war.

Auch wenn ihm seine Uhr, die noch immer auf die Bord- anstatt auf die Krankenhauszeit eingestellt war, verriet, daß es für ihn praktisch schon früh am Nachmittag des nächsten Tages war, und er die Augen kaum noch aufhalten konnte, wollten sie nicht zufallen. Es mußte daran liegen, daß er, sei es nun wissentlich oder auch nicht, schreckliche Angst davor hatte, in diesem merkwürdigen Hospital das Bewußtsein zu verlieren.

Etliche Stunden schienen zu vergehen, in denen er wach dalag und den nächtlichen Geräuschen auf der Station lauschte, die trotz der Sichtblenden, die nur geringen Lärmschutz boten, bis zu ihm herüberdrangen. Das ununterbrochene Schnarren des Belüftungssystems, das tagsüber unhörbar gewesen war, schien von Stunde zu Stunde lauter zu werden, und auch das leise Klappern von Füßen oder sonstigen Gliedmaßen der Schwestern, wenn diese sich um die Patienten kümmerten. Gelegentlich konnte er jammernde oder blubbernde Geräusche von Patienten hören, die von Schmerzen hätten herrühren können, doch in Anbetracht der heutzutage verfügbaren Medikamente war es sehr viel wahrscheinlicher, daß es sich dabei um den Klang außerirdischen Schnarchens handelte.

Aus lauter Verzweiflung schaltete er den Bildschirm neben seinem Bett ein. Um die Schwestern nicht zu verärgern, weil er die anderen Patienten störte, benutzte er die Hörmuschel und suchte nach den Unterhaltungsprogrammen. Die meisten waren für Zuschauer fremder Spezies bestimmt, und obwohl der Translator die Dialoge übersetzte, wirkte eine tralthanische oder melfanische Komödie auf ihn eher wie ein Horrorfilm. Als er endlich ein Programm fand, das für terrestrische Zuschauer bestimmt war, empfand er Handlung und Dialog allerdings fast als prähistorisch. Eigentlich hätte er dadurch sofort einschlafen müssen, doch wollte es ihm immer noch nicht gelingen.Schließlich schaltete er zurück, um sich den bizarren Auftritt einer tralthanischen Familie anzusehen, die verworrene Sachen vorführte und dabei banale Dinge erzählte, bis sich plötzlich die Sichtblenden teilten und ein massiver hudlarischer Körper auftauchte.

„Sie sollten lieber schlafen, Patient Hewlitt“, sagte die Lernschwester mit einer solch leisen Stimme, daß er sie kaum verstehen konnte. „Stimmt irgend etwas nicht?“

„Sind Sie noch immer die Schwester, die mich heute hierhergebracht hat oder schon eine andere?“ erkundigte er sich.

„Alle anderen Schwestern, inklusive Leethveeschi, sind bereits abgelöst worden“, antwortete die Hudlarerin. „Meine Spezies kann aber sehr lange ohne Schlaf auskommen, und ich werde die ganze Nacht über Dienst haben. Morgen und übermorgen habe ich frei und werde die Zeit nutzen, einiges für meine Fortbildung zu tun. Sie werden mich also erst in drei Tagen wiedersehen, falls Sie dann noch hiersein sollten. Ihre Körpersensoren zeigen erhöhte Anspannung und Erschöpfung an. Warum schlafen Sie nicht?“

„Ich… ich glaube, ich habe Angst vor dem Einschlafen“, räumte Hewlitt ein und wunderte sich, warum es ihm weniger peinlich war, vor einem Alien eine Schwäche zuzugeben als vor einem Terrestrier. „Wenn ich hier schlafen würde, hätte ich bestimmt entsetzliche Alpträume, und beim Aufwachen wäre dann alles nur noch schlimmer. Ich nehme an, Sie wissen, was Alpträume sind, oder?“

„Und ob“, erklärte die Schwester. Dann hob sie einen Vordertentakel hoch und winkte damit über die Sichtblenden hinweg in Richtung der Station. „Würden sich Ihre Alpträume denn um uns hier drehen?“

Hewlitt antwortete nicht, denn indirekt hatte er diese Frage längst beantwortet und schämte sich mittlerweile dafür.

„Wenn Sie in der Nacht Alpträume von uns haben“, fuhr die Schwester fort, „um dann beim Aufwachen festzustellen, daß diese Alpträume wahr und diese Wesen tatsächlich um sie herum versammelt sind, und zwarentweder als Patienten, die mit Ihnen gemeinsam leiden, oder als medizinisches Personal, das Sie zu heilen versucht, dann ist es doch völlig zwecklos, wenn Sie versuchen wach zu bleiben, oder? Ich meine, allein durch das Wissen, daß wir sowieso hier sind, wenn Sie aufwachen, könnte Ihr Alptraum weniger heftig ausfallen, so daß sich Ihre Gedanken vielleicht um einen angenehmeren Traum drehen werden. Ist das nicht ein vernünftiger Vorschlag, Patient Hewlitt? Wollen Sie es nicht wenigstens mal versuchen?“

Erneut antwortete Hewlitt nicht; dieses Mal versuchte er, die hudlarische Logik zu begreifen.

„Außerdem ist diese melfanische Quizsendung schädlich für die geistige Gesundheit, egal, welcher Spezies der Zuschauer angehört. Möchten Sie sich statt dessen vielleicht lieber mit mir unterhalten?“

„Ja, sicher… ich meine, nein“, stammelte Hewlitt. „Schließlich gibt es hier Patienten, die kranker sind und Ihrer Aufmerksamkeit mehr bedürfen als ich. Mir fehlt ja nichts, zumindest im Moment nicht.“

„Zur Zeit sind alle anderen Patienten ruhig und zufrieden, ihr Zustand ist stabil, und sie werden im Schlaf überwacht“, versicherte ihm die Hudlarerin. „Sie hingegen sind wach, und für eine junge und geistig rege Lernschwester kann der Nachtdienst mitunter ziemlich langweilig sein. Gibt es denn irgendwas, das Sie mir gern erzählen oder mich fragen möchten?“

Neugierig musterte Hewlitt das riesige Monster mit den sechs Tentakeln, der Sprechmembran, die wie eine fleischige Flagge hin- und herflatterte, und der ledernen Haut, die sämtliche Gliedmaßen und den ganzen Körper wie eine nahtlose Rüstung bedeckte, dann sagte er: „Ihre Farbe beginnt wieder abzublättern.“

„Danke für die Warnung, aber es besteht keine Gefahr. Bis zum Schichtwechsel morgen früh reicht das noch“, klärte ihn die Hudlarerin auf.

„Ehrlich gesagt, verstehe ich kaum ein Wort von dem, was Sie sagen“, räumte Hewlitt ein. „Zumindest nicht gut genug, um Fragen stellen zu können.“„Sie haben doch vor ein paar Stunden etwas über die Verwendung von Kosmetika erwähnt, ist das vielleicht der Grund?“ fragte die Schwester. „Wissen Sie, warum Hudlarer ein Nahrungspräparat verwenden?“

Im Grunde interessierten ihn die Angewohnheiten von Extraterrestriern einen feuchten Kehricht. Aber diese Hudlarerin hier wollte sich offenbar unbedingt mit ihm unterhalten, und sei es nur, um sich die Langeweile zu vertreiben. Andererseits könnte sie ihn auf andere Gedanken bringen, wenn er ihr zuhörte. In dem Fall würde er praktisch einem ihm bekannten Monster zuhören, um seine Furcht vor den anderen unbekannten Monstern zu vergessen. Und vielleicht könnte es ihr ja sogar gelingen, ihm ein wenig die Angst zu nehmen.

„Nein, von diesem Nahrungspräparat habe ich noch nie etwas gehört“, gab er deshalb ohne große Umschweife zu. „Warum müssen Sie das nehmen, Schwester?“

Als erstes erfuhr er, daß die Hudlarer keinen Mund besaßen und statt dessen etwas hatten, das sie als Absorptionsorgane bezeichneten. Danach führte eine Frage zur anderen.

Die Hudlarer hatten sich auf einem Planeten mit großer Schwerkraft, hohem Druck und einer überaus dichten Atmosphäre zu einer intelligenten Lebensform entwickelt.

Die unteren Atmosphäreschichten ähnelten einer trüben, dickflüssigen Suppe aus kleinen, lebenden tierischen und pflanzlichen Organismen, die durch Absorptionsorgane aufgenommen wurden, von denen der ganze Rücken überzogen war. Da die Hudlarer einen sehr hohen Energieverbrauch hatten, handelte es sich bei dieser Nahrungsaufnahme um einen kontinuierlichen Vorgang.

„Manchmal konzentrieren wir uns zu sehr auf die Arbeit und vergessen unseren nächsten Einsprühtermin“, setzte die Lernschwester ihre Ausführungen fort. „Wenn das passiert, brechen wir aufgrund der sofort eintretenden Unterernährung auf der Stelle zusammen. In dem Fall müssen wir umgehend von einem Mitarbeiter des medizinischen Stabs oderWartungspersonals oder selbst von einem ambulanten Patienten wie Ihnen wiederbelebt werden. Deshalb sind auf den meisten Korridoren und Stationen Sprühbehälter angebracht, wie der dort hinten neben dem Personalraum. Der Sprühmechanismus ist übrigens sehr leicht zu bedienen, obwohl ich hoffe, daß Sie niemals ein solches Gerät bei mir einsetzen müssen.

Wenn ein Hudlarer mitten auf der Station einen Kollaps erleidet, unterbricht das nämlich den ganzen Klinikablauf, und das Nahrungspräparat hinterläßt fürchterliche Spuren auf dem Fußboden oder auf den in der Nähe stehenden Betten. Oberschwester Leethveeschi würde sich darüber bestimmt unheimlich ärgern, und das wollen wir doch auf jeden Fall vermeiden, nicht wahr?“

„Ja, das wollen wir wirklich unter allen Umständen vermeiden“, pflichtete ihr Hewlitt aus tiefstem Herzen bei, wenngleich er sich eine unheimlich verärgerte Chloratmerin beileibe nicht vorstellen konnte. „Also werden diese Mahlzeiten von außen aufgetragen… ? Das… das ist ja furchtbar. Und ich dachte immer, ich hätte Probleme …“

„Ich bin hier nicht der Patient, sondern Sie, Patient Hewlitt“, korrigierte ihn die Schwester. „Außerdem zeigen Ihre Sensoren einen hohen Erschöpfungszustand an, und es ist sowieso viel zu egoistisch von mir, Sie von Ihrer wohlverdienten Bettruhe abzuhalten. Können Sie denn jetzt schlafen?“

Schon der Gedanke daran, in seinem schwach beleuchteten Bett, das wie ein Floß in einem dunklen, von furchtbaren Alienmonstern bevölkerten Meer trieb, allein gelassen zu werden, ließ die Angst, die er durch die Unterhaltung mit dieser monströsen Ausnahme ein wenig verdrängt hatte, wieder in ihm hochkommen. Hewlitt wollte einfach nicht schlafen, und deshalb verneinte er die Frage indirekt, indem er eine weitere stellte.

„Ich weiß zwar nicht, wie der Metabolismus bei Ihnen vonstatten geht, aber kennt Ihre Spezies denn auch so etwas wie Magenschmerzen? Oder werden Sie überhaupt jemals krank?“

„Eigentlich so gut wie nie“, erwiderte die Schwester. „So, und jetztmüssen Sie versuchen zu schlafen, Patient Hewlitt.“

„Wenn Sie so gut wie nie krank werden“, ließ Hewlitt nicht locker, der das Gespräch unter keinen Umständen versiegen lassen wollte, „wozu brauchen Hudlarer dann Ärzte und Schwestern?“

„Während der frühen Kindheit sind wir für eine ganze Reihe verschiedener Krankheiten sehr anfällig, aber während der Pubertät entwickeln wir eine völlige Immunität dagegen. Dieser Abwehrmechanismus schützt uns bis einige Jahre vor unserem Lebensende, dann tritt eine altersbedingte psychische und physische Degeneration ein. Diagnostiker Conway leitet ein Projekt, um hudlarisches Klinikpersonal darin auszubilden, die mit starken Schmerzen verbundenen Nebenwirkungen zu lindern, was nur durch größere operative Eingriffe möglich ist. Allerdings wird es wohl noch einige Jahre dauern, bis die Arbeit so weit vorangeschritten ist, daß die ältere Bevölkerung davon profitieren kann.“

„Lassen Sie sich deshalb hier ausbilden?“ erkundigte sich Hewlitt. „Ich meine, damit Sie später einmal den gealterten Hudlarern helfen können?“

Die Schwester zeigte keinerlei Reaktionen, die er hätte deuten können, denn sie hatte kein Gesicht, und der Rest ihres glatten und gepanzerten Körpers war so ausdruckslos wie ein aufgeblasener Ballon. Doch als die Hudlarerin antwortete, sprach sie auffällig schnell, was ihm das Gefühl gab, daß sie verlegen war oder sich ihrer Antwort schämen könnte.

„Nein, ich studiere Allgemeinmedizin und Chirurgie fremder Spezies, wobei eine dazu parallel stattfindende Schwesternausbildung übrigens sehr dienlich ist. Innerhalb der galaktischen Föderation sind wir Hudlarer eine einzigartige Spezies. Aufgrund der Beschaffenheit unserer Haut sind wir in der Lage, selbst unter feindseligsten Umweltbedingungen zu leben und zu arbeiten. Wir können fast sämtliche Druckveränderungen überleben, angefangen vom höchsten atmosphärischen Druck bis hin zum Vakuum im All, und wir brauchen keine Atmosphäre, um unsere Nahrung zu absorbieren. Hudlarer sind besonders gefragt, wenn es darum geht, unter Bedingungen zu arbeiten, unter denen andere Spezies durch ihre Schutzanzüge enorm behindert wären, ganz besonders dann, wenn es umBauprojekte im Weltraum geht. Ein hudlarischer Arzt, der aufgrund seiner Ausbildung am Orbit Hospital in der Lage ist, Bauarbeitern vieler verschiedener Spezies medizinische Hilfe zu leisten, ist zum Beispiel vor Ort ein großer Vorteil, zumal er ohne die zeitraubende Notwendigkeit auskommt, sich Schutzkleidung anlegen zu müssen.

Unser Planet ist nie sehr reich gewesen“, fügte sie hinzu. „Wir besitzen kaum Bodenschätze oder Industrieprodukte, mit denen man Handel treiben könnte. Nicht einmal die Landschaft ist schön genug, um Touristen anzuziehen. Auf Hudlar gibt es wirklich nichts, womit außerplanetarische Wesen etwas anfangen könnten, mit Ausnahme der ungeheuer starken und unermüdlich fleißigen Bewohner, die überall arbeiten können und die dafür von den anderen Spezies der Föderation sehr gut bezahlt werden.“

„Und nachdem Sie es hier zu Ruhm und Reichtum gebracht haben, werden Sie sich, nehme ich an, zu Hause niederlassen, eine Familie gründen und Kinder kriegen, richtig?“

Der Lernschwester schien immer noch etwas zu schaffen zu machen. Hewlitt fragte sich, ob sich die Hudlarerin dafür schämte, daß sie ihre Heimat verlassen hatte, um weitab im Weltraum einen gutbezahlten Beruf zu erlernen und sich auf diese Weise davor zu drücken, einen alten und kranken Verwandten zu versorgen. Jedenfalls bereute er es bereits, diese Frage gestellt zu haben.

„Nun ja, ich werde immerhin die Hälfte der Kinder kriegen“, antwortete die Lernschwester schließlich.

„Wie bitte?“ hakte Hewlitt verdutzt nach. „Das verstehe ich nicht.“

„Patient Hewlitt, Sie sind wirklich nicht besonders gut über Hudlarer informiert, oder? Ich bin als weibliches Wesen zur Welt gekommen und habe dieses Geschlecht bis heute nicht abgelegt. Ich beabsichtige, diese weibliche Phase beizubehalten, bis ich mich für eine Paarung entscheide, die bei unserer Spezies übrigens eher dem Zweck der Fortpflanzung als dem Vergnügen dient. Dieser Zeitpunkt ist dann, wenn ich als schwangere Frau aus physiologischer Notwendigkeit heraus den weiteren sexuellen Kontakt zu meinem Lebensgefährten vermeiden muß und deshalb eine männlicheForm annehme, wohingegen mein Partner gleichzeitig langsam eine weibliche Gestalt annimmt. Etwa ein hudlarisches Jahr nach der Entbindung haben die beiden Elternteile eine vollständige Geschlechtsumwandlung vollzogen, und wenn der Nachkömmling weniger Aufmerksamkeit erfordert und die ehemalige Mutter zum Vater werden kann, hat der ehemalige Vater die Möglichkeit, das nächste Kind zu gebären. Dieser Prozeß dauert so lange an, bis die gewünschte Anzahl an Nachkömmlingen erreicht ist. Normalerweise einigt man sich auf eine gerade Zahl, so daß die Geburten gleichmäßig aufgeteilt sind, und bis das Paar sich gemeinsam entschieden hat, wer den Rest des Lebens in weiblicher und wer in männlicher Form verbringt.

Das ist eine sehr einfache, ausgewogene und gefühlsmäßig zufriedenstellende Einrichtung“, fuhr sie fort. „Ich wundere mich nur immer wieder, daß die anderen intelligenten Spezies kein solches Fortpflanzungssystem entwickelt haben.“

„Aha… “ Mehr fiel Hewlitt zu diesem Thema nicht ein.

5. Kapitel

Hewlitt war wach geblieben, oder genauer gesagt: Er hatte mit aller Anstrengung versucht, gegen seine Müdigkeit anzukämpfen, weil er sich von den alptraumhaften und völlig fremden Gestalten, die mit ihm als Patienten oder als Mitarbeiter die Station teilten, regelrecht umzingelt fühlte. Doch nun fragte er sich, ob seine emotionalen Reaktionen durch die völlige Übermüdung abklangen oder ob er sich allmählich entspannte, weil er sich sowieso nichts Absurderes vorstellen konnte als dieses freundliche und ihm mittlerweile gar nicht mehr so fremde Ungetüm mit dem weltraumerprobten Hautpanzer, den bizarren Eßgewohnheiten und regelmäßigen Geschlechtsumwandlungen.

„Es war wirklich sehr nett von Ihnen, sich so lange mit mir zu unterhalten, Schwester“, bedankte er sich. „Ich glaube, ich kann jetzt schlafen.“

„O nein, davon würde ich Ihnen abraten, Patient Hewlitt!“ widersprach die Hudlarerin energisch. „In zwanzig Minuten ist nämlich Schichtwechsel, und das Tagespersonal wird dann alle Patienten wecken, damit sie noch vor dem Austeilen des Frühstücks mit dem Waschen fertig sind. Außer ihnen gibt es hier noch drei weitere gehfähige Patienten auf der Station, und wie ich Sie einschätze, wäre es Ihnen bestimmt lieber, den Waschraum nicht gleich am ersten Morgen mit den anderen teilen zu müssen. Deshalb dürfte es für Sie angenehmer sein, als erster hineinzugehen, damit Sie fertig sind, bevor die anderen kommen.“

„Da haben Sie sicher vollkommen recht“, stimmte ihr Hewlitt ohne zu zögern zu. „Trotzdem bin ich furchtbar müde. Kann ich mich nicht später waschen?“

„Wenn ich an das Unbehagen denke, das die Nähe von Extraterrestriern bei Ihnen auslöst, werde ich Sie lieber nicht in den Waschraum begleiten“, fuhr die Hudlarerin fort, ohne auf Hewlitts Bitte einzugehen. „Ich warte dann draußen vor der Tür, falls Ihr Sensorenmeßgerät, das Sie während des Waschens übrigens nicht abzunehmen brauchen, einen Notfall meldensollte oder Sie Hilfe benötigen, weil Sie mit der Ausstattung nicht zurechtkommen.

Sollten Sie sich geistig und körperlich übermäßig erschöpft fühlen, haben Sie auch die Möglichkeit, ein Dampfbad zu nehmen. Dabei wären Ihnen unsere drei jüngsten Lernschwestern übrigens gern behilflich. Die Melfanerin und die beiden Kelgianerinnen würden sich nämlich sehr freuen, wenn sie endlich einmal die Gelegenheit bekämen, mehr Erfahrung im Umgang mit einem körperlich gesunden Terrestrier wie Ihnen zu sammeln.

Wie ich weiß, freuen sie sich schon besonders darauf, das Abschaben der Fellstoppeln, die über Nacht auf den männlichen DBDG-Gesichtern wachsen, zu erlernen.“

Noch bevor die Hudlarerin den Satz beendet hatte, hatte Hewlitt die Bettdecke zurückgeworfen und die Füße auf den Fußboden geschwungen, wo bereits ein Paar weiche Hausschuhe bereitstand. Dann erhob er sich rasch vom Bett und versicherte der Schwester, daß ihm ihr erster Vorschlag weit besser gefalle.

Die Hudlarerin trat beiseite, um Hewlitt den Weg freizumachen.

Etwa zwanzig Minuten später kletterte er ins Bett zurück. Er fühlte sich frisch und sauber und auch nicht mehr ganz so müde, als die Deckenlichter voll aufgedreht wurden und das Personal der Tagschicht geschäftig auf der Station hin und her eilte. Eine Kelgianerin, die einen kleinen Wagen mit Schüsseln und Handtüchern vor sich herschob, stieß den pelzigen Kopf und die Schultern durch die Sichtblenden. „Guten Morgen, Patient Hewlitt“, begrüßte sie ihn. „Sie sehen sauber aus. Haben Sie sich schon gewaschen?“

„Ja“, antwortete er kurz angebunden, und die Kelgianerin verschwand wieder.

Wenige Minuten später hörte er, wie sich zwei Patienten näherten und auf dem Weg zum Waschraum an seinem Bett vorbeigingen. Einer schien groß und schwer zu sein und auf mehr als vier Füßen zu gehen, während sich der andere mit einem ungleichmäßig tippelnden Geräusch fortbewegte.Daß es sich bei den beiden um Patienten handelte, wurde ihm schnell klar, denn der eine beklagte sich darüber, geweckt worden zu sein, als es ihm gerade gelungen sei, endlich einzuschlafen. Der andere behauptete sogar, daß diese Leethveeschi nach seiner Auffassung illegale Forschungsarbeit auf dem Gebiet des Schlafentzugs betreibe und er nicht nur einer Gehirnwäsche unterzogen worden sei, sondern auch noch immer darauf warte, daß endlich das Croamsteti in seinem Kuldergang ausgetauscht werde. Hewlitts Translator gab den Originalton der Wörter wieder, also existierten vermutlich keine terrestrischen Entsprechungen für diese Ausdrücke. Um welche Wesen es sich bei den beiden auch immer handeln mochte, was den Schlafentzug anging, so stimmte er mit ihnen völlig überein.

Gerade als er sich im Bett zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte, zumal die Geräuschkulisse auf der Station allmählich erträglicher wurde, tauchte erneut die kelgianische Krankenschwester auf und brachte ihm das Frühstück auf einem Tablett. Vielleicht war es auch eine andere Kelgianerin als vorhin, denn bisher konnte er den Unterschied zwischen einer überdimensionalen pelzigen Raupe und einer anderen nicht erkennen, und er bezweifelte arg, daß sich dies jemals ändern würde.

„Setzen Sie sich bitte aufrecht hin, und essen Sie am Nachttisch, Patient Hewlitt“, forderte die Raupe ihn auf. „Wie ich gelernt habe, bekommt Ihre Spezies leicht Verdauungsstörungen mit einhergehendem Brechreiz, wenn die Schwerkraft beim Nahrungsfluß zum Magen nicht unterstützend mitwirken kann. Guten Appetit.“

„Ich möchte jetzt nichts essen, Schwester“, entgegnete er, wobei er sich redlich bemühte, seinen überreizten Zustand zu verbergen. „Ich möchte schlafen. Bitte lassen Sie mich jetzt allein.“

„Nein, erst essen Sie, dann können Sie schlafen“, widersprach die Schwester. „Versuchen Sie wenigstens, etwas davon zu essen, denn sonst ißt Oberschwester Leethveeschi mich auf.“

„Im Ernst? Würde sie das wirklich tun?“ erkundigte sich Hewlitt besorgt, während die alten Ängste wieder in ihm hochkamen und ihn völlig wachwerden ließen. Vielleicht machte die Kelgianerin ja wirklich keine Witze.

„Unsinn, natürlich nicht“, antwortete die Schwester. „Aber auch nur, weil sie eine Chloratmerin ist und mein Körperfleisch für sie reines Gift wäre.“

„Also gut, ich werde es versuchen“, willigte er schließlich ein, obwohl er wußte, daß das Essen im Orbit Hospital genau wie auf dem Schiff fast ausschließlich synthetisch hergestellt wurde. Doch als er den Deckel des Tabletts anhob, um darunter zu gucken, und ihm der Duft in die Nase stieg, wurde ihm bewußt, wie lange er schon nichts mehr gegessen hatte, und er fügte hinzu: „Das sieht wirklich lecker aus und riecht auch sehr gut, Schwester.“

„Optisch ist es mit das widerlichste und ekelerregendste Zeug, das mir je unter die Augen gekommen ist“, merkte die Schwester angewidert an und zog sich eilig durch die Sichtblenden hindurch zurück. „Und riechen tut es sogar noch schlimmer.“

„Könnte es sein, daß es Ihnen ein wenig an Taktgefühl mangelt, Schwester?“ erkundigte sich Hewlitt mit ironischem Unterton, doch die Kelgianerin war bereits verschwunden, und man konnte nur noch das leise Trippeln ihrer vielen Füße hören.

„Was ist eigentlich Taktgefühl?“ erkundigte sich eine Stimme aus dem gegenüberstehenden Bett, die, wie er sich erinnerte, zu einem kelgianischen Patienten namens Henredth gehörte.

Hewlitt antwortete vorsichtshalber erst gar nicht, und er versuchte auch, die nachfolgenden Fragen zu überhören. Als er mit dem Frühstücken fertig war, schlossen sich seine Augen wie von selbst.

Einige Stunden später erwachte er beim Klang leiser Alienstimmen, und als er die rings ums Bett heruntergezogenen Sichtblenden sah, erinnerte er sich, wo er war. Dennoch hatte er längst nicht mehr solch ein beängstigendes Gefühl, wie er es noch am Tag zuvor empfunden hatte, und nachdem er einige Minuten lang die Gespräche per Translator verfolgt hatte, drückte er auf einen Knopf, und die Sichtblenden wurden nach obengezogen.

Als erstes fiel ihm auf, daß, während er geschlafen hatte, sein Bettnachbar, der ianische Patient Makolli, verlegt worden war, denn nun lag ein Orligianer in dem Bett. Diese Spezies erkannte Hewlitt sofort, weil ihr auch der medizinische Offizier von der Treevendar angehörte, wenngleich dieses Wesen ein ganzes Stück älter als Turragh-Mar zu sein schien. Die Körperteile, die nicht unter der Bettdecke steckten – der Kopf, die Arme und die obere Brustpartie also -, waren mit einem rotbraunem Fell bedeckt, das von grauen Strähnen durchzogen war. Genau wie er war auch der Orligianer mit einem Sensorenmeßgerät und einem Translator ausgestattet worden, nahm aber offenbar keine Notiz von ihm. Dennoch war sich Hewlitt nicht sicher, ob der Patient schlief, unter Narkose stand oder einfach nur ungesellig war.

Im Bett schräg gegenüber hatte sich die Patientin Kletilt den Bildschirm offenbar so zurechtgerückt, daß das Gerät eine für sie angenehmere Position zum Sehen einnahm. Ihre Augen wurden von dem Apparat verdeckt, und mit Ausnahme des Programms, das sich die Melfanerin gerade ansah, schien sie an nichts und niemandem interessiert zu sein. Hewlitt hatte gar nicht gewußt, daß man den Bildschirm so über das Bett schwenken konnte, und er nahm sich vor, es später mit seinem Apparat auch einmal auszuprobieren.

Im Bett rechts daneben unterhielten sich gerade der kelgianische Patient Henredth und eine Krankenschwester, die einer Spezies angehörte, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Die beiden sprachen so leise, daß sein Translator das meiste von dem, was sie sagten, nicht übersetzen konnte.

Links von Kletilts Bett erkannte Hewlitt eine riesige, elefantenartige Kreatur, und er erinnerte sich daran, daß es sich dabei um einen Tralthaner handeln mußte. Anstatt in einem Bett zu liegen, stand dieses Wesen auf sechs stämmigen Beinen, umgeben von einem komplizierten Gestell, an dem das Geschirr befestigt war, durch das es aufrecht gehalten wurde. Dazu fiel Hewlitt ein, einmal irgendwo gelesen zu haben, daß Tralthaner sogar im Stehen schliefen und selbst im gesunden Zustand Probleme hatten, wiederauf die Beine zu kommen, wenn sie erst einmal hingefallen waren.

Noch während Hewlitt darüber nachdachte, warum diese Kreatur im Krankenhaus war, sah er Chefarzt Medalont, gefolgt von Oberschwester Leethveeschi, aus dem Personalraum kommen. Sie rutschten beziehungsweise stampften durch den Mittelgang, sprachen dabei mit niemandem und schauten direkt in Hewlitts Richtung, der schon im voraus ahnte, wie die erste Frage des Arztes lauten würde.

„Na, wie geht's uns denn, Patient Hewlitt?“

„Gut“, antwortete er, wie es der Arzt nicht anders vermutet hatte.

„Die seit der Ankunft aufgezeichneten Sensordaten des Patienten Hewlitt stützen dessen Selbsteinschätzung bezüglich seines derzeitigen Zustands“, informierte Leethveeschi den Chefarzt. „Der Patient scheint bei optimaler Gesundheit zu sein.“

„Sehr erfreulich“, meinte Medalont und ließ eine seiner Zangen zusammenklicken; obwohl man diese Geste als Zustimmung hätte werten können, wirkte sie doch ziemlich bedrohlich. „Ich würde heute gern ein weiteres ausführliches Gespräch mit Ihnen führen, Patient Hewlitt, und zwar über Ihre erste Einlieferung in ein terrestrisches Krankenhaus, als Sie … “

„Aber diese Informationen haben Sie doch längst!“ unterbrach ihn Hewlitt. „In meiner Krankenakte steht alles darüber drin, und das sehr viel ausführlicher, als ich mich heute noch daran erinnern könnte. Mir fehlt nichts, zumindest im Augenblick nicht. Sie vergeuden nur Ihre kostbare Zeit, wenn Sie sich mit mir unterhalten. Mit Sicherheit gibt es hier andere Patienten, die Ihrer Aufmerksamkeit im Moment mehr bedürfen als ich.“

„Während Sie geschlafen haben, haben wir uns bereits um die anderen Patienten gekümmert“, mischte sich Leethveeschi in das Gespräch ein. „Jetzt sind Sie an der Reihe. Aber was mich betrifft, so hat Patient Hewlitt nicht ganz unrecht. Ich habe nämlich wirklich weit wichtigere Dinge zu tun, als einer Unterhaltung zweier gesunder Wesen zuzuhören. Brauchen Sie mich hier noch, Doktor?“

„Nein danke, Schwester“, antwortete Medalont und wandte sich dannwieder Hewlitt zu. „Ich vergeude übrigens nicht meine Zeit, wenn ich mich mit Ihnen unterhalte, denn ich hoffe, daß Sie mir heute oder zumindest in den nächsten Tagen etwas sagen werden, das nicht in Ihrer Krankenakte steht, etwas, das mir ermöglicht, dieses medizinische Rätsel zu lösen.“

Die Befragung wurde an der Stelle wiederaufgenommen, wo sie am Vortag geendet hatte, und schien ewig zu dauern. Hewlitt gewann dabei das Gefühl, daß, wenn er die Gesten des knochigen Ektoskeletts richtig hätte deuten könnte, sie höchstwahrscheinlich Enttäuschung ausdrückten. Als die Stimme der Oberschwester aus dem Lautsprecher des Bildschirms neben dem Bett ertönte, waren sie gezwungen, die Unterhaltung zu unterbrechen. Bis dahin hatte er keine Ahnung gehabt, daß das Gerät auch als Kommunikator dienen konnte.

„Doktor, in dreißig Minuten gibt es Mittagessen. Werden Sie bis dahin mit ihrem Patienten fertig sein?“ wollte Leethveeschi wissen.

„Ja, zumindest für heute“, bestätigte Medalont und fuhr, an Hewlitt gewandt, fort: „Übrigens versuche ich, etwas mehr für unsere Patienten zu tun, als sie nur mit Fragen zu Tode zu langweilen. Wir werden eine ganze Reihe Tests durchführen müssen, und das heißt, daß ich Ihnen eine für Laboruntersuchungen notwendige Blutprobe abnehmen muß. Sie brauchen keine Angst zu haben, dieser Vorgang ist völlig schmerzfrei. Bitte machen Sie Ihren Oberarm frei.“

„Sie… Sie haben kein Recht, mir irgend etwas zu geben, das eventuell…“, stammelte Hewlitt.

„Ich weiß, ich weiß“, unterbrach ihn der Arzt, und die klickenden Geräusche seiner Stimme klangen dabei im Hintergrund ungeduldiger als sonst. „Falls Sie sich erinnern, habe ich Ihnen schon gestern versichert, daß Sie keinerlei Medikamente erhalten werden, bevor wir nicht herausgefunden haben, wie ihr Gesundheitszustand ist. Dazu benötige ich allerdings eine ziemlich große Blutprobe. Also, ich nehme Ihnen jetzt lediglich Blut ab, injiziere aber keine Medizin, Patient Hewlitt. Sie werden nichts merken, falls Sie jedoch den Anblick nicht ertragen können, dann schließen Sie einfach die Augen.“Den Anblick seines eigenen Blutes zu ertragen war ihm nie schwergefallen, erst recht nicht, wenn es sich um solch kleine Mengen handelte, die der Arzt bereits als große Probe zu bezeichnen schien. Als die Blutabnahme vorbei war, bedankte sich Medalont bei Hewlitt und sagte ihm, daß er sich beeilen müsse, um noch rechtzeitig an einer Besprechung beim Mittagessen teilnehmen zu können.

Wie es vom Arzt vorhergesagt worden war, hatte Hewlitt tatsächlich nichts gespürt. Es blieb nur eine kleine Einstichstelle in der Armbeuge zurück, wo die Blutprobe entnommen worden war. Er legte sich entspannt im Bett zurück, beschloß aber, bis zum Mittagessen wach zubleiben, indem er die anderen Patienten beobachtete und ihnen zuhörte, sofern sie sich innerhalb des Empfangsbereich seines Translators befanden. Verglichen mit der blinden, fast panischen Angst, die er tags zuvor noch empfunden hatte, war er von der wachsenden Neugier überrascht, die er plötzlich gegenüber seinen Mitpatienten verspürte.

Hewlitt hatte keine Ahnung, wieviel Zeit verstrich, weil er es als zu anstrengend empfand, den Unterarm zu heben, um einen Blick auf die Armbanduhr zu werfen. Eigentlich fühlte er sich ziemlich wohl und genoß den Umstand, keine Schmerzen zu haben. Doch plötzlich legte sich ein dichter Nebelschleier über die Station und versperrte ihm die Sicht auf die anderen Betten. Je undurchdringlicher dieser Nebel wurde, desto leiser wurden auch die Geräusche auf der Station, und dann nahm er nur noch das blinkende rote Licht und den schrillen Piepton wahr, die vom Meßgerät auf seiner Brust ausgingen. Kurz darauf sah er, wie sich Oberschwester Leethveeschi über ihn beugte und in den Kommunikator schrie: „Bett Nummer zwanzig, Klassifikation DBDG-Terrestrier! Seit etwa zwei Minuten Herz- und Atemstillstand. Reanimationsteam, Beeilung!“

Etwas wie eine Säule aus öligem Seegras stieß aus Leethveeschis Körper hervor, drückte dabei in die Schutzhülle der Kreatur einen beulenartigen Auswuchs und plumpste auf Hewlitts Brustkasten. Er fühlte den festen, regelmäßigen Druck einer Herzmassage, und als letztes sah er, wie sich die Oberschwester noch dichter über ihn beugte. Nein, um Himmels willen! Bloß keine Mund-zu-Mund-Beatmung! dachte er verzweifelt. Du bist doch eine Chloratmerin, du blöde…!

6. Kapitel

Der Anblick der Prozession, die sich vom Personalraum aus langsam in Gang setzte, brachte alle anderen Aktivitäten und Unterhaltungen auf der Station zum Stillstand. Angeführt wurde der Zug von Chefarzt Medalont, gefolgt von Oberschwester Leethveeschi, der namenlosen hudlarischen Schwester sowie einem kelgianischen und einem nidianischen Assistenzarzt, die gemeinsam einen mit Schwerkraftneutralisatoren ausgestatteten Schwebewagen lenkten, auf dem sich die Reanimationsausrüstung für sämtliche im Hospital vertretenen Spezies befand. Ein Terrestrier, der die grüne Uniform des Monitorkorps trug, bildete das Schlußlicht. Zwangsläufig mußten sie die ganze Station durchqueren, bevor sie sich in einem Halbkreis um Hewlitts Bett versammelten.

Obwohl er sich nur fünf Stunden zuvor noch in Lebensgefahr befunden hatte, war ihm dadurch weder die Angst vor der Anwesenheit von Extraterrestriern genommen worden, noch hatte es etwas an seiner negativen Grundeinstellung ihnen gegenüber geändert.

„Und was, zum Teufel, haben Sie dieses Mal mit mir vor?“ wollte er von Medalont wissen.

„Nichts Besonderes“, antwortete der Chefarzt mit einer Stimme, die auf einen anderen Melfaner möglicherweise hätte beruhigend wirken können. „Keine Sorge, ich will Ihnen nur noch einmal etwas Blut abnehmen. Bitte machen Sie dazu den Oberarm frei.“

Der kelgianische Assistenzarzt blickte seinen nidianischen Kollegen an, wobei sich sein silbriges Fell zu Stacheln aufrichtete. Dann zog er den Reanimationswagen näher heran und fügte hinzu: „Wenn Sie uns nichts tun, Patient Hewlitt, dann werden wir Ihnen auch nichts tun.“

Aufgrund der wenigen und sehr kurzen Gespräche mit dem kelgianischen Patienten aus dem Bett gegenüber wußte Hewlitt, daß die Angehörigen dieser Spezies außerstande waren zu lügen. Durch die ständigen sowohl unterschwelligen als auch ausdrucksstarken Bewegungen des silberfarbenenFells drückten die Kelgianer unwillkürlich ihre Gefühle und Gedanken aus, so daß ein Artgenosse stets wußte, was der andere von ihm hielt. Es handelte sich um eine Art visueller Telepathie, und deshalb kannte und verstand diese Spezies nicht einmal die Bedeutung des Wortes Lüge. Dieselben Probleme hatten sie mit Begriffen wie Takt, Höflichkeit und Diplomatie oder mit dem rücksichtsvollen Verhalten gegenüber Patienten.

Erneut spürte Hewlitt, wie der kleine Metallring gegen seine Haut gedrückt wurde.

„Das Instrument, mit dem ich Ihren Arm gerade berühre, hat eine vertieft sitzende, sehr feine und kurze Nadel, deren Einstich Sie nicht spüren werden, und eine zweite Nadel, die länger und etwas dicker ist“, informierte ihn Medalont. „Mit der ersten injiziere ich Ihnen ein lokales Betäubungsmittel, das die unteren Nervenstränge desensibilisiert, und mit der zweiten entnehme ich Ihnen das Blut. Sehen Sie? Das war's schon. Danke sehr, Patient Hewlitt. Wie fühlen Sie sich?“

„Gut“, antwortete Hewlitt. „Wie sollte ich mich denn Ihrer Ansicht nach fühlen?“

Medalont ignorierte die Frage und sagte: „Spüren Sie irgendwelche Veränderungen, auch wenn es sich dabei nur um sehr leichte handelt?“

„Nein“, antwortete Hewlitt.

„Merken Sie irgendeinen unangenehmen Druck in der Brust oder vielleicht in den Armen? Haben Sie Atembeschwerden? Spüren Sie ein Kribbeln oder einen Gefühlsverlust in den Gliedmaßen? Haben Sie Kopfschmerzen?“

„Nein, nichts dergleichen“, sagte Hewlitt. „Die Stelle, an der Sie das Blut abgenommen haben, fühlt sich nur etwas taub an. So, wie beim letzten Mal.“

„Falls die von mir eben genannten Symptome auch nur ansatzweise auftreten, könnten sie bereits eine Vorwarnung sein“, klärte ihn Medalont auf. „Sie können sogar derart schwach auftreten, daß Sie eher das Gefühl hätten, sich alles nur einzubilden.“„Soweit ich weiß, habe ich derzeit keine schwachen Symptome und erst recht keine eingebildeten“, meinte Hewlitt, wobei es ihm nur mit Mühe gelang, seine Wut zu unterdrücken.

Der Terrestrier in der grünen Uniform grinste kurz, besann sich aber wieder schnell darauf, lieber nichts zu sagen und keine Regung zu zeigen.

„Haben Sie irgendwelche psychischen Probleme?“ hakte Medalont nach. „Sorgen oder Ängste vielleicht, die ab einem gewissen Punkt durchaus physischen Stress verursachen können. Nun, ich merke zwar, daß ich mich gerade auf Lieutenant Braithwaites Territorium begebe, aber … “

„Das tun Sie allerdings“, fuhr der uniformierte Mann dazwischen, der sich nun zum ersten Mal zu Wort meldete. „Aber nur zu, schließlich machen das alle hier.“

Bevor der Chefarzt antworten konnte, sagte Hewlitt: „Wenn Sie damit meinen, ob ich mir Sorgen mache, dann kann ich Ihnen versichern, daß ich mir sogar große Sorgen mache. Ich hatte noch nie einen Herzanfall gehabt, bevor ich hier ins Orbit Hospital gebracht wurde. Trotzdem glaube ich nicht, daß es mir so schlecht geht, um vor lauter Angst einen zweiten zu erleiden.“

„Hatten Sie denn Angstzustände, bevor Sie den ersten bekommen haben?“ erkundigte sich Medalont.

„Nein, ich war nur etwas übermüdet, ansonsten aber völlig entspannt“, erwiderte Hewlitt. „Im Moment sitzt mir allerdings der Schrecken immer noch in den Gliedern.“

„Wir werden es nicht zulassen, daß Ihnen so etwas noch einmal zustößt“, sprach ihm Medalont Mut zu. „Sie brauchen sich also wirklich keine Sorgen zu machen.“

Plötzlich trat ein Schweigen ein, das eine Ewigkeit zu dauern schien. Leethveeschis Körper pulsierte langsam in der Chlorhülle, die Sprechmembran der Hudlarerin blieb still, das Fell des Kelgianers machte wellenartige Bewegungen, als ob ein heftiger Wind wehen würde, während sein nidianischer Kollege die Gerätschaften auf dem Schwebewagenkontrollierte und sich Medalonts Zangen wie ein leises organisches Metronom regelmäßig öffneten und wieder schlossen. Der Chefarzt unterbrach als erster die Stille.

„Oberschwester Leethveeschi, bitte sagen Sie mir noch einmal, wieviel Zeit schätzungsweise von der ersten Blutabnahme, die ich durchgeführt habe, bis zur Auslösung des Alarms verstrichen ist, und wann der nachfolgende Anfall eintrat.“

„Aus Rücksicht auf die Gefühle des Patienten, der etwas von

medizinischer Nomenklatur zu verstehen scheint, würde ich es für

angebrachter halten, wenn wir ihm diese Informationen vorenthalten“, schlug Leethveeschi vor.

„Und ich hoffe, daß der Patient durch genaue Aufklärung vielleicht in der Lage sein wird, selbst etwas Licht in das Dunkel seines Zustands zu bringen“, widersprach Medalont entschieden. „Fahren Sie also fort, Oberschwester.“

„Ungefähr zwölfeinhalb Minuten nachdem Sie dem Patienten Blut abgenommen haben und gegangen sind“, begann Leethveeschi in einem Ton, der so ätzend wie das Chlor war, das sie einatmete, „lösten die Sensordaten des Patienten den Alarm aus. Bereits zehn Sekunden später gab er keinerlei Lebenszeichen mehr von sich, und die sensorische Reaktion sowie die Gehirntätigkeit standen unverkennbar kurz vor dem Stillstand. Da sich das Pflegepersonal außerhalb der Station befand und voll und ganz mit den Vorbereitungen für die Essensausteilung beschäftigt war, entschied ich mich, die anderen nicht zu informieren, um keine Zeit zu verlieren. In Anbetracht des bis zu diesem Zeitpunkt stabilen Gesundheitszustands des Patienten, hatte ich eher eine Fehlfunktion der Überwachungsgeräte als einen Herzstillstand erwartet. Als ich beim Patienten ankam, habe ich sofort eine Herzmassage eingeleitet. Vierzig Sekunden später verlor er das Bewußtsein und blieb in diesem Zustand, bis der Rettungstrupp sechs Minuten und fünfzehn Sekunden später eintraf.“

„Sind Sie sich dessen wirklich sicher, Schwester?“ stutzte Medalont. „Oder könnte es sein, daß Sie aufgrund subjektiver Faktoren in derAufregung ein wenig übertrieben haben? Ich meine, haben die wirklich sechs Minuten gebraucht? Keine gute Reaktionszeit.“

„Patient Hewlitt zeigte ebenfalls keine Reaktion“, fuhr Leethveeschi fort, „und ich habe die ganze Zeit auf die Uhr gesehen, während ich versuchte, ihn wiederzubeleben. Die Stationsuhr neigt eigentlich selten zu Übertreibungen.“

„Die Oberschwester hat recht und Sie auch, Doktor“, meldete sich der nidianische Assistenzarzt zu Wort, wobei er seinem Kollegen einen kurzen Seitenblick zuwarf. „Normalerweise müßte man das als eine unentschuldbar langsame Reaktionszeit ansehen, aber wir hatten unterwegs einen Unfall. Wir sind beim Eintreffen auf der Station mit einem Essenswagen zusammengestoßen, dessen Bedienungspersonal zwar sofort auswich, als es unsere Blinklichter sah, aber den Essenswagen einfach mitten im Weg stehen ließ. Zwar gab es keine Verletzten, aber das ganze Essen flog durch die Station und verteilte sich überall auf den in der Nähe stehenden Betten… “

„Patient Hewlitt hat sich einen ungelegenen Zeitpunkt für den Herzstillstand ausgesucht“, warf der kelgianische Assistenzarzt ein.

„… und uns gingen einige Minuten verloren, weil wir überprüfen mußten, ob die Geräte keinen Schaden genommen hatten“, fuhr der nidianische Arzt fort. „Ein Stromstoß, der das Herz eines Tralthaners wieder in Gang setzt, würde das eines Terrestriers zum Kochen bringen…“

„Jaja, ist ja gut“, winkte Medalont ungeduldig ab. „Jedenfalls haben Sie nach gut sechs Minuten den Patienten wiederbelebt. Haben Sie irgendwelche Anzeichen geistiger oder sprachlicher Verwirrung beim Patienten beobachtet, als er das Bewußtsein wiedererlangte?“

„Nein, nichts dergleichen“, antwortete der Nidianer. „Wir haben den Patienten gar nicht reanimiert, das muß Oberschwester Leethveeschi getan haben, noch bevor wir die Schläuche anschließen konnten. Der Patient schien in keiner Weise verwirrt zu sein. Als erstes forderte er die Oberschwester auf, sie solle damit aufhören, ihm auf den Brustkorb zu drücken, oder sie würde ihm noch die Rippen brechen. Seine Wortwahlwar ausgesprochen schlüssig, wohldurchdacht und klar und deutlich, wenn auch nicht besonders respektvoll.“

„Sie müssen schon entschuldigen, aber ich war die ganze Zeit davon ausgegangen, der Patient wäre durch Ihre Geräte zurückgeholt worden“, merkte Medalont an. „Sehr gute Arbeit, Oberschwester Leethveeschi. Ich hoffe nur, der Patient hat sich Ihnen gegenüber nicht zu respektlos verhalten.“

„Ach, ich habe schon weit Schlimmeres über mich ergehen lassen müssen“, erwiderte Leethveeschi ruhig. „Außerdem habe ich mich durch seine Reaktion eher erleichtert als beleidigt gefühlt.“

„Das kann ich gut verstehen“, pflichtete ihr der Chefarzt bei und bat dann den Nidianer, mit dem Bericht fortzufahren.

„Als klar war, daß Patient Hewlitt wieder bei vollem Bewußtsein war, haben wir ihm gemeinsam mit Oberschwester Leethveeschi gezielt ein paar Fragen gestellt, um herauszufinden, ob seine Gehirntätigkeit in Mitleidenschaft gezogen worden war. Wie Sie wissen, waren wir immer noch dabei, als Sie auf die Station zurückgekehrt sind, um ihm noch mehr dieser Fragen zu stellen. Den Rest kennen Sie ja.“

Medalont überlegte eine Weile, dann sagte er: „Und selbst nach dieser zweistündigen Befragung waren weder Gedächtnis- oder Redefunktionsstörungen noch physische Koordinationsschwierigkeiten festzustellen, und Patient Hewlitts Sensorenmeßgerät zeigte optimale Werte für sämtliche Körperfunktionen an, genauso wie in diesem Augenblick.“

„Aber jetzt sind wir schon viereinhalb Minuten über der Zeit, die zwischen der ersten Blutabnahme und dem Einsetzen des Herzstillstandes lag“, stellte Leethveeschi mit einer ebenso feucht plätschernden wie schlaffen Geste in Richtung der Stationsuhr fest.

Während der regen Unterhaltung des medizinischen Personals hatte Hewlitt die ganze Zeit darüber nachzudenken versucht, wie er sich bei der Oberschwester zum einen entschuldigen und zum anderen dafür bedanken könnte, daß sie ihm das Leben gerettet hatte, aber durch das, was dieseabscheuliche Kreatur gerade von sich gegeben hatte, waren sämtliche Gefühle der Dankbarkeit bei ihm wie weggeblasen.

„Was wird hier eigentlich gespielt?“ platzte er heraus. „Stehen Sie hier alle bloß dumm herum, und warten Sie darauf, daß ich noch so einen verfluchten Herzanfall kriege? Oder sind Sie sogar enttäuscht, daß noch nichts in dieser Richtung passiert ist?“

Einen Augenblick lang herrschte absolute Stille, und mit Ausnahme der hudlarischen Schwester, die einen Tentakel auf Hewlitt zubewegte, ihn aber gleich darauf wieder zurückzog, rührte sich auch nichts.

„Wir sind alles andere als enttäuscht, Patient Hewlitt“, versicherte ihm schließlich Medalont und fügte einschränkend hinzu: „Wenngleich Ihre Einschätzung der Situation völlig korrekt ist. Der Herzstillstand muß durch etwas ausgelöst worden sein, und es besteht durchaus die Möglichkeit, wenn auch zugegebenermaßen nur eine sehr geringe, daß die von mir vorgenommene Blutentnahme dafür verantwortlich war. Obwohl Sie eigentlich keine Medikamente erhalten sollten, habe ich nicht daran gedacht, daß vor der Blutentnahme eine winzige Menge des Lokalanästhetikums routinemäßig injiziert wird, damit der Eingriff schmerzfrei erfolgt. Die genauen Zeitabläufe und äußeren Umstände haben wir mittlerweile nachvollzogen, bisher jedoch ohne Ergebnis, und das bedeutet, daß wir woanders nach der Ursache suchen müssen. Es sei denn… Sie bekommen übrigens wieder etwas mehr Farbe im Gesicht, Patient Hewlitt. Wie fühlen Sie sich jetzt?“

Wie ich mich fühle? Am liebsten würde ich dich auf der Stelle erwürgen, du Pfeife! fluchte Hewlitt in Gedanken und sagte dann laut: „Gut, Doktor.“

„Das bestätigen auch die Meßdaten“, merkte Leethveeschi an.

„In dem Fall sorgen Sie bitte dafür, daß die Überwachung durch das Sensorenmeßgerät aufrechterhalten wird und daß sich das Reanimationsteam in Reichweite aufhält, damit es innerhalb von zwei Minuten reagieren kann“, ordnete Medalont an, wobei er einen nach dem anderen ansah. „Und kümmern Sie sich darum, daß sich der Patient ersteinmal sammelt, bevor er die nächste Mahlzeit zu sich nimmt. Haben Sie keine Angst, Patient Hewlitt, was immer Ihnen auch fehlt, wir werden es herausfinden und dafür sorgen, daß Sie wieder gesund werden. Aber jetzt lassen wir Sie erst einmal allein.“

„Nicht ganz allein“, widersprach Braithwaite. „Ich würde nämlich gern mit dem Patienten noch ein paar Worte wechseln.“

„Wie Sie wünschen, Lieutenant“, willigte der Chefarzt ein, bevor er und die beiden Assistenzärzte sich zurückzogen. Leethveeschi und die hudlarische Schwester verweilten noch am Bett.

„Sie sollten sich davor hüten, etwas zu unternehmen, was unseren Patienten beunruhigen könnte!“ ermahnte die Illensanerin Lieutenant Braithwaite in dem typisch autoritären Ton einer Oberschwester. „Und Sie sollten auch nichts fragen oder sagen, was möglicherweise einen weiteren Notfall auslösen könnte.“

Lieutenant Braithwaite blickte abwechselnd die erboste Chloratmerin und die klotzige, extrem kräftige Gestalt der Hudlarerin an und entgegnete dann lächelnd: „Ich kann Ihnen beiden versichern, daß ich das niemals wagen würde.“

Als sie allein waren, setzte er sich auf die Bettkante. „Mein Name ist Braithwaite, und ich bin von der Abteilung für ET-Psychologie“, stellte er sich Hewlitt vor. „Für mich ist es eine nette Abwechslung, mal mit jemandem reden zu dürfen, der die normale Anzahl an Gliedmaßen und sonstigen Organen hat.“

Hewlitt hatte immer noch das Gefühl, als würde er am liebsten jemanden erwürgen oder wenigstens verbal angreifen, aber dieser Typ hatte nichts gesagt oder getan, was ihn zu einem geeigneten Kandidaten seiner Rachegelüste gemacht hätte. Noch nicht. Deshalb ignorierte er den Psychologen einfach und ließ seinen Blick über die Station in Richtung des Personalraums schweifen, bis er auf Leethveeschis Gestalt haftenblieb.

„Woran denken Sie gerade?“ erkundigte sich Braithwaite, als die Stille unangenehm zu werden begann, und fügte gleich darauf lächelnd hinzu: „Istdas die Art Frage, die Sie von mir erwartet haben?“

„Im Gegensatz zu den anderen haben Sie mich nicht mit Patient Hewlitt angesprochen“, antwortete Hewlitt und blickte den Psychologen mißtrauisch an. „Haben Sie das bewußt gemacht, oder weil Sie nicht glauben, daß mir etwas fehlt und ich deshalb kein richtiger Patient bin? Oder haben Sie meinen Namen vergessen?“

„Sie müssen mich auch nicht Lieutenant oder Braithwaite nennen“, antwortete der Psychologe, und erneut trat Schweigen ein.

„Also gut, ich werde Ihre Frage beantworten“, gab sich Hewlitt schließlich geschlagen. „Ich denke an diese grauenhafte Oberschwester und überlege, wie ich mich bei ihr dafür entschuldigen kann, daß ich sie falsch eingeschätzt habe, und wie ich mich bedanken kann, daß sie mir das Leben gerettet hat.“

Braithwaite nickte. „Ich würde sagen, daß Sie bereits die richtigen Worte gefunden haben, und alles, was sie tun sollten, ist, es Leethveeschi genauso zu erzählen, wie Sie es eben mir erzählt haben.“

Aus irgendeinem Grund fiel es Hewlitt schwer, seine Wut diesem Mann gegenüber aufrechtzuerhalten. „Sie sind hier, um mir klarzumachen oder mich davon zu überzeugen, daß meine ganzen Probleme rein psychischer Natur sind. Das ist mir schon oft passiert. Von frühester Jugend an hat man versucht, mir diesen Unsinn einzureden. Also lassen Sie uns keine Zeit mehr damit vergeuden, uns gegenseitig Nettigkeiten an den Kopf zu werfen.“

„Das habe ich auch überhaupt nicht vor“, widersprach Braithwaite, wobei er auf der Bettkante das Gewicht verlagerte und so eng heranrückte, daß er sich mit einem Arm über Hewlitts Oberschenkel hinweg abstützen mußte. „Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich hier sitze? Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich mich wieder zurücksetze oder aufstehe?“

„Ich fürchte mich nur vor Extraterrestriern, wenn sie mir zu nahe kommen“, antwortete Hewlitt. „Passen Sie nur auf, daß Sie sich nicht auf meine Beine setzen.“

Braithwaite nickte. Hewlitts Anwort auf die höfliche und scheinbarunschuldige Frage machte deutlich, daß ihn die Nähe eines Terrestriers nicht ängstigte. Diese Tatsache war für die psychologische Arbeit sehr nützlich, weil dadurch ein möglicher Problembereich bereits ausgeschlossen wurde. Durch jahrelange Erfahrung wußte Hewlitt, was der Lieutenant vorhatte, und der wiederum war wahrscheinlich intelligent genug, um zu wissen, daß er von seinem Patienten durchschaut wurde.

„Wir beide wissen, daß Ihr Fall kompliziert ist“, fuhr Braithwaite fort und schielte dabei auf Hewlitts Sensorenmeßgerät. „Sie machen den Eindruck, völlig gesund zu sein, obwohl Sie unter einer periodisch auftretenden und unerklärlichen Krankheit leiden, die sogar, sollte der Herzstillstand ein Symptom sein, lebensgefährlich ist. Wir wissen auch, daß sich eine ernste körperliche Erkrankung entsprechend auf die Psyche auswirken kann und umgekehrt, selbst wenn zunächst einmal keine offensichtliche Verbindung erkennbar ist. Ich möchte gern diese Verbindung finden und identifizieren, falls es überhaupt eine gibt.“

Braithwaite wartete, bis Hewlitt schließlich argwöhnisch nickte, bevor er weitererzählte: „Normalerweise wird jemand in dieses Krankenhaus eingeliefert, weil er, sie oder es krank oder verletzt ist. Das Problem und die klinische Behandlung stehen zumeist von Anfang an fest, und die hier beschäftigten Ärzte können die Einrichtungen des führenden Krankenhauses der Föderation nutzen, um die Patienten zu behandeln und sie in den meisten Fällen wieder gesund nach Hause zu schicken. Wenn dem Problem allerdings eine psychologische Komponente zugrunde liegt, dann muß man eben… “

„… darüber reden“, beendete Hewlitt den Satz.

„Richtig, wobei es mir als Psychologen allerdings besser zu Gesicht steht, wenn ich zuhöre“, schränkte Braithwaite ein. „Deshalb hoffe ich auch, daß Sie gleich das Reden übernehmen. Sie sollten damit beginnen, alle ungewöhnlichen Begebenheiten oder Umstände zu beschreiben, an die Sie sich erinnern können, bevor die ersten Beschwerden auftraten. Erzählen Sie mir, wie Sie als Kind damals über Ihre Situation gedacht haben, und nicht, wie sich Ihre Ärzte und Angehörigen später darüber geäußert haben. Also,nur zu, Sie erzählen, und ich höre zu.“

„Sie wollen, daß ich Ihnen alles über den Zeitraum berichte, in dem ich nicht krank war?“ hakte Hewlitt nach. Dann deutete er mit einem Nicken in Richtung der Küche, aus der die mit Essenstabletts beladenen Servierwagen auftauchten, und fügte hinzu: „Dafür haben wir leider keine Zeit mehr… es gibt jetzt nämlich Mittagessen.“

Braithwaite seufzte. „Ich möchte dieses Gespräch so schnell wie möglich mit Ihnen zu Ende führen, falls Medalont, der für Sie verantwortlich ist, nichts dagegen hat. Würden Sie mir einen Gefallen tun und für mich ein Essen mit bestellen? Nichts Spezielles, mir reicht es völlig, wenn ich das kriege, was man Ihnen bringt.“

„Aber Sie sind doch kein Patient“, entgegnete Hewlitt verdutzt. „Gestern habe ich zum Beispiel gehört, wie Leethveeschi zu einem Assistenzarzt gesagt hat, er solle gefälligst kein fauler Scrassug sein, was auch immer das sein mag, und zur Personalkantine gehen, anstatt sich das Essen aus der Stationsküche zu stibitzen. Deshalb glaube ich auch nicht, daß die Oberschwester so etwas erlauben wird.“

„Keine Sorge, die Oberschwester wird's bestimmt erlauben, wenn Sie sie erst einmal darum bitten, mit Ihr über eine persönliche Angelegenheit zu sprechen, die Ihrer Meinung nach wichtig ist“, versicherte ihm der Lieutenant. „Nach dem medizinischen Drama vor fünf Stunden wird sie es nicht riskieren wollen, Ihnen diesen Wunsch abzuschlagen. Wenn sie dann kommt, sagen Sie ihr das, was Sie ihr schon die ganze Zeit sagen wollten; daß es Ihnen nämlich leid tut, sie falsch eingeschätzt zu haben, und Sie ihr dankbar sind, daß sie Ihnen das Leben gerettet hat. Danach erzählen Sie ihr, Sie hätten das Gefühl, unser Gespräch könne wichtig für Ihren Gesundheitszustand sein, und ob es möglich wäre, noch eine zweite DBDG-Mahlzeit für mich zu bestellen, um die Unterhaltung ohne Unterbrechung fortführen zu können.

Illensaner erhalten eine Menge Komplimente vom Klinikpersonal, weil sie sehr gute Arbeit leisten“, fuhr Braithwaite fort. „Allerdings weniger von den Patienten, weil diese sich nur selten lange genug hier aufhalten, um dieguten Seiten an diesen Wesen schätzen zu lernen. Das liegt sicherlich daran, daß Illensaner der einzigen chloratmenden Spezies angehören, die darüber hinaus allgemein als die häßlichste der Föderation angesehen wird. Wenn Sie das machen, was ich Ihnen gesagt habe, wird Leethveeschi viel zu überrascht und zu geschmeichelt sein, um Ihnen noch irgendeinen Wunsch abschlagen zu können.“

Hewlitt schwieg einen Augenblick lang, ehe er antwortete: „Lieutenant, Sie sind ein egoistischer, hinterhältiger und berechnender Mist… ahm… ein hundsgemeiner Scrassug.“

„Natürlich, schließlich bin ich Psychologe“, stimmte ihm Braithwaite grinsend zu.

Allein bei dem Gedanken, diese grauenvolle Leethveeschi an sein Bett rufen zu müssen, geriet Hewlitt ins Schwitzen. „Zwar habe ich schon selbst darüber nachgedacht, ihr so etwas in der Richtung zu sagen, aber erst später“, wehrte er sich. „Ich brauche noch etwas mehr Zeit, um das nervlich zu verkraften.“

Braithwaite schüttelte lächelnd den Kopf und deutete mit aufforderndem Blick auf den Kommunikator.

7. Kapitel

Die erste ungewöhnliche Begebenheit, die ihm als Kind widerfahren war und an die er sich am besten erinnern konnte, hatte sich einige Tage nach seinem vierten Geburtstag ereignet. Seine Eltern arbeiteten damals zu Hause an in getrennten Räumen stehenden Terminals und waren sich sicher, nicht gestört zu werden, weil jeder vom anderen glaubte, er würde auf Hewlitt aufpassen. Deshalb gingen beide davon aus, daß ihr Sprößling sein Zimmer nicht unbeobachtet verlassen könnte.

Normalerweise hätte es damit auch keine Probleme gegeben, denn er war an seinem eigenen kleinen Computerterminal viel zu beschäftigt, um auf dumme Gedanken zu kommen. Er experimentierte mit dem Malprogramm und dem neuesten Bildungsabenteuerspiel, das er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Doch an jenem Tag war er unruhig und gelangweilt, denn der Lerninhalt des Spiels nahm überhand und behinderte die Abenteuerlust, und das hohe, weit offen stehende Zimmerfenster verhieß weit unterhaltsamere Dinge zu versprechen, die man im Garten treiben könnte.

Unglücklicherweise waren seine Eltern von zwei weiteren falschen Voraussetzungen ausgegangen: erstens, daß er nicht aus dem Fenster klettern würde, weil er so etwas noch nie zuvor getan hatte, und zweitens, daß ihr Garten, falls er es dennoch ausprobieren sollte, außerdem einen kindersicheren Zaun hatte.

Hinter dem Gartenzaun war die Welt sehr aufregend und, was er zu jenem Zeitpunkt noch nicht wußte, zudem sehr gefährlich. Die ganze Gegend war durch eine große Schlacht im Bürgerkrieg verwüstet worden, der einst ausgelöst worden war, als die aufbegehrende Planetenbevölkerung die Regierung stürzen wollte, die einen interplanetarischen Krieg geführt und verloren hatte. Die bewußt irregeleitete Bevölkerung hatte einen solchen Krieg, bei dem etliche Einheimische während der Schlachten verletzt oder gar getötet worden waren, niemals gewollt.Nachdem man die Gegend mit Sensoren abgesucht und alle scharfen Geschütze und einsatzfähigen Kriegsfahrzeuge entfernt hatte, waren einige der zertrümmerten Häuser von außerplanetarischen Beratern und Wiederaufbauspezialisten, zu denen auch Hewlitts Eltern gehörten, instandgesetzt und bezogen worden. Die kaputten und vor sich hin rostenden Überreste hatte man einfach an Ort und Stelle stehen- und liegenlassen. Wie die Häuserruinen waren sie nicht nur rasch von den wildwachsenden Pflanzen erobert worden, die am Ende stets die Sieger aller Kriege sind, sondern auch von einem kleinem Jungen.

Er stapfte durch das anscheinend allgegenwärtige hohe Gras und wanderte fröhlich zwischen den Bäumen und Sträuchern umher, stieg über Pflastersteine und erkundete schließlich eine der Ruinen, in der sich kleine Pelztiere befanden, die vor ihm davonliefen. Doch eins mit einem langen, dicken Schwanz kletterte in die Dachbalken und zischte und fauchte ihn so lange an, bis er sich lieber verdrückte. Stets achtete er darauf, die renovierten Häuser zu meiden, weil diese möglicherweise nicht von Terrestriern bewohnt wurden. Bei dem einzigen Spaziergang, auf den er von seinen Eltern auch außerhalb des Gartens mitgenommen worden war, hatten sie ihm nämlich erzählt, daß in der Nachbarschaft extraterrestrische Familien wohnen würden, deren Nachwuchs beim Spielen mit Kindern anderer Spezies unberechenbare und vielleicht sogar gefährliche Dinge anstellen könnte, ohne ihn dabei absichtlich verletzen zu wollen.

Es war nicht nötig, ihn an den Vorfall zu erinnern, als er beim Schwimmenlernen im gemeinschaftlichen Freibad von einem melfanischen Kind in seinem Alter, das ihn auch für ein amphibisches Wesen gehalten hatte, zum Spielen auf den Grund gezogen worden war. Seitdem hatte Hewlitt vor Extraterrestriern gehörige Angst, ganz unabhängig davon, welche Gestalt oder Größe sie hatten, und er sah sich vor, unter keinen Umständen in ihre Nähe zu gelangen.

Außerdem gab es sowieso viel aufregendere Orte zu erforschen als die Gärten anderer Leute, in denen womöglich freche extraterrestrische Kinder spielten. Überall um ihn herum waren die Umrisse der herumliegendenPanzerfahrzeuge zu erkennen, die unter dem saftigen Grün rostrot glänzten. Einige davon sahen sogar so aus, als ob sie überhaupt nicht kaputt wären und jeden Augenblick losfahren könnten, wohingegen andere auf die Seite gekippt waren und eins sogar verkehrt herum lag. Bei den meisten Fahrzeugen standen oder hingen die Türen offen, und in einigen befanden sich Löcher, die größer als die Türen selbst waren, doch die Kanten waren scharf und hätten ihm beim Hineinklettern das Hemd zerrissen. Bei einem Panzer hing das Kanonenrohr sogar tief genug herab, um sich daran hinaufzuschwingen. Eine der Ketten war gerissen und lag wie ein schmaler Rostteppich auf dem Boden, durch den sich Gras und Blumen ans Sonnenlicht gekämpft hatten. Die kleinen Tiere, die sich in einigen der Fahrzeuge versteckt hielten, sausten jedesmal davon, wenn er hineinkletterte. Aus einem anderen Panzer drang der Klang von Insekten hervor, und er wußte ganz genau, daß er beim Erkunden dieses Wracks gestochen werden könnte. Dann entdeckte er ein Fahrzeug, das weder von Insekten noch von Tieren bewohnt war. Durch die offenen Luken fiel genug Sonnenlicht herein, um einen Schalensitz, ein gegenüber befindliches Schaltpult und einige Bildschirme erkennen zu können. Der Fahrersitz war weich und schmutzig und viel zu groß für ihn, so daß er sich auf die Kante setzen mußte, um an die Schalthebel zu gelangen. Mit Ausnahme der von klebrigem Staub bedeckten Plastikschalter war alles rostig. Um erkennen zu können, welche Farbe sie hatten, mußte er die Schalter mit den Fingern abreiben. Weder Staub und Rost, die sich mittlerweile über Hemd und Hose verteilt hatten, noch der vor ihm befindliche defekte Hauptbildschirm konnten ihn daran hindern, mit diesem Panzer Schlachten zu führen.

Einst war dieses Gefährt eine echte Kampfmaschine mit einem richtigen Soldaten darin gewesen, und in Hewlitts Phantasie füllte sich der Bildschirm mit grellen Bildern von feindlichen Panzern und Flugzeugen, die noch greller explodierten, sobald sie ihn angriffen, denn sein Gefährt war ein ganz besonderer Geheimpanzer, mit dem er unbesiegbar war. Zwar hörte er seine Eltern des öfteren über die Zeiten reden, als solche Schlachten tatsächlich stattgefunden hatten, doch fanden sie diese weder aufregend noch interessant und verhielten sich stets so, als ob sämtliche Beteiligtennicht ganz bei Verstand gewesen wären.

Dennoch ließ er sich davon nicht beirren und schoß im Moment auf alles, was er sich in seiner Phantasie vorstellen konnte – Sturzkampfbomber, angreifende Raumschiffe oder auch furchterregende außerirdische Soldaten, die zwischen den Bäumen auftauchten und ihn bedrohten. Von lautem Gebrüll begleitet, schoß er sie vom Himmel ab oder machte sämtliche Feinde im allerletzten Augenblick zunichte. Seine Eltern waren nicht da, um ihm das Kampfgeschrei zu verbieten und ihn wie sonst üblich zu ermahnen, daß man nicht einmal in der Phantasie auf andere Wesen schießen dürfe, da es sich selbst bei den furchterregendsten Monstern stets um Lebewesen handle.

Zwar zeigten seine Eltern durchaus Verständnis dafür, daß er einige extraterrestrische Nachbarn tatsächlich als solche furchterregenden Monster empfand, doch hatten sie ihm auch erklärt, daß Aliens schnell beleidigt reagieren und eventuell sogar nie wiederkommen könnten, falls sie ihn zu Hause am Computer beim Abschießen von Wesen beobachten sollten, die womöglich wie sie selbst aussahen. Erwachsene schienen überhaupt keinen Spaß zu verstehen.

Allmählich gingen ihm die imaginären Feinde aus, die er hätte zerstören können. Die Sonne schien nicht mehr in das Fahrzeug hinein, und das rostige Metall sah schon fast schwarz anstatt rot aus. Es war zwar albern, aber als er sich darüber Gedanken zu machen begann, was das Wesen, das den Panzer einst gefahren hatte, mit ihm anstellen könnte, wenn es zurückkommen und ihn hier drinnen beim Spielen ertappen würde, kletterte er so schnell hinaus, daß er sich nun auch noch die Hose zerriß.

Die Sonne war hinter den Bäumen bereits untergegangen, doch der Himmel war blau und klar, und es war immer noch hell genug. Allerdings konnte er in der Nähe nichts entdecken, was er hätte erforschen wollen, und außerdem bekam er allmählich Hunger. Es war Zeit für ihn, wieder nach Hause zu gehen, sich in sein Zimmer zurückzuschleichen und etwas zu essen, doch konnte er nichts als Bäume und hohes Gras um sich herum sehen.Als er auf das Dach des größten Fahrzeugs stieg, das er entdecken konnte, hatte er eine bessere Sicht. Nicht weit entfernt stand am Rand einer tiefen Schlucht ein großer Baum mit vielen dicken, blättrigen Ästen, die knapp über dem Boden wuchsen, und mit einem Haufen dünnerer Zweige, die fast bis zur Baumkrone reichten und an denen Früchte hingen. Von dort oben müßte er das Haus sehen können.

Das Hinaufklettern war wieder einmal ein Abenteuer nach seinem Geschmack; dieses Mal war es jedoch ein echtes und kein ausgedachtes. Er war nicht ängstlich, nur hungrig und mutterseelenallein, und er wollte sehen, wo sein Zuhause war, damit er dieses Spiel beenden, zurücklaufen und endlich etwas essen konnte. Während er höher kletterte, konnte er durch die Zweige hindurch auf den Boden der Schlucht sehen, wo noch mehr rostrote Wracks zu .erkennen waren, zu denen auch ein riesiges, rundes Gefährt gehörte, das sich direkt unter ihm befand. Dann stieg er ins Sonnenlicht hinauf, so daß er geblendet wurde und die Schlucht nur noch dunkel und verschwommen wahrnahm.

Immer noch konnte er keine Häuser erkennen, weil ihm nun anstelle des hohen Grases kleinere Bäume die Sicht versperrten, also kletterte er noch höher. Als er an das Ende eines Zweiges griff, an dem Früchte hingen, sah er plötzlich sein Zuhause. Zu seinem Erstaunen war das Haus ein ganzes Stück näher, als er es erwartet hatte, und auf halbem Weg befand sich ein Wegweiser in der Form eines kleinen Baums mit sonderbar gewundenen Zweigen. Seine Arme und Beine wurden jedoch immer müder, ihm war heiß, und er hatte Hunger und Durst, und diese Früchte hingen direkt über ihm und wippten sanft im Wind, der gerade eingesetzt hatte und durch die oberen Zweige blies.

Nach seinem Dafürhalten stand ihm am Ende eines großen Abenteuers eine Belohnung zu, und diese Früchte sollten es sein.

Der Ast, auf dem er saß, war dick und stark, und einer der Ausleger befand sich in Reichweite einer Fruchttraube. Plötzlich war Hewlitt nicht mehr müde. Er krabbelte auf dem Ast entlang und griff dabei vorsichtig nach den daran wachsenden Zweigen, um einen besseren Halt zu haben.Die Sonne ging immer weiter hinter den Bäumen unter, so daß die niedrigeren Äste und Zweige unter ihm nur noch schwer zu erkennen waren und sich die Schlucht als ein dunkelgrüner, verschwommener Fleck darstellte. Als die Fruchttraube beinahe seinen Kopf berührte, blickte er nicht mehr nach unten, und während er versuchte, eine der Früchte abzureißen, zerquetschte er sie versehentlich. Mit der zweiten war er vorsichtiger, und sie löste sich in einem Stück.

Die Frucht sah wie eine große Birne aus, doch keine der Birnen, die er auf Videobändern über die Erdvegetation gesehen hatte, hatte dunkelgrüne und gelbe Streifen, die senkrecht vom Stengel bis zum breiten Ende verliefen. Durch das Zerquetschen der einen Frucht wußte er bereits, daß sie mit Saft gefüllt war, und diese war so schwer und matschig, daß sie sich wie ein mit Wasser gefüllter Luftballon anfühlte. Der Saft, der ihm über die Hand gelaufen war, begann zu trocknen, und Hewlitt beobachtete, wie der letzte feuchte Fleck auf dem Handgelenk verdunstete.

Er hatte immer noch Hunger, und er wollte etwas Festes essen, andererseits hatte er nach all der Kletterei auch viel Durst, so daß ein kaltes Fruchtsaftgetränk auch nicht zu verachten gewesen wäre. Also klammerte er sich nur mit den Beinen am Ast fest und nahm die Frucht in beide Hände.

Der Saft hatte einen komischen Geschmack, weder gut noch widerlich. Da sich Hewlitt nicht schmutzig machen wollte, biß er ein kleines Loch in die Haut und saugte die Frucht leer. Als er mit den Fingern das Loch erweitern wollte, brach die Schale entlang einer der grün-gelben Linien auf, und er entdeckte, daß sie innen noch gar nicht leer war. Neben dem Saft befand sich darin eine gelbe, schwammige Masse, die in der Mitte schwarze Kerne enthielt. Während er den Inhalt aß, spuckte er die Kerne aus, weil sie auf der Zunge brannten. Das Fruchtfleisch schmeckte zwar genauso wie der Saft, füllte aber seinen Magen besser aus.

Noch während er darüber nachdachte, ob er die Frucht mochte oder nicht und ob er noch eine weitere essen sollte, bekam er in regelmäßigen Abständen Magenschmerzen, die von Mal zu Mal schlimmer wurden.

Zum ersten Mal, seit er das Haus verlassen hatte, bekam er es mit derAngst und wollte heim. Er begann rückwärts auf dem Zweig in Richtung des Baumstamms zu rutschen, um von dort aus nach unten zu klettern, aber die Magenschmerzen waren inzwischen so schlimm, daß er laut aufschrie und weinen mußte, und wegen der vielen Tränen konnte er kaum sehen, was er tat. Dann spürte er einen solch stechenden Schmerz, daß er sich instinktiv mit beiden Händen an den Bauch faßte und seitlich abrutschte. Für einen Augenblick hing er kopfüber am Ast, denn mit den Beinen klammerten er sich noch immer fest darum. Als er jedoch versuchte, sich wieder nach oben zu ziehen, wurden die Schmerzen so stark, daß er an nichts anderes mehr denken konnte. Er ließ los und fiel hinunter.

Er sah, wie sonnige und schattige Blätter an ihm vorbeipeitschten, und fühlte, wie ihm Zweige gegen Rücken, Arme und Beine schlugen. Dann war es für einen kurzen Moment völlig still und dunkel. Er wußte erst wieder, wo er war, als er auf den steilen Hang der Schlucht aufschlug und weiter nach unten rollte. Auf einmal taten ihm Arme, Beine und Rücken genauso weh wie sein Magen. Dann schlug er mit der rechten Schläfe und Körperseite gegen etwas, das unter seinem Gewicht zerbrach, und auf einmal waren seine Bauchschmerzen und alles andere um ihn herum verschwunden.

Beim Klang vieler Stimmen, von denen zwei zu seinen Eltern gehörten, und beim Scheinwerferlicht, das ringsherum die Schlucht bis auf den Grund beleuchtete, erwachte er wieder. In dem Lichtstrahl konnte er einen Erwachsenen erkennen, der eine Monitorkorpsuniform trug und mit einem Antischwerkraftgürtel zu ihm herabschwebte. Seine Eltern und einige Leute anderer Spezies kletterten auf Händen und Füßen oder was auch immer den Hang herunter.

Der Monitoroffizier landete direkt neben ihm, kniete sich hin und sagte: „Na prima, junger Mann, du bist also bei Bewußtsein, wie? Was hast du bloß angestellt? Aber erst mal sag mir, wo's weh tut.“

„Im Moment tut nichts weh“, antwortete Hewlitt, wobei er mit einen Hand gegen die Magengrube drückte und dann die Schläfe abtastete. „Es tut nirgendwo weh.“„Sehr schön“, sagte der Mann und holte aus einem Beutel, den er an der Schulter trug, ein flaches Gerät hervor, das auf einer Seite einen kleinen leuchtenden Bildschirm hatte, und bewegte es langsam über Hewlitts Kopf, Gliedmaßen und Körper.

„Ich habe ein paar Früchte von dem Baum dort oben gegessen“, berichtete Hewlitt. „Davon habe ich schreckliche Bauchschmerzen bekommen und bin dann vom Ast gefallen.“

„Das ist aber ein sehr großer Baum“, sagte der Mann in demselben Ton, den sein Vater immer anschlug, wenn er glaubte, Hewlitt würde ihm ein Lügenmärchen auftischen. „Nimm deine Hände wieder runter, und beweg dich nicht, bis ich mit der Untersuchung fertig bin. Bist du nach dem Sturz irgendwann einmal eingeschlafen?“

„Ja, aber ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Als ich runterfiel, ging die Sonne gerade unter. Sie haben mich aufgeweckt.“

„Bewußtlos für vier, vielleicht fünf Stunden“, murmelte der Mann mit besorgter Stimme. „Wenn ich dir jetzt beim Hinsetzen helfe, sag mir, ob irgend etwas weh tut, in Ordnung? Ich möchte deinen Kopf scannen.“

Dieses Mal bewegte der Monitoroffizier den Scanner sehr langsam über das ganz Gesicht, an den Schläfen entlang bis zum Hinterkopf und über den Nacken. Dann packte er das Gerät wieder in den Beutel und stand auf. Bevor Hewlitt noch etwas sagen konnte, waren bereits seine Eltern eingetroffen. Seine Mutter kniete neben ihm nieder und nahm ihn so fest in beide Arme, daß er kaum noch Luft bekam, und sie schluchzte vor Erleichterung, während sein Vater dem Mann mit der Uniform Fragen stellte.

„Der junge Mann hat sehr viel Glück gehabt“, hörte Hewlitt den Monitorarzt leise antworten. „Wie Sie sehen können, ist seine Kleidung zwar völlig zerfetzt, wahrscheinlich vom Spielen inmitten des Kriegsschrotts und von der langen Strecke, die er hier in die Schlucht hinuntergerutscht ist, aber ansonsten hat er keinen Kratzer abbekommen. Er hat mir erzählt, daß er etwas Obst von dem Pessinithbaum dort oben gegessen und davonMagenkrämpfe bekommen habe. Dann sei er vom Baum runtergefallen und seit Sonnenuntergang bewußtlos gewesen. Nun, es ist zwar nicht meine Art, mich mit einem Kind zu streiten, das übermäßig viel Phantasie besitzt, aber die Tatsachen stellen sich wohl doch anders dar. Die Magenverstimmung ist verschwunden, und ein Sturz aus der Baumkrone hätte Schnittwunden, Prellungen, Brüche und eine Gehirnerschütterung zur Folge haben müssen, aber seine Haut ist nicht einmal abgeschürft. Eine vier- bis fünfstündige Bewußtlosigkeit müßte irgendwelche traumatischen Folgen haben, die ich aber nicht feststellen konnte.

Vom Zustand der Kleidung her“, fuhr der Monitor fort, „würde ich sagen, daß er zwischen den Wracks so lange gespielt hat, bis er völlig übermüdet war und einfach eingeschlafen ist, als er hier hinunterklettern wollte. Durch die Magenschmerzen und den angeblichen Sturz möchte er wahrscheinlich nur an ihr Mitleid appellieren, um so vom elterlichen Zorn abzulenken.“

Seine Mutter hörte auf zu weinen und fragte Hewlitt, ob ihm wirklich nichts fehle, dennoch hörte er dazwischen seinen Vater sagen, daß sie viel zu froh seien, ihn heil und gesund wiedergefunden zu haben, als daß sie ihm Vorwürfe machen könnten.

„Manchmal machen sich Kinder nun mal selbständig und verirren sich dabei, doch häufig endet solch ein Abenteuer nicht so glücklich“, meinte der Monitor. „Wir werden Ihren Sohn lieber mit unserem G-Schlitten nach Hause transportieren, weil er noch immer etwas übermüdet sein könnte. Ich werde morgen bei Ihnen vorbeischauen und ihn noch einmal untersuchen, obwohl das eigentlich nicht notwendig ist, denn Ihr Kind ist in guter Verfassung. Sie haben einen sehr gesunden Jungen, und es fehlt ihm absolut nichts …“

Das warme Gefühl durch die Umarmung seiner Mutter, der Anblick der lichtdurchfluteten Schlucht und der enorm gesprächige Monitorarzt verschwanden und wurden durch die vertraute Umgebung von Station sieben und einen anderen Monitoroffizier ersetzt, der ihn schweigend anschaute.

8. Kapitel

„Also hielt mich der Monitorarzt für einen Lügner“, fuhr Hewlitt fort, wobei er versuchte, seinen Zorn zu verbergen. „Selbst meine Eltern haben mir damals nicht geglaubt, obwohl ich mehrere Male versucht hatte, ihnen alles so zu erzählen, wie es sich wirklich abgespielt hatte … und Sie glauben mir ebensowenig.“

Braithwaite sah ihn einen Augenblick lang schweigend an und sagte dann: „So, wie Sie es mir eben gerade erzählt haben, kann ich auch verstehen, warum Ihnen niemand geglaubt hat. Der Monitoroffizier hatte sowohl in medizinischer als auch in anatomischer Hinsicht einleuchtende Gründe, um Sie für einen Lügner zu halten, und da die meisten Leute Ärzten vertrauen, haben auch Ihre Eltern eher ihm geglaubt als ihrem phantasievollen vierjährigen Sohn. Ich weiß nicht, wem oder was ich glauben soll, weil ich nicht dabeigewesen bin. Wahrheit kann auch eine sehr subjektive Angelegenheit sein. Ich gehe davon aus, daß Sie glauben, Sie würden die Wahrheit sagen, das ist aber nicht dasselbe, als wenn ich denken würde, daß Sie ein Lügner sind.“

„Sie bringen mich ganz schön durcheinander“, meinte Hewlitt. „Halten Sie mich etwa für einen Lügner und wollen es mir aber nicht direkt ins Gesicht sagen?“

Braithwaite ging auf die letzte Frage Hewlitts nicht ein und erkundigte sich seinerseits: „Haben Sie den anderen Ärzten auch von dem Unfall in der Schlucht erzählt?“

„Ja“, antwortete Hewlitt. „Allerdings habe ich ziemlich schnell damit aufgehört, es ihnen zu erzählen, denn keiner von denen war daran interessiert, sich mein Abenteuer anzuhören. Genauso wie Sie haben nämlich auch die Psychologen geglaubt, daß alles nur meiner Phantasie entsprungen sei.“

„Ich nehme an, daß Sie auch von allen gefragt wurden, ob Sie eine Abneigung gegen Ihre Eltern hegen oder nicht, und wenn ja, wie groß dieseAbneigung ist, richtig?“ hakte Braithwaite lächelnd nach. „Sie müssen schon entschuldigen, aber diese Frage muß ich Ihnen einfach stellen.“

„Tja, das vermuten Sie ganz richtig, und glauben Sie mir, Sie vergeuden nur Ihre Zeit damit“, seufzte Hewlitt. „Natürlich gab es Augenblicke, wo ich meine Eltern nicht ausstehen konnte. Wenn sie zum Beispiel nicht das taten oder mir nicht das gaben, was ich wollte, oder wenn sie zu beschäftigt waren, um mit mir zu spielen, und ich statt dessen Schularbeiten machen mußte. So etwas passierte aber nicht sehr häufig und auch nur dann, wenn etwas Wichtiges anstand und beide zu beschäftigt waren. Meine Eltern gehörten dem Kulturkontaktamt an und waren beide beim Monitorkorps, aber sie trugen die Uniformen nur selten, da sie meistens von zu Hause aus arbeiteten. Trotzdem bin ich nie vernachlässigt worden. Meine Mutter war sehr nett, und ich konnte sie leicht herumkriegen, wenn ich etwas von ihr wollte. Mein Vater ließ sich nicht so einfach täuschen, aber dafür hatte ich mit ihm mehr Spaß. Normalerweise war immer wenigstens einer der beiden zu Hause, und wenn ich erst einmal die Hausaufgaben erledigt hatte, haben sie sich sehr viel Zeit für mich genommen, obwohl ich gar nicht genug davon kriegen konnte. Vielleicht lag es ja daran, daß ich irgendwie spürte, sie frühzeitig zu verlieren, und daß uns nicht mehr viel Zeit miteinander verbleiben würde. Ich habe sie wirklich sehr vermißt, und ich tue es immer noch.“

Hewlitt schüttelte den Kopf und versuchte auf diese Weise vergeblich, die Erinnerungen loszuwerden. „Ihre Kollegen kamen jedenfalls stets zu der Auffassung, ich hätte mich wie ein ganz normaler Vierjähriger verhalten: etwas egoistisch und nicht ganz aufrichtig eben.“

Braithwaite nickte verständig. „Dieses psychische Trauma, Mutter und Vater im Alter von vier Jahren verloren zu haben, kann dauerhaft seelische Störungen verursachen. Ihre Eltern sind doch bei einem Flugzeugunglück umgekommen, das Sie als einziger überlebt haben. Wie genau können Sie sich an den Unglücksfall erinnern? Was haben Sie damals empfunden, und wie sind Ihre Gefühle heute?“

„Ich kann mich an alles erinnern“, antwortete Hewlitt, wenngleich er sichwünschte, der Arzt würde endlich zu einem anderen, weniger schmerzhaften Thema übergehen. „Damals wußte ich noch nicht, was genau geschehen war. Später habe ich jedoch herausgefunden, daß wir uns auf dem Weg zu einer Konferenz befanden, die in einer Stadt auf der anderen Seite des Planeten stattfinden sollte. Als wir über ein Waldgebiet flogen, trat bei der Maschine eine verheerende Funktionsstörung auf. Wir befanden uns in eintausendfünfhundert Metern Höhe, benutzten also den Luftkorridor für kleinere Flugzeuge, und bevor wir gegen die Bäume krachten, müssen noch einige Minuten vergangen sein. Meine Mutter kletterte auf die Rücksitze, wo ich festgeschnallt war, und umklammerte mich schützend, während mein Vater versuchte, wieder die Kontrolle über das Flugzeug zu erlangen. Wir schlugen heftig auf. Durch den Boden und durch eine Seite des Rumpfs preßten sich dicke Äste hindurch. Ich fiel bei dem Aufprall in Ohnmacht. Als man uns am nächsten Tag fand, waren meine Eltern tot – und ich…? Nun, ich bin vollkommen unverletzt geblieben.“

„Da haben Sie aber unvorstellbares Glück gehabt“, sagte der Psychologe leise. „Das heißt, wenn man ein Kind, das gerade beide Eltern verloren hat, überhaupt als glücklich bezeichnen kann.“

Hewlitt antwortete nicht, und nach einer Weile fuhr Braithwaite fort: „Lassen Sie uns noch mal darauf zurückkommen, als Sie auf den Baum geklettert sind oder geglaubt haben, Sie seien hinaufgeklettert, und angeblich das Obst gegessen haben, von dem Sie nach eigener Aussage heftige Magenkrämpfe bekamen. Sind diese Symptome später, vor oder nach dem Flugzeugunglück noch mal aufgetreten?“

„Warum sollte ich Ihnen das erzählen, wenn Sie sowieso glauben, ich hätte mir das alles nur eingebildet?“ schnaufte Hewlitt abfällig.

„Falls es Sie irgendwie tröstet, so bin ich mir immer noch nicht im klaren, was ich darüber denken soll“, besänftigte ihn Braithwaite.

„Also gut“, lenkte Hewlitt ein, wenngleich er das Gefühl hatte, daß sich diese Unterhaltung im nachhinein wieder einmal als pure Zeitverschwendung herausstellen dürfte. „Nachdem ich in die Schlucht gefallen war, wurde mirin den ersten vier Tagen zwar jedesmal übel, wenn ich etwas aß, aber nie so schlimm, als daß ich mich hätte übergeben müssen. Danach klang es immer mehr ab, bis es schließlich völlig vorbei war. Diese Übelkeit trat für kurze Zeit wieder auf, als ich zu meinen Großeltern auf die Erde zog, allerdings nehme ich an, daß das durch die andere Nahrung und die Art der Zubereitung hervorgerufen worden sein könnte. Weder auf Etla noch auf der Erde konnte für diese leichten Übelkeitsanfälle ein medizinischer Grund gefunden werden. Damals bekam ich auch zum ersten Mal den Spruch zu hören, daß der Krankheitsursache eine psychologische Komponente zugrunde liege. Jahrelang passierte dann gar nichts mehr. Nur einmal habe ich unter leichter Übelkeit gelitten, und zwar nachdem ich das erste Mal auf der Treevendar eine künstlich hergestellte Mahlzeit probiert hatte. Selbstverständlich habe ich mir das alles bloß eingebildet.“

Braithwaite ignorierte die sarkastische Bemerkung. „Würden Sie wirklich unbedingt wissen wollen, ob alles nur Ihrer Phantasie entsprungen ist, oder wäre es Ihnen lieber, wenn Sie nicht darüber Bescheid wüßten? Überlegen Sie genau, bevor Sie antworten.“

„Wenn ich mir wirklich etwas einbilden sollte, dann will ich natürlich nicht der einzige sein, der es nicht weiß“, zischte Hewlitt.

„In Ordnung. Wie gut können Sie sich denn an den Baum auf Etla erinnern, auf den Sie hinaufgeklettert sind, und daran, wie die Frucht aussah, die sie gegessen haben?“

„Gut genug, um ein Bild davon malen zu können, wenn ich das Talent zum Zeichnen hätte. Wollen Sie, daß ich es versuche?“

„Nein, das ist nicht nötig“, entgegnete der Psychologe. Dann lehnte er sich zur Seite, bis er die Tastatur des Kommunikators mit einer Hand erreichen konnte, und gab kurz ein paar Daten ein. Als der Bildschirm mit dem Symbol des Orbit Hospitals aufleuchtete, sagte er: „Bibliothek. Allgemeinwissen. Terrestrisch übersetzte Ausgabe in Wort und Bild. Thema: das ehemalige etlanische Imperium, der Planet Etla, Schwerpunkt Vegetation.“

„Bitte warten Sie“, meldete sich die unterkühlt und entsprechendunpersönlich klingende Stimme des Bibliothekscomputers.

„Ich habe nicht gewußt, daß ich mit dem Ding auch die Bibliothek empfangen kann“, sagte Hewlitt erstaunt. „Ich dachte immer, damit kann man nur mit dem Personalraum Kontakt aufnehmen oder die sogenannten Unterhaltungsprogramme abrufen.“

„Ohne den richtigen Zugangscode können Sie das auch nicht“, klärte ihn Braithwaite auf. „Falls Sie sich aber mal langweilen sollten und dort reinschauen möchten, könnte ich Ihnen vielleicht eine Genehmigung besorgen. Die Codes für die medizinische Bibliothek werden Sie allerdings nicht bekommen. Spielt zum Beispiel bei einer Krankheit Hypochondrie eine gewisse Rolle, dann sollte man den betreffenden Patienten nicht den Zugang zu einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Symptomen erlauben.“

Hewlitt mußte unwillkürlich lachen: „Ich verstehe.“

Bevor Braithwaite antworten konnte, meldete sich erneut die Bibliotheksstimme: „Achtung! Die vorhandenen Daten über den Planeten Etla sind zur Zeit noch nicht ganz vollständig. Nach dem großangelegten Polizeieinsatz des Monitorkorps gegen das damalige etlanische Imperium und der anschließenden Aufnahme des Planeten als Mitglied der galaktischen Föderation vor siebenundzwanzig Standardjahren wurde aufgrund einer Periode sozialer Unruhen der Speicherung von Informationen über etlanische Botanik in der zentralen Datenbank nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die politische Lage auf dem Planeten ist heute stabil. Die intelligente Lebensform der Einheimischen ist in die physiologische Klassifikation DBDG einzuordnen und nicht feindselig, so daß Besuche anderer Bürger der Föderation begrüßt werden. Bitte geben Sie den Bereich ein, für den Sie sich interessieren.“

Ein großangelegter Polizeieinsatz also, dachte Hewlitt. Folglich hatte ein erbitterter und glücklicherweise nur kurz andauernder interstellarer Krieg stattgefunden, der zwischen dem etlanischen Imperium und der Föderation ausgefochten worden war. Der Krieg brach damals aus, weil der Imperator seine Macht unter Beweis stellen mußte, um so die Aufmerksamkeit der Bevölkerung von den eigenen Unzulänglichkeitenabzulenken. Da die Aufgabe des Monitorkorps darin bestand, den Frieden der Föderation zu wahren, nicht aber Kriege zu führen, stellte sich die Reaktion dieses galaktischen Sektors auf die Invasion der Etlaner eher als ein Polizeieinsatz und weniger als ein Krieg dar. Die Tatsache, daß wieder Frieden und Stabilität auf den etlanischen Planeten eingekehrt waren, bedeutete natürlich auch, daß die Föderation gesiegt hatte.

„Die einheimische Flora auf Etla“, sagte Braithwaite und unterbrach Hewlitts Gedankengänge. „Insbesondere eine Liste von allen großen Obstbäumen, zehn Meter oder größer, die man in der gemäßigten Klimazone des Südens vorfindet. Jede Information bitte zwanzig Sekunden lang anzeigen, Ms nichts anderes gewünscht wird.“

Aus einem unerfindlichen Grund begann sich Hewlitt unwohl zu fühlen. Er sah Braithwaite an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch der Lieutenant deutete kopfschüttelnd auf den Bildschirm und fuhr fort: „Sie haben den Baum als sehr groß beschrieben, aber vielleicht sah er damals für Sie nur so groß aus, weil Sie noch ein kleines Kind waren. Deshalb habe ich mir gedacht, daß es besser ist, schon bei zehn Metern anzufangen.“

Hewlitt kam sich wie früher in der Schule beim Biologieunterricht vor, doch im Gegensatz zu damals fand er die nacheinander folgenden Abbildungen von Bäumen alles andere als langweilig. Die meisten davon hatte er noch nie zuvor gesehen. Er kannte weder die Form oder das Blattwerk noch das Obst, das sie trugen, während andere den großen Büschen ähnelten, die er außerhalb des Gartenzauns hatte wachsen sehen. Aber einer davon…

„Das ist er!“ rief er.

„Information festhalten! Angaben über den Penissithbaum wiederholen und ausweiten“, sprach Braithwaite in den Kommunikator und sagte dann zu Hewlitt: „Er sieht tatsächlich aus wie der Baum, den Sie eben beschrieben haben. Kräftige, gewundene Äste an deren Enden vier dünnere Zweige wachsen, die die Früchte tragen. Und die Farbe, die das Blattwerk im Spätsommer annimmt, entspricht auch Ihrer Beschreibung, denn das wardie Zeit, in der Sie den Baum hinaufgeklettert sind. Bibliothek, Nahaufnahmen der Frucht wiederholen, die die jahreszeitlichen Wachstums- und Farbveränderungen zeigen.“

Für einige Minuten beobachtete Hewlitt, wie auf dem Bildschirm die Frucht und deren Wachstumszyklus dargestellt wurde, wie sie von einer grünen Knospe zu einer kleinen dunkelbraunen Kugel und dann zur völligen Reife heranwächst und eine Birnenform mit grünen und gelben Streifen annimmt. Die letzte Darstellung war ihm derart vertraut, daß er allein aufgrund der Erinnerungen an die Magenkrämpfe von damals ein derartig schmerzhaftes Stechen verspürte und es dadurch versäumte, dem zwar langweilig vorgetragenen, aber dennoch wichtigen Wortbeitrag des Bibliothekscomputers zuzuhören.

„Das ist die Frucht“, bekräftigte er erneut. „Eindeutig. Glauben Sie mir jetzt?“

Braithwaite schüttelte den Kopf auf eine Weise, die Verwirrung und Verneinung zugleich auszudrücken schien, dann erst antwortete er: „Jetzt fällt mir nur ein weiterer Grund ein, weshalb Ihnen dieser Monitorarzt damals nicht geglaubt hat. Anscheinend haben Sie eben nicht zugehört. Dieser Baum trägt nämlich erst Früchte, wenn er eine Größe von fünfzehn bis zwanzig Metern erreicht hat, und das Obst hängt nur an den obersten Zweigen. Falls der Baum, auf dem Sie sich als vierjähriger Junge befunden haben, über eine Schlucht hinausragte, und wenn Sie wirklich von einem der obersten Äste runtergefallen sind, dann hätten Sie sich Dir kleines Genick brechen müssen. Statt dessen sind Sie aber ohne einen Kratzer davongekommen.

Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß der Sturz durch die unteren Zweige abgebremst wurde oder daß Sie in einen dichten Busch gefallen sind, bevor Sie am Rande der Schlucht aufschlugen und hinunterrollten. Es sind schon viel seltsamere Unfälle als dieser passiert, was auch erklären würde, weshalb eine intelligente und offensichtlich ausgeglichene Person wie Sie an dieser unglaublichen Geschichte festhält. Nach Ihren eigenen Erzählungen haben Sie ja von den Früchten gegessen, und deshalb hörenSie jetzt gut zu, was der Computer dazu zu sagen hat, Patient Hewlitt.“

In der Stille klang die ruhige und unpersönliche Stimme des Bibliothekscomputers sehr klar und beinahe etwas zu laut.

„… während die Frucht heranreift“, erläuterte die Stimme, „saugt der schwammige Inhalt den ganzen Saft auf und wächst dann so lange heran, bis er den Fruchtkörper ausfüllt, dessen gestreifte Schale vor dem Herabfallen vom Baum zäh und dehnbar wird. Wenn die mit dem dickflüssigen, schwammigen Inhalt gefüllte Frucht auf den Boden fällt, springt oder rollt sie ein paar Meter weiter, bis chemische Sensoren in der Außenhaut einen geeigneten Boden für die Keimung anzeigen, woraufhin sich die Schale an der Stelle zersetzt, die den Boden berührt, um den flüssigen Inhalt freizugeben und auszusäen. Danach setzt ein langsamer Fäulnisprozeß der Frucht ein. Dies hat zum einen den Zweck, daß das verfaulende, schwammige Fruchtfleisch am Anfang das Wachstum der Samen fördert, während zum anderen der Saft das umliegende Erdreich durchdringt und konkurrierenden Pflanzenwuchs hemmt oder abtötet.

Vorsicht! Die Frucht des Penissithbaums ist hochgiftig, sowohl für alle uns bekannten warmblütigen Sauerstoffatmer sämtlicher physiologischer Klassifikationen als auch für alle auf Etla existierenden einheimischen Lebensformen. Es wurde untersucht, ob die Inhaltsstoffe, in geringen Mengen dosiert, von medizinischem Nutzen sein könnten, jedoch ohne Erfolg. Würden von einem Wesen mit der durchschnittlichen Körpermasse eines erwachsenen Orligianers, Kelgianers oder Terrestriers nur zwei Milliliter des Fruchtsaftes eingenommen werden, würde das sofort zu dessen Bewußtlosigkeit und innerhalb einer Standardstunde zum Exitus führen. Dieselbe Wirkung würden drei Milliliter bei einem Hudlarer oder einem Tralthaner auslösen. Dieser Vorgang ist unumkehrbar, da kein Gegenmittel bekannt ist… “

„Danke, Bibliothek“, sagte Braithwaite mit ruhiger Stimme und ausdruckslosem Gesicht, allerdings schlug er so heftig auf den Ausschaltknopf des Kommunikators, als wäre dieser sein Todfeind. Danach blickte der Lieutenant Hewlitt eine ganze Weile an, ohne auch nurein einziges Mal zu blinzeln. Nach Hewlitts fester Überzeugung würde gleich genau das passieren, was ihm auf seinem langen Leidensweg schon so oft widerfahren war; daß ihm nämlich ein Arzt sagen würde, er bilde sich das alles nur ein. Um so erstaunter war er, daß sich die Stimme des Psychologen eher neugierig als ungläubig anhörte, als Braithwaite in ruhigem Ton sagte:

„Nur wenige Tropfen dieses Penissithsafts töten einen voll ausgewachsenen Menschen, und Sie sind ein vierjähriges Kind gewesen, das den Inhalt einer ganzen Frucht ausgesaugt hat. Können Sie sich das erklären, Patient Hewlitt?“

„Sie wissen ganz genau, daß ich das nicht kann.“

„Nun, ich kann es mir auch nicht erklären“, meinte der Lieutenant.

Hewlitt atmete tief ein und langsam wieder aus, bevor er sich zu sprechen traute. „Ich habe jetzt über vier Stunden mit Ihnen geredet, Lieutenant. Bestimmt ist das lange genug für Sie, um feststellen zu können, ob ich ein Hypochonder bin oder nicht. Bitte sagen Sie es mir ganz offen und ehrlich und ohne falsche Rücksichtnahme.“

„Nun, zumindest will ich es versuchen“, antwortete der Psychologe und seufzte schwer. „Sie sind kein einfacher Fall. Es gibt Episoden in Ihrer Kindheit, die im späteren Leben zu schwerwiegenden seelischen Störungen geführt haben könnten, doch habe ich bis jetzt keine Anzeichen einer anhaltenden psychischen Schädigung entdecken können… Ihre Persönlichkeit ist in sich ausgewogen, Ihre Intelligenz ist überdurchschnittlich hoch, und Sie scheinen Ihre anfängliche Fremdenfeindlichkeit einigermaßen überwunden zu haben. Abgesehen davon, daß Sie überempfindlich sind und ständig in die Defensive gehen, weil Ihnen bis jetzt niemand geglaubt hat, daß Ihnen etwas fehlt… “

„Bis jetzt?“ unterbrach ihn Hewlitt. „Heißt das, daß Sie mir zu glauben beginnen?“

Braithwaite überhörte die Frage und fuhr fort: „Für einen Hypochonder, der sich, wie wir wissen, aufgrund seelischer StörungenKrankheitssymptome einbildet, ist Ihr Benehmen jedenfalls alles andere als typisch. Vielleicht ist es das Bedürfnis, Aufmerksamkeit oder Mitleid zu erregen, oder es liegt daran, daß Sie ein tiefsitzendes psychisches Problem oder Ereignis verdrängen wollen, vor dem Krankheit anscheinend den einzigen vermeintlichen Schutz bietet. Falls letzteres zutrifft und Sie in der Lage sind, irgendwelche Ereignisse für den Rest des Lebens vor sich selbst und auch vor mir zu verbergen, obwohl wir uns vier Stunden lang unterhalten haben, dann muß das, was vorgefallen ist, dermaßen schrecklich gewesen sein, daß es bei Ihnen bewirkt hat, es vollkommen zu vergessen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie irgend etwas in dieser Richtung vor mir verheimlichen. Genausowenig kann ich glauben, daß Sie die Penissithfrucht gegessen haben oder von diesem Baum gefallen sind. Ihr damaliger Ausflug hatte nämlich nicht nur ein unglaublich glückliches Ende genommen, darüber hinaus sind Sie auch noch wie durch ein regelrechtes Wunder völlig unversehrt davongekommen!“

Erneut blickte Braithwaite Hewlitt eine scheinbar unendlich lange Zeit an, dann fuhr er fort: „Die ärztliche Zunft tut sich im Umgang mit wundersamen Begebenheiten sehr schwer, und ehrlich gesagt, schließe ich mich da durchaus nicht aus. Das ist Liorens Fachgebiet. Wenngleich selbst der Padre seine Probleme damit hat, denn er meint, Wunder seien durch die Fortschritte der Medizin mittlerweile längst veraltet. Glauben Sie an Wunder?“

„Nein!“ widersprach Hewlitt energisch. „Ich glaube an gar nichts.“

„In Ordnung, wenigstens schließt das schon mal diesen einen psychischen Faktor aus. Trotzdem gibt es einen weiteren, den wir ausschließen sollten, nämlich Ihre zumindest bis vor kurzem noch vorhandene Fremdenfeindlichkeit. Sie könnte durch einen Vorfall ausgelöst worden sein, bei dem ein Extraterrestrier Sie so verängstigt hat, daß Sie sich unterbewußt weigern, sich daran zu erinnern. Diesbezüglich würde ich gerne einen Test mit Ihnen durchführen.“

„Kann ich einen solchen Test überhaupt ablehnen?“ erkundigte sich Hewlitt.„Sie müssen verstehen, daß das hier keine psychiatrische Klinik ist“, fuhr Braithwaite fort, ohne auf Hewlitts Frage einzugehen. „Meine Abteilung ist für die Aufrechterhaltung der geistigen Gesundheit eines Mitarbeiterstabs zuständig, der sich aus über sechzig verschiedenen Spezies zusammensetzt, und wir müssen dafür sorgen, daß dieser Haufen glücklich und zufrieden ist und sich niemand mit dem anderen in die Haare kriegt, und damit haben wir mehr als genug zu tun. Der Test wird mir bei der Entscheidung helfen, ob ich Sie wieder Medalont für weitere medizinische Untersuchungen überlasse oder ob ich eine Überweisung in eine psychiatrische Einrichtung auf der Erde empfehle.“

Erneut wallten in Hewlitt Zorn und Verzweiflung auf. Von dem führenden Krankenhaus der galaktischen Föderation hatte er etwas Besseres erwartet. „Und was genau haben Sie mit mir vor?“ erkundigte, er sich mit griesgrämiger Miene.

„Das kann ich Ihnen nicht verraten“, antwortete Braithwaite mit einem vielsagenden Lächeln. „Es dürfte allerdings unangenehm für Sie werden, zwar nicht lebensgefährlich, aber der Test wird mit einem hohen Maß an Stress verbunden sein. Doch werde ich zu verhindern versuchen, daß die Dinge außer Kontrolle geraten.“

9. Kapitel

Ein Alptraum ist ein irreales Ereignis während des Schlafens, aus dem man normalerweise irgendwann wieder aufwacht, sagte sich Hewlitt, während er verzweifelt gegen den Drang anzukämpfen versuchte, den Kopf unter der Bettdecke zu verstecken. Sein Problem war nur, daß er gar nicht schlief.

Fünfzehn Wesen gingen, tippelten und rutschten durch die Station, und mit schrecklicher Gewißheit wußte er, daß sie direkt auf sein Bett zusteuerten. Drei Wesen aus der Gruppe waren ihm vertraut, und als der Tross in einem Halbkreis vor ihm stehenblieb, erkannte er die hudlarische Krankenschwester, Lieutenant Braithwaite und Chefarzt Medalont. Die Sprechmembran der Schwester bewegte sich nicht, der Psychologe lächelte beruhigend, sagte aber keinen Ton, und alle anderen schwiegen ebenfalls beharrlich, bis endlich Medalont das Wort ergriff.

„Wie Sie vielleicht bereits wissen, Patient Hewlitt, ist das Orbit Hospital auch eine Art Universitätskrankenhaus. Das bedeutet, daß sich ein Teil des Klinikpersonals stets aus Auszubildenden zusammensetzt, die allesamt hoffen, sich eines Tages als Ärzte, Schwestern oder Pfleger zu qualifizieren, um sich dann möglicherweise dafür zu entscheiden, hier zu praktizieren oder als medizinische Offiziere an einem der Weltraumprojekte der Föderation teilzunehmen. Doch lange bevor dieses Stadium erreicht ist, müssen die Auszubildenden grundlegende Erfahrungen über die Physiologie fremder Spezies sammeln, und Sie könnten uns dabei eine große Hilfe sein. Sie sind zwar nicht verpflichtet, sich einer ärztlichen Untersuchung durch Auszubildende zu unterziehen, aber die meisten unserer Patienten tun das sehr gerne, weil sie wissen, daß wir es wirklich gut mit ihnen meinen.“

Hewlitt zwang sich, die Aliens der Reihe nach anzusehen. Er identifizierte zwei Kelgianer, einen weiteren Melfaner, der sich nur durch die Zeichnung seines Panzers von Medalont unterschied, drei Nidianer und einen sechsbeinigen, elefantenartigen Tralthaner, der einem Patienten auf der Station ähnlich sah. Die restlichen Aliens waren ihm allesamt fremd undjagten ihm entsprechend Angst ein. Er wollte den Kopf schütteln, doch der war wie gelähmt, und sein Mund war viel zu trocken, um ›nein‹ sagen zu können.

„Um für die Ausbildung am Orbit Hospital zugelassen zu werden“, setzte der Chefarzt seine Ausführungen fort, „müssen die betreffenden Wesen zunächst einmal eine besondere Begabung auf dem medizinischen Sektor nachweisen sowie eine umfassende Praxis an Krankenhäusern ihrer Heimatplaneten, in denen sie früher gearbeitet haben. Ich erwähne das nur, damit Sie wissen, daß es sich bei diesen Leuten um alles andere als um medizinische Vollidioten handelt, wenngleich einige der Dozenten etwas anderes über sie behaupten würden.“

Sofort ertönte eine allgemeine Kakophonie außerirdischer Geräusche, die jedoch nicht übersetzt wurde. Wie Hewlitt annahm, dürfte es sich dabei höchstwahrscheinlich um eine ehrerbietige Reaktion der Aliens auf die scherzhafte Bemerkung ihres Vorgesetzten gehandelt haben.

„Sie sind ja bereits von mir und Ihrer extraterrestrischen Schwester untersucht worden und hatten körperlichen Kontakt mit uns, ohne dabei irgendwelche physischen Begleiterscheinungen erlitten zu haben“, nahm Medalont den Faden wieder auf. „Darüber hinaus kann ich Ihnen versichern, daß ich jeden Auszubildenden, der etwas tut oder sagt, was Ihnen Kummer bereiten könnte, danach mit scharfen Worten zurechtweisen werde. Nun, was meinen Sie? Können wir jetzt anfangen, Patient Hewlitt?“

Alle starrten ihn mit viel zu vielen Augen an. Braithwaite und die Krankenschwester kamen etwas näher heran. Der Lieutenant runzelte die Stirn und lächelte dabei mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck, der nach Hewlitts Auffassung Besorgnis und Beruhigung gleichermaßen vermittelte, alle anderen Blicke waren jedoch unergründlich. Zwar öffnete er den Mund, um etwas zu sagen, doch das klägliche Geräusch, das er dabei hervorbrachte, konnte er noch nicht einmal selbst übersetzen.

„Ich danke Ihnen“, meinte Medalont vielleicht etwas vorschnell und sagte dann zu den anderen: „Nun, wer von Ihnen möchte es als erster versuchen?“Unweigerlich war es der größte Anwesende, nämlich der Tralthaner, der nach vorn trampelte und direkt neben dem Bett stehenblieb. Eins der vier Augen, die aus dem kuppelförmigen und völlig unbeweglichen Kopf herausragten, bog sich nach unten, um Hewlitts Gesicht zu betrachten, ein anderes war auf Medalont gerichtet und die anderen beiden blickten irgendwo nach hinten. Zwei der vier Tentakel, die aus den gewaltigen Schultern herauswuchsen, näherten sich bis auf einige Zentimeter bedrohlich seiner Brust. In einem hielt der Tralthaner einen Scanner, und als er zu sprechen begann, hatte Hewlitt keinen blassen Schimmer, woher die überraschend leise Stimme kam.

„Bitte machen Sie sich keine Sorgen“, sagte er, während Hewlitt vergeblich versuchte, sich mit dem Rücken voran im Bett zu vergraben. „Es handelt sich um eine rein mündliche Untersuchung, oder anders ausgedrückt: Es kommt zu keinem körperlichen Eingriff. Sollten Sie allerdings eine meiner Fragen als einen Eingriff in Ihre Privatsphäre betrachten, erwarte ich von Ihnen natürlich keine Antwort. Ich will mich später einmal auf dem Fachgebiet der Gehirnchirurgie spezialisieren und werde mich deshalb bei der Untersuchung mit dem Scanner auf diesen Bereich konzentrieren. Ich würde gerne mit dem hinteren Teil des Gehirns beginnen, wo die Nervenbahnen im oberen Halswirbel enden.

Könnten Sie sich dazu bitte aufrecht hinsetzen und die Stirn auf die mittleren Gelenke ihrer angezogenen Gehgliedmaßen legen. Ich glaube, der nichtmedizinische Ausdruck dafür lautet Knie. Stimmt das?“

„Ja“, antworteten Hewlitt und Medalont gleichzeitig.

„Danke“, sagte der Tralthaner, und während er mit einem Auge immer noch den Chefarzt ansah, fuhr er fort: „Die terrestrische Klassifikation DBDG hat Glück, daß die Länge der Nervenverbindungen zwischen den visuellen, auralen, olfaktorischen und taktilen Sinnesorganen und dem Gehirn um einiges kürzer sind als bei den meisten anderen intelligenten Lebensformen, zu der auch meine Spezies zählt. Der Vorteil der schnelleren Reaktionszeit während der Entwicklungsstufe des Präsapiensmenschen führte zweifellos zu seiner Dominanz auf der Erde. Aber das Gehirn ist sodicht gepackt, daß die kartographische Erfassung der Nervenbahnen schwierig ist, was im Falle eines chirurgischen Eingriffs eine äußerst präzise Arbeit erforderlich macht. Wenn Sie den Ober- und Unterkiefer öffnen und schließen, Patient Hewlitt, tritt dann durch die Kompressionswirkung eine Belastungserscheinung am Hirnstamm auf?“

„Nein“, antworteten Hewlitt und der Chefarzt erneut im Chor.

Medalont machte den Eindruck, als würde er die Frage für ziemlich dumm halten, denn er sagte: „Das reicht. Wer ist als nächstes dran?“

Die Kreatur, die vortrat, hatte einen schmalen, röhrenförmigen Körper mit braun-schwarzen Streifen, der von sechs langen, sehr dünnen Gliedmaßen getragen wurde. Zwei Flügelpaare sprossen aus beiden Seiten des Körpers, aber sie waren so eng angelegt, daß Hewlitt nicht sicher war, welche vorherrschende Farbe sie hatten, und zwei lange, pelzige Fühler ragten oben aus dem insektenartigen Kopf heraus. Das Wesen richtete sich beinahe senkrecht auf, während es seine mittleren Gliedmaßen auf der Bettkante plazierte und mit riesigen, lidlosen Augen auf ihn herabsah.

Einer plötzlichen Regung folgend, wollte er nach dem Wesen schlagen, wie er es mit allen großen Insekten tat, die ihm zu nahe kamen, aber er besann sich eines Besseren. Bei einer solch zerbrechlichen Kreatur würde bestimmt schon ein kleiner Klaps ernste Verletzungen verursachen, so daß er keine Angst vor ihr zu haben brauchte. Abgesehen davon hatte er noch nie .nach einem Schmetterling geschlagen, wenngleich er einem solch großen Exemplar wie diesem hier auch noch nie zuvor begegnet war.

„Ich bin Forgianerin, Patient Hewlitt“, sagte das Wesen und nahm einen Scanner aus der Ausrüstungstasche, die an seinem Körper festgeschnallt war. „Da ich zur Zeit die einzige Vertreterin meiner Spezies in diesem Krankenhaus bin, und wir kein Volk sind, das viel herumreist, hoffe ich, daß Sie durch die erste Begegnung mit einer Forgianerin seelisch nicht zu sehr belastet werden. Mein Interesse gilt der Allgemeinchirurgie fremder Spezies, und deshalb werde ich Sie, natürlich nur mit ihrer Erlaubnis, vom Kopf bis zu den nicht als Greiforgane dienenden Zehen Ihrer Füße untersuchen…“ Ein großer Schmetterling mit einer tadellosen Art im Umgang mit Patienten, staunte Hewlitt in Gedanken.

„… Sie sind nicht der erste DBDG-Terrestrier, den ich untersuche und über den ich für meine späteren Studien Aufzeichnungen mache“, fuhr die Forgianerin fort. „Aber die anderen waren, wie es bei Patienten in einem Krankenhaus nun mal üblich ist, krank oder verletzt. Sie hingegen sind offenbar ein perfektes Untersuchungsexemplar und als solches für mich insbesondere für Vergleichszwecke interessant. Ich beginne jetzt damit, den Puls an der Schläfe, an der Halsschlagader sowie am Handgelenk zu messen. Wenn man bei einem Notfall keinen Scanner zur Verfügung hat, muß man diese Methode nämlich auch so beherrschen können.“

Der Kopf des Schmetterlings kippte nach vorn und neigte sich dann so zur Seite, daß einer der Fühler sowohl Hewlitts Schläfe als auch Hals berührte, und zwar so zart, daß er es mit geschlossenen Augen nicht einmal gemerkt hätte.

„Bei dem Gerät, das ich benutze, wird es nicht nötig sein, daß Sie sich ganz frei machen, insbesondere nicht im Genitalbereich“, erklärte ihm die Forgianerin. „Aufgrund meiner Studien der Verhaltensweisen Ihrer Spezies weiß ich, daß es bei Terrestriern ein Nacktheitstabu gibt, und sie sehr empfindlich reagieren können, wenn sie ihren Intimbereich offen zeigen sollen. Glauben Sie mir, ich habe nicht die Absicht, Sie in Verlegenheit zu bringen, Patient Hewlitt, ob Sie nun männlich oder weiblich sind… “

„Du meine Güte, man sieht doch auf den ersten Blick, daß das ein männlicher Terrestrier ist!“ fuhr eine Kelgianerin dazwischen. „Man braucht sich doch nur diese flachen und verkümmerten Brustdrüsen anzusehen. Selbst durch das Nachtgewand hindurch kann man die Konturen seiner Brust erkennen, oder besser gesagt: Man kann sie eben nicht erkennen. Bei Frauen sind sie vollständig entwickelt und verleihen der DBDG-Frau das für sie typische oberlastige Erscheinungsbild …“

Die Kelgianerin hielt abrupt inne, weil Medalont eine Zange hob und zweimal laut damit klickte. „Das reicht!“ fuhr er entschieden dazwischen. „Jetzt ist wirklich nicht der Zeitpunkt für interne Auseinandersetzungen,zumal der Patient alles mithören kann und vielleicht seine eigenen Schlüsse bezüglich Ihrer medizinischen Kenntnisse zieht.“

Als nächstes trat die Kelgianerin vor, die für die Unterbrechung verantwortlich war. Sie stand auf den drei hinteren, raupenartigen Beinpaaren und schlängelte sich wie ein pelziges Fragezeichen über das Bett; bekanntermaßen verhielten sich kelgianische Wesen auch Patienten gegenüber alles andere als rücksichtsvoll.

„Die Untersuchung, die ich durchführen werde, wird ähnlich wie die meiner forgianischen Kollegin verlaufen“, sagte sie. „Darüber hinaus möchte ich Ihnen allerdings einige Fragen stellen. Meine erste Frage lautet: Was hat ein anscheinend gesunder Patient wie Sie in einem Krankenhaus zu suchen? Dem Krankenbericht des Chefarztes zufolge sind Sie in klinischer Hinsicht gesund, wenn man davon absieht, daß bei Ihnen ohne erkennbaren Grund lebensbedrohliche Herzbeschwerden aufgetreten sind. Was fehlt Ihnen, Patient Hewlitt? Besser gesagt: Was glauben Sie selbst, was Ihnen fehlen könnte?“

„Zum hundertsten Mal: Ich weiß es nicht!“ fauchte Hewlitt wütend.

Wie bei dieser Spezies üblich, benahm sich auch diese Kelgianerin ausgesprochen unhöflich, ehrlich und sehr direkt, denn sie wußte einfach nicht, wie man sich anders verhalten konnte. Hätte sich Hewlitt seinerseits genauso wie die Kelgianerin aufgeführt, wäre sie kein Stück beleidigt gewesen, da Höflichkeit und Diplomatie für sie Fremdwörter waren. Das war eins der Dinge, die er seit seiner Ankunft in dieser Irrenanstalt, die man offiziell als Krankenhaus bezeichnete, gelernt hatte, und wenn er die Gelegenheit beim Schöpf faßte und die richtigen Fragen stellte, bot sich ihm nun erstmalig die Möglichkeit, sich dieses Wissen nutzbar zu machen.

Außerdem wußten Kelgianer nicht, wie man lügt.

„Der Zustand tritt ohne ersichtliche Ursache und, ohne Vorwarnung in Abständen auf“, fuhr Hewlitt deshalb fort. „Aber das müßten Sie ja auch aus meiner Krankenakte wissen. Was geht eigentlich sonst noch daraus hervor?“„In der Akte wird des weiteren die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß Sie selbst die Hauptursache sind“, antwortete die Kelgianerin geflissentlich, „und daß der Krankheitszustand durch eine heftige hysterische Reaktion hervorgerufen wird, deren Auslöser wiederum eine tiefsitzende Psychose ist, die sich auch auf physischer Ebene äußern kann. Um diese Theorie nachzuweisen oder auch zu widerlegen, wurde eine genaue psychologische Untersuchung angeordnet. Und jetzt drehen Sie sich auf die linke Seite.“

Hewlitt blickte sofort zu Braithwaite hinüber, der schmunzelnd an die Decke sah, und sagte dann: „Bislang gibt es keinen einzigen Beweis einer existierenden Psychose, sei sie nun tiefverwurzelt oder sonst was, und zwar deshalb, weil es einfach keine zu finden gibt. Hätte es in meiner Kindheit ein Erlebnis oder gar ein Verbrechen gegeben, das seither in meinem Unterbewußtsein vergraben liegt und so gräßlich und schmerzlich gewesen ist, daß ich mich gezwungen sah, es zu vergessen, dann hätte ich bestimmt Erinnerungslücken oder würde ständig von Alpträumen geplagt. Auf alle Fälle müßte es unter diesen Umständen irgendwelche anderen Symptome als den plötzlichen Eintritt eines Herzstillstands geben, oder was meinen Sie?“

Das Fell der Kelgianerin bewegte sich von der Nase bis zu dem Körperabschnitt, der von der Bettkante verdeckt wurde, in schnellen unregelmäßigen Wellen, als sie antwortete: „Ich bin zwar keine Psychologin für Terrestrier und noch nicht einmal für Kelgianer, dennoch stimme ich mit Ihnen nicht überein. Es ist allgemein anerkannt, daß verdrängte Erlebnisse starke Auswirkungen auf den allgemeinen Gesundheitszustand eines Wesens haben, und je höher der Verdrängungsgrad ist, desto schwerer ist es, diese Probleme zu entdecken. Es verbirgt sich etwas in Ihrem Unterbewußtsein, das nicht zum Vorschein kommen will. Falls dieses verdrängte Erlebnis solch eine Bedrohung für Sie bedeutet, daß es einen Herzstillstand oder andere Symptome verursachen kann, wie sie ja bereits in der Vergangenheit während ähnlicher Anlässe aufgetaucht sind, dann muß das Problem sehr sorgfältig lokalisiert, identifiziert und aufgedeckt werden, damit Sie diesen Prozeß unversehrt überstehen.“Diesmal blickte die Kelgianerin zu Braithwaite hinüber, der zustimmend nickte. Also glaubten wieder einmal alle, daß sich bei ihm alles nur im Kopf abspielte. Hewlitt versuchte, seine aufsteigende Wut zu unterdrücken, was aber eigentlich unnötig war, wenn man sich mit einer Kelgianerin unterhielt, und sagte: „Und wie sollte man dieses verdrängte Problem Ihres Erachtens nach am besten aufdecken und identifizieren?“

Einen Moment lang herrschte Stille, die Medalont schließlich mit dem Einwurf durchbrach: „Der Patient scheint jetzt seine Ärztin prüfen zu wollen. Obwohl ich zugeben muß, daß mich die Antwort auch interessiert.“

Das Fell der Kelgianerin richtete sich stachelig auf und legte sich wieder, bevor sie antwortete: „Bisher ist Chefarzt Medalont außerstande gewesen, eine medizinische Ursache für Ihren Zustand festzustellen, Patient Hewlitt. Andererseits hat Lieutenant Braithwaite auch keine Anzeichen für eine schwere psychische Störung entdecken können. Wenn es aber etwas gibt, dann müssen Sie etwas merken, Sie müssen fühlen, daß etwas mit Ihnen nicht stimmt, wie schwach diese Empfindung auch immer sein mag. Deshalb schlage ich vor, daß eine noch genauere Untersuchung Ihres Gefühlsleben vorgenommen werden sollte, und zwar eine gründlichere als die mündliche Befragung seitens des Lieutenants.

Konkret denke ich dabei an eine Untersuchung, die von einem cinrusskischen Empathen wie Doktor Prilicla durchgeführt werden sollte“, beendete die Kelgianerin ihre Ausführungen. „Er wäre vielleicht in der Lage, Empfindungen wahrzunehmen, die, obwohl sie Ihnen selbst gar nicht bewußt sind, wahrscheinlich die Ursache für Ihre Krankheit sein könnten.“

„Aber normalerweise geht es mir doch gut! Und wäre ich nicht der erste, der wüßte, wenn es nicht so wäre?“ protestierte Hewlitt. „Unabhängig davon habe ich seit meinem Aufenthalt im Orbit Hospital zwar einige ziemlich schauerlich aussehende Aliens kennengelernt, jedoch kann ich mich nicht daran erinnern, daß einer davon ein Cinrussker gewesen ist.“

„Wenn Sie Prilicla gesehen hätten, dann würden Sie sich bestimmt an ihn erinnern“, versicherte ihm die Kelgianerin.Bevor er antworten konnte, klickte Medalont mit einer Zange, um für Ruhe zu sorgen, und sagte: „Vor allem sollten Sie bedenken, daß Cinrussker keine Telepathen, sondern Empathen sind, die zwar selbst die unterschwelligsten Gefühle wahrnehmen und auseinanderhalten können, aber nicht deren Ursachen erkennen. Patient Hewlitts emotionale Ausstrahlung durch einen Empathen prüfen zu lassen, ist ein guter Vorschlag, so gut, daß er bereits von der psychologischen Abteilung und mir gemacht wurde. Bedauerlicherweise kann er noch nicht umgesetzt werden, da Chefarzt Prilicla erst in zwei Wochen von Wemar zurückkehren wird. Inzwischen hat sich Patient Hewlitt freundlicherweise bereit erklärt, Sie bei Ihrer Ausbildung zu unterstützen, indem er sich einer Art Multispezies-Untersuchung unterzieht, die jeder von Ihnen der Reihe nach durchführen wird. So, Sie alle müssen heute noch Vorlesungen besuchen, und Ihre Zeit hier ist begrenzt. Lassen Sie uns also fortfahren.“

Einige der Untersuchungen verliefen nicht ganz so sanft wie andere, jedoch war keine so unangenehm, als daß Hewlitt es für nötig gehalten hätte, sich zu beschweren. Darüber hinaus gab er sich alle Mühe, die Fragen zu beantworten, anstatt zu versuchen, selbst welche zu stellen.

Schließlich war alles vorbei. Medalont und die Auszubildenden bedankten sich bei ihm einer nach dem anderen, bevor sie sich entfernten und ihn mit Braithwaite allein zurückließen.

„Na, das haben Sie ja wirklich prima durchgestanden, Patient Hewlitt“, lobte ihn der Lieutenant. „Ich bin tief beeindruckt.“

„Ja ja, ist ja gut“, murmelte Hewlitt etwas verlegen. „Und was ist nun mit Ihrem ach so speziellen und angeblich so unangenehmen Stress-Test, bei dem Sie es unter keinen Umständen zulassen wollten, daß er außer Kontrolle gerät? Werde ich den genauso gut überstehen?“

Braithwaite lachte. „Den haben Sie doch gerade überstanden.“

„Ich verstehe.“ Hewlitt schnaufte abfällig. „Sie wollten sehen, welche Auswirkungen ein solcher Massenangriff von Aliens auf meine nicht existierende Psychose haben würde, stimmt's? Nun, ich fühle mich in derenGesellschaft immer noch nicht besonders wohl, scheine aber aus irgendeinem Grund neugieriger geworden zu sein. Ich meine damit, daß ich jetzt aufrichtige Neugierde anstatt Angst empfinde. Können Sie mir verraten, warum das so ist?“

„Neugierde ist immer gut“, meinte der Psychologe, und ohne die Frage zu beantworten, fuhr er fort: „Sie haben noch ein weiteres Problem. Die Zeit, die ein Arzt am Orbit Hospital jedem einzelnen Patienten widmen kann, ist sehr knapp bemessen, besonders bei nicht so; dringenden Fällen wie dem Ihren. Haben Sie eine Idee, wie Sie sich in den nächsten Wochen beschäftigen können?“

„Wollen Sie mir damit sagen, daß mit mir nichts unternommen wird, bis dieses cinrusskische Wesen namens Prilicla hier auftaucht, um meine Emotionen zu deuten?“ empörte sich Hewlitt. „Mit Ausnahme dessen, daß mein Körper als eine Art lebendiges Forschungslabor für Auszubildende benutzt wird? Außerdem nehme ich an, daß mir Prilicla später sowieso nur erklären wird, daß mir nichts fehle und ich mir alles nur einbilde und mich zusammenreißen und nach Hause gehen solle, um anderen nicht ihre kostbare Zeit zu stehlen. Und ansonsten wollen Sie bis dahin überhaupt nichts unternehmen?“

Braithwaite lachte erneut und schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht witzig, verdammt noch mal!“ empörte sich Hewlitt. „Zumindest nicht für mich.“

„Wenn Sie erst einmal einen Cinrussker kennengelernt haben, dann werden Sie auch darüber lachen müssen“, besänftigte ihn Braithwaite. „Es ist nämlich nicht Priliclas Art, so mit Leuten zu reden. So, das erst einmal dazu. Darüber hinaus versuchen wir, etwas anderes zu tun, als Sie unter dauernde medizinische Beobachtung zu stellen. Zugegebenermaßen ist das nicht viel, aber wir halten es durchaus für möglich, daß an der Geschichte über das giftige Obst, das Sie gegessen haben, etwas Wahres sein könnte, wenngleich es sich dabei um eine ziemlich vage Theorie handelt. Der Saft, der in geringen Mengen tödlich ist, hat, wenn er in großen Mengen getrunken wird, offenbar heilende Eigenschaften. Ich kann Ihnen zwar keinemedizinischen Gründe nennen, warum das so sein soll, aber es gibt dafür einen bekannten Präzedenzfall. In diesem speziellen Fall traten langfristige Nachwirkungen auf, was vielleicht Ihre in Abständen auftretenden Symptome erklären könnte - wenngleich ich auch hier nicht weiß, weshalb und warum das so ist. Deshalb werden wir auf Etla Proben der Frucht nehmen lassen, so daß in bezug auf deren Giftigkeit in der Pathologie eine unabhängige Untersuchung durchgeführt werden kann.

Wenn man die Zeit rechnet, die für den Hin- und Rücksprung durch den Hyperraum zwischen hier und Etla benötigt wird, sowie für das Finden, Pflücken und Verstauen der Frucht, plus der Dauer der Analyse, dann bedeutet das eine Wartezeit von mindestens zwei Wochen. Während dieser Zeit wird nicht viel mit Ihnen passieren, es sei denn, Prilicla kehrt vorzeitig zurück, oder Medalont läßt sich eine neue Behandlungsmethode einfallen. Deshalb wollte ich von Ihnen wissen, wie Sie sich bis dahin die Zeit zu vertreiben gedenken.“

„Das weiß ich nicht“, antwortete Hewlitt. „Mit Lesen und Fernsehen, nehme ich mal an, wenn Sie mir die Codes für die Bibliothek geben. War das eigentlich Ihre Idee, die Penissithfrucht analysieren zu lassen?“

Braithwaite schüttelte erneut den Kopf. „Ich möchte nicht mit einer solch verrückten Idee in Verbindung gebracht werden. Das war Padre Liorens Vorschlag. Er ist ein DRLH-Tarlaner und arbeitet mit der psychologischen Abteilung zusammen. Er wird Sie in den nächsten Tage wahrscheinlich besuchen. Optisch ist er ein ziemlich furchterregend aussehendes Wesen, aber vielleicht kann er Ihnen helfen. Nach dem Verhalten zu urteilen, das Sie bei der Untersuchung durch die Auszubildenden an den Tag gelegt haben, sollte Ihnen seine äußere Erscheinung keine Probleme mehr bereiten.“

„Das fürchte ich allerdings auch“, stimmte ihm Hewlitt nur widerwillig zu, denn über dieses Kompliment mochte er sich nicht recht freuen. „Aber… aber bedeutet das, was Sie eben gesagt haben, daß Sie mir allmählich glauben?“

„Nein, tut mir leid“, widersprach Braithwaite. „Wie ich bereits erwähnthabe, gehen wir davon aus, daß Sie sich selbst glauben. Das ist etwas ganz anderes, als wenn wir denken würden, daß das, was Sie uns erzählen, absolut der Wahrheit entspricht. Der Vorfall mit der Pennisithfrucht ist praktisch der einzige Anhaltspunkt, den Sie uns gegeben haben, und somit ist diese Frucht auch das einzige Beweisstück, das überprüft werden kann. Wir müssen versuchen, Ihre Aussage entweder zu beweisen oder zu widerlegen, und uns dann weiter vortasten.“

„Und wie wollen Sie dabei genau vorgehen?“ wollte Hewlitt wissen. „Indem Sie mich mit der Pennisithfrucht füttern und dann abwarten, ob ich sterbe?“

„Tut mir leid, als Nichtmediziner kann ich Ihnen diese Frage nicht beantworten“, entgegnete Braithwaite lächelnd. „Selbstverständlich wird man entsprechende Sicherheitsvorkehrungen treffen, aber ansonsten haben Sie wahrscheinlich recht.“

10. Kapitel

Zwar wußte Hewlitt, daß es sich um kein Krankheitssymptom handelte, das per Sensorenmeßgerät auf dem Kontrollmonitor im Personalraum angezeigt werden würde, aber allmählich fragte er sich allen Ernstes, ob es so etwas wie unheilbare Langeweile mit einhergehender Verkümmerung der Sprechorgane gab.

Außer sich nach seinem allgemeinen Wohlbefinden zu erkundigen und zu sagen: „Na, dann ist ja alles in Ordnung“, ließ sich Medalont zu keinen weiteren Äußerungen hinreißen. Die hudlarische Schwester war wie immer sehr freundlich und hilfsbereit, wenn sie sich mit ihm unterhielt, doch die meiste Zeit des Tages hielt sie sich nicht auf der Station auf, sondern nahm an Vorlesungen teil oder war mit anderen Dingen beschäftigt. Braithwaite kam jeden Tag auf dem Weg zur Kantine für ein paar Minuten bei ihm vorbei, wobei er stets betonte, daß er ihm nur Gesellschaft leisten wolle und es keine medizinischen Gründe dafür gebe, zumal diese Besuche außerhalb seiner Dienstzeit stattfänden. Immerhin hatte er Hewlitt einige brauchbare Codes für den Bibliothekszugang besorgt, doch ansonsten redete er immer nur viel, ohne wirklich etwas zu sagen. Der tarlanische Kollege des Lieutenants, Padre Lioren, hatte sich bisher noch nicht blicken lassen, genausowenig wie Oberschwester Leethveeschi, die sich laut eigener Aussage nur dann um ihn kümmern wollte, wenn auf seinem Überwachungsmonitor ein medizinischer Notfall angezeigt werden würde.

Die ambulanten Patienten, die auf dem Weg zum Waschraum an seinem Bett vorbeikamen – zwei Melfaner, ein kürzlich eingelieferter Dwerlaner, eine Kelgianerin und eine sich nur sehr langsam fortbewegende Tralthanerin -, redeten zwar manchmal miteinander, aber niemals mit ihm, und bei den wenigen Gesprächen, die er auf der Station mithören konnte, wurde er nie mit einbezogen. Mit den Patienten, die im Nachbarbett beziehungsweise im Bett gegenüber gelegen hatten, konnte er sich nicht mehr unterhalten, weil sie woandershin verlegt worden waren.

Allmählich hatte er es satt, stundenlang der oberlehrerhaft klingendenStimme des Bibliothekscomputers zuzuhören, denn er kam sich wie früher vor, wenn er sich als kleiner Junge durch endlos lange Schulstunden quälen mußte. Damals wie heute empfand er nichts als Langweile und innere Unruhe, aber seinerzeit lockte wenigstens ein offenes Fenster, hinter dem sich eine Landschaft erstreckte, in der man unendlich viele interessante Dinge zum Spielen entdecken konnte. Hier gab es keine offenen Fenster, und wären welche vorhanden gewesen, dann hätte man dahinter nichts anderes als die totale Leere des Weltraums gesehen. Aus lauter Verzweiflung beschloß Hewlitt, auf der Station auf und ab zu gehen.

Als er bereits zweimal die Station durchquert hatte und gerade die dritte Runde drehte, kam Leethveeschi aus dem Personalraum gewatschelt und versperrte ihm den Weg.

„Bitte gehen Sie nicht so schnell, Patient Hewlitt!“ ermahnte sie ihn. „Sie könnten mit einer meiner Schwestern zusammenstoßen und sich dabei gegenseitig verletzen. Darüber hinaus ist Ihnen offensichtlich nicht klar, daß eine solch plastische Demonstration ihrer körperlicher Fitness gegenüber den anderen Patienten, die wirklich ernsthaft krank, verletzt oder ans Bett gefesselt sind, nicht gerade von großem Einfühlungsvermögen zeugt. Wenn Sie also unbedingt hier herummarschieren müssen, dann führen Sie Ihre Bewegungen bitte etwas langsamer aus.“

„Das tut mir leid, aber daran hatte ich wirklich nicht gedacht, Oberschwester“, entschuldigte sich Hewlitt kleinlaut.

Während er sich mit gedrosselter Geschwindigkeit fortbewegte, fühlte er sich immer unbehaglicher dabei, weiterhin nur stur geradeaus oder auf den Fußboden zu starren. Deshalb rang er sich schließlich dazu durch, wenigstens kurze Blicke auf die Patienten zu werfen, an deren Betten er vorbeikam. Die meisten beachteten ihn nicht, weil sie wahrscheinlich schliefen, zu krank waren oder ihn – genauso wie er sie – als zu häßlich empfanden. Die anderen Patienten verfolgten ihn mit den Augen, in einigen Fällen mit viel zu vielen, und es wunderte ihn nicht, daß sich lediglich eine Kelgianerin traute, ihn anzusprechen.

„Meines Erachtens sehen Sie für einen Terrestrier sehr gesund aus“,meinte die Kelgianerin, wobei sie das Fell kräuselte, das auf der sichtbaren Seite von einem großen Rechteck aus silbergrauem Stoff bedeckt war. „Was fehlt Ihnen denn?“

„Ich weiß auch nicht, was mir fehlt“, antwortete Hewlitt, der stehengeblieben war, um die Kelgianerin besser ansehen zu können. „Genau das versucht man jetzt hier im Orbit Hospital herauszufinden.“

„An dem Tag, an dem Sie eingeliefert worden sind, hat Leethveeschi doch das Reanimationsteam gerufen, nicht wahr? Es muß sehr ernst um Sie stehen“, meinte die Kelgianerin. „Werden Sie sterben?“

„Das hoffe ich doch nicht. Aber wie ich schon sagte, weiß ich selbst nicht, was mit mir ist“, antwortete Hewlitt.

Die Kelgianerin lag seitlich in einem großen, quadratischen Bett auf der Decke und hatte ihren pelzigen Körper zu einem S geformt, das etwas an Konturen verlor, als sie sich ein Stückchen mit dem Oberkörper hochwand. „Mir wird immer ganz übel, wenn ich sehe, wie ihr Terrestrier nur auf zwei Beinen das Gleichgewicht halten könnt. Wenn Sie sich mit mir unterhalten möchten, dann setzen Sie sich doch bitte auf die Bettkante. Keine Angst, ich bin nicht zerbrechlich, und ich werde auch nicht beißen, ich bin nämlich Pflanzenfresserin.“

Nachdem die Kelgianerin das erwähnt hatte, wurde Hewlitt schlagartig klar, wie befremdlich es für ein Wesen sein mußte, das sich auf vierunddreißig Füßen fortbewegte, wenn jemand nur zwei Beine zum Gehen benötigte. Auf jeden Fall beruhte das Gefühl auf Gegenseitigkeit. Als er sich auf die Bettkante setzte, achtete er geflissentlich darauf, den pelzigen Körper und die kurzen Raupenbeine der Kelgianerin bloß nicht mit den Oberschenkeln zu berühren.

Er hatte sich schon immer gern mit anderen Leuten unterhalten, und wenn er die Augen schloß oder hin und wieder einfach wegsah, könnte er sich vielleicht einbilden, daß die Kreaturen an diesem Ort auch in diese Kategorie fielen. Innerlich bereitete er sich auf ein höflich geführtes Gespräch vor, falls eine solche Form der Konversation mit einer Kelgianerin überhaupt möglich war.„Mein Name ist übrigens Hewlitt“, stellte er sich vor. „Ich habe mitbekommen, daß Sie einige Male an meinem Bett vorbeigegangen sind, und zwar gewöhnlich mit einer Tralthanerin oder einem Dwerlaner und einmal auch mit einem Duthaner, soweit ich mich erinnern kann. Um die verschiedenen physiologischen Klassifikationen kennenzulernen und einen besseren Überblick zu bekommen, habe ich mir einige Programme aus der Bibliothek angesehen. Dadurch weiß ich jetzt, wer mir etwas anhaben kann und wer nicht, wenngleich ich mir bei einigen Wesen immer noch nicht ganz sicher bin.“

„Ich heiße Morredeth“, stellte sich nun ihrerseits die Kelgianerin vor. „Das mit dem Duthaner und den anderen beiden haben Sie ganz richtig erkannt. Wenn wir an Ihrem Bett vorbeigekommen sind, haben Sie nie etwas gesagt. Deshalb sind wir der Meinung gewesen, daß Sie entweder sehr krank oder einfach nur ungesellig sind.“

„Ich habe Sie nicht angesprochen, weil Sie sich immer mit Ihren Begleitern unterhalten haben“, entgegnete Hewlitt. „Außerdem hielt ich es nicht für höflich, Sie zu unterbrechen.“

„Höflich! Schon wieder dieses komische Wort!“ empörte sich die Kelgianerin, wobei sich ihr Fell stachelig aufrichtete. „In unserer Sprache gibt es dafür keinen entsprechenden Ausdruck. Wenn Sie mit mir reden wollten, dann hätten Sie das ruhig tun sollen. Hätte ich nämlich keine Lust gehabt, Ihnen zuzuhören, dann hätte ich Sie schon aufgefordert, lieber den Mund zu halten. Warum müssen Nichtkelgianer immer alles so furchtbar kompliziert machen?“

Hewlitt empfand das als eine rhetorische Frage, die man nicht beantworten mußte. „Und was fehlt Ihnen, Morredeth?“ erkundigte er sich nach dem Wohlbefinden der Kelgianerin. „Ist es etwas Ernsthaftes?“

Selbst als sich das darauffolgende Schweigen in die Länge zu ziehen begann, machte die Kelgianerin noch immer keine Anstalten, die Frage zu beantworten. Wie sich Hewlitt erinnerte, waren Kelgianer zwar psychisch nicht imstande zu lügen, doch konnte sie nichts und niemand davon abhalten zu schweigen, wenn sie nicht antworten wollten. Gerade als er sich für dieFrage entschuldigen wollte, begann Morredeth zu sprechen.

„Die ursprüngliche Verletzung war eigentlich nicht so schwerwiegend, die Folgeerscheinungen sind allerdings sehr ernst und unheilbar. Leider werde ich nicht daran sterben, trotzdem möchte ich nicht darüber sprechen.“

Hewlitt zögerte, bevor er fragte: „Möchten Sie sich über etwas anderes unterhalten, oder möchten Sie lieber, daß ich gehe?“

Ohne auf die Frage einzugehen, fuhr Morredeth fort: „Lioren meint, ich solle versuchen, darüber zu sprechen und nachzudenken, anstatt das Problem zu verdrängen. Im Moment möchte ich mich aber lieber über die anderen Patienten, das Klinikpersonal und solche Dinge unterhalten, damit ich nicht dauernd daran denken muß. Natürlich kann ich nicht die ganze Zeit über etwas anderes reden und nachdenken, vor allem dann nicht, wenn alle Patienten schlafen oder wenn die Nachtschwester sich nicht mehr mit mir unterhalten kann, weil sie andere Dinge zu erledigen hat. Selbst im Schlaf werde ich noch von meinen Problemen eingeholt. Ich weiß nicht, wie es bei Ihrer Spezies ist, aber Kelgianer haben keine Kontrolle über den Ablauf ihrer Träume.“

„Da geht es uns Terrestriern auch nicht besser“, antwortete Hewlitt, der die ganze Zeit das silberne Stoffrechteck auf dem Körper der Kelgianerin musterte und sich fragte, welch schreckliche Verletzung sich darunter verbergen könnte.

Morredeth entging das natürlich nicht. „Ich habe wirklich keine Lust, darüber reden“, bekräftigte sie mit gekräuseltem Fell.

Seitdem ich mich aufs Bett gesetzt habe, spricht dieses bedauernswerte Wesen fast über nichts anderes als darüber, daß es nicht darüber sprechen will. Ein Psychologe könnte dieser Kelgianerin bestimmt weiterhelfen, dachte Hewlitt und sagte dann laut: „Sie haben eben eine Person namens Lioren erwähnt. Mir wurde gesagt, daß mich demnächst ein Tarlaner mit diesem Namen aufsuchen würde.“

„Hoffentlich nicht zu bald“, meinte Morredeth.

„Warum sagen Sie das?“ erkundigte sich Hewlitt mit einem etwasmulmigen Gefühl im Magen. „Ist Lioren eine besonders unangenehme Kreatur?“

„Nein, nein“, beruhigte ihn Morredeth. „Ich finde, daß er eigentlich ein ganz nettes Wesen ist, zumindest für einen Nichtkelgianer. Außerdem bin ich noch nicht lange genug hier, um zu wissen, was er genau macht. Horrantor hat mir allerdings erzählt, Lioren werde normalerweise nur zu den Patienten geschickt, bei denen die Ärzte mit ihrem Latein am Ende seien. Ich nehme an, damit sind wohl die hoffnungslosen Fälle gemeint, oder?“

Hewlitt gefiel dieser Ausdruck überhaupt nicht, und er fragte sich, ob Braithwaites frühere Bezugnahme auf Lioren auch wirklich völlig sachgemäß gewesen war. Nicht jeder oder, besser gesagt, niemand war so direkt wie ein kelgianisches Wesen.

„Und wer ist dieser Horrantor?“ wollte Hewlitt wissen. „Ist das einer der Ärzte?“

„Nein, eine Patientin“, stellte Morredeth klar und deutete den Gang hinunter. „Und zwar die da. Sie kommt gerade zu uns herüber, um zu erfahren, worüber wir reden. Das spürt man schon am bebenden Boden.“

„Und was ist mit ihr?“ erkundigte sich Hewlitt mit leiser Stimme, falls die tralthanische Patientin ebenfalls Probleme haben sollte, über ihre Krankheit zu sprechen.

„Das ist ja wohl offensichtlich, wenn sie nur noch auf fünf Beinen geht!“ fauchte ihn die Kelgianerin an. „Das hochgebundene Bein hat sie sich bei einem Betriebsunfall eingequetscht. Mit Hilfe der Mikrochirurgie ist es wiederhergestellt worden und wird schon bald so gut wie neu sein. Bei dem Unfall sind aber auch die Fortpflanzungsorgane und insbesondere der Gebärmutterhals in Mitleidenschaft gezogen worden, so daß noch weitere Behandlungen notwendig sind, aber fragen Sie Horrantor lieber nicht nach den blutigen Einzelheiten. Ich habe mehr von den chirurgischen Installationsarbeiten an ihrem Fortpflanzungssystem gehört, als mir lieb ist, und außerdem erinnert mich das nur an meine eigenen Probleme. Ach, sehen Sie nur! Bowab steuert gerade in unsere Richtung. Normalerweisespielen wir Karten – Bellas oder Scremman -, um uns die Zeit zu vertreiben. Spielen Sie auch gern Karten?“

„Ja und nein. Ich meine, ich kenne zwar die Regeln einiger terrestrischer Kartenspiele, bin aber kein besonders guter Spieler. Ist Bowab der Duthaner, der hinter Horrantor hergeht? Was hat er denn für eine Krankheit?“

„Sie sind sehr unentschlossen, Hewlitt“, tadelte ihn Morredeth. „Entweder können Sie spielen, oder Sie können es nicht. Bellas ist ein tralthanisches Geschicklichkeitsspiel, ähnlich dem terrestrischen Whist. Scremman kommt ursprünglich von Nidia, und ist, da stimme ich mit Bowab überein, der sich diesbezüglich als Experte betrachtet, ein Spiel für ausgesprochen geschickte Lügner und Betrüger. Ach so, ich weiß übrigens nicht genau, was der Duthaner hat, nur, daß sein Problem ungewöhnlich und eher ein Fall für die innere Medizin als für die Chirurgie ist. Das hier ist die Hauptbeobachtungs-, Übergangs- und manchmal auch Erholungsstation für Patienten, die das Glück haben zu überleben, was übrigens laut Oberschwester Leethveeschi auch wirklich die meisten tun. Manchmal werden hier schon ziemlich verrückte Patienten eingeliefert.“

„Das kann man wohl laut sagen“, pflichtete ihr Hewlitt bei, und während er beobachtete, wie Horrantor und Bowab näher kamen, überlegte er, ob Morredeths letzte Bemerkung einem der arideren Patienten oder ihm galt.

Horrantor blieb am Fußende des Bettes stehen, wobei ihr verletztes Bein nur leicht den Boden berührte. Jeweils eins ihrer vier ausstreckbaren Augen, die rundherum aus dem unbeweglichen, kuppelförmigen Kopf herausragten, war auf Morredeth, Bowab und Hewlitt gerichtet und aus irgendeinem Grund auch auf den weiter entfernt gelegenen Personalraum. Der Duthaner begab sich auf die gegenüber von Hewlitt gelegene Bettseite. Hewlitt selbst überlegte, ob das unregelmäßig braungefleckte Fell auf dem ansonsten dunkelgrünen, zentaurartigen Körper ein Anzeichen für seinen Gesundheitszustand oder ein natürliches Merkmal war. Dasselbe galt für den breiten, weißen Streifen, der von der Mitte der Stirn ausging und sowohl oben als auch unten an der Wirbelsäule entlang breiter wurde, umdann in einen langen buschigen Schwanz überzugehen. Doch erkundigte er sich lieber nicht danach. Der Duthaner knickte die Hinterbeine ein und verlagerte das Gewicht auf die Vorderbeine, während er sich mit den Ellbogen und Unterarmen auf dem Bett abstützte und mit beiden Augen, mit denen er nur in eine Richtung gleichzeitig sehen konnte, Hewlitt anstarrte.

Nach kurzem Zögern stellte sich Hewlitt vor und beschrieb kurz sein Problem. Ihm fiel nichts anderes ein, worüber er hätte reden können, denn die einzige Gemeinsamkeit, die sie nach seiner Auffassung alle vier besaßen, war eine Reihe verschiedener Krankheitssymptome.

Horrantor gab einen tiefen, stöhnenden Laut von sich, der so etwas wie Mitgefühl bedeuten mochte, und sagte: „Wenigstens wissen wir drei, was uns fehlt. Wenn die Ärzte nicht wissen, was Ihnen fehlt und Sie sich körperlich fit fühlen, dann könnte es sehr lange dauern, bis man die richtige Therapie für Sie gefunden hat.“

„Das ist wohl wahr“, pflichtete ihr Bowab bei. „Zumindest kann es lange genug dauern, daß es einem unendlich langweilig wird. Es sei denn, Sie finden einen angenehmen Zeitvertreib. Spielen Sie eigentlich gern Karten, Hewlitt?“

Bevor Hewlitt antworten konnte, mischte sich Morredeth ein: „Selbst eine Kelgianerin wie ich könnte das Thema behutsamer wechseln. Hewlitt kann zwar Karten spielen, kennt aber weder Bellas noch Scremman. Wir könnten ihm die Regeln erklären, oder vielleicht möchte er uns ja lieber ein terrestrisches Spiel beibringen.“

„Das würde Ihnen anfängliche Vorteile verschaffen, Hewlitt“, warf Horrantor ein, wobei sie ein weiteres Auge auf ihn richtete. „Mit uns dreien als Gegner könnte Ihnen das nicht schaden.“

Offensichtlich hielten sich diese Wesen für sehr gute Kartenspieler, und Hewlitt reizte der Versuch, sie mit den Regeln eines komplizierten Spiels zu verwirren, bei dem man sich wie bei Whist oder noch besser Bridge mit einem Partner zusammenschließen mußte. Andererseits könnte ihre Selbstbeurteilung durchaus richtig sein, so daß eine mögliche anfängliche Verwirrung nicht besonders lange anhalten würde.„Ich hätte mehr Lust, ein neues Spiel zu lernen, als Ihnen eins beizubringen“, schlug er deshalb vor. „Außerdem habe ich nicht daran gedacht, terrestrische Spielkarten von der Erde mitzubringen.“

„Das wäre weiter nicht schlimm. Wenn man irgendwelche Karten haben möchte, kann Leethveeschi sie aus dem Freizeitbereich anfordern“, informierte ihn Bowab. Dann langte er in die Tasche einer kurzen Schürze, die das einzige Kleidungsstück war, das er trug, und holte daraus einen dicken Packen Spielkarten hervor. „So sind wir auch immer an unsere Sachen gekommen. Also, wir werden erst einmal ein paar Übungsspiele machen, bei denen wir mit aufgedeckten Karten spielen, damit Sie wissen, wie es funktioniert. Lassen Sie uns keine Zeit verlieren, Morredeth. Rutschen Sie etwas weiter nach oben, und machen Sie uns Platz zum Spielen.“

Die Kelgianerin wickelte sich zu einem noch engeren S zusammen, so daß das untere Bettende frei war, dann drehte sie den kegelförmigen Kopf und den Oberkörper zur Seite, bis ihre kurzen Arme über der Spielfläche baumelten. Bowab, Horrantor und Hewlitt waren bereits startklar, als die Tralthanerin sagte:

„Da hinten kommt Leethveeschi auf uns zugesteuert. Was kann sie denn um diese Tageszeit von uns wollen. Ist bei einem von Ihnen die Medikamenteneinnahme fällig?“

„Guten Tag, Patient Hewlitt“, begrüßte ihn die Oberschwester und blieb dabei so stehen, daß sie ihn durch die Spalte zwischen Horrantor und Bowab hindurch ansehen konnte. „Ich freue mich, daß Sie mit anderen Patienten Bekanntschaft geschlossen haben und gemeinsam mit ihnen Karten spielen. Lieutenant Braithwaite wird bestimmt auch sehr zufrieden sein, wenn er davon hört.

Trotzdem muß ich Sie auf eine Krankenhausregelung hinweisen, die sich auf diverse Gruppen- oder Freitzeitaktivitäten bezieht“, fuhr sie fort. „Spiele dürfen nur der geistigen Übung oder auch Zerstreuung dienen und nicht der persönlichen Bereicherung. Auf keinen Fall darf um Geld, um Föderationswährung oder Schuldscheine irgendwelcher Art gespieltwerden. Sie befinden sich hier inmitten einer Horde zivilisierter Raubtiere, Patient Hewlitt, und der Gedanke, der mir dazu automatisch einfällt, wird wohl am besten durch die terrestrische Redensart ›ein Schaf unter Wölfen sein‹ beschrieben. Bitte versuchen Sie also nicht, sich beim Spielen zu sehr aufzuregen, weil Ihr Sensorenmeßgerät sonst womöglich einen klinischen Notfall meldet. Ach so, diese Dinger hier könnten Sie vielleicht zum Spielen gebrauchen…“

Eine grüne, formlose Hand wühlte in einer Tasche, die an der Außenfläche von Leethveeschis Schutzhülle angebracht war, und zog eine kleine Plastikschachtel heraus, die sie direkt neben Hewlitt aufs Bett warf.

„… sie werden von Ihrer Spezies unter anderem dazu benutzt, um zwischen den Zahnlücken haftende Essensreste zu entfernen. Bestimmt finden Sie eine andere Verwendung dafür. Viel Glück.“

Nachdem die Oberschwester gegangen war, fand Bowab als erster seine Stimme wieder.

„Eine ganze Schachtel mit Zahnstochern!“ rief er. „Wir drei mußten uns eine halbe Schachtel teilen. Hewlitt, Sie sind ein Millionär!“

11. Kapitel

Scremman war gar nicht so kompliziert, wie Hewlitt zunächst befürchtet hatte, obwohl es sich um ein Spiel mit fünfundsiebzig Karten und fünf Farben handelte; jeweils fünfzehn Karten pro Farbe mit individuellen Symbolen – blaue Halbmonde, rote Speere, gelbe Schutzschilde, schwarze Schlangen und grüne Bäume. Die höchsten Karten waren die ›Herrscherin‹ oder der ›Herrscher‹, der jeweilige ›Ehepartner‹ sowie der ›Erbe‹, gefolgt von den Karten zwölf bis eins. Im Gegensatz zu den terrestrischen Spielen, wo das As seines Wissens immer die höchste Karte war, war die Eins - die ›Arme‹, wie sie genannt wurde – die niedrigste. Wenn man allerdings gleichzeitig eine Zwölf derselben Farbe hatte, konnte man damit die drei hohen ›Herrscherkarten‹ übertrumpfen.

Wie ihm die anderen erklärten, habe das Spiel durchaus historische und sozialpolitische Wurzeln. So stelle der Zusammenschluß der niedrigsten und der höchsten Nichtherrscherkarte einen Volksaufstand, eine Palastrevolution und in der heutigen Zeit eine erfolgreiche kollektive Machtübernahme dar. Drei, vier oder fünf Karten mit derselben Zahl und verschiedenen Farben hatten besondere Werte, und wenn man außerdem eine Zehn in der Hand hatte, übertraf man damit zwei Herrscherkarten eines Mitspielers. Es gab noch etliche andere Kombinationen aus Zahlen und Symbolen, mit denen man den Wert von Karten oder Kartenkombinationen eines Gegners übertrumpfen oder vermindern konnte, doch Hewlitt glaubte nicht, allzu lange zu brauchen, um auch diese zu lernen.

Während der ersten drei Runden konnte sich jeder Spieler eine Extrakarte geben lassen, mußte aber jedesmal dafür eine andere ablegen, und danach mußte er die Karten vom Geber, dem sogenannten Spielverwalter, durch Erhöhen des Einsatzes kaufen. Spieler, die keine Extrakarten kauften, hatten entweder ein schlechtes Blatt und wollten kein Geld zum Fernster hinauswerfen, oder sie hatten ein sehr gutes und wollten sich nicht beirren lassen.Außerdem wurde die ganze Geschichte dadurch erschwert, daß jeder Spieler zwei kleine Stapel von jeweils bis zu drei verdeckt abgelegten Karten hatte. Nur der Spieler selbst wußte, welcher Haufen zum ständigen Ablegen diente und welcher, falls erforderlich, bei Beendigung des Spiels wieder in die Hand genommen werden würde. Durch das genaue Beobachten der Körpersprache eines Gegenspielers war es durchaus möglich, den echten Stapel zum Ablegen ausfindig zu machen, wobei man allerdings stets bedenken mußte, daß diesbezüglich auch gern geblufft wurde.

„Während der ersten paar Spiele werden wir Sie noch schonend behandeln und Sie auf Ihre Fehler hinweisen“, merkte Horrantor mit einem unübersetzbaren Geräusch an, das wahrscheinlich einem tralthanischen Lachen entsprach. „Ich denke, daß Sie jetzt die Regeln gut genug beherrschen und wir beginnen können.“

„Aber noch nicht gut genug, um bereits auch mit dem Schummeln beginnen zu können“, meinte Bowab, während er dichter ans Bett heranrückte.

„Ach ja, das Schummeln, das hätte ich fast vergessen“, pflichtete ihm die Tralthanerin bei. „Sie müssen immer daran denken, daß Ihre Gegner versuchen werden, Sie zu betrügen. Das bedeutet, daß sie auch körperliche Vorteile auf jede nur denkbare Art Ihnen gegenüber ausnutzen werden, und sei es auch noch so unfair. Wenn ich beispielsweise so neben Ihnen stehe, dann kann ich, obwohl Sie es bisher wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt haben, eins meiner Auge so zur Seite ausstrecken, daß ich Ihnen direkt in die Karten sehen kann. Außerdem können die Duthaner ihr Sehschärfe genau auf ein Objekt einstellen, in diesem Fall sind es Ihre Augen, wenn es in einer bestimmten Entfernung verharrt. Ihre Karten werden klar und deutlich in Ihren Augen widergespiegelt, insbesondere die Karten, die Sie in der Hand halten, deshalb sollten Sie die Sicht Ihres Gegners blockieren, indem Sie die Augen zusammenkneifen und durch Ihre komischen Haarfransen an den Rändern der oberen und unteren Verschlußklappen hindurchblinzeln. Es werden noch geschicktere Methoden angewandt, umjemanden zu betrügen, aber am Anfang werden wir Ihnen die Möglichkeit bieten, sie wahrzunehmen, damit Sie entsprechend darauf reagieren können.“

„D… danke, ich… ich …“, stammelte Hewlitt.

„Schluß jetzt mit dem Gerede! Lassen Sie uns endlich anfangen!“ fuhr Morredeth ungeduldig dazwischen.

Die nächsten zwei Stunden vergingen sehr schnell, bis die hudlarische Schwester kam und ankündigte, daß jetzt das Abendessen serviert werde.

„Wenn Sie sich weiter unterhalten oder ihre Aktivitäten fortsetzen wollen, können Sie ja zusammen an dem Tisch vor dem Personalraum essen“, schlug sie vor. „Sonst werden die Mahlzeiten direkt zu Ihren jeweiligen Betten gebracht. Na, was ist?“

Horrantor, Bawob und Morredeth riefen sofort im Chor, in den auch Hewlitt mit leichter Verzögerung einstimmte: „Am Tisch!“

„Sind Sie sich wirklich sicher, Patient Hewlitt?“ erkundigte sich die Schwester erstaunt. „Sie verfügen nur über geringe Erfahrungen im Umgang mit fremden Spezies, und wenn Sie die anderen zum ersten Mal am Tisch essen sehen, könnte das bei Ihnen ein gewisses Unbehagen auslösen. Oder haben Sie zuvor schon einmal mit Fremdweltlern zusammen gegessen?“

„Nein, noch nie, aber ich möchte unsere Unterhaltung nicht unterbrechen“, antwortete Hewlitt. „Außerdem bin ich mir sicher, daß es mir nichts ausmachen wird, Schwester.“

„Der Trick dabei ist, nicht auf die Teller der anderen zu gucken, sondern nur auf den eigenen“, riet ihm Horrantor.

Als die Tabletts kamen, konnte es sich Hewlitt nicht verkneifen, auf die Teller der anderen zu schielen und fand, daß deren Essen zwar unappetitlich aussah, aber keineswegs eklig. Am meisten irritierte ihn der Anblick von Horrantor, die riesige Mengen gekochter Pflanzen - sie hatte mindestens die sechsfache Körpermasse eines Terrestriers und verschlang logischerweise riesige Portionen davon – in eine Öffnung hineinschob, die er niemals als einen Mund identifiziert hätte. Morredeth war ebenfalls einePflanzenfresserin, und sie gab enorm laute Geräusche von sich, während sie eine Auswahl knackiger und undefinierbarer Rohkost zerschnipselte. Was Bowab aß, konnte er nicht sagen, wenngleich von seinem Teller ein merkwürdig würziger Geruch ausging.

Darüber hinaus entging Hewlitt natürlich nicht, daß die drei Aliens nie auf seinen Teller schauten, und er fragte sich, ob es sich dabei nur um gute Manieren handelte oder ob der Anblick seines synthetischen Steaks und der Pilze womöglich eine noch schlimmere Wirkung auf sie hatte.

Als sie zu Ende gegessen hatten, stellten die anderen drei die Tabletts auf den Essenswagen zurück, und deshalb tat Hewlitt es ihnen gleich. Zwar wußte er nicht, ob sie es deshalb taten, um dem Pflegepersonal Zeit und Arbeit zu ersparen oder um schnell den Tisch für das nächste Spiel abzuräumen, doch hielt er es so oder so für eine gute Idee.

Während Bowab, der Gesamtsieger des vorherigen Spiels, die Karten austeilte, sagte Hewlitt: „Sie sind als Spieler wirklich alle ganz schön hinterhältig, wenn nicht sogar bösartig. Ich würde nicht gerade behaupten, daß die letzten drei Spiele für mich zufriedenstellend verlaufen sind. Ich habe schon die Hälfte meiner Zahnstocher verloren. Das ist gemein!“

„Sehen Sie das Ganze einfach als eine Art unfreiwillig gezahltes Lehrgeld an“, schlug Bowab vor. „Deshalb sollten Sie lieber gute Miene zum wirklich bösen Spiel machen.“

Ein pelziger Zentaur, der auch noch witzig zu sein versucht, dachte Hewlitt. Dann lachte er höflich und fuhr fort: „Meiner Meinung nach ist Scremman ein höchst unfaires Spiel, da das Gewinnen nicht nur davon abhängt, ob ein Spieler gut tricksen und bluffen kann, sondern auch davon, wie genau er die Gesichtsausdrücke oder Regungen seiner Gegner deuten kann. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob es unter dem ganzen kelgianischen und duthanischen Fell überhaupt irgendwelche Gesichtsausdrücke gibt, die man deuten könnte, und Horrantors Kopfhaut ist so ausdrucksfähig wie ein hudlarischer Panzer. Bevor ich hierherkam, habe ich mich mit Aliens immer nur per Kommunikator unterhalten. Für mich sind Sie alle so absolut fremd, daß ich weder die Mimik noch aufschlußreiche Gesten erkennen könnte,

selbst wenn ich welche sehen würde.“

„Wie uns nicht entgangen ist, haben Sie seit Ihrer Einlieferung das physiologische Klassifikationssystem der Bibliothek studiert, das zur Identifizierung und Beschreibung der Bürger der Föderation dient, wozu auch einige grundlegende Informationen über das gesellschaftliche Verhalten gehören. Während des letzten Spiels sind Sie sehr schnell dahintergekommen, welchen Kartenhaufen ich zum Ablegen benutzt habe. Entweder sind Sie zu bescheiden, Hewlitt, oder Sie sind gar nicht so dumm, wie Sie tun, und führen uns alle gehörig an der Nase herum.“

„Demnach haben Sie bereits gelernt, daß bei Scremman während der Spielpausen auch eine psychologische Komponente eine gewisse Rolle spielt“, mischte sich Horrantor ein. „Sie machen wirklich gute Fortschritte.“

„Und sollte ich auch lernen, mich von Komplimenten dieser Art nicht entwaffnen zu lassen?“ erkundigte sich Hewlitt in scherzhaftem Ton.

„Selbstverständlich sollten Sie das“, pflichtete ihmBowab bei.

Hewlitt lachte erneut und sagte: „Würde ich also meine Unkenntnis auf diesem Gebiet zugeben, wäre dadurch meine Position nicht einmal geschwächt, weil das Eingeständnis als ein möglicher Bluff angesehen werden könnte, durch den ich meine vermeintlich vorhandenen Fähigkeiten nur verbergen will, richtig? Aber was machen Sie mit jemandem wie Morredeth? Sie ist doch mit Sicherheit benachteiligt, weil sie nicht lügen kann, oder?“

„Kelgianisches Bluffen oder Tricksen bedeutet, daß die wahren Absichten durch Schweigen geheimgehalten werden. Wir müssen versuchen herauszufinden, was sie denkt, indem wir ihr Fell beobachten. Für einen Nichtkelgianer sind solche Gefühlsregungen allerdings sehr schwer zu deuten.“

Bowab sah erst Horrantor und dann wieder Hewlitt an und gab einen knurrenden Laut von sich, der nicht übersetzt wurde. Hewlitt war sich zwar nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, als ob der Duthaner ihn vor etwas zu warnen versuchte.„Als ich ein Kind war, kannte ich eine pelzige Kreatur so gut, daß ich erahnen konnte, was sie dachte oder zumindest was sie fühlte“, erzählte Hewlitt. „Manchmal konnte ich sie sogar zum Spielen bringen, obwohl sie eigentlich schlafen wollte, und hin und wieder stimmte sie mich ihrerseits um, damit ich das tat, was sie wollte.

Dieses Wesen war eine Katze. Das ist ein terrestrisches Haustier, das sich auch auf der Erde entwickelt hat. Im Prinzip gehörte diese Katze meinen Eltern, obwohl man bei ihrem Benehmen eigentlich das Gegenteil hätte vermuten müssen. Es war ein sehr hübsches Tier mit schwarzem Fell, ähnlich wie Bowabs, nur die Pfoten, die Brust und ein kleiner Fleck unter dem Kinn waren weiß. Wenn sie wütend oder ängstlich war, richtete sich ihr Fell auf, wodurch sie größer und furchteinflößender aussah. Dabei handelte es sich um eine instinktive Reaktion aus einer Zeit, als Katzen noch wild lebten. Schon bald lernte sie aber auch subtilere Methoden, sich bemerkbar zu machen.

Wenn sie etwas zu fressen haben wollte, rieb sie ihren Kopf an meinen Waden, und wenn sie sich vernachlässigt fühlte, streckte sie die Krallen aus und versuchte, an meinen Beinen hochzuklettern. Sobald sie sich auf dem Rücken von einer Seite auf die andere rollte und mit den Pfoten in die Luft boxte, bedeutete das, daß sie spielen wollte, und wenn sie sich mit geschlossenen Augen auf meinem Schoß zusammenrollte, die Beine unter dem Körper anzog und das Kinn auf den Schwanz legte, wollte sie schlafen. Manchmal schien sie sich nicht ganz sicher zu sein, ob sie auf meinem Schoß schlafen oder lieber spielen wollte.

Alles in allem war sie ein sehr aktives und liebevolles Wesen“, fuhr Hewlitt fort, und für einen Moment konnte er fast sehen, wie die Katze steifbeinig und mit hocherhobenem Schwanz mitten über den Tisch lief und die Karten mit einer Vorderpfote hin und her schob. „Deshalb wehrte sie sich auch nicht, wenn ich sie sehr sanft am Bauch, unter dem Kinn und um die Ohren herum kraulte oder streichelte. Sie mochte das sogar sehr gern, tat aber so, als ob es ihr nicht gefiele, indem sie vorsichtig mit den Pfoten und mit eingezogenen Krallen nach mir schlug. Am liebsten hatte sie es,wenn ich ihren Rücken streichelte, besonders dann, wenn ich an der Stelle zwischen den Augen anfing und mit den Fingerspitzen unter sanftem Druck langsam über die Wirbelsäule bis hin zum Schwanz strich, der sich dann gerade aufrichtete. Sobald ich das tat, schnurrte sie – das ist ein Geräusch, das Katzen machen, wenn sie sich sehr wohl fühlen und… “

„Diese Unterhaltung beginnt sehr erotisch und für mich peinlich zu werden“, unterbrach ihn Morredeth, deren Fell sich zu unregelmäßigen Wellen kräuselte. „Hören Sie sofort auf damit!“

„Ehrlich gesagt, irritiert es mich auch ein wenig“, stimmte ihr Bowab zu, „wenngleich aufrecht angenehme Weise. Warum erzählen Sie so viel über ihr pelziges Haustier? Hatte es vom Charakter oder Benehmen her etwa Ähnlichkeit mit Morredeth oder mir? Ist das Tier ein besonderer Freund von Ihnen gewesen? Was ist mit der Katze passiert, und worauf läuft die Geschichte hinaus?“

„Es tut mir leid, ich wollte wirklich niemandem zu nahe treten“, entschuldigte sich Hewlitt. „Weshalb ich gerade über meine Katze geredet habe, weiß ich selbst nicht so genau, zumal ich schon seit Jahren nicht mehr an sie gedacht habe. Vielleicht deshalb, weil sie mein erster Freund gewesen ist, der kein Mensch war. Sie war sehr lieb und ähnelte niemandem hier am Tisch, erst recht nicht, während Sie mit mir Scremman gespielt haben. Leider war sie etwas zu abenteuerlustig und erlitt einen Unfall. Sie lief zu dicht an ein großes Antischwerkraftfahrzeug heran und wurde von der Außenkante des Repulsionsfelds erfaßt. Zuerst schien es, als wäre sie nicht sonderlich schwer verletzt, weil sie immer noch atmete und nur etwas um den Mund und die Ohren herum blutete. Trotzdem sagten meine Eltern, daß es keine Hoffnung mehr für sie gebe und man sie zum Tierarzt zum Einschläfern bringen solle, um das arme Ding von seinen Qualen zu befreien. Bevor mich meine Eltern aufhalten konnten, nahm ich sie in die Arme, brachte sie in mein Zimmer und verriegelte hinter mir die Tür, damit sie mir niemand mehr wegnehmen konnte. Danach habe ich sie die ganze Nacht über in meinem Bett gepflegt, bis sie … “

„Bis sie starb“, unterbrach ihn Horrantor mit einer Stimme, die viel zusanft und leise zu klingen schien, als daß sie von einer solch wuchtigen Kreatur hätte stammen können. „Das ist wirklich eine furchtbar traurige Geschichte.“

„Nein, überhaupt nicht“, widersprach Hewlitt. „Ich habe sie nämlich so lange gepflegt, bis es ihr allmählich etwas besser ging. Am nächsten Morgen war sie sogar schon fast wieder gesund und stieß mit dem Kopf gegen meine Beine, weil sie gefüttert werden wollte. Meine Eltern wollten es zunächst gar nicht glauben. Mein Vater sagte jedoch, daß eine Katze neun Leben habe – das ist eine alte terrestrische Redensart, die darauf beruht, daß Katzen sehr beweglich sind, ein ausgeprägtes Gleichgewichtsgefühl haben und nur selten stürzen, und diese Fähigkeiten schien sie alle auf einmal angewandt zu haben. Ich nehme an, daß sie irgendwann an Altersschwäche gestorben ist.“

„Eine traurige Geschichte also, wenngleich mit einem glücklichen Ende“, meinte Bowab. „Das sind genau die Erzählungen, die ich am liebsten mag.“

„Wollen wir uns weiter über pelzige Haustiere unterhalten, oder wollen wir Scremman spielen?“ fragte Morredeth ungeduldig, deren Fell sich stachelig aufrichtete und merkwürdige, unregelmäßige Wellen schlug, was vielleicht auf Ungeduld oder Verärgerung hindeuten sollte, aber natürlich auch etwas völlig anderes bedeuten konnte.

Die Frage beantwortete sich von selbst, weil Horrantor umgehend mit dem Austeilen der Karten begann um die Kelgianerin zu besänftigen, der es offenbar nicht gefiel, wenn er über Katzen sprach, sagte Hewlitt: „Ich habe nur deshalb von meinem Haustier erzählt und besonders über dessen Fell geredet, weil ich darüber nachgedacht habe, ob die Spielregeln mir gegenüber ungerecht sind, da ich die Gesten und die Gesichtsausdrücke fremder Spezies nicht zu deuten weiß. Horrantor und Bowab zeigen keinerlei Regungen, die ich wahrnehmen könnte, und Morredeth zeigt wiederum viel zu viele, als daß ich sie deuten könnte. Vielleicht lerne ich das ja noch mit der Zeit. Zum Beispiel ist es sehr unfair, daß Sie beide weit mehr Zeit als ich gehabt haben, um Morredeths Fellbewegungen zu beobachten, und Sie…“„Sie werden es ganz bestimmt nicht lernen, meine Gefühle zu deuten, Hewlitt. Ganz egal, wie lange wir hier zusammen sind“, unterbrach ihn Morredeth, während sich ihr Fell kräuselte und aufstellte, als würde ein heftiger Windstoß durch die Station fegen. „Selbst ein anderer Kelgianer hätte damit seine Schwierigkeiten.“

Das Spiel wurde unter mißbilligendem Schweigen fortgesetzt, und Hewlitt wußte, daß er wieder einmal etwas Falsches gesagt haben mußte.

12. Kapitel

Nachdem das Spiel von der hudlarischen Schwester mit dem Hinweis beendet worden war, sie möchten bitte in ihre Betten zurückkehren und die Medizin für die Nacht einnehmen, um endlich zu schlafen, beschäftigte Hewlitt noch lange der Gedanke, was er Falsches gesagt haben könnte, weil er einen solchen Fehler zukünftig vermeiden wollte. Die drei anderen kamen auf dem Weg zum und vom Waschraum an seinem Bett vorbei, wobei Morredeth keinen Ton sagte, doch traute sich Hewlitt auch nicht, sie anzusprechen, weil er fürchtete, dadurch alles nur noch schlimmer zu machen.

Da er als einziger keine Medikamente bekam, wurde er auch als letzter Patient konsultiert. Die hudlarische Schwester mußte lediglich die Sensorenverbindungen zu seinem Überwachungsmonitor überprüfen und hätte bis zu ihrer nächsten Runde in zwei Stunden nichts weiter zu tun, als den Zustand der schlafenden Patienten zu kontrollieren, es sei denn, es würde ein Notfall eintreten. Vor ihr lag eine lange Nachtschicht, und Hewlitt hoffte, ihre Langeweile unterbrechen und seine Neugier durch einige Fragen befriedigen zu können.

„Versuchen Sie heute abend einmal, nicht den Bildschirm einzuschalten“, riet ihm die Hudlarerin. „Oberschwester Leethveeschi hat mir nämlich erzählt, Sie hätten heute schon genug Aufregung gehabt. Beim Kartenspielen vergeht die Zeit wie im Flug, und es freut mich sehr, daß Sie sich mit Patienten fremder Spezies angefreundet haben. Aber jetzt müssen Sie schlafen.“

„Ich werde es versuchen, Schwester, aber etwas macht mir Sorgen.“

„Haben Sie etwa Schmerzen?“ erkundigte sich die Schwester besorgt und kam sofort näher an das Bett heran. „Ihre Sensordaten zeigen einen optimalen Zustand Ihrer Lebenszeichen an. Falls Sie allerdings Beschwerden haben sollten, beschreiben Sie mir die Symptome bitte so genau wie möglich.“„Entschuldigen Sie, Schwester, aber ich habe mich wohl nicht richtig ausgedrückt, es hat nämlich nichts mit meinem körperlichen Zustand zu tun. Ich habe im Laufe des Tages eine andere Patientin gekränkt, und zwar die Kelgianerin Morredeth, aber ich weiß nicht, was an dem, was ich gesagt oder getan habe, so Beleidigendes gewesen sein soll. Wir haben zu viert Scremman gespielt, und die anderen beiden haben anscheinend versucht, mir nonverbal mitzuteilen, daß ich damit aufhören solle. Ich würde gern wissen, was ich falsch gemacht habe, damit ich einen solchen Fehler nicht wiederhole und mich entschuldigen kann, falls es etwas Ernsthaftes gewesen sein sollte.“

Obwohl die Schwester keinerlei Regungen zeigte, die er identifizieren konnte, wirkte die Hudlarerin nun entspannter, als sie antwortete: „Ich glaube nicht, daß es etwas ist, worüber man sich Sorgen machen müßte, Patient Hewlitt. Während eines Scremmanspiels, das sich wie bei Ihnen, so wurde mir jedenfalls berichtet, über mehrere Stunden erstreckt, ist der Austausch beleidigender und kritisierender Äußerungen allgemein üblich… “

„Das ist mir allerdings nicht entgangen“, warf Hewlitt ein.

„…und solche verbalen Attacken sind beim nächsten Spiel längst vergeben. Vergessen Sie einfach den Vorfall, so, wie es die anderen bereits getan haben. Sie können also ganz beruhigt einschlafen.“

„Das ist aber anders abgelaufen“, widersprach Hewlitt. „Diese Äußerungen fielen nämlich während der Spielpausen, und vor allem während wir gegessen haben.“

Die Hudlarerin schwieg für einen Moment, während Sie an den beiden Bettreihen auf der Station entlangblickte. Außer Hewlitt schienen alle zu schlafen, also gab es derzeit für sie nichts Dringenderes zu tun. Hewlitt freute sich und schämte sich auch ein bißchen über seine neu entdeckte Fähigkeit, diesem Monster seinen Willen aufzuzwingen.

„Also gut, Patient Hewlitt. Worüber haben Sie sich denn mit den anderen unterhalten? Und können Sie sich an die Bemerkung erinnern, über die sich Patientin Morredeth so geärgert hat?“„Wie ich Ihnen schon gesagt habe, weiß ich das nicht so genau“, entgegnete Hewlitt. „Ich habe lediglich über ein kleines, pelziges Tier – ein terrestrisches Haustier - gesprochen und es beschrieben… Haben Hudlarer eigentlich auch Haustiere? Ich habe als Kind immer gern damit gespielt. Nichts von dem, was ich gesagt habe, schien Morredeth zu verärgern, bis sie mir völlig unvermittelt vorwarf, ich würde schlüpfrige Sachen erzählen, woraufhin Bowab ihr ebenso unverhofft zustimmte. Ich dachte, die beiden würden scherzen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“

„In ihrem gegenwärtigen Zustand ist Patientin Morredeth, bezüglich ihres Fells ungewöhnlich empfindlich“, erklärte ihm die Schwester, wobei die Sprechmembran so vibrierte, daß es einem hudlarischen Flüstern gleichkam. „Aber das konnten Sie natürlich nicht wissen. Sagen Sie mir doch bitte, worüber Sie genau gesprochen haben.“

Plötzlich fragte sich Hewlitt, ob es möglich sein könnte, daß nicht er die Schwester, sondern sie ihn ausnutzte. Vielleicht war sie ja sogar ganz froh darüber, sich die langweilige Nachtschicht interessanter zu gestalten, indem sie einem besorgten Patienten nichtmedizinische Hilfe leistete. Wahrscheinlich könnte sie diese Unterhaltung, die sich zu einem längeren Mitternachtsschwätzchen zu entwickeln schien, sogar gegenüber Oberschwester Leethveeschi rechtfertigen. Er ließ sich viel Zeit und wiederholte alles, bis er an dem Punkt anlangte, wo er den anderen das Verhalten seiner Katze beim Streicheln beschrieben hatte. Zwar war er der festen Überzeugung, daß ein Wesen, dessen Haut wie elastischer Stahl war, bei Ausdrücken wie ›Fell‹ oder ›Pelz‹ keine erotischen Phantasien bekommen würde, doch am Orbit Hospital konnte man sich anscheinend über nichts und niemanden sicher sein.

Als er zu Ende erzählt hatte, meinte die Schwester: „Jetzt verstehe ich. Doch bevor ich zu erklären versuche, was passiert ist, erzählen Sie mir bitte, was Sie über die kelgianische Lebensform wissen.“

„Ich kenne nur die Informationen, die in den kurzen Einführungspassagen der nichtmedizinischen Bibliothek über die Mitglieder der Föderation geliefert werden, wobei es sich in erster Linie um historisches Materialhandelt“, antwortete Hewlitt. „Die Kelgianer gehören der physiologischen Klassifikation DBLF an. Sie sind mehrfüßige Warmblüter und haben einen zylinderförmigen Körper, der vollständig mit einem beweglichen, silbergrauen Fell bedeckt ist. Dieses Fell ist ständig in Bewegung, wenn das Wesen bei Bewußtsein ist, und im geringeren Ausmaß auch dann, wenn es träumt.

Aufgrund der Unzulänglichkeiten des kelgianischen Sprechorgans mangelt es diesen Wesen an Modulationsmöglichkeiten oder an sonstigen emotionalen Ausdrucksweisen der Stimme. Allerdings gleichen sie diese Defizite mit dem Fell aus, das, soweit ein anderer Kelgianer betroffen ist, perfekt und unwillkürlich den Gefühlszustand des Sprechenden widerspiegelt. Infolgedessen können sie nicht lügen, und Begriffe wie Diplomatie, Taktgefühl oder Höflichkeit sind ihnen völlig fremd. Kelgianer sagen immer genau das, was sie denken oder fühlen, weil das Fell ohnehin ihre Emotionen alle Augenblicke widerspiegelt und es eine dumme Zeitverschwendung wäre, wenn sie es nicht täten. Habe ich soweit recht?“

„Ja“, bestätigte die Hudlarerin. „Wenngleich die medizinischen Bibliotheksdaten für Sie diesbezüglich von mehr Nutzen gewesen wären. Hat Morredeth ihren Gesundheitszustand Ihnen gegenüber denn genauer erörtert?“

„Nein. Als ich sie danach gefragt habe, sagte sie, daß sie nicht darüber reden wolle. Ich bin natürlich neugierig gewesen, ließ das Thema aber rasch fallen, da ich es für möglich hielt, daß ihre Gebrechen peinlich für sie sein könnten und mich das Ganze sowieso nichts anging.“

„Manchmal möchte Patientin Morredeth nicht über ihre Sorgen sprechen, und dann gibt es wieder Zeiten, da will sie unbedingt darüber reden. Wenn Sie sie morgen oder übermorgen danach fragen, wird sie Ihnen wahrscheinlich in allen Einzelheiten ihren Unfall schildern und auch die sich daraus ergebenden langfristigen Folgen, die für sie zwar sehr ernst, aber nicht lebensgefährlich sind. Ich sage Ihnen das nur, da fast jeder auf der Station über Morredeths Probleme Bescheid weiß. Deshalb breche ich der Patientin gegenüber auch nicht die Schweigepflicht, wenn ich diephysischen und emotionalen Aspekte ihres Krankheitszustandes mit Ihnen bespreche.“

„Ich verstehe“, murmelte Hewlitt nachdenklich.

„Nein, das können Sie gar nicht“, widersprach die Hudlarerin, wobei sie noch näher an das Bett herantrat und im selben Verhältnis die Stimme senkte. „Aber gleich werden Sie das verstehen. Falls Sie einige der von mir verwendeten Fachbegriffe nicht kennen, was angesichts Ihrer Krankengeschichte und der Erfahrungen, die Sie während Ihrer vorangegangenen Klinikaufenthalte gesammelt haben, unwahrscheinlich ist, dann unterbrechen Sie mich bitte, damit ich Ihnen eine für Laien verständliche Erklärung geben kann. Soll ich anfangen?“

Während Hewlitt den wuchtigen Körper der Schwester musterte, der auf den sechs Tentakeln ausbalanciert wurde, fragte er sich, ob es überhaupt irgendeine intelligente Spezies im All gab, die es – ganz unabhängig von ihrer Größe, Gestalt oder Anzahl der Gliedmaßen - nicht genoß, ein nettes Schwätzchen zu halten.

Da er sich jedoch daran erinnerte, was ihm ein paar unüberlegte Worte für Probleme mit Morredeth eingebracht hatten, stellte er diese Frage lieber nicht laut.

„Das Wichtigste, was Sie über die Anatomie der Kelgianer wissen sollten, ist, daß die DBLF-Klassifikation mit Ausnahme des dünnwandigen Schädelgehäuses, in dem sich das Gehirn befindet, kein Knochengerüst besitzt“, fuhr die hudlarische Schwester in demselben Ton fort, den Chefarzt Medalont bei seinen Auszubildenden anzuschlagen pflegte. „Der kelgianische Körper wird von einem aus Muskelbändern bestehenden äußeren Zylinder zusammengehalten. Abgesehen davon, daß er die Fortbewegung unterstützt, dient er auch als Schutz für die lebenswichtigen Organe. Für Wesen wie uns, deren Körper großzügig durch ein Knochengerüst verstärkt werden, scheint dieser Schutz bei weitem nicht ausreichend zu sein. Im Fall einer Verletzung ist das komplexe und äußerst anfällige Kreislaufsystem ein schwerwiegender Nachteil. Die gewaltigen Muskelstränge, die den ganzen Körper umschließen, werden durchBlutgefäße versorgt, die wie die Nervenverbindungen, die das bewegliche Fell kontrollieren, direkt unter der Haut entlangführen. Das dicke Fell bietet zwar etwas Schutz, jedoch nicht gegen solch tiefe Fleisch- und Rißwunden wie sie sich Patientin Morredeth zugezogen hat, als sie bei einer Weltraumkollision gegen ein Hindernis aus unebenem Metall geschleudert wurde …“

Wie die Schwester weiterhin ausführte, konnte eine Verletzung, die bei den meisten anderen Spezies nur oberflächlich gewesen wäre, bei Kelgianern bereits innerhalb weniger Minuten zum Verbluten führen.

Das blutgerinnungsfördernde Mittel, das gleich nach dem Unfall verabreicht worden war, hatte die Blutung unter Kontrolle gebracht und somit Morredeth das Leben gerettet, wenngleich zu einem hohen Preis. Auf dem Ambulanzschiff und später im Krankenhaus waren die wichtigsten verletzten Blutgefäße operiert worden, aber selbst das auf DBLF-Mikrochirurgie spezialisierte Ärzteteam des Orbit Hospitals war nicht in der Lage gewesen, die Kapillargefäße und die Nervenbahnen des vernichteten oder beschädigten Fells zu retten. Infolgedessen würde Morredeths wunderschönes Fell, das zum einen für das Tastgefühl wichtig war und zum anderen während der Liebeswerbung und der Vorbereitung auf die Paarung eine ästhetisch bedeutende Rolle spielte, an der betroffenen Stelle nie wieder richtig nachwachsen. Sollte es das wider Erwarten doch tun, wäre das Fell steif, vergilbt und leblos und deshalb optisch für ein anderes kelgianisches Wesen – egal, ob nun männlich oder weiblich – schrecklich abstoßend.

Zwar wäre es möglich gewesen, den beschädigten Bereich mit künstlichem Fell abzudecken, aber dem synthetischen Material würde die Beweglichkeit und der seidene Glanz des echten Pelzes fehlen, und das könnte man auf den ersten Blick erkennen. Kelgianerinnen in Morredeths Situation waren normalerweise viel zu stolz, um mit solch einer Pelzimitation gesehen zu werden, und deshalb entschieden sie sich, lieber in der Einsamkeit oder nur mit einem Minimum an sozialem Kontakt zu leben und zu arbeiten.„… insbesondere die männlichen Kelgianer, die dem Klinikpersonal angehören, haben mir schon des öfteren erzählt, Morredeth sei eine besonders gutaussehende junge Frau oder, besser gesagt, sei es mal gewesen“, fuhr die Hudlarerin fort. „Auf jeden Fall habe sie nun keine Hoffnung mehr, sich zu paaren und ein normales Leben zu führen. Deshalb hat sie gegenwärtig auch eher ein emotionales als ein medizinisches Problem.“

„Und ich Trottel mußte ihr ausgerechnet von dem schönen Fell meiner Katze erzählen!“ stöhnte Hewlitt, dem vor Verlegenheit ganz heiß geworden war. „Es wundert mich nur, daß Morredeth mir keine runtergehauen hat. Gibt es denn wirklich nichts mehr, was man für Sie tun kann? Meinen Sie, daß ich mich bei ihr entschuldigen sollte, oder würde das die ganze Angelegenheit nur noch verschlimmern?“

„Nur wenige Tage nach Ihrer Einlieferung hier ins Hospital scheinen Sie sich ja bereits mit Horrantor, Bowab und Morredeth mehr oder weniger angefreundet zu haben“, stellte die Hudlarerin fest, ohne auf seine Frage einzugehen. „Die erste Zeit haben Sie noch Symptome einer schwerwiegenden Xenophobie gezeigt, die aber kurz darauf verschwunden sind. Falls es sich dabei um eine ehrliche Reaktion auf Ihre erste freundschaftliche Kontaktaufnahme mit einer Gruppe Aliens handelt und nicht nur um ein aus Höflichkeit heraus gespieltes Theater, um sich auf diese Weise leichter mit einer nervenaufreibenden Situation abzufinden, an der Sie sowieso nichts ändern können, dann bin ich von Ihrer Anpassungsfähigkeit sehr beeindruckt. Dennoch finde ich Ihr Verhalten, das Sie seit kurzem an den Tag legen, ziemlich verwunderlich.“

„Ich spiele doch kein Theater!“ protestierte Hewlitt sofort. „Und schon gar nicht aus irgendeiner falsch verstandenen Höflichkeit heraus. Höchstwahrscheinlich liegt es daran, daß ich der einzige gesunde Patient auf dieser Station und entsprechend gelangweilt und neugierig bin. Außerdem sind Sie es selbst gewesen, die mir von Anfang an geraten hat, ich solle versuchen, mich mit den anderen Patienten zu unterhalten. Sämtliche Aliens sahen und sehen für mich noch immer so aus, als würde ich selbst imWachzustand noch unter Alpträumen leiden. Trotzdem wollte ich diese Aliens aus einem für mich unerfindlichen Grund unbedingt kennenlernen, was mich übrigens genauso wundert wie Sie.“

Die Sprechmembran der Schwester vibrierte leicht, doch zu langsam, um irgendwelche Wörter zu formulieren, und Hewlitt fragte sich, ob es sich dabei um die hudlarische Variante eines unentschlossenen Stotterns handelte. Schließlich sagte sie: „Um Ihre frühere Frage zu beantworten: Es gibt nichts, was man noch anderes für Morredeth tun könnte, als ihre Verbände zu wechseln, wodurch die Wunde zwar heilen wird, ohne jedoch die Schäden an dem unter der Haut liegenden Nervengeflecht beheben zu können. Außerdem muß die nichtmedizinische Behandlung fortgeführt werden, die von Chefarzt Medalont auf den Vorschlag von Padre Lioren hin verordnet wurde, der die Patientin bis jetzt jeden Tag besucht hat. Heute ist er auf der Station gewesen, ist aber im Personalraum geblieben, um von dort aus der Unterhaltung zuzuhören, die durch Ihre Sensorenmeßgeräte übertragen wurde, bevor er…“

„Er hat einfach unser Privatgespräch belauscht?“ empörte sich Hewlitt. „Das… das kann er doch nicht machen! Ich wußte gar nicht, daß mein Meßgerät auch dazu benutzt werden kann. Ich… wir haben vielleicht etwas gesagt, was andere nicht hören sollten.“

„Und ob Sie das getan haben“, bestätigte die Schwester, „aber Leethveeschi ist daran gewöhnt, abfällige Bemerkungen über sich zu hören. Für den Fall, daß Sie als Patient das Gefühl haben, mit Ihnen könnte etwas nicht stimmen, ist Ihr Meßgerät in der Lage, auch nur sehr leise ausgesprochene Wörter zu übertragen, bevor es tatsächlich reagiert und von sich aus Alarm schlägt. Jedenfalls vertrat Lioren die Auffassung, daß das Scremmanspiel mit einem neuen und unerfahrenen Spieler die Patientin wahrscheinlich besser von ihren Sorgen und Nöten ablenke als alles andere, was er in jenem Moment hätte sagen oder tun können, und daß er Morredeth morgen wieder besuchen wolle.“

Bevor Hewlitt etwas erwidern konnte, fuhr die Hudlarerin fort: „Morredeths nichtmedizinische Behandlung umfaßt auch, die Dosis für dieRuhigstellung während der Nacht zu verringern, die bisher sehr hoch gewesen ist, damit sie, wenn sie allein ist, mehr Zeit hat, sich mit ihren Gedanken auseinanderzusetzen. Medalont und Lioren hoffen, daß sie auf diese Weise ihre Probleme verarbeiten kann. Wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist, läßt sie sich tagsüber keine Zeit zum Nachdenken. Ich bin angewiesen worden, von heute abend an höchstens noch ein paar Worte mit ihr zu wechseln, es sei denn, wichtige medizinische Gründe sprechen dagegen. Ihr Terrestrier habt so eine Redensart, laut der man in jemandes eigenem Interesse auch mal unbarmherzig sein müsse, aber nach meinem Dafürhalten sollte ein Arzt niemals unbarmherzig sein, und erst recht nicht dann, wenn das Leiden einer Patientin bereits dadurch gemildert werden kann, indem man sie in ein freundschaftlich geführtes Gespräch verwickelt. Deshalb bin ich mit dieser Behandlungsform auch nicht einverstanden.“

Erneut zuckte die Sprechmembran der Schwester lautlos. Hewlitt legte schnell eine Hand auf das Meßgerät, in der Hoffnung, den Ton des Schallsensors so abzudecken, daß kein weiteres Wort ihrer rebellischen Gefühle bis zu jemandem durchdringen könnte, der sich dieses Gespräch möglicherweise später würde anhören wollen.

„Vorhin haben Sie mich gefragt, wie Sie sich nach Ihrem unsensiblen Verhalten gegenüber Morredeth am besten verhalten sollen“, beendete die Schwester ihre Ausführungen, während Sie sich bereits zum Gehen wandte. „Wenn Sie sehen, daß die Patientin ununterbrochen wach ist, und das wird sie demnächst sein, dann würde es nicht schaden, sich bei ihr zu entschuldigen und sich mit ihr zu unterhalten.“

Hewlitt beobachtete, wie die Schwester trotz ihres ungeheuren Körpergewichts vollkommen lautlos durch die Station ging, und dachte, daß diese riesige, klotzige Kreatur mit einer Haut wie biegsames Metall offenbar ein sehr weiches Herz hatte. Er mußte kein Empath sein, um zu wissen, was die Hudlarerin von ihm erwartete.

Aus psychologischen Gründen, die sie als falsch empfand, war es der Schwester von ihrem Vorgesetzten verboten worden, Morredeth in ausgedehnte Gespräche zu verwickeln. Ohne diese Anweisungentatsächlich zu mißachten, hatte sie nun dafür gesorgt, daß diese Aufgabe von jemand anderem erledigt wurde.

13. Kapitel

Hewlitt lag, auf einen Ellbogen gestützt, im Bett, so daß er über die anderen Patienten hinweg auf Morredeths Bett sehen konnte. Er lauschte den verschiedenen Schlafgeräuschen, die die Extraterrestrier in der vollbelegten Station von sich gaben und überlegte, wie lange er noch damit warten sollte, die Kelgianerin anzusprechen. Morredeths Bett war durch die Sichtblenden abgeschirmt, aber an der Decke konnte man einen schwachen Lichtkegel erkennen, der sich nicht bewegte, so daß er wahrscheinlich von der Nachttischlampe und nicht vom Bildschirm herrührte. Wenn Morredeth sich keins der Unterhaltungsprogramme ansah, las sie vielleicht oder war bereits bei brennendem Licht eingeschlafen; zumal sich eins der merkwürdigen Geräusche, die Hewlitt vernahm, wie ein kelgianisches Schnarchen anhörte. Falls letzteres der Fall war, würde sie diesem dummen Terrestrier, der sie mitten im Schlaf weckte, bestimmt wütende Worte an den Kopf werfen. Vorsichtshalber beschloß er zu warten, bis Morredeth ihren nächtlichen Gang zur Toilette machte, um sie erst dann auf dem Rückweg zum Bett anzusprechen. Heute abend schien allerdings überhaupt niemand zur Toilette gehen zu wollen, und er war äußerst gelangweilt, da er nichts anderes zu sehen bekam, als die Reihen schattenhafter Alienbetten und den Lichtfleck an der Decke über dem Bett der Kelgianerin. Selbst das stumpfsinnigste Unterhaltungsprogramm wäre aufregender als das hier, und deshalb beschloß er, mit seiner Entschuldigung bei Morredeth nicht länger zu warten, um danach wenigstens noch etwas Schlaf zu finden. Er setzte sich aufrecht hin, schwang die Beine über die Bettkante und tastete mit den Füßen in der Dunkelheit umher, bis er die Pantoffeln fand. Sie waren ihm vom Krankenhaus ausgehändigt worden und viel zu groß, so daß das leise Schlurfen, die sie beim Gehen verursachten, jetzt viel lauter zu sein schien als während des regen Betriebes, der tagsüber auf der Station herrschte. Wenn Morredeth wider Erwarten wach sein sollte, würde sie ihn bestimmt kommen hören, und falls sie schlafen sollte und er sie aufwecken würde,hätte er bereits zwei Gründe, für die er sich bei ihr entschuldigen müßte.

Die Kelgianerin lag wie ein dickes, pelziges Fragezeichen auf der unverletzten Seite und war lediglich mit dem großen, rechteckigen Verband bedeckt, unter dem sich die Mullauflagen befanden. Wie Hewlitt vermutete, benötigte sie bei all dem natürlichen Wärmeschutz wahrscheinlich sowieso keine Decke. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Beine wurden von dem dicken, unruhigen Fell fast völlig verdeckt, dessen unregelmäßige Bewegung nicht unbedingt bedeutete, daß sie schlief.

„Sind Sie wach, Morredeth?“ flüsterte Hewlitt mit einer solch leisen Stimme, daß er sich selbst kaum verstehen konnte.

„Ja“, antwortete die Kelgianerin, ohne die Augen zu öffnen.

„Möchten Sie sich vielleicht mit mir unterhalten?“ erkundigte sich Hewlitt schüchtern. „Ich meine, falls Sie nicht schlafen können?“

„Nein“, entgegnete Morredeth und einen Moment später: „Ja.“ „Worüber würden Sie denn gern sprechen?“

„Reden Sie einfach, worüber Sie wollen“, schlug die Kelgianerin vor, wobei sie die Augen öffnete. „Nur nicht über mich.“

Hewlitt befürchtete, daß es ziemlich schwierig für ihn werden könnte, sich mit einem Wesen zu unterhalten, das niemals log und immer genau das sagte, was es dachte. Da zudem außer ihnen beiden niemand anwesend war, der ihn an die allgemein übliche Gepflogenheit höflich gemeinter Lügen hätte erinnern können, würde er sogar gehörig aufpassen müssen, am Ende nicht so ehrlich wie ein Kelgianer zu reden. Zwar hatte er keine Erklärung dafür, aber das Bedürfnis, genau das zu tun, war sehr stark.

Warum denke ich bloß so? fragte sich Hewlitt nicht zum ersten Mal. Das sieht mir überhaupt nicht ähnlich.

Laut sagte er: „Ich bin in erster Linie deshalb zu Ihnen gekommen, weil ich mich bei Ihnen entschuldigen möchte. Ich hätte in Ihrer Gegenwart nicht so ausführlich über mein pelziges Haustier reden sollen. Ich wollte Ihnen wirklich keinen Kummer bereiten, und nachdem ich von den langfristigen Auswirkungen Ihrer Verletzung erfahren habe, wurde mir klar, wiegedankenlos, unsensibel und dumm mein Verhalten gewesen ist. Es tut mir sehr leid, Morredeth.“

Für eine Weile zeigte die Kelgianerin keinerlei Reaktion, lediglich ihr Fell kräuselte sich so aufgeregt und deutlich, daß selbst die Ränder des Wundverbands mitzuckten. Dann sagte sie: „Es war nicht Ihre Absicht, mich zu verletzen, also zeugte Ihr Verhalten nicht von Dummheit, sondern von Unwissenheit. Setzen Sie sich aufs Bett. Und welchen weiteren Grund gibt es für Ihren Besuch?“

Als Hewlitt nicht sofort antwortete, sagte Morredeth: „Warum verschwenden Nichtkelgianer bloß so viel Zeit, um über viele Worte für eine Antwort nachzudenken, wenn es auch wenige tun würden? Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt.“

Und Sie werden eine einfache kelgianische Antwort erhalten, beschloß Hewlitt und entgegnete dann laut: „Ich war einfach neugierig und wollte mehr über Sie und Ihre Verletzung wissen, aber Sie haben mir ja verboten, über Sie zu sprechen. Soll ich zurück in mein Bett gehen?“

„Nein“, antwortete Morredeth.

„Gibt es irgend etwas oder irgend jemand anderen, worüber Sie gerne reden möchten?“

„Ja, über Sie“, schlug die Kelgianerin vor.

Als Hewlitt zögerte, fuhr Morredeth fort: „Ich habe sehr empfindliche Ohren und beinahe jedes Wort mitgehört, das zwischen Ihnen und den Ärzten gewechselt wurde. Sie sind gesund und erhalten keinerlei medizinische Behandlung, abgesehen von dem einen Mal, als Sie das Bewußtsein verloren haben und das Reanimationsteam mit Verzögerung eintraf, um Sie wiederzubeleben. Auf jeden Fall weiß niemand, was Ihnen genau fehlt. Ich habe auch mitbekommen, wie Sie dem terrestrischen Psychologen erzählt haben, Sie hätten eine Vergiftung und einen Sturz überlebt, obwohl Sie dabei hätten umkommen müssen. Das Orbit Hospital ist aber für Kranke und Verletzte und nicht für Leute, die bereits genesen sind. Was fehlt Ihnen also? Handelt es sich vielleicht um etwas zuPersönliches oder gar zu Peinliches, über das Sie selbst nicht mit einem Mitglied einer anderen Spezies reden möchten, obwohl es Ihre Scham höchstwahrscheinlich nicht nachvollziehen kann?“

„Nein, es ist nichts dergleichen“, versicherte ihr Hewlitt. „Es ist nur so, daß es sehr viel Zeit in Anspruch nehmen würde, Ihnen alles zu erzählen, zumal ich Ihnen zwischendurch immer wieder einige Verhaltensweisen und Bräuche der Terrestrier erklären müßte. Außerdem würde mich das nur daran erinnern, wie wenig mir die terrestrischen Ärzte geholfen haben, weil Sie sich weigerten, mir zu glauben, daß mit mir etwas nicht stimmt. Also käme nur meine alte Wut und Enttäuschung wieder hoch, was höchstwahrscheinlich darauf hinauslaufen würde, daß ich Ihnen die Ohren volljammere.“

Morredeths Fell kräuselte sich in ein neues und optisch attraktiveres Muster, und er fragte sich, ob sich die Kelgianerin über ihn amüsierte.

„Also geht es Ihnen genauso wie mir“, stellte Morredeth fest. „Das ist nämlich derselbe Grund, weshalb ich nicht über mich reden will. Bestimmt wäre ich Ihnen mit meinem Gejammer auch auf die Nerven gegangen.“

„Sie haben bestimmt mehr Grund zu klagen als ich“, meinte Hewlitt und hielt kurz inne, weil sich das Fell der Kelgianerin wieder stachelig aufrichtete und sich die Muskelstränge, die den ganzen Körper umschlossen, so fest zusammenzogen, als stünden sie kurz vor einem Krampf. Deshalb fügte er rasch hinzu: „Entschuldigung, Morredeth, jetzt spreche ich doch über Sie anstatt über mich. Wo soll ich also anfangen?“

Der Körper der Kelgianerin entspannte sich zwar, das Fell bewegte sich jedoch noch immer unruhig, als sie antwortete: „Sprechen Sie mit mir über jene Krankheitsvorfälle, die Sie noch nicht erzählt haben oder über die Sie weder mit Medalont noch mit den Auszubildenden reden möchten, weil sie ungewöhnlich, beschämend oder sogar etwas anstößig sind. Vielleicht finde ich Ihre Erzählungen ja so unterhaltend, daß ich meine eigenen Probleme für eine Weile vergessen kann. Möchten Sie das für mich tun?“

„Ja“, willigte Hewlitt ein. „Erwarten Sie aber nicht zu viel Unterhaltung oder gar erotische Details von mir. Ich werde Ihnen von der Zeit erzählen,die ich auf der Erde verbracht habe, als ich mit meinen Großeltern zusammenlebte, die übrigens kein pelziges Haustier besaßen, mit dem ich hätte spielen können. Einige der Episoden sind allerdings ziemlich peinlich. Durchleben Kelgianer so etwas wie eine Pubertät?“

„Na klar! Oder dachten Sie, daß wir von Geburt an sexuell aktiv sind?“

„Nun, die Pubertät kann jedenfalls auch für gesunde Menschen äußerst unangenehm verlaufen“, meinte Hewlitt, ohne auf Morredeths Bemerkung einzugehen.

„Dann beschreiben Sie mir Ihre unangenehmen Erlebnisse und Ihre gesundheitlichen Mängel bis ins letzte Detail, das heißt, falls Sie nichts Interessanteres zu berichten haben“, forderte ihn Morredeth in ihrer unnachahmlich direkten Art auf.

Hätte ich bloß ein weniger persönliches Thema gewählt! dachte er und wunderte sich um so mehr, daß er schließlich ohne jegliches Zögern zu sprechen begann. Vielleicht hatte die Tatsache, daß Morredeth einer anderen Spezies angehörte, etwas damit zu tun, denn es machte zwar keinen Unterschied, ob er einer kelgianischen Patientin, einem melfanischen Chefarzt oder einer hudlarischen Krankenschwester seine Symptome erzählte, doch entsprang Morredeths Neugier eher persönlichem als medizinischem Interesse.

Also beschrieb er, wie er vom Einzelunterricht am Heimcomputer auf die höhere Schule wechselte, wo Gruppenunterricht und die Teilnahme an Sportveranstaltungen mehr ins Gewicht fielen. Als er von seinen Erfolgen sowohl bei den Mannschafts- wie auch bei den Einzelsportarten erzählte, die ihm insbesondere bei der weiblichen Studentenschaft einen guten Ruf einbrachten, unterbrach ihn Morredeth.

„Beklagen Sie sich etwa über diese Situation?“ wollte sie wissen. „Oder prahlen Sie gerade mit Ihren Erfolgen beim weiblichen Geschlecht?“

„Ich beklage mich darüber“, antwortete Hewlitt, und seine Stimme wurde lauter, als mit der Erinnerung der Zorn in ihm aufwallte, „weil ich die Vorteile, die sich daraus für mich ergaben, nie genutzt habe. Niemalspassierte etwas. Selbst als ich mich von einer bestimmten jungen Frau stark angezogen fühlte, die auch an mir Interesse zeigte … nun, es war sehr unbefriedigend und frustrierend und… und schmerzlich.“

„Fühlten Sie sich denn noch von jemandem oder von etwas anderem angezogen?“ erkundigte sich Morredeth. „Von einer Frau vielleicht, die sich aber nichts aus Ihnen machte? Oder haben Sie damals noch stärkere Gefühle für eine Ihrer kleinen pelzigen Kreaturen entwickelt?“

„Nein, um Himmels willen!“ protestierte Hewlitt entschieden. Dann sah er ängstlich zu den Schlafenden in den nahe gelegenen Betten hinüber und senkte die Stimme. „Für wen halten Sie mich eigentlich, verdammt noch mal?“

„Für einen sehr kranken Terrestrier“, antwortete Morredeth. „Sind Sie nicht aus diesem Grund hier?“

„Ja, aber ich habe doch nicht das gehabt, was Sie mir gerade unterstellen wollten“, stellte Hewlitt klar, wobei er unwillkürlich lachen mußte. „Nach Meinung der Universitätsärzte war ich sogar überhaupt nicht krank. Die haben doch glattweg behauptet, mein Körper sei in jeder Hinsicht ein physikalisches Musterexemplar. Nachdem viele unangenehme Tests und Experimente mit mir durchgeführt worden waren, meinten sie, es gäbe weder einen anatomischen noch einen hormonellen Grund dafür, weshalb es beim Erreichen des Höhepunkts der sinnlichen und körperlichen Erregung bei mir zu keinem Samenerguß komme. Außerdem sagten sie, daß ich durch irgendein unwillkürliches oder unbewußtes Verhalten, das sie sich nicht erklären konnten, den Mechanismus des Samenergusses im letzten Moment zurückhalten würde. Diese plötzliche Unterbrechung des Samenflusses löse einen unmittelbaren Schmerz aus, und die Beschwerden im Genitalbereich würden erst dann nachlassen, sobald die Flüssigkeit resorbiert worden sei. Sie schlossen daraus, daß mein Problem wahrscheinlich auf einem tief sitzenden Kindheitstrauma beruhe, das sich in Form von zeitweilig auftretender Schüchternheit äußere, die so intensiv sei, daß sie sich auf den körperlichen Zustand auswirke.“

„Was ist Schüchternheit?“ fragte Morredeth. „Mein Translator gibt keinekelgianische Bedeutung für dieses Wort an.“

Wenn ein Wesen immer genau das sagte, was es dachte, konnte man von ihm auch nicht erwarten, daß es wußte, was Schüchternheit bedeutete. Solch einem Wesen einen solchen Begriff zu erklären, war praktisch dasselbe, als sollte man einem Blinden eine Farbe beschreiben, doch wollte es Hewlitt zumindest versuchen.

„Schüchternheit ist eine Art psychologische Barriere in der menschlichen Interaktion. Sie ist so etwas wie eine unüberwindbare Mauer auf geistiger Ebene, die eine schüchterne Person davon abhält, das zu sagen oder zu tun, was sie möchte. Unerfahrenheit, Überempfindlichkeit oder sogar Feigheit sind für gewöhnlich die Gründe, weshalb die Worte, die die betreffende Person sagt, und die Handlungen, die sie ausführen möchte, unterdrückt werden. Unter Terrestriern ist Schüchternheit während der Pubertät sehr verbreitet, wenn es zu ersten Annäherungsversuchen zwischen den Geschlechtern kommt und… “

„Das ist doch lächerlich!“ unterbrach ihn Morredeth. „Auf Kelgia ist das Gefühl eines Mannes oder einer Frau gegenüber dem anderen Geschlecht unmöglich zu verbergen. Wenn beispielsweise ein Kelgianer oder eine Kelgianerin für jemand anderen ein starkes Interesse empfindet, das aber nicht erwidert wird, hat er oder sie die Möglichkeit, auf einen Versuch zu bestehen, den anderen so lange zu beeinflussen, bis dieser auf seine Gefühle reagiert oder seine Zuneigung jemand anderem zuwendet. Diejenigen, die durch ihre Beharrlichkeit Erfolg haben, sind normalerweise die besten Lebenspartner. Hat Ihnen denn die psychologische Behandlung nicht dabei geholfen, Ihre Scheu eventuell zu überwinden und eine normale Paarung einzugehen?“

„Nein“, antwortete Hewlitt.

Zum ersten Mal, seit er es mit Kelgianern zu tun gehabt hatte, sah er, wie das Fell beinahe völlig reglos war, jedoch nur für einen kurzen Moment, bevor es sich um so stürmischer bewegte.

„Tut mir leid“, entschuldigte sich Morredeth. „Diese Situation muß sehr frustrierend für Sie sein.“„Ja.“

„Vielleicht kann Ihnen der Chefarzt ja helfen“, versuchte ihn Morredeth trotz ihrer Ehrlichkeit zu beruhigen. „Wenn Medalont Ihr Problem nicht beheben kann, würde er das als eine persönliche Beleidigung ansehen. Ganz gleich wie ernst eine Krankheit oder Verletzung auch ist, das Orbit Hospital hat den Ruf, alles und jeden zu heilen. Nun ja, fast jeden.“

Für einen Augenblick starrte Hewlitt auf das Fell der Kelgianerin, das sich in wellenförmigen Strudeln bewegte, als wäre es ein brodelndes Quecksilberbad, dann sagte er: „Der Chefarzt hat zwar meinen Krankenbericht, aber bisher hat er mich noch nicht nach meinem unfreiwilligen Zölibat gefragt. Vielleicht glaubt er wie der Universitätspsychologe, daß sich das ganze Problem nur in meinem Kopf abspiele. Aber die Beschwerden waren… und sind nicht schmerzhaft, solange ich den körperlichen Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht vermeide.

Als sich allmählich herausstellte, daß der Psychologe kein Stück weiterkam“, fuhr Hewlitt fort, während er ein Auge auf die wachsende Erregung von Morredeths Fell warf, „behauptete er, ich würde mich nur stur weigern, auf seine psychotherapeutischen Behandlungsmethoden anzusprechen. Mir wurde geraten, mein Leben von nun an lieber ohne weibliche Gesellschaft zu verbringen, was ich mir nach Meinung des Psychologen insgeheim wahrscheinlich sowieso wünschte. So etwas komme zwar selten vor, schade aber nicht der Gesundheit. In der Vergangenheit hätten das bereits viele hochangesehene Leute getan und bedeutende Beiträge zur Philosophie und Wissenschaft geleistet, indem sie ihr eheloses Leben der Religion widmeten, als Schriftsteller und Lehrer tätig waren oder ihr sexuelles Verlangen durch wissenschaftliche Forschung kompensiert hätten…“ Er hielt inne, weil sowohl Morredeths Körper als auch ihr Fell zusehends in Bewegung gerieten. Die darunterliegenden Muskelbänder zogen sich abwechselnd krampfartig zusammen und lösten sich wieder, so daß sich die Kelgianerin unter wilden Zuckungen hin und her wand und gegen das Bett prallte.„Was ist mit Ihnen?“ erkundigte sich Hewlitt besorgt. „Soll ich die Schwester rufen?“

„Nein“, widersprach die Kelgianerin, wobei ihr Oberkörper auf den Boden zu rollen drohte. „Ich will nur nicht, daß Sie sich noch weiter auf solch törichte Art und Weise in meine Belange einmischen.“

Hewlitt überlegte, ob er die Sichtblenden hochziehen sollte, damit das Bett vom Personalraum aus zu sehen wäre, doch dann fiel ihm ein, daß Morredeths Bett wahrscheinlich auch mit einer Kamera überwacht wurde. „Ich wollte Ihnen doch nur helfen“, entschuldigte er sich, während er den sich krümmenden Körper der Kelgianerin ängstlich beobachtete.

„Warum machen Sie so etwas Grausames?“ verlangte Morredeth zu wissen. „Wer hat Sie damit beauftragt, so etwas mit mir zu machen?“

„Ich… ich verstehe Sie nicht“, stammelte er verwirrt. „Was habe ich denn Schlimmes gesagt?“

„Sie sind kein Kelgianer, und deshalb können Sie auch nicht ganz verstehen, welche seelischen Verletzungen Sie mir zugefügt haben. Zuerst haben Sie davon erzählt, wie Sie Ihr pelziges Haustier gestreichelt haben, und sich dann für Ihr unsensibles Verhalten entschuldigt. Jetzt reden Sie über sich selbst und wie unmöglich es für Sie ist, eine Lebensgefährtin zu finden, dabei ist doch ganz offensichtlich, daß Sie in Wirklichkeit von mir und meinen Problemen sprechen. Sie müssen dazu von jemandem aufgefordert worden sein. Als Lioren früher versuchte, so etwas mit mir zu machen, habe ich die Ohren einfach dichtgemacht. Wer hat Sie darum gebeten, so mit mir zu reden? Lioren? Braithwaite? Der Chefarzt? Und warum?“

Zuerst verspürte er den Drang, alles zu leugnen, aber das wäre unfair gewesen, denn Kelgianer konnten weder selbst lügen, noch würden sie damit rechnen, belogen zu werden. Entweder sollte er nichts sagen oder die Wahrheit erzählen.

„Die hudlarische Schwester hat mich darum gebeten, mit Ihnen zu reden“, gestand er schließlich ein. „Sie wollte aber nicht…“„Aber die Hudlarerin ist doch gar keine Psychologin!“ unterbrach ihn Morredeth empört. „Wie konnte sie so etwas Schreckliches tun? Sie hat sich unqualifiziert verhalten, und sie hat mit meinen Gefühlen gespielt. Ich werde dieses ungehörige Verhalten dem Chefarzt melden.“

Hewlitt versuchte, die aufsteigende Wut der Kelgianerin zu besänftigen: „Alle Personen, die ich bisher kennengelernt habe, hielten sich insgeheim für gute Psychologen, ob nun mit oder ohne Ausbildung…“ Und ich schließe mich da mit ein, fügte er in Gedanken hinzu. „Genauso wie alle von sich glaubten, sie wären hervorragende Autofahrer und hätten einen unübertroffenen Sinn für Humor. Das Problem ist, daß sich Psychologen selten auf eine Behandlungsmethode einigen können. – Haben Sie eigentlich Schmerzen?“

„Nein, ich habe eine unbändige Wut!“ fuhr ihn Morredeth an.

Wenn man die Spezies der Patientin berücksichtigte, dann mußte man ihre Worte als die reine, wenn auch subjektive Wahrheit ansehen, dachte Hewlitt, und während er die wachsende Erregung des sich heftig bewegenden Fells und Körpers beobachtete, überlegte er, ob es sich dabei um die kelgianische Ausdrucksform einer rüden Geste handeln könnte.

„Sie dürfen auf die hudlarische Schwester nicht so wütend sein“, versuchte er Morredeth zu besänftigen. „Sie hat mir erzählt, Lioren habe mit Einwilligung des Chefarztes angeordnet, Ihre Beruhigungsmittel für die Nacht zu reduzieren, damit Sie mehr Zeit mit sich allein verbringen können. Man erhofft sich dadurch, daß Sie auf diese Weise mehr über sich nachdenken und besser mit sich ins Reine kommen können. Um diesen Prozeß voranzutreiben, wurde dem jeweiligen Klinikpersonal untersagt, sich während der Nacht mit Ihnen zu unterhalten, abgesehen von den wenigen Worten, die während der routinemäßigen Überprüfung Ihrer Lebenszeichen notwendig sind. Die hudlarische Schwester war bezüglich dieser Behandlungsweise anderer Meinung, traute sich aber nicht, sich den Anordnungen ihrer Vorgesetzten zu widersetzen, obwohl sie sich große Sorgen um Ihren zu erwartenden Kummer macht. Als sie dann von mir erfuhr, daß ich mich bei Ihnen für die Vorfälle beim Kartenspielenentschuldigen wollte, bat sie mich, mit Ihnen zu sprechen.

Sie hat mir nicht gesagt, worüber ich reden soll, außer daß ich versuchen solle, Sie von Ihren Problemen abzulenken. Leider ist mir das offensichtlich nicht gelungen, aber das war mein Fehler, und die Hudlarerin trägt keinerlei Schuld an meinem unsensiblen Verhalten und Ihrem Zorn.“

„Dann werde ich das Fehlverhalten der Schwester auch nicht melden“, sagte Morredeth. „Trotzdem bin ich immer noch wütend.“

„Ich kann Sie durchaus verstehen“, stimmte ihr Hewlitt zu. „Damals habe ich nämlich dieselbe Wut und Enttäuschung empfunden wie Sie. Anfangs war es mir unendlich peinlich, daß meine Freunde über mich lachten und hinter meinem Rücken tuschelten, weil sie mich für eine Art sexuellen Krüppel hielten… “

„Aber man hat Ihnen die Behinderung doch nicht angesehen!“ unterbrach ihn Morredeth, und ein plötzlicher Muskelkrampf brachte sie bedrohlich nahe an die Bettkante. „Meine Freunde werden nicht hinter meinem Rücken lachen und tuscheln, sondern sich freundlich verhalten und meine Gesellschaft meiden, damit ich nicht ihren Ekel bemerke, den sie mir gegenüber empfinden. Aber das können Sie wahrscheinlich nicht verstehen, nicht wahr?“

„Versuchen Sie ruhig zu liegen, verdammt noch mal!“ rief Hewlitt. „Sonst fallen Sie noch aus dem Bett und verletzen sich womöglich. Hören Sie endlich auf damit, so herumzurollen!“

„Wenn Sie der Anblick stört, dann gehen Sie doch!“ erwiderte Morredeth. „Kelgianer können zwar manchmal ihre Gefühle kontrollieren, aber niemals verbergen. Starke Empfindungen sind nun mal mit unwillkürlichen Fell- und Körperbewegungen verbunden. Haben Sie das nicht gewußt?“

Nein, aber jetzt weiß ich es, murmelte Hewlitt in sich hinein und sagte dann laut: „Selbst terrestrische Psychologen vertreten die Auffassung, daß es oft besser ist, wenn man sich von seinen Gefühle befreit, anstatt sie aufzustauen. Ich möchte nicht gehen, sondern mich mit Ihnen unterhaltenund Sie von Ihren Problemen ablenken. Bis jetzt bin ich darin noch nicht sehr erfolgreich gewesen, wie?“

„Das kann man wohl laut sagen. Aber bleiben Sie ruhig, wenn Sie unbedingt wollen.“

Die Heftigkeit ihrer Körperbewegungen schien etwas nachzulassen, und Hewlitt beschloß, das Risiko einzugehen, nicht das Thema zu wechseln.

„Danke, Morredeth. Und was unser gemeinsames Problem angeht, haben Sie natürlich recht. Ihre Situation ist ungleich schlimmer als meine, da sie einen bleibenden Schaden haben, der darüber hinaus für jedermann sichtbar ist. Aber das heißt nicht, daß ich Ihre Gefühle nicht verstehen würde, denn ich hatte für viele Jahre dieselbe Art von Problemen, wenngleich in geringerem Ausmaß. Ich glaube nicht, daß die seelischen Narben jemals verheilen werden und ich mit der Notwendigkeit klarkommen werde, allein zu leben und zu arbeiten und den körperlichen Kontakt zu Frauen vermeiden zu müssen. Ich weiß, wie es Ihnen ergehen muß, allerdings weiß ich auch, daß Sie sich nicht ständig so miserabel fühlen werden.

Ist Ihnen eigentlich schon mal der Gedanke gekommen, daß möglicherweise Lioren und nicht die Hudlarerin recht haben könnte? Oder daß es besser wäre, wenn Sie Ihrem Problem hier an Ort und Stelle ins Auge sehen, ich meine, hier im Krankenhaus, wo jederzeit Hilfe verfügbar ist, anstatt zu Hause, wo Sie Ihrer Aussage nach ganz allein sein werden? Oder daß es Ihnen nicht immer so schlecht gehen wird, wie im Moment? Fast sämtliche Wesen, ob nun Kelgianer oder Terrestrier, gewöhnen sich mit der Zeit fast an alles und… “

„Sie reden schon wie Lioren…“, unterbrach ihn Morredeth, und dann passierte es…

Da ihr Fell längst nicht mehr so unruhig wie noch wenige Minuten zuvor war und die unkontrollierten Körperbewegungen allmählich nachgelassen hatten, kam ihre plötzliche Verkrampfung völlig unerwartet. Morredeth nahm die Form eines langgezogenen, pelzigen Zylinders an und ließ sich zur entgegensetzten Bettkante von Hewlitt rollen. Ohne nachzudenken, griff ermit beiden Händen nach ihr, um sie zurück aufs Bett zu ziehen.

Er erwischte sie am Stoffabschnitt, der die Wundverbände abdeckte, und gerade als er im Begriff war, ihren Sturz aufzuhalten, schnappten die Verschlüsse auf, und er hielt nur noch den Stoff in den Händen.

Die Kelgianerin gab ein langes, hohes Wimmern von sich, das sich wie ein Nebelhorn im Fistelton anhörte, dann bekam sie erneut einen Krampf und rollte auf die andere Seite des Betts zurück … und direkt auf Hewlitt drauf. Halb fallend, halb gleitend, fiel er mit der immer noch auf ihm liegenden Morredeth auf den Boden.

„Schwester!“ schrie er.

„Ich bin schon da“, meldete sich die Hudlarerin, die sich bereits innerhalb der Sichtblenden befand und sich über die beiden beugte. „Sind Sie verletzt, Patient Hewlitt?“

„N… nein“, stammelte er. „Bis jetzt jedenfalls noch nicht.“

„Gut. Die Spezies, die der DBLF-Klassifikation angehören, setzen ihre Füße niemals als natürliche Waffen ein, so daß Ihnen wahrscheinlich nichts zustoßen wird. Erst mal brauche ich jemanden, der mir hilft. Ich möchte aber keine Zeit damit vergeuden, eine andere Schwester von einer anderen Station zu rufen, und außerdem will ich mir nicht nachsagen lassen, mit einem einfachen Notfall nicht klargekommen zu sein. Sind Sie bereit, mir zu helfen?“

Ich soll Ihnen helfen? dachte Hewlitt. Das Geräusch, das er von sich gab, konnte er noch nicht einmal selbst übersetzen, doch die Hudlarerin betrachtete es offenbar als Zustimmung.

„Ihre gegenwärtige Lage auf dem Fußboden ist für unser Vorhaben ideal“, versicherte sie ihm. „Sie sollen mir nämlich dabei helfen, Patientin Morredeth ruhigzustellen. Bitte legen Sie die Arme um sie herum, und greifen Sie mit beiden Händen in das Rückenfell. Noch fester, bitte, Sie tun ihr nicht weh. Bedauerlicherweise brauche ich vier meiner Gliedmaßen, um meinen Körper abzustützen, also bleibt noch ein Tentakel, mit dem ich Ihnen helfen werde, die Patientin ruhigzustellen, und mit dem anderenwerde ich das Beruhigungsmittel verabreichen. Gut, genau so werden wir es machen.“

Hewlitt versuchte, mit beiden Händen nach Morredeths Fell zu greifen und gleichzeitig die Innenseiten der Unterarme gegen ihren Rücken zu pressen, während die Hudlarerin mit einem Tentakel mit sanftem, aber festem Druck ihren Hals umschlang. Morredeth mußte ruhig gehalten werden, damit die Schwester die richtige Stelle für die Injektion ausfindig machen konnte. Die Kelgianerin gab noch immer diese hohen, wimmernden Geräusche von sich, während sie mit aller Macht versuchte, sich seinen Armen zu entwinden, indem sie mit den über dreißig Füßen über seinen Bauch, seine Brust und sein Gesicht hochzulaufen versuchte. Glücklicherweise waren die Beine kurz, dünn und nicht sehr muskulös, und die Füße, die keine Zehennägel oder sonstige knochige Enden hatten, waren wie kleine, feste Schwämme, so daß er das Gefühl hatte, ununterbrochen mit wattierten Trommelstöcken attackiert zu werden. Diese Erfahrung war allerdings eher etwas irritierend als schmerzhaft. Morredeths Anstrengungen mußten sie ins Schwitzen gebracht haben, denn er nahm eine zunehmende, leicht nach Pfefferminze riechende Körperausdünstung wahr.

Als wäre ihm mit einem Mal die ganze Kraft entwichen, spürte er in jedem Muskel seines Körpers eine unverhofft auftretende Schwäche, und dort, wo seine Haut das Fell berührte, das sich unentwegt zwischen seinen Fingern drehte und wand, kribbelte es heiß an den Händen und den entblößten Unterarmen. Diese Erfahrung war ihm derart fremd, und es kitzelte so sehr, daß er sich mit aller Anstrengung dagegen wehren mußte, nicht zu lachen. Plötzlich wölbte Morredeth den Rücken und versuchte, sich mit aller Gewalt zu befreien, wobei ihm fast die Hände abrutschten.

„Entschuldigung, aber meine Hände schwitzen!“ keuchte er unter der Last. „Sie wäre mir beinahe entwischt.“

„Sie machen das sehr gut, Patient Hewlitt“, ermunterte ihn die Schwester, wobei sie die erst kurz zuvor verabreichte Beruhigungsspritze wieder in die Tasche zurücksteckte. „In wenigen Sekunden wird allesvorbei sein. Das vorübergehende Nachlassen Ihrer Umklammerung kann durch die Berührung Ihrer Finger mit dem Fell verursacht worden sein, das mit dem öligen Medikament des Wundverbands und dem Schweiß der Patientin durchtränkt ist. Außerdem habe ich erfahren, daß DBDG-Terrestrier selbst dann in den Handflächen schwitzen, wenn sie sich körperlich nicht anstrengen und keinen Temperaturanstieg haben. Dabei kann es sich um ein Anzeichen für eine heftige Gefühlsreaktion auf eine bestehende oder bevorstehende Stressituation handeln, die durch…“

„Aber meine Handflächen schwitzen bis zu den Ellbogen hoch!“ unterbrach Hewlitt sie, zumal er absolut nicht willens war, sich in dieser Situation schon wieder einen medizinischen Vortrag der Schwester anzuhören.

„Auf jeden Fall besteht für Sie keine Gefahr“, beruhigte ihn die Hudlarerin. „Kelgianische Krankheitserreger können die Speziesbarriere nicht durchbrechen… Oh! Ich glaube, Patientin Morredeth entspannt sich allmählich.“

Die Kelgianerin bewegte nun auch ihre Beine nicht mehr, und ihr Körper lag schlaff und mit vollem Gewicht auf Hewlitts Bauch und Brust. Die Schwester schob nun die wieder freien Greiftentakel von beiden Seiten unter den Körperschwerpunkt der Kelgianerin und hob Morredeth auf das Bett. Während Hewlitt wieder auf die Beine kam, brachte sie den schlaffen Körper Morredeths in die für ruhende Kelgianer anscheinend bequeme S-Form. Er konnte gerade noch einen Blick auf die große aufgedeckte Hautfläche und das strähnige, verfärbte Fell werfen, bevor sie die gelösten Verbände wieder anlegte.

„Bitte waschen Sie sich das Medikament der Kelgianerin von den Händen ab, Patient Hewlitt“, forderte ihn die Schwester auf. „Es wird Ihnen zwar nicht schaden, aber es könnte sein, daß sie den Geruch unangenehm finden, dann gehen Sie ins Bett zurück und versuchen zu schlafen. Ich werde später bei Ihnen vorbeischauen, um zu sehen, ob Sie kleinere Abschürfungen erlitten haben, die Sie in der momentanen Aufregung vielleicht gar nicht bemerken.Bevor Sie gehen, muß ich mich noch für mein spätes Eintreffen entschuldigen. Wie Sie wahrscheinlich wissen, befinden sich in den Sensorenmeßgeräten auch Mikrofone, so daß auch die akustischen Signale von Patienten auf die Überwachungsmonitore übertragen werden. Diese Signale werden übrigens aufgezeichnet, damit sie auch für spätere Untersuchungen zur Verfügung stehen. Durch die Richtung, in die sich Ihre Unterhaltung entwickelte, war mir schnell klar, daß etwas passieren und eine schnelle Injektion des Beruhigungsmittels erforderlich werden könnte. Da es sich dabei um ein neu entwickeltes Medikament handelt, bin ich dazu verpflichtet, eine Verabreichung des Mittels vorher mit der Pathologie genau abzusprechen, wenn kein Chefarzt auf der Station ist. Deshalb bin auch erst eingetroffen, als Sie bereits um Hilfe riefen.“

Hewlitt lachte. „Und ich habe die ganze Zeit das Gefühl gehabt, daß Sie unglaublich schnell da waren. Aber wenn das Gespräch mit Morredeth aufgezeichnet wurde, bedeutet das nicht auch, daß Sie Schwierigkeiten bekommen werden? Ich meine, schließlich habe ich ihr davon erzählt, daß Sie mit der Dienstanweisung, ihr keine Beruhigungsmittel mehr zu geben und sich nachts nicht mehr mit ihr unterhalten zu dürfen, nicht einverstanden sind. Was bedeutet das jetzt für Sie? Sind Sie sich sicher, daß man Ihnen keine Vorwürfe machen wird?“

Zwar wußte er nicht, was die Schwester gerade dachte, doch hatte er das Gefühl, daß sie besorgt war, als sie antwortete: „Einige Leute, zu denen auch Medalont, Leethveeschi und Lioren gehören, werden sich die Aufnahme genau anhören, und man wird mich ausdrücklich kritisieren. Doch wie Sie bereits bemerkt haben dürften, haben Hudlarer ein sehr viel dickeres Fell als die meisten anderen Lebewesen. Trotzdem vielen Dank für Ihr Verständnis, Patient Hewlitt. So, und nun werden Sie bitte zurück ins Bett gehen. Morredeth schläft friedlich, und es geht ihr…“ Sie hielt plötzlich inne, denn die unwillkürlichen Wellenbewegungen von Morredeths Fell waren so langsam geworden, daß sie fast zum Stillstand gekommen waren. Sofort berührte die Schwester mit einer Tentakelspitze eine Stelle in der Nähe von Morredeths Genick, um dort mit den fingerartigen Fortsätzenden Puls zu fühlen. Danach griff sie in die Ausrüstungstasche und zog einen Scanner heraus, den sie über zwei verschiedene Stellen in der Brustgegend der Patientin bewegte. Mit der anderen Tentakelspitze drückte sie auf einen Knopf des Kornmunikators, und über dem Bett begann an der Decke ein rotes Licht schnell und gleichmäßig zu blinken.

„Reanimationsteam!“ sagte sie. „Station sieben, Bett Nummer zwölf, Klassifikation DBLF, Kelgianerin. Seit etwa neunzig Sekunden Herzstillstand beider Herzen… Patient Hewlitt, gehen Sie in ihr Bett zurück. Sofort!“

Ohne den Blick von dem völlig regungslos daliegenden Körper abwenden zu können, trat Hewlitt von der Bettkante zurück, bis er sich außerhalb der Sichtblenden befand. Doch anstatt ins Bett zu gehen, wartete er in der Nähe, bis in weniger als einer Minute das Reanimationsteam mit dem Ausrüstungswagen eintraf. Das rote Licht an der Decke hörte auf zu blinken, und weil man um Morredeths Bett herum ein schalldichtes Feld errichtet hatte, herrschte plötzlich absolute Stille auf der Station.

Das ist bestimmt gemacht worden, um die schlafenden Patienten nicht zu stören, und sicherlich nicht deshalb, damit ich nicht hören kann, was dort vor sich geht, sagte er sich.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort schon in der Dunkelheit gewartet und wie gebannt auf die sich bewegenden Schatten gestarrt hatte, die auf die Sichtblenden projiziert wurden, als endlich die beiden Ärzte des Reanimationsteams wieder auftauchten. Seine Neugier wurde jedoch nicht befriedigt, da sich die beiden beim Verlassen der Station nicht unterhielten, so daß seine Besorgnis nur um so größer wurde. Die hudlarische Schwester, deren mächtiger Schatten sich nicht bewegte, verharrte hinter den Sichtblenden.

Er wartete scheinbar eine Ewigkeit, doch die hudlarische Schwester wich nicht von Morredeths Seite. Betrübt, schuldbewußt und enttäuscht wandte er sich ab und ging in den Waschraum, um sich die Reste der kelgianischen Wundsalbe von den Händen und Armen abzuwaschen. Danach kehrte er zu seinem Bett zurück, legte sich hin und schloß die Augen.Während der restlichen Nacht hörte er, wie sich die Hudlarerin zweimal auf der Station entlangbewegte, um nach den schlafenden Patienten zu sehen und nach dem einen, der nur so tat, als würde er schlafen. Doch brauchte sie nicht mit ihm zu sprechen, um Bescheid zu wissen, denn das Meßgerät lieferte ihr sämtliche medizinischen Informationen, die sie dazu brauchte. Wahrscheinlich fühlte sich die Schwester für das, was geschehen war, verantwortlich, weil Sie ihm vorgeschlagen hatte, sich mit Morredeth zu unterhalten. Dennoch fühlte er sich genauso verantwortlich, und er hatte beinahe Angst davor, sie darauf anzusprechen. Deshalb machte er keinerlei Anstalten dazu und blieb lieber ruhig liegen, wobei er sich immer wieder die Frage stellte, wie es möglich sein konnte, daß er das Leben der Kelgianerin allein dadurch gefährdet hatte, weil er sich mit ihr unterhalten hatte. Er fühlte sich sowohl körperlich als auch seelisch so schlecht wie in seinem ganzen Leben noch nicht.

Er war immer noch wach und grübelte vor sich hin, als das Licht angeschaltet wurde und die Tagschicht ihren Dienst antrat.

14. Kapitel

Die morgendliche Visite fiel sowohl verkürzt als auch unvollständig aus. Zum einen wurde Chefarzt Medalont nicht von der üblichen Gruppe Auszubildender, sondern lediglich von Oberschwester Leethveeschi begleitet, und zum anderen suchten die beiden nur die schwerkranken Patienten auf, wobei sie die längste Zeit an Morredeths Bett verbrachten, das nach wie vor von Sichtblenden und dem schalldichten Feld umgeben war.

Sie verweilten immer noch dort, als Horrantor und Bowab bereits auf dem Weg zum Waschraum waren und bei dieser Gelegenheit vor Hewlitts Bett stehenblieben. Der Duthaner ergriff als erster das Wort.

„Wir haben heute keine Lust, Scremman zu spielen“, sagte er. „Anscheinend weiß hier niemand genau, was Morredeth zugestoßen ist. Ich habe versucht, es von einer Krankenschwester zu erfahren, aber Sie kennen ja diese kelgianischen Plagegeister – entweder erzählen sie einem gleich die ganze Wahrheit über Gott und die Welt, oder sie schweigen wie ein Grab. Haben Sie eine Ahnung, was mit ihr passiert ist?“

Hewlitt fühlte sich immer noch mitschuldig an dem Vorfall, und er hätte lieber nicht darüber gesprochen. Diese beiden waren jedoch Morredeths Freunde oder zumindest während des Aufenthalts hier im Hospital ihre Leidensgenossen, so daß sie das Recht hatten, informiert zu werden. Zwar wollte er sie nicht anlügen, doch als Nichtkelgianer konnte er die Wahrheit wenigstens etwas zurechtstutzen.

„Naja, es gab einen Notfall“, setzte er vorsichtig an. „Die Schwester hat das Reanimationsteam gerufen und gesagt, Morredeths habe einen Stillstand beider Herzen. Als das Team eintraf, ist sofort ein schalldichtes Feld um das Bett errichtet worden, so daß ich keine Ahnung habe, was danach geschehen ist.“

„Wir müssen die ganze Nacht durchgeschlafen haben“, sagte Horrantor. „Die hudlarische Schwester ist doch eigentlich sehr nett und unterhält sichauch recht gern. Vielleicht erzählt sie uns, was los ist, wenn sie heute abend ihren Dienst antritt …“ – sie hielt hme und deutete in Richtung des Personalraums. „Jetzt schauen Sie doch mal, wer da gerade mit Padre Lioren die Station herunterkommt … Thornnastor höchstpersönlich! Was macht der denn hier?“

Das besagte Wesen gehörte derselben Spezies wie Horrantor an, hatte aber einen kräftigeren Körperbau. Außerdem wies die Haut viel mehr Falten auf, und Thornnastor ging natürlich auf sechs anstatt auf fünf Beinen. Horrantors Frage beantwortete sich von selbst, als die beiden auf der Höhe von Morredeths Bett stehenblieben und hinter den Sichtblenden verschwanden. Eine kelgianische Schwester, die einen G-Schlitten mit geöffneter Kuppel lenkte, traf einige Minuten später ein und folgte ihnen.

„Da drinnen muß es jetzt ziemlich eng zugehen“, merkte Horrantor überflüssigerweise an.

Sie erhielt keine Antwort, und das Schweigen zog sich in die Länge.

Um den Gedanken zu verdrängen, daß Morredeth jetzt mit unbeweglichem Fell auf dem Bett lag, fragte Hewlitt: „Wer ist denn dieser Thornnastor?“

„Wir haben Thornnastor zwar selbst auch noch nie kennengelernt“, antwortete Horrantor, „aber das muß er sein, denn er ist der einzige Tralthaner im Orbit Hospital, der berechtigt ist, das Abzeichen eines Diagnostikers zu tragen. Wie ich gehört habe, verläßt er in seiner Funktion als Chefpathologe nur selten das Labor und sieht die Leute normalerweise erst dann, wenn sie bereits tot oder zumindest in kleine Stücke zerhackt sind.“

„Horrantor!“ empörte sich Bowab. „Sie haben soviel Taktgefühl wie eine betrunkene Kelgianerin.“

„Tut mir leid, vielleicht habe ich mich etwas unsensibel ausgedrückt“, entschuldigte sich die Tralthanerin. „Sehen Sie nur, sie kommen schon wieder heraus!“

Die kelgianische Schwester tauchte zuerst auf und wogte in Richtung desStationseingangs, wobei sie den G-Schlitten lenkte, dessen Kuppeldach nun geschlossen war. Thornnastor, Medalont und Leethveeschi folgten ihr. Die Sichtblenden verschwanden in den Deckenschlitzen und gaben so den Blick auf Lioren frei, der mit seinen vier Augen auf das leere Bett starrte. Als er sich kurz darauf in Bewegung setzte, folgte er aber nicht den anderen.

„Er kommt direkt auf uns zu“, stellte Bowab mit einem alles andere übertönenden Knurren fest, das bei Duthanern bereits als Flüstern gilt. „Ich glaube fast, er schaut die ganze Zeit in Ihre Richtung, Hewlitt.“

Lioren blickte Hewlitt weiterhin mit zwei seiner Augen an, während er näherkam, bis er schließlich an seinem Bett stehenblieb. Die anderen beiden richtete er auf Bowab und Horrantor, als er sagte: „Entschuldigen Sie bitte die Störung, meine Freunde, aber wäre es Ihnen recht, wenn ich mich jetzt mit Patient Hewlitt allein unterhalte?“

„Natürlich, Padre“, antwortete Horrantor, und Bowab fügte hinzu: „Wir wollten sowieso gerade gehen.“

Lioren wartete, bis sie sich zurückgezogen hatten, und sagte dann: „Ich hoffe, daß es auch Ihnen recht ist. Oder haben Sie etwas dagegen, sich jetzt mit mir zu unterhalten?“

Hewlitt zögerte mit der Antwort; schließlich war es das erste Mal, daß er den Padre aus nächster Nähe zu sehen bekam, und trotz der Informationen, die er sich aus der Bibliothek eingeholt hatte, war er beileibe nicht auf die Realität vorbereitet. Die Tarlaner gehörten der physiologischen Klassifikation DRLH an – einer aufrecht gehenden Lebensform, deren spitz zulaufender kegelförmiger Körper von vier Beinen getragen wurde. In Taillenhöhe befanden sich vier lange, mehrgelenkige Mittelarme zum Heben und Tragen. Vier Vorderarme, die sich eher für feinmotorische Arbeiten eigneten, umgaben den Halsansatz. Die vier Augen, die gleichmäßig um den Kopf herum verteilt waren, konnten unabhängig voneinander bewegt werden. Ein erwachsener Tarlaner wurde in der Regel zweieinhalb Meter groß, aber Liorens Größe und Körpermasse ragten weit über den Durchschnitt hinaus. Aus der Nähe betrachtet, bot der Padre einen ziemlicheinschüchternden Anblick, und nach den Ereignissen der letzten Nacht war sich Hewlitt nicht sicher, ob Lioren noch gut auf ihn zu sprechen war. Statt einer Antwort stellte er schließlich eine Gegenfrage, um die sich bei ihm in den letzten sechs Stunden sowieso alles gedreht hatte.

„Was ist mit Morredeth passiert?“

Aufgrund der absurd anmutenden spiralförmigen Kopfform des Tarlaners war dessen Gesichtsausdruck genausowenig zu deuten wie der eines Hudlarers, als er antwortete: „Wir wissen nicht, was mit Morredeth passiert ist, aber es geht ihr jetzt gut, und sie ist von ihren Leiden befreit.“

Berücksichtigte man Liorens Beruf und Morredeths erst kürzlich frei gewordenes Bett, dann waren das genau jene trostspendenden Worte, die man von einem Geistlichen erwarten würde, wenn er mit einem trauernden Verwandten oder Freund gesprochen hätte. Und es waren genau jene Worte, die Hewlitt nicht zu hören gehofft hatte.

Als der Padre mit einer der mittleren Hände nach vorn griff, um den Projektor für das schalldichte Feld einzuschalten, verstummten die betriebsamen Geräusche auf der Station. Zwar hatte Hewlitt keine Ahnung, welche Gesichtsöffnung der Tarlaner zum Sprechen benutzte, aber seine Stimme klang ruhig und freundlich, als er fortfuhr: „Meiner Meinung nach kommen drei Leute in Betracht, die eine unterschiedlich hohe Verantwortung für das tragen, was Patientin Morredeth zugestoßen ist, und zwar sind das die hudlarische Schwester, ich selbst und Sie. Als erstes würde ich mich gern über Ihre Beteiligung unterhalten.“

Bevor Hewlitt etwas erwidern konnte, fuhr der Padre fort: „Die Hudlarerin hat Ihnen ja bereits erklärt, daß Ihre ganze Unterhaltung aufgenommen und Ihrer Krankenakte für spätere Studien beigefügt wurde. Aufgrund der ungewöhnlichen Beschaffenheit Ihres Falls ist dies ohne Ihr Wissen und Ihre Zustimmung geschehen. Medalont hielt es für besser, Sie darüber in Unkenntnis zu lassen, weil Sie sich dann ungehemmter ausdrücken und Ihre Aussagen in medizinischer Hinsicht um so wertvoller sein würden, wenngleich das meiste des aufgezeichneten Materials wahrscheinlich nutzlos sein dürfte. Jetzt wissen Sie, daß alles, was Siegesagt haben, aufgenommen worden ist. Ich bin jedoch weniger daran interessiert, was Sie während dieses Gespräches über sich gesagt haben, als an Ihrer emotionalen Reaktion auf Patientin Morredeths Verletzung. Sind Sie über ihre äußerliche Verunstaltung eigentlich sehr bestürzt gewesen? Und sind Sie überhaupt bereit, mit mir darüber zu sprechen?“

Hewlitt entspannte sich allmählich. Eigentlich hatte er von Lioren ein Art Standpauke erwartet, aber wahrscheinlich mußte er sich als Krankenhauspfarrer mit kritischen Äußerungen ein wenig zurückhalten.

„Ja, erwarten Sie aber nicht zu viel, Padre“, antwortete er nach einer kurzen Pause. „Ich empfinde gegenüber Morredeth keine besonders stark ausgeprägten Gefühle, sondern eher so etwas wie Mitleid, wie man es auch einer entfernten Bekannten entgegenbringt. Als ich erfahren habe, welch enorme Probleme ihr das beschädigte Fell bereitet, habe ich lediglich versucht, ihr ein wenig zu helfen, indem ich über meine Probleme geredet habe, die ich in erster Linie als Jugendlicher gehabt hatte. Doch anscheinend muß ich etwas Falsches gesagt haben.“

„Nun, in einer emotional stark angespannten Situation haben Sie immerhin versucht, das Richtige zu sagen“, meinte Lioren. „Einiges von dem, was Sie gesagt haben, war sogar … Ist Ihr Problem, das Sie mit Morredeth besprochen haben, eigentlich behoben oder nicht? Ihrer Krankengeschichte habe ich nämlich entnommen, daß Sie bis heute noch nie eine Lebensgefährtin gehabt haben und auch keine kurzfristigen Beziehungen eingegangen sind.“

Erstaunt darüber, weshalb dieses Gespräch von Morredeths Problemen plötzlich auf seine eigenen gelenkt wurde, antwortete Hewlitt: „Nein, das Problem ist nicht behoben. Ich fühle mich in weiblicher Gesellschaft immer noch nicht wohl, obwohl ich mich von Frauen angezogen fühle und meine erste körperliche Reaktion ganz normal ist. Ich fürchte mich davor, daß wieder solch eine peinliche Situation auftreten könnte, die übrigens für beide Partner unangenehm wäre, und vor demnachfolgenden Kummer, der sich statt des intensiven Hochgefühls einstellt, das man normalerweise nach dem Beischlaf empfindet. So etwas möchte ich auf keinen Fall noch einmalerleben… Warum möchten Sie das überhaupt wissen? Wollen Sie damit in irgendeiner Weise mein Verhalten kritisieren? Halten Sie das Ganze eher für eine moralische oder für eine medizinische Frage?“

„Es ist eine medizinische Frage“, antwortete Lioren, ohne zu zögern. „Aber wenn die Angelegenheit Sie in dem Maße plagt, daß Sie geistlichen Rat oder Trost in Anspruch nehmen möchten, dann lassen Sie es mich bitte wissen. Ich besitze umfassende Kenntnisse über die Grundsätze und Überzeugungen der am häufigsten vertretenen Religionen in der Föderation, so daß ich Ihnen vielleicht helfen kann. Wenn Sie irgendwelche religiösen Überzeugungen haben, dann würde mich das sehr interessieren. Sollten Sie keine haben, brauchen Sie sich auch keine Sorgen zu machen – ich habe nämlich nicht vor, zu predigen oder irgendwelche Glaubenslehren zu verbreiten.

Unter anderem habe ich mich nach Ihrem Problem erkundigt, weil ich über einige Erfahrung auf dem medizinischen Sektor verfüge. Ich praktiziere zwar selbst nicht mehr als Arzt, aber manchmal macht es mir einfach Spaß, meine ehemaligen Kollegen im Nachhinein zu kritisieren. Ich denke, daß so etwas schlimmstenfalls ein verzeihlicher Verstoß ist, eine kleine Sünde übertriebenen Stolzes. Und wer bin ich, daß ich es mir erlauben könnte, ein anderes Wesen zu kritisieren, weil es das ehelose Leben bevorzugt? Auf jeden Fall…“

„Entschuldigen Sie, Padre“, unterbrach ihn Hewlitt, „aber ich fühle mich heute morgen nicht besonders aufnahmefähig. Was genau wollen Sie eigentlich von mir wissen?“

Lioren gab ein tiefes, glucksendes Geräusch von sich, das nicht übersetzt wurde, und entgegnete dann: „Alles, was Sie mir freiwillig erzählen möchten. Was Ihre… ahm… verlängerte Pubertät angeht, die Sie noch immer zu beschäftigen scheint, so ist dieses Thema durch Ihre aufgezeichnete Unterhaltung mit Morredeth bereits ausführlich behandelt worden. Also sollten wir es vorläufig abhaken. Statt dessen würde ich gerne wissen, ob es in Ihrem Leben auch andere Ereignisse gegeben hat, die Sie in körperlicher, seelischer oder religiöser Hinsicht bekümmerthaben, auch wenn diese von Ihren früheren Ärzten als zu unwesentlich oder nebensächlich betrachtet wurden, um sie in Ihre Krankenakte aufzunehmen. Können Sie sich an irgendwelche Vorfälle dieser Art erinnern?“

„Wenn sie nicht in meiner Krankenakte festgehalten worden sind, dann habe ich sie vielleicht vergessen anzugeben“, antwortete Hewlitt. „Außerdem habe ich eigentlich schon damals die schlechte Angewohnheit gehabt, mich unentwegt lauthals zu beklagen, sobald ich annahm, daß mit mir etwas nicht stimmte.“

Lioren schwieg für einen Augenblick. Er schien sich unbehaglich zu fühlen und betrachtete Hewlitt mit allen vier Augen, als er schließlich sagte: „Sie sind schon ein sehr eigenartiger Fall, Patient Hewlitt. Nachdem wir uns mit Ihren aufgezeichneten Gesprächen mit Medalont, Braithwaite, der hudlarischen Schwester und Ihren drei kartenspielenden Freunden beschäftigt haben und insbesondere mit der Sensibilität, die sie bei der Unterhaltung mit Morredeth vergangene Nacht unter Beweis gestellt haben, sind wir zu dem Entschluß gekommen, daß bei Ihnen vom Verstand her eigentlich alles in bester Ordnung ist. Bedenkt man, welche mentalen Folgen Ihr ewiger Streit mit der ärztlichen Zunft bei Ihnen hinterlassen haben muß, dann verfügen Sie über eine äußerst stabile und in sich geschlossene Persönlichkeit. Sollte Ihr Problem tatsächlich eine psychische Komponente haben, was wir allmählich glauben, dann muß sie so tief vergraben sein, daß wir nicht in der Lage sind, sie aufzuspüren.“

„Ich habe immer wieder daraufhingewiesen, daß ich mir das alles nicht einbilde und…“, warf Hewlitt ein, doch Lioren sprach weiter, als ob Hewlitt nichts gesagt hätte.

„Außerdem sind Sie ein außerordentlich gesundes Exemplar eines terrestrischen DBDGs. Abgesehen von dem unerklärlichen Herzstillstand am Abend Ihrer Ankunft, haben Ihre Sensoren seit Ihrer Einlieferung stets optimale medizinische Werte angezeigt. Die gegenwärtige leichte Abschwächung Ihrer Lebenszeichen führen wir auf Ihre schlaflose Nacht zurück, in der Sie sich, dessen bin ich mir sicher, hauptsächlich Gedanken über Morredeth gemacht haben.“„Also verfüge ich über einen gesunden Verstand, der im Körper eines Supermanns steckt“, merkte Hewlitt spöttisch an, ohne ein Hehl aus seinem aufflammenden Zorn zu machen, denn offenbar wollte man ihn, wie schon so oft in der Vergangenheit, wieder einmal vorzeitig als ›einen etwas untypischen Simulanten‹ aus dem Krankenhaus entlassen. „Vielen Dank auch, daß Sie mir diese Tatsache zum hundertsten Mal bestätigen, Padre. Worum geht es Ihnen eigentlich? Was genau soll ich Ihnen denn erzählen?“

Der Tarlaner beugte sich über das Bett und öffnete den Mund. Zum ersten Mal sah Hewlitt Liorens riesige Zähne und spürte dessen Atem im Gesicht. Er war stolz auf sich; denn anstatt panikartig den Raum zu verlassen, blieb er ruhig im Bett liegen. Im Orbit Hospital schien man sich mit der Zeit an alles und jeden zu gewöhnen.

„Das weiß ich selbst nicht so genau“, antwortete der Padre. „Irgendwas. Am besten alles. Am liebsten etwas, das es mir ermöglicht, mich an dem Problem – wie Sie es als Terrestrier auszudrücken pflegen – so richtig festzubeißen.“

„Und das mit Ihren Zähnen?“ platzte es Hewlitt automatisch heraus, wobei er entsetzt auf den offenen Mund des Tarlaners starrte. Dann lachte er verkniffen und fuhr fort: „Na ja, wo wir schon davon sprechen: Ich hatte tatsächlich Probleme mit meinen Zähnen, und zwar als kleines Kind auf Etla, das war allerdings nur halb so schlimm. Ich war damals sieben Jahre alt, als die ersten Milchzähne locker wurden, doch die ersten beiden neuen Zähne wollten nicht richtig nachwachsen, da sich die alten anscheinend strikt weigerten herauszukommen. Ich hatte zwar Zahnschmerzen, aber als Kind machte ich mir natürlich mehr Sorgen darum, von der Zahnfee keine Belohnung zu bekommen, wenn sie während der Nacht keine herausgefallenen Zähne auf meinem Kissen finden würde. Kennen Sie eigentlich den terrestrischen Brauch mit der Zahnfee? Na, ich werde Ihnen vielleicht später mehr davon erzählen. Als der dritte neue Zahn kam und sich der alte ebenfalls standhaft weigerte herauszufallen, verlor der Zahnarzt die Geduld und zog alle drei alten Zähne auf einmal heraus. Danach bereiteten sie mir keine Probleme mehr, und das Geld der Zahnfee lag, wienicht anders zu erwarten war, auf meinem Kopfkissen. Aber ich glaube nicht, daß diese Zahngeschichte von Belang ist.“

„Wer weiß schon, welche Informationen für Ihren Krankheitsfall letztendlich verwertbar sind?“ merkte der Padre an. „Trotzdem stimme ich Ihnen diesbezüglich zu. Gibt es vielleicht noch andere nicht aufgezeichnete und Ihrer Ansicht nach völlig unwesentliche Begebenheiten, an die Sie sich erinnern können?“

Je länger Hewlitt redete, desto besser konnte er sich an einige Vorkommnisse erinnern, von denen einige sogar zu seinem großen Erstaunen in seiner Krankenakte festgehalten worden waren. Der Rest war eine langweilige Aufzählung all der Hautausschläge, die man als Kind und Jugendlicher erleidet, sowie diverser Verletzungen, die er sich in der Schule oder zu Hause zugezogen hatte. Natürlich hatte er sich einige Male in den Finger geschnitten, sich den Kopf gestoßen oder sich die Knie aufgeschlagen, aber nie war etwas Ernsthaftes oder Langwieriges dabeigewesen. Die Schnittwunden und Abschürfungen waren stets im Nu verheilt, selbst wenn die eine oder andere Wunde zunächst so schlimm ausgesehen hatte, als hätte sie sofort genäht werden müssen.

„Als ich jung war, mochte ich keine Ärzte, weil sie darauf bestanden, mir Medikamente zu verschreiben, nach deren Einnahme es mir immer nur schlechter anstatt besser ging“, fuhr er fort. „Zuerst befürchtete ich, daß Medalont genauso vorgehen wollte, doch hat er mir zu meiner großen Verwunderung überhaupt keine Medikamente verschrieben, und mit Ausnahme des Herzstillstands in der ersten Nacht habe ich bislang keinerlei Beschwerden gehabt. Soll ich weitererzählen, Padre? Sind das ungefähr die Informationen, die Sie von mir haben wollen?“

„Ich weiß selbst nicht genau, was ich wissen will und wonach ich suche, ja noch nicht einmal, ob ich einen wichtigen Anhaltspunkt sofort als solchen erkennen würde, wenn ich auf ihn stoße, Patient Hewlitt“, erwiderte der Tarlaner. „Wenn allerdings all das, was Sie und Ihre Ärzte sagen, wahr ist und man die beiden unerklärlichen Ereignisse, in die Sie hier im Krankenhaus verwickelt waren, mit einbezieht, dann bleibt für mich bislangnur eine einleuchtende Erklärung übrig, wenngleich ich mich nur äußerst widerwillig damit abfinden kann.“

Der Tarlaner beugte sich derart weit über das Bett, daß Hewlitt sich fragte, ob dessen im Grunde von Natur aus standfester Körper womöglich doch das Gleichgewicht verlieren und auf ihn fallen könnte.

Die Gesichtszüge des Padre waren zwar nicht zu deuten, doch war seine Anspannung fast physisch spürbar, als er fragte: „Gehören Sie eigentlich einer religiösen Sekte an, Patient Hewlitt?“

„Nein.“

„Gehörten denn Ihre Eltern einer Religionsgemeinschaft an? Oder Ihre Großeltern vielleicht, bei denen Sie ja später aufgewachsen sind? Dabei dürfte es sich höchstwahrscheinlich um eine kleinere Sekte gehandelt haben, weil es ihr nicht möglich war, eine Bevölkerung mit einer größtenteils materialistischen Weltanschauung zu missionieren. Die nur sehr wenigen Mitglieder dieser Sekte dürften jedoch höchst moralische Grundsätze gehabt haben und äußerst fromm und zutiefst von ihrem Glauben überzeugt gewesen sein. Auch wenn Sie zu jener Zeit noch sehr jung gewesen sind, sind Sie von Ihren Eltern, Großeltern oder irgendwelchen Lehrern in den Glaubensgrundsätzen einer solchen Sekte unterwiesen worden?“

„Nein“, erklärte Hewlitt von neuem.

„Sie sollten sich mehr Zeit gönnen, wenn Sie sich an die Zeit erinnern“, riet ihm Lioren. „Bitte denken Sie noch einmal genau darüber nach.“

Der Körper des Padre richtete sich in schlängelnden Bewegungen wieder auf, und Hewlitt war sich nicht sicher, ob diese Geste Entspannung oder Enttäuschung ausdrücken sollte.

„Tut mir leid, Padre, aber ich dachte, Ihnen sei klar, daß ich kein religiöser Mensch bin, zumal ich vorhin Ihr Angebot, mir geistlichen Trost zu spenden, abgelehnt habe. Warum stellen Sie überhaupt so viele religiöse Fragen? Ich bin noch nie ein gläubiger Mensch gewesen.“

Als Lioren antwortete, war Hewlitt heilfroh, daß rings ums Bett ein schalldichtes Feld errichtet worden war, denn die Stimme des Padre wärebis in den letzten Winkel der Station gedrungen.

„Ich stelle diese Fragen, weil sie gestellt werden müssen, und weil religiöse Überzeugungen oft eine starke Auswirkung auf die psychische und physische Verfassung eines Wesens haben können. Hauptsächlich stelle ich sie allerdings aufgrund Ihres Verhaltens in der vergangenen Nacht.

Obwohl der gesundheitliche Zustand von Patientin Morredeth kaum Grund zur Sorge bereitete, hat sie aufgrund der Unterhaltung mit Ihnen starke seelische Qualen erlitten, die in einem heftigen Schüttelkrampf gipfelten“, fuhr er mit unverminderter Lautstärke fort. „Sie haben der diensthabenden Krankenschwester beim Ruhigstellen der Patientin geholfen, damit diese der Kelgianerin eine Beruhigungsspritze verabreichen konnte, doch da hatten bereits beide Herzen der Patientin aufgehört zu schlagen. Und dann setzte eine Art wundersamer Prozeß ein, den man allenfalls als ›Handauflegen‹ bezeichnen kann.

Als nämlich die Leute vom Reanimationsteam eintrafen, waren die ziemlich aufgebracht“, setzte Lioren mit etwas ruhigerer Stimme seine Ausführungen fort, „weil sie zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen auf dieselbe Station zu Noteinsätzen gerufen worden sind, die sich beide im nachhinein als Fehlalarm herausstellten. Thornnastor ist völlig verwirrt – ein Zustand, der beim Chefdiagnostiker der Pathologie übrigens höchst selten vorkommt – und hat Patientin Morredeth für genauere Untersuchungen in sein Labor bringen lassen, da es für das, was mit ihr geschehen ist, keinen Präzedenzfall gibt. Na, und Patientin Morredeth ist natürlich überglücklich, weil ihr Fell an den Stellen, an denen es gefehlt hat oder beschädigt gewesen ist, binnen Stunden nachgewachsen ist und jetzt so gut wie neu aussieht.“

Lioren hielt kurz inne, und in seine Stimme schlich sich ein fast wehleidig klingender Ton ein, als er fortfuhr: „Für ein Krankenhaus, das bereits überall in dem Ruf steht, wahre medizinische Wunder vollbringen zu können, ist ein wirkliches Wunder äußert unangenehm, wenn nicht sogar peinlich. Nun ja, und solch eine Wunderheilung macht selbst mir einigermaßen zu schaffen.Oder haben Sie für die wundersame Genesung der Patientin Morredeth irgendeine andere Erklärung, Patient Hewlitt?“

15. Kapitel

Während der folgenden Woche nach Morredeths Verlegung in die Pathologie fiel Hewlitt auf, daß sich die anderen ihm gegenüber etwas merkwürdig verhielten, doch gab es keinen bestimmten Anlaß, der ihm Grund zur Beschwerde gegeben hätte. Chefarzt Medalont wechselte nur wenige Worte mit ihm und wenn doch, dann drehten sich die Gespräche praktisch nie um seine Krankheit. Oberschwester Leethveeschi legte eine ungeahnte Höflichkeit an den Tag. Die hudlarische Schwester war wie immer freundlich, wenngleich weniger gesprächig als sonst, und als er versuchte, mit Horrantor und Bowab zu dritt Scremman zu spielen, taten sie fast so, als hätte es ihnen die Sprache verschlagen. Um es mit einer Redensart, die seine Großmutter einst gern verwendet hatte, auszudrücken: Alle führten um ihn herum den reinsten Eiertanz auf.

Offenbar war Lioren das einzige Wesen, das sich ausführlicher mit ihm zu unterhalten bereit war, obwohl die Besuche des Padre immer in langen und häufig auch hitzig geführten religiösen Debatten zu enden schienen; auch wenn Hewlitt diese als ungläubiger Mensch lieber als philosophische Streitgespräche bezeichnete. Auf jeden Fall verkürzten sie ihm die Tage und beschäftigten ihn gedanklich bis tief in die dazwischenliegenden Nächte hinein, und dafür war er sehr dankbar. Obwohl der Padre nicht unbedingt seine erste Wahl in der nach oben hin offenen Richter-Skala unterhaltsamer Gesprächspartner gewesen wäre. Erst recht nicht, wenn Lioren wie jetzt wieder einmal versuchte, die Unterhaltung auf das immer langweiliger werdende Thema zu lenken, was genau mit Morredeths Fell passiert sein könnte.

„Als ich vorhin mit Morredeth gesprochen habe, hat sie mir gesagt, die Pathologie habe nichts gefunden, was zu beanstanden sei, und in ihrem wiederhergestellten Fell gebe es auch keinerlei Anzeichen für eine Verschlechterung. Ihrer Auffassung nach gingen Thornnastor allmählich die Gründe dafür aus, sie noch länger unter Beobachtung zu halten, so daß er sie bald nach Hause entlassen müsse. Sollte Morredeth Sie nicht mehrsehen können, so läßt sie Ihnen die besten Wünsche ausrichten und darüber hinaus ein großes Dankeschön, falls Sie etwas getan haben sollten, um sie zu heilen und …“

„Aber ich habe lediglich mit ihr ein wenig gerungen, sonst nichts!“ unterbrach ihn Hewlitt. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß Sie ihr das ausrichten sollen.“

„Das habe ich auch getan“, erwiderte der Padre. „Morredeth hat auch nur gesagt, falls Sie etwas getan haben sollten, wäre sie Ihnen dankbar. Wie alle anderen hat auch sie Probleme, an Wunder zu glauben.“

„Es gibt keine Wunder!“ stellte Hewlitt nicht zum ersten Mal klar. „Es gibt bloß Naturgesetze, die wir nicht verstehen oder noch nicht erforscht haben. Da wir zum Beispiel wissen, wie dieses Ding hier funktioniert, können wir dieses Wunder auch mehrmals am Tag vollbringen, ohne weiter darüber nachzudenken, stimmt's?“

Während des Sprechens hatte Hewlitt den Kommunikator neben dem Bett eingeschaltet und den Code für das Bibliotheksmenü eingegeben, und jetzt fragte er sich, ob Lioren diesen Wink verstehen und endlich gehen würde. Bei früheren Anlässen hatte er es jedenfalls nicht getan, und wenn der Padre eins war, dann ein Musterexemplar an Beständigkeit, was sein Sitzfleisch betraf.

„Sicher, vor einigen Jahrhunderten wäre eine Bildübertragung ein großes Wunder gewesen“, stimmte Lioren ihm zu. „Daß Morredeth ungeheuer erleichtert und froh ist, muß ich Ihnen ja nicht erst sagen, aber vor allem ist sie enorm stolz auf den Zustand ihres Fells. Sie hat sogar darauf bestanden, daß ich meine Hände auf ihre Flanken lege, um die Dichte und Beweglichkeit zu spüren, und sie hat behauptet, daß es sich noch nie zuvor so gut angefühlt habe. Auf Tarla macht man so etwas nur, wenn man miteinander sehr vertraut ist und eine tiefe emotionale Bindung teilt, aber Morredeth wollte unbedingt, daß ich ihr Fell berühre. Na ja, offen gesagt, war mir das ziemlich unangenehm, denn bei solchen Anlässen kann ich mich in moralischer Hinsicht als ein ganz schöner Feigling entpuppen. Auf alle Fälle war es ein sehr seltsames und höchst unerwartetes Gefühl, das nur sehr schwer zu beschreiben ist. Ich kam mir dabei ziemlich… nun ja, wie soll ich das mal ausdrücken… ?“

„Kamen Sie sich vielleicht ein bißchen lächerlich vor?“ half Hewlitt aus. „So ist es mir jedenfalls ergangen, als mir dasselbe mit Horrantor passiert ist. Medalont hat mich nämlich gebeten, meine Hände für einen medizinischen Versuch auf die verletzte Gliedmaße der Tralthanerin zu legen. Nach Aussage des Chefarztes gebe es mit Horrantors Beinverletzung Komplikationen, und die Genesung würde nur sehr langsam voranschreiten. Da offenbar befürchtet wurde, daß etwas Dramatisches passieren könnte, standen Medalont, Leethveeschi, zwei orligianische Krankenschwestern und das komplett angetretene Reanimationsteam bereit. Ich nehme an, daß letztendlich alle, sogar Horrantor selbst, heilfroh waren, daß sich trotz meines Handauflegens nichts tat.

Tja, mit einem zweiten Wunder kann ich also nicht dienen, Padre. Tut mir leid.“

„Sie brauchen sich deswegen wahrhaftig nicht zu entschuldigen“, meinte Lioren. „Außerdem empfinde ich ähnlich wie meine Kollegen; wenn ein solch vermeintliches Wunder geschieht, fühle ich mich immer sehr unwohl in meiner Haut, und es verunsichert mich in dem, an was ich glaube und an was ich nicht glaube, und ich muß umgehend beweisen, daß nichts dergleichen geschehen ist.“

„Natürlich gibt es keine Wunder, Padre“, versicherte ihm Hewlitt nochmals. „Können wir jetzt bitte über etwas anderes reden?“

„Es muß sehr schön sein, sich seiner Sache so sicher zu sein“, sagte Lioren und machte dabei mit den mittleren Armen eine ungestüme Geste, die ein anderer Tarlaner wahrscheinlich hätte deuten können. „Trotzdem frage ich mich, ob in der Schöpfung – in der ungeheuren Weite von Raum und Zeit, den unveränderlichen Gesetzen von Ursache und Wirkung und dem perfekten Gleichgewicht der Kräfte – kein Platz für ein gelegentliches Wunder ist. Doch warum ist es ausgerechnet hier geschehen?“

Hewlitt schüttelte den Kopf und seufzte schwer; anscheinend gab es keine Möglichkeit, den Padre von diesem endlosen Thema überMorredeths Fell und den unvermeidlichen religiösen Debatten abzubringen. „Hier ist gar nichts geschehen. Es gibt keine Wunder, Padre! Würde es welche in Ihrem großen, komplizierten und dennoch wohlgeordneten Universum geben – oder von mir aus auch in der Schöpfung, wie Sie es nennen -, dann wären sie fehl am Platz. Ein Defekt in einem ansonsten so perfekten System. Im Universum ist nun mal kein Platz für Wunder.“

„Ein interessanter, philosophischer Gedanke“, sann Lioren laut nach. „Er läßt darauf schließen, daß unsere Schöpfung fehlerhaft ist, da ja ganz offensichtlich hier im Orbit Hospital ein übernatürliches Ereignis stattgefunden hat. Wenn man sich die hypothetischen Eigenschaften des höchsten Wesens vor Augen hält, warum sollte er, sie oder es irgendeine Form der Unvollkommenheit erschaffen haben?“

„Was weiß ich?“ antwortete Hewlitt. „Das ist zwar nicht mein Fachgebiet, aber vielleicht kann man davon ausgehen, daß dieses Universum nur als Modellfall erschaffen wurde – eine Art Prototyp, der dann und wann einer Änderung oder kleinen Feinabstimmung bedarf. Das Eindringen von zufälligen übernatürlichen Ereignissen in ein Universum, das angeblich auf Naturgesetzen basiert, könnte der Beweis für solch eine Form der Unvollkommenheit sein. Na, aber Gott sei dank… huch! Das war nur so eine terrestrische Redensart, Padre. So was rutscht mir nur selten raus…“

„Wenn Sie glauben, daß…“

„Ich glaube an gar nichts, Padre. Ich habe das nur so gesagt.“ Der Tarlaner schwieg für einen Augenblick, dann sagte er: „Wenn dieses Universum unvollkommen ist und die Ewigkeit das ist, was sie ist, nämlich ohne Anfang und Ende, folgt doch daraus, daß es auch ein vollkommenes Universum gibt oder gegeben hat oder geben wird. Haben Sie Lust, ein wenig darüber zu philosophieren… ahm… nur so, meine ich?“

„Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, diesen Gedankengang zu Ende zu führen“, antwortete Hewlitt lächelnd. „Also werde ich versuchen, dies nachzuholen, während ich darüber spreche. Im Gegensatz zu diesem Universum wäre alles perfekt. Es gäbe keine Naturgesetze, wenn esnämlich welche geben würde, hieße das, daß es auch Fehler hätte und gelegentlicher Korrekturen bedürfte. Es gäbe weder Zeit noch Raum und auch keine physikalischen oder mentalen Einschränkungen, so daß jedes Ereignis, das stattgefunden hat, ein Wunder wäre. Ich vermute mal, daß Sie und die anderen Gläubigen, die in dieser unvollkommenen Schöpfung leben, so etwas als Himmel bezeichnen würden.“

„Fahren Sie fort“, ermunterte ihn Lioren. „Das Problem, das ich und sehr viele andere Leute mit den verschiedenen Religionen haben, ist, daß keine davon auch nur ansatzweise erklären kann, warum es so viel Elend oder, genauer gesagt: tragische Unfälle, Naturkatastrophen und Krankheiten gibt, und warum sich einzelne Personen oder ganze Gruppen so entsetzlich feindselig gegeneinander verhalten, kurz gesagt: warum es so viel Leid in diesem Universum gibt. In einer unvollkommenen Schöpfung zu leben bedeutet, daß man weit ausholen müßte, um zu erklären, warum diese Dinge geschehen, besonders dann, wenn man die Erwartung hegt, nach dem Tod in ein vollkommenes Universum zu gelangen.

Das ist natürlich eine ausgesprochen ketzerische Theorie“, beendete Hewlitt seine Ausführungen. „Ich hoffe, daß Sie sich durch meine Respektlosigkeit nicht beleidigt fühlen, Padre.“

„Sicherlich hört sich das ketzerisch und respektlos an, allerdings ist das nicht völlig neu für mich“, räumte Lioren ein. „Um hier meine Arbeit einigermaßen vernünftig verrichten zu können, benötige ich ein umfassendes Wissen über die religiösen Überzeugungen und Gewohnheiten vieler Wesen, und häufig werden auf einem einzigen Planeten gleich mehrere Religionen parallel ausgeübt. Mir fallen gerade die Schriften eines terrestrischen Theologen namens Augustinus ein, der mit Vorliebe laut nachgedacht haben soll, obwohl er in Wahrheit auf diese Weise seinem Gott nur höfliche, wenngleich lästige Fragen gestellt hat. Eine der Fragen lautete: ›Was hast du vor der Erschaffung des Universums getan?‹ Zwar gibt es keine Aufzeichnungen von diesem Augustinus, ob er jemals eine Antwort erhalten hat, zumindest nicht zu seinen Lebzeiten auf der Erde, aber mit Ihrem Vorschlag, der Schöpfer aller Dinge könne vorläufig nureinen Prototypen erschaffen haben, den wir immer noch bewohnen, haben Sie schon eine Stufe weiter gedacht.

Ich bin nicht beleidigt oder gar überrascht, Patient Hewlitt. Was die religiösen Überzeugungen anderer Spezies anbelangt, kann mich eigentlich so gut wie nichts mehr erschüttern. Dem VTXM-Telfaner, den ich während der vergangenen Tage des öfteren besucht habe, wäre das allerdings dennoch beinahe gelungen. Dieser Telfaner, der sich stets mit anderen Angehörigen seiner Spezies zu einem Gruppenwesen formiert, einer sogenannten ›Gestalt‹, vertritt die Überzeugung, Gott habe sie nach seinem Ebenbild erschaffen. Ihr allwissender und allmächtiger Schöpfer setzt sich demnach aus einer unendlichen Anzahl kleiner, schwacher und jede für sich unwissender Kreaturen zusammen – wie sie selbst also -, die erst gemeinsam das höchste Wesen ergeben, mit dem sie sich eines Tages, so hoffen sie, vereinigen können.

Für eine Spezies, die Intelligenz und Zivilisation entwickelt hat, indem sie sich zu einer Gestalt aus individuell spezialisierten Wesen zusammenfügt, ist es verständlich, warum sie an so etwas glaubt. Dennoch ist es mir anfänglich sehr schwer gefallen, den Telfaner zu verstehen und mit ihm über die unendliche Anzahl von Personen zu sprechen, die seinen einen Gott ausmachen, oder ihm den geistlichen Trost zu spenden, den er braucht. Natürlich gibt es viele Religionen, die der Meinung sind, ein kleiner Teil Gottes stecke in jeder denkenden Kreatur … Kennen Sie eigentlich die Telfaner?“

„Ein wenig“, antwortete Hewlitt, der immer noch versuchte, den Padre von theologischen Themen und damit einhergehenden Gedanken an Wunder abzubringen. „In der nichtmedizinischen Bibliothek gibt es in der Auflistung der Föderationsmitglieder einen kurzen Eintrag. Telfaner arbeiten gruppenweise als Kontakttelepathen, um ihre geistigen und physischen Fähigkeiten zu vereinigen. Sie leben von der direkten Umwandlung radioaktiver Strahlung, die überall auf ihrem Heimatplaneten herrscht, da sich dieser seine Bahn sehr nahe um eine äußerst strahlungsintensive Sonne beschreibt. Bei interstellaren Reisen muß diese Strahlung auf dem Schiffkünstlich erzeugt werden. Wenn diese Wesen bei einer hin und wieder vorkommenden Fehlfunktion ihres Lebenserhaltungssystems das Glück haben, gerettet zu werden, landen sie hier im Orbit Hospital. Da es sich bei den Telfanern um Strahlenverwerter handelt, kann sich ihnen aber kein gewöhnliches Wesen nähern, um mit ihnen zu reden, ohne dabei nicht selbst in Lebensgefahr zu geraten. Haben Sie einen Kommunikator benutzt oder einen Schutzanzug getragen?“

„Na, vielen Dank auch für die indirekte Andeutung, daß es sich bei mir um ein außergewöhnliches Wesen handeln könnte, Patient Hewlitt“, scherzte der Padre und gab dabei ein unübersetzbares tarlanisches Geräusch von sich. „Aber die Antwort lautet: weder noch. Medizinische Laien gehen häufig von der falschen Annahme aus, man könne sich den Telfanern ohne ferngesteuerte Greifvorrichtungen weder nähern, noch sie berühren. Um leben zu können, müssen sie die auf ihrem Planeten herrschende natürliche Strahlung aufnehmen. Wenn diese Wesen allerdings der Strahlung aus medizinischen Gründen für einige Tage nicht ausgesetzt sind und sie vom Hunger geschwächt sind, sinken ihre eigenen radioaktiven Emissionen auf ein völlig harmloses Niveau. Als während meines Besuchs einer der Telfaner aus dem Behandlungszimmer gebracht wurde, war ich dicht genug dran, um ihn berühren zu können, und das tat ich dann auch.

Dabei handelt es sich übrigens um einen Patienten, der wirklich ein Wunder benötigt“, fügte Lioren hinzu.

Offensichtlich tat dem Padre der Telfaner leid, und Hewlitt hatte durchaus Verständnis für Liorens Gefühle, doch wieder einmal drehte sich das Thema um vermeintliche Wunder. Deshalb beschloß er, so vorsichtig wie möglich in die Offensive zu gehen. „Wenn Sie damit vorschlagen wollen, daß ich meine Hände auf einen Telfaner legen soll, dann vergessen Sie's. Für Sie oder den Patienten gibt es nur eine richtige Methode, ein Wunder herbeizuführen – nämlich indem Sie für eins beten. Angeblich ist ein Wunder doch ein übernatürliches Ereignis und ganz bestimmt nicht etwas, das von der Mitarbeit eines atheistischen Durchschnittsterrestriers abhängt. Wenn Sie das nicht glauben, was glauben Sie dann, Padre?“„Ich darf Ihnen nicht sagen, was ich glaube“, erwiderte Lioren. „Im Interesse der Patienten, die übermäßig beeinflußt werden könnten, wenn ich von meinen eigenen Überzeugungen spreche, bin ich verpflichtet, diese Information nicht preiszugeben.“

„Wieso denn das? Was könnten Ihre persönlichen Überzeugungen denn bei einem Ungläubigen so Schlimmes anrichten?“

„Auch das weiß ich nicht, und genau das ist das Problem“, antwortete Lioren. „Ich besitze umfassende Kenntnisse über mehr als zweihundert Religionen, die in der ganzen Föderation ausgeübt oder, besser gesagt, noch häufiger nicht ausgeübt werden. Meine Aufgabe hier besteht in erster Linie darin, schwer oder unheilbar erkrankten Patienten zuzuhören, sie zu beruhigen, zu ermutigen oder ihnen in angemessener Form Trost zu spenden. Aufgrund meiner Erfahrung und meines Hintergrundwissens gibt es immer einige Patienten, die mehr als nur tröstende Worte hören möchten. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an mich und bringen mir ihren Respekt und ihr Vertrauen entgegen, weil sie irrtümlicherweise denken, daß ich mich am besten auskennen müßte. Sie wünschen sich religiöse Gewißheit und glauben, daß ich ihnen diese aufgrund meines breitgefächerten Wissens und meiner Erfahrung beim Umgang mit ihren Problemen geben kann. Doch so etwas kann ich nicht tun, weil ich ihren verwirrten und ängstlichen Zustand nicht ausnutzen darf, um eine Religion mit einer anderen zu vergleichen oder einen Glauben vorzuschlagen, von dem ich denke, daß er der einzig wahre ist. Ganz gleich wie verrückt und unglaublich manche Überzeugungen auch sein mögen, so möchte ich dennoch nicht die Verantwortung dafür übernehmen, ein Wesen dazu zu bringen, auch nur ansatzweise oder vorübergehend seinen Glauben zu wechseln oder an seiner eigenen Religion zu zweifeln. Nur ein einziges Mal habe ich versucht, Gott zu spielen, und das, werde ich garantiert nie wieder tun.“

Der Padre gab erneut ein unübersetzbares Geräusch von sich und fuhr dann fort: „Besonders vorsichtig bin ich bei Ungläubigen. Es wäre zum Beispiel furchtbar, falls Sie allein aufgrund meiner Aussagen irgendwanneinmal religiös werden würden.“

„Also, dazu bedürfte es allerdings eines echten Wunders“, bemerkte Hewlitt lachend.

Liorens Antwort wurde durch das unverhoffte Auftauchen Leethveeschis übertönt, die in Richtung des Stationseingangs deutete und ohne große Umschweife zur Sache kam. „Bitte stellen Sie sich darauf ein, gleich von einigen Leuten Besuch zu bekommen, Patient Hewlitt. Die Diagnostiker Thornnastor und Conway, die Chefärzte Medalont und Prilicla sowie die Pathologin Murchison wollen Sie nämlich sehen. Wenn sich eine solch hochkarätige Ansammlung medizinischer Kapazitäten für Ihren Fall interessiert, dann ist abzusehen, daß Sie als Patient nicht mehr lange hierbleiben werden. Prilicla entschuldigt sich übrigens für die Unterbrechung Ihrer Unterhaltung. Er bittet Sie, Padre Lioren, zu den anderen hinüberzugehen und dort kurz zu warten, damit seine Untersuchung nicht durch Ihre Gegenwart beeinträchtigt wird.“

„Selbstverständlich, Schwester“, willigte Lioren sofort ein.

Hewlitt beobachtete, wie der Padre die Station hinaufging und sich zu der Gruppe gesellte, die etwa dreißig Meter entfernt stand und in einem Fall sogar schwebte. Den Tralthaner, Medalont, die terrestrischen Diagnostiker Thornnastor und Conway nahm er kaum wahr und noch nicht einmal die schon etwas in die Jahre gekommene, nichtsdestoweniger aber auffallend hübsche Terrestrierin, bei der es sich um die Pathologin Murchison handeln mußte, weil seine ganze Aufmerksamkeit dem enorm großen, doch zugleich unglaublich zerbrechlichen Insekt galt, das mit drei langsam schlagenden, schillernden Flügelpaaren in seine Richtung flog. Als es schließlich über seinem Bett auf der Stelle schwebte und er den schwachen Luftzug des Flügelschlags im Gesicht spürte, erinnerte er sich daran, daß er schon immer eine Abneigung gegen Insekten gehabt hatte; und je größer diese waren, desto mehr verspürte er das Verlangen, sie totzuschlagen. Dieses Insekt hier war allerdings die zarteste und schönste Kreatur, die er je im Leben gesehen hatte, so daß er vor lauter Staunen keinen Ton herausbrachte.„Vielen Dank, Freund Hewlitt“, begrüßte ihn das Insekt, dessen ruhige trällernde und klickende Sprechweise eine fast musikalische Untermalung der übersetzten Wörter bildete. „Ihre emotionale Ausstrahlung ist sehr angenehm und höchst schmeichelhaft für mich. Mein Name ist übrigens Prilicla.“

„Was… was genau haben Sie mit mir vor?“ stammelte Hewlitt, den mit wiedererlangter Stimme auch die Angst erneut gepackt zu haben schien.

„Ich habe bereits alles Notwendige erledigt, Freund Hewlitt. Also gibt es keinen Grund für Sie, Angst zu haben.“

Die anderen, die gewartet hatten, mußten alles mitgehört haben, denn sie kamen plötzlich näher.

Nachdem sie sich um Hewlitts Bett herum aufgestellt hatten, verkündete Prilicla mit erhobener Stimme: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind bei Patient Hewlitt keine Anomalien des Geisteszustands festzustellen, genausowenig wie bei Patientin Morredeth, die ich zuvor untersucht habe und die deshalb umgehend nach Hause entlassen werden sollte. Ich fühle, wie enttäuscht Sie alle verständlicherweise sind, und es tut mir wirklich leid. Was mich anbelangt, so kann ich absolut nichts Ungewöhnliches an dem Patienten feststellen.“

Während Prilicla federleicht auf dem Bettende landete, fuhr er fort: „Was würden Sie eigentlich von einer Fahrt in einem Ambulanzschiff halten, Freund Hewlitt?“

Hewlitt sah, wie Priliclas Körper zu zittern begann, und ihm war klar, daß der Empath die von ihm ausgestrahlten Gefühle von Wut und bitterer Enttäuschung mit ihm teilen mußte – Gefühle, unter denen er schon so oft in der Vergangenheit gelitten hatte.

„Versuchen Sie bloß nicht, mich auf den Arm zu nehmen, verdammt noch mal!“ protestierte er. „Sie glauben also auch, daß mir nichts fehlt, und wollen mich nach Hause schicken, wie?“

„Nein, das ist nicht ganz richtig“, besänftigte ihn Prilicla. „Dieses Mal werden Sie mit dem Ambulanzschiff des Orbit Hospitals zumursprünglichen Unfallort fliegen.“

16. Kapitel

Auch wenn Hewlitt während des Aufenthalts auf Station sieben seine Xenophobie so gut wie überwunden hatte, so stellte er doch mit Erleichterung fest, daß die terrestrischen DBDGs auf diesem Ambulanzschiff eine Mehrheit von fünf zu drei besaßen.

Wie er erfuhr, wurde die Rhabwar bei nichtmedizinischen Einsätzen von einem sehr dienstbeflissenen jungen Offizier namens Major Fletcher kommandiert, während die drei anderen Monitorkorpsoffiziere Haslam, Chen und Dodds für die Kommunikation, Technik und Astronavigation verantwortlich waren. Da es Hewlitt nicht gestattet war, das Unfalldeck zu verlassen, würde er mit diesen Schiffsoffizieren wohl nur selten Kontakt haben, es sei denn, ein Notfalleinsatz würde ihre Gegenwart auf dem Unfalldeck dringend erforderlich machen. In einem solchen Fall würde das Kommando bis zum Abschluß des Notfalleinsatzes automatisch an den Chefarzt des medizinischen Teams übertragen werden, und das war, wie sich herausstellte, der cinrusskische GLNO-Empath Prilicla.

Zunächst war Hewlitt einigermaßen überrascht und später, nachdem er Pathologin Murchison besser kennengelernt hatte, auch sehr erfreut darüber zu erfahren, daß sie als Stellvertreterin des Empathen fungierte. Bei den anderen beiden Angehörigen des medizinischen Stabs handelte es sich um Oberschwester Naydrad - eine DBLF-Kelgianerin und ihres Zeichens Spezialistin für besonders schwierige Rettungsaktionen, und Doktor Danalta, der der physiologischen Klassifikation TOBS angehörte und der die fremdeste und zuweilen auch vertrauteste Persönlichkeit war, die Hewlitt je im Leben zu Gesicht bekommen hatte.

Danalta war nämlich ein polymorphes Wesen; ein Gestaltwandler also, der sich optisch in irgend jemand oder irgend etwas verwandeln konnte, was er anderen auch nur allzu gern vorführte. Sobald dieser Verwandlungskünstler mit der Krankenwache an der Reihe war und insbesondere dann, wenn Hewlitt schlafen und sich nicht unterhalten sollte, saß Danalta allerdings immer nur schwerfällig wie eine unförmige, grüneBirne neben seinem Bett und pflegte lediglich ein großes Auge und ein großes Ohr hervorzustülpen.

Mit Ausnahme während der natürlichen Schlafperioden, an die sich terrestrische DBDG-Patienten strikt halten mußten, konnte Hewlitt natürlich jederzeit das Bett verlassen.

Gleich am ersten Tag an Bord wurde an ihm eine sehr gründliche ärztliche Untersuchung vorgenommen, die auch die Entnahme von Gewebe- und Blutproben umfaßte. Während dieser Prozedur stand oder schwebte das gesamte medizinische Team um sein Bett herum und legte dabei eine Betriebsamkeit mit fast haarsträubenden Folgen an den Tag. Fast alle Beteiligten strahlten nämlich eine ungeheure Besorgnis aus, die selbst Hewlitt spürte, weil sie befürchteten, daß er auf irgendeine dramatische Weise reagieren könnte. Bei dieser einen Untersuchung ließ man es einstweilen bewenden, und weil seine Reaktionen vielleicht nicht ganz den Erwartungen entsprochen hatten, bombardierten ihn die medizinischen Mitarbeiter in den darauffolgenden beiden Tagen unentwegt mit irgendwelchen Fragen, wohingegen alle geflissentlich den von ihm gestellten Fragen auszuweichen versuchten.

Pathologin Murchison war nicht nur Terrestrierin, sondern entsprach auch in ihrer Persönlichkeit und Erscheinung schon eher Hewlitts Vorstellung von einem medizinischen Schutzengel. Als sie wieder einmal an der Reihe war, die Wache auf dem Unfalldeck zu übernehmen, versuchte Hewlitt, sie in ein unverfängliches Gespräch zu verwickeln, da er hoffte, daß sie ihm das eine oder andere über das weitere Vorgehen verraten könnte. Hewlitt wußte, daß er seinen aufgestauten Zorn nicht zu unterdrücken brauchte, denn Prilicla ruhte sich in seiner Kabine aus und befand sich somit außer empathischer Reichweite.

„Jeder scheint mir hier genau dieselben Fragen zu stellen, mit denen mich Medalont und all meine anderen Ärzte schon so oft traktiert haben, und ich kann immer nur dieselben Antworten geben“, beklagte er sich. „Wenn ich könnte, wäre ich ja gerne behilflich, aber wie? Keiner von Ihnen beantwortet meine Fragen, und niemand sagt mir, wie mein gegenwärtigerZustand ist. Was glauben Sie denn nun eigentlich, was mir fehlt? Und warum verrät mir niemand, was dagegen unternommen werden soll?“

Die Pathologin drehte sich gemächlich auf dem bequemen Sessel zu Hewlitt herum und wandte nur widerwillig den Blick von dem großen Monitor ab, auf dem seit geraumer Zeit eine Folge unbewegter Bilder gezeigt wurde, die den Oberflächen von rosa- und lilafarben geäderten Marmorplatten ähnelten. Wie Hewlitt vermutete, handelte es sich dabei um erkrankte Gewebeteile fremder Spezies, und vielleicht war Murchison davon ausgegangen, die Bilder könnten ihn derart langweilen, daß er sofort einschlafen würde.

Die Pathologin stieß einen langen Seufzer aus, bevor sie antwortete: „Eigentlich sollten Sie erst morgen nach der Landung während der Lagebesprechung darüber informiert werden. Da sich aber in den letzten drei Tagen nichts an Ihrem allgemeinen Gesundheitszustand geändert hat, sehe ich keinen triftigen Grund, es Ihnen bis dahin zu verschweigen. Also das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, wird Ihnen bestimmt nicht gefallen, weil…“

„Haben… haben Sie etwa schlechte Nachrichten für mich?“ unterbrach Hewlitt sie. „Dann fangen Sie bitte gleich mit den schlechtesten an.“

„Wenn Sie Antworten auf Ihre Fragen haben möchten, dann unterbrechen Sie mich bitte nicht. Das Ganze ist nämlich etwas peinlichfür mich.“

Peinlich? dachte Hewlitt entsetzt und sagte dann laut: „Entschuldigen Sie.“

„Es sind weder gute noch schlechte Nachrichten, es gibt nämlich gar keine. Zuerst haben wir Ihnen die hinlänglich bekannten Fragen gestellt, in der Hoffnung, daß Sie uns etwas Neues sagen würden; etwas, das sie versäumt haben, Medalont oder den anderen zu erzählen; etwas, das wir Ihnen hätten glauben und worauf wir hätten reagieren können. Laut Prilicla läßt Ihre emotionale Ausstrahlung erkennen, daß sie nicht lügen, zumindest nicht bewußt, und dennoch sind die zumindest subjektiv als wahr empfundenen Geschichten, die Sie uns erzählen, überhaupt nicht hilfreich füruns. Nun zu Ihrer zweiten Frage, nämlich zu der, was Ihnen fehlt. Nun, soweit wir es herausfinden konnten, ist Ihr Zustand nicht nur gut, sondern Sie sind auch ein ungewöhnlich körperlich wie geistig fites und gesundes männliches Exemplar der Gattung DBDG-Terrestrier. Ihnen fehlt also überhaupt nichts.“

Sie atmete tief ein, wodurch ihre eindrucksvolle Brust in dem enganliegenden weißen Overall voll zur Geltung kam, und was Hewlitt zudem daran erinnerte, daß er immerhin ein Mann war. Dann fuhr sie fort: „Deshalb müßten wir uns eigentlich der Meinung der Ärzte anschließen, von denen Sie in der Vergangenheit behandelt worden sind, und Ihnen mitteilen, daß Sie ein gesunder Hypochonder mit psychischen Problemen sind und daß Sie nach Hause gehen und endlich damit aufhören sollen, unsere kostbare Zeit zu vergeuden… “

Bevor Hewlitt etwas dazu sagen konnte, hielt Murchison besänftigend ihre wohlgeformten Hände hoch und sagte rasch: „Sie brauchen sich erst gar nicht aufzuregen, denn genau das werden wir nicht tun. Jedenfalls nicht, bevor wir nicht für Ihre ungewöhnlichen Kindheitserlebnisse und die Regeneration von Morredeths beschädigtem Fell eine einleuchtende Erklärung gefunden haben. Sollte es nämlich diesbezüglich tatsächlich einen Zusammenhang geben, dann hoffen wir, Beweise dafür auf Etla zu finden. Das ist doch der Ort, an dem diese eigenartigen Vorfälle angefangen haben, und wo wir während unserer Nachforschungen Ihre Mithilfe sowie Ratschläge und Erinnerungen sehr zu schätzen wissen werden.

Also lautet die Antwort auf Ihre dritte Frage: Wir wissen nicht, was wir mit Ihnen machen sollen“, beendete die Pathologin ihre Ausführungen mit einem Lächeln.

„Ich würde Ihnen ja gern behilflich sein, aber höchstwahrscheinlich sind meine Kindheitserinnerungen für Ihre Absichten nicht genau genug. Haben Sie daran auch schon mal gedacht?“

„Nach Aussage der psychologischen Abteilung ist Ihr Erinnerungsvermögen wie alles andere an Ihnen: nämlich nahezu perfekt. Würden Sie jetzt also bitte schlafen und mich weiter arbeiten lassen, PatientHewlitt?“

„Zumindest werde ich es versuchen“, antwortete Hewlitt. „Was machen Sie da eigentlich?“

Murchison seufzte erneut. „Unter anderem vergleiche ich gerade eine Reihe vergrößerter Scannerbilder von Gehirnen der DBDGs und anderer Spezies, inklusive des Ihren übrigens, weil ich eine strukturelle Veränderung oder Anomalie zu finden hoffe. Auf diese Weise ließe sich vielleicht erklären, wie es Ihnen möglich war, einige dieser wundersamen Dinge zu bewirken – falls Sie überhaupt etwas damit zu tun gehabt haben und nicht eine andere, uns bislang verborgen gebliebene Kraft. Ich erwarte wirklich nicht, Beweise für eine Gabe zu finden, die ihrem Besitzer ermöglicht, Wunder zu vollbringen. Trotzdem darf ich nichts unversucht lassen. Und jetzt schlafen Sie bitte.“

Doch nur wenige Minuten später fragte sie: „Sind Sie sich wirklich sicher, daß Sie uns alles erzählt haben? Oder gab es noch irgendwelche andere Begebenheiten, die Ihnen als Kind oder Erwachsener widerfahren sind und die Ihnen als viel zu belanglos erschienen sind, um sie zu erwähnen D wie zum Beispiel die Geschichte mit Ihren Zähnen? Sind Sie zu Hause oder in Ihrem Arbeitsumfeld mit kranken Leuten in Kontakt gekommen? Aus irgendeinem Grund enthält Ihre Krankenakte überhaupt keine Angaben über Ihren Beruf oder über ein Gewerbe, dem Sie nachgehen. Sind Sie mit Tieren in Berührung gekommen – ich meine, abgesehen von Ihrer Katze -, die vielleicht krank oder erst kurz zuvor von einer Krankheit genesen waren? Oder gab es irgendwelche anderen Tiere, die mit Ihnen… “

„Meinen Sie vielleicht meine Schafe?“ unterbrach Hewlitt die Pathologin.

„Kann sein, ich habe keine Ahnung. Erzählen Sie mir davon“, forderte Murchison ihn auf.

„Nun, ich habe eine ganze Menge Schafe.“

„Ach, sind Sie etwa ein Schafhirte?“ erkundigte sich die Pathologin erstaunt. „Ich hätte nie gedacht, daß es heutzutage noch Schafhirten gibt. Erzählen Sie weiter.“„Ich bin zwar selbst kein Schafhirte, aber die gibt es immer noch“, stellte Hewlitt klar. „Schafehüten ist eine seltene, stark spezialisierte und zu dem sehr gut bezahlte Arbeit, besonders wenn man für mich arbeitet. Ich habe das Familienunternehmen von meinen Großeltern geerbt, da mein Vater ihr einziges Kind war. Als er bei dem Flugzeugunglück ums Leben kam, war ich somit der einzige Nachkomme. Mein Beruf ist in der Krankenakte nicht erwähnt worden, weil auf der Erde ohnehin fast jeder weiß, wer ich bin oder was ich tue. Mann kennt mich dort unter dem Namen ›Hewlitt der Schneider‹.“

„Ich fürchte, ich müßte jetzt beeindruckt sein“, reagierte Murchison auf ihre typisch unterkühlte Weise. „Aber Sie müssen schon entschuldigen, denn ich wurde nicht auf der Erde geboren.“

„Da dies bei weit über neunzig Prozent der Föderationsmitglieder der Fall ist, bin ich auch keineswegs beleidigt“, stellte Hewlitt klar. „Jedenfalls handelt es sich dabei um eine relativ kleine, aber sehr exklusive Firma, die den Mond und die Erde mit handgearbeiteten, maßgeschneiderten Kleidungsstücken sowie mit handgewebtem oder gesponnenem Tweed und edlen Kammgarnmaterialien beliefert. In der heutigen Zeit billiger Synthetikstoffe gibt es immer mehr Leute, die bereit sind und über das nötige Geld verfügen, unsere Preise zu bezahlen. Einige versuchen sogar, durch Bestechungsgelder auf unsere Warteliste zu gelangen. Aber trotz der schwindelerregenden Preise, die wir berechnen, ist die Gewinnspanne nicht einmal besonders hoch. Wir müssen Schaf- und andere Wolltierherden unterhalten, die als gesetzlich geschützte Arten gelten. Die Tiere müssen regelmäßig geschoren werden, damit wir unseren Rohstoff für die Webereien bekommen. Sie glauben ja gar nicht, welch enorme Kosten der hohe Haltungsstandard und die Gesundheitspflege unserer Tiere verursachen.

Meine Arbeit erfordert regelmäßige Kontrollbesuche bei unseren Herden, wobei ich natürlich auch einige Tiere vor dem Scheren zur Überprüfung der Wollqualität anfassen muß. Selbstverständlich achten wir penibel darauf, daß sie nicht krank werden oder sich irgendwelcheansteckenden Krankheiten einfangen. Tja, das war schon alles. Tut mir leid, diese Informationen sind wohl auch nicht besonders nützlich für Sie, oder?“

„Wahrscheinlich sind sie wirklich nicht sonderlich nützlich, aber zumindest sehr interessant“, meinte Murchison. „Trotzdem sollten wir diesen Umstand bei unseren Untersuchungen nicht aus den Augen verlieren.“

„Und ich bin natürlich auch kein richtiger Schneider“, beendete Hewlitt seine Ausführungen, „sondern nur das stets tadellos gekleidete Aushängeschild des Unternehmens, wenn ich nicht gerade ein Krankenhaushemd trage.“

Murchison nickte lächelnd. „Wir haben uns schon alle gefragt, weshalb ein offenbar nicht gerade schwerkranker Patient wie Sie ins Orbit Hospital überwiesen worden ist. Könnte es sein, daß einer Ihrer wohlhabenden und einflußreichen Kunden etwas damit zu tun hat? Vielleicht handelt es sich ja zufälligerweise um einen einflußreichen Arzt, der unbedingt auf Ihre Warteliste wollte.“

„Aber bestimmt nicht einflußreich genug, um extra ein Ambulanzschiff wie die Rhabwar für meinen Fall einsetzen zu lassen“, wandte Hewlitt ein. „Warum hält man mich für so ungeheuer wichtig?“

Da Murchisons Gesicht plötzlich wie versteinert war, wußte er, daß sie auf diese Frage nicht antworten wollte. Statt dessen lächelte sie erneut und sagte mit fester Stimme: „Keine weiteren Fragen mehr, Patient Hewlitt. Wenn Ihnen danach ist, können Sie ja Schäfchen zählen, aber schlafen Sie jetzt endlich.“

Die Pathologin beobachtete ihn, bis er die Augen geschlossen hatte, dann hörte er, wie sie das leise und in regelmäßigen Zeitabständen auftretende Tippen auf der Computertastatur wieder aufnahm. In der Dunkelheit hinter den geschlossenen Lidern wurde die trügerische Stille des im Hyperflug befindlichen Schiffes von einem kaum wahrnehmbaren metallischen Knirschen untermalt, das nur gelegentlich durch die entfernten und gedämpften Stimmen der Besatzung unterbrochen wurde, die durch den Verbindungsschacht hindurch bis zu ihm herüberdrangen… Laute, die erunter normalen Umständen niemals wahrgenommen hätte. Nach seinem Dafürhalten lag er eine Ewigkeit wach da, wobei er sich in dem äußerst komfortablen Bett, das er zunehmend als unbequem empfand, hin und her wälzte und versuchte, an nichts zu denken, bis er es schließlich nicht mehr aushielt und die Augen öffnete.

„Ich kann einfach nicht schlafen“, seufzte er.

„Das ist auch das, was mir Ihr Überwachungsmonitor in den letzten zwei Stunden angezeigt hat“, meinte Murchison, die ihre Gereiztheit mit einem Lächeln zu überspielen versuchte. „Trotzdem ist es immer wieder schön, wenn man eine mündliche Bestätigung erhält. Was soll ich denn nur mit Ihnen machen?“

Hewlitt wußte zu unterscheiden, ob eine Frage rhetorisch gemeint war oder nicht, und zog es vor zu schweigen.

„Leider hat man Ihnen die Einnahme jeglicher Medikamente untersagt, und dazu gehören natürlich auch Sedativa“, fuhr sie fort. „Auf der Rhabwar gibt es auch keinen Unterhaltungssender, der Sie schläfrig machen könnte, denn die Patienten auf dem Unfalldeck sind normalerweise nicht in der Verfassung, sich womöglich lustige Quizshows anzusehen. Danalta löst mich in einer Stunde ab. Falls Sie den Rest der Nacht nicht damit verbringen wollen, ihn bei seinen Verwandlungskünsten zu bewundern,, was übrigens kein schöner Anblick ist, dann kann ich Ihnen als Alternative das Logbuch der Rhabwar empfehlen, in dem sämtliche Einsätze eingetragen sind – das entspricht bei uns noch am ehesten einer Bordunterhaltung.

Wenn Sie möchten, kann ich es auf dem Hauptmonitor mit einer nichtmedizinischen Zusammenfassung abspielen. Einiges von dem Material wird Ihnen für die morgige Lagebesprechung auf Etla nützliche Hintergrundinformation liefern.“

„Und kann ich dann besser einschlafen?“ erkundigte sich Hewlitt.

„Das bezweifle ich allerdings sehr“, antwortete Murchison. „Stellen Sie die Rückenlehne so ein, daß Sie den ganzen Bildschirm sehen können undsich nicht den Hals verrenken müssen. In Ordnung? Nun geht's los… “

Bevor Hewlitt an Bord gebracht worden war, hatte er Zeit gehabt, die Bibliotheksinformationen über die Rhabwar abzurufen, und deshalb wußte er bereits, daß er sich auf einem speziellen Ambulanzschiff befand, das hauptsächlich für Rettungseinsätze im tiefen Weltraum genutzt wurde. Dabei drehte es sich in erster Linie um die Bergung und notärztliche Behandlung verunglückter Lebensformen, deren physiologische Klassifikation der Föderation bisher noch unbekannt war. Wenn ein Notruf von einem Föderationsschiff ausging, von dem der Flugplan, der Herkunftsplanet und die Spezies der Besatzungsmitglieder bekannt waren, dann war es in der Regel einfacher, ein Rettungsschiff des Heimatplaneten zu schicken, das mit einem Ärzteteam derselben Lebensform und den entsprechenden medizinischen Versorgungseinrichtungen an Bord ausgestattet war. Ein solcher Rettungseinsatz wäre mit einer Unfallstation, wie sie auf der Rhabwar vorhanden war, etwas völlig anderes und womöglich sogar gefährlicher gewesen. Zu dem Umstand, daß die meisten Unfallopfer unter einem Trauma litten und ihre Wahrnehmungs- und logische Denkfähigkeit durch Schmerz-, Schock-, Angst- und Verwirrungszustände häufig eingeschränkt waren, kam nämlich noch hinzu, daß die Opfer meistens in Panik gerieten, sobald sie die für sie grotesken Kreaturen sahen, die sie zu retten versuchten.

Deshalb bestand die Besatzung der Rhabwar sowohl aus Ärzten als auch aus Experten für Techniken fremder Spezies und Spezialisten für Erstkontakte.

Wenn das Raumschiff nicht für spezielle Aufgaben benötigt wurde, dann setzte man es auch bei allgemeinen Notfällen ein, die von Weltraumunfällen großen Ausmaßes bis hin zur Koordinierung planetarischer Katastropheneinsätze reichten. Die meisten Einsätze, bei denen es sich auch um die amüsantesten und haarsträubendsten zugleich handelte, waren allerdings jene, die im Logbuch unter dem Vermerk › Einsätze, die außergewöhnliche Problemlösungen erforderten‹ eingetragen waren.

Rein zufällig hatte Hewlitt mit angehört, wie Murchison zu Naydradgesagt hatte, der kommende Einsatz werde höchstwahrscheinlich einen neuen Rekord in bezug auf Unterhaltungswert und Ungefährlichkeit aufstellen. Weil er ein sehr gutes Gehör besaß, hatte er auch mitbekommen, daß das medizinische Team immer wieder merkwürdige Anspielungen auf Probleme zu machen pflegte, auf die es bei früheren Einsätzen gestoßen war. So hatten sich die Mitarbeiter unter anderem über die Dewattis oder eine schwangere Gogleskanerin namens Khone unterhalten sowie über blinde Aliens und deren mit normaler Sehkraft ausgestatteten und ungeheuer gewalttätigen Gehirnpartner, die als › Beschützer der Ungeborenen‹ bezeichnet wurden. Doch als jetzt diese schrecklichen Bilder von zerstörten Raumschiffen und Unmengen herumtreibender Wrackteile, in denen sich tote oder sterbende Wesen befanden, den Bildschirm füllten und gezeigt wurde, wie sein eigenes und die anderen Betten von kaum noch lebenden organischen Klumpen belegt waren, da wirkte das alles überhaupt nicht mehr komisch.

Murchison hatte recht gehabt: Die Bilder, die sich vor ihm ausbreiteten, wirkten auf ihn alles andere als einschläfernd, und da er so gespannt war und nichts verpassen wollte, schloß er die Augen allenfalls zum Blinzeln. Er bemerkte weder das Eintreffen von Danalta noch das Verschwinden der Pathologin. Erst als das Deckenlicht angeschaltet wurde, der Bildschirm erlosch und er den sanften Luftzug von Priliclas Flügeln im Gesicht spürte, registrierte er wieder seine Umwelt.

„Guten Morgen, Freund Hewlitt“, begrüßte ihn Prilicla, der über seinem Bett schwebte. „Wir sind bereits aus dem Hyperraum zurück in den Normalraum getaucht und werden in fünf Stunden landen. Ich nehme bei Ihnen die typisch emotionale Ausstrahlung äußerster Erschöpfung wahr, wenngleich Sie sich diesem Zustand ganz bewußt ausgeliefert haben. Es wäre für uns alle nicht sehr angenehm, wenn Sie die ganze Einsatzbesprechung hindurch gähnen würden. Also entspannen Sie sich bitte, machen Sie den Kopf frei, und schließen Sie für zehn Sekunden die Augen, dann werden Sie im Nu schlafen. Vertrauen Sie mir.“

17. Kapitel

Zwar besaß die Rhabwar dieselbe Deltaflügelkonstruktion und die Flugeigenschaften wie die eine leichten Kreuzers des Monitorkorps, aber nicht dessen Bordwaffen. Sie gehörte zur größten im Einsatz befindlichen Schiffsklasse, die sowohl zu Flugmanövern innerhalb einer Atmosphäre als auch zu Landungen imstande war, ohne dabei größere Schäden auf der jeweiligen Planetenoberfläche anzurichten. Letzteres schien jedoch hier auf Etla kein wichtiger Gesichtspunkt zu sein, denn soweit Hewlitt blicken konnte, war die Gegend, in der er in seiner Kindheit herumgetollt war, noch immer so, wie er sie in Erinnerung behalten hatte: ein von Wildwuchs und verrosteten Wrackteilen überwuchertes Brachland. Während das Schiff zur Landung auf einer freien Fläche ansetzte, die sich zwischen seinem ehemaligen Elternhaus und den hohen Baumgruppen befand, durch die die Schlucht hindurchführte, konnte er auf dem Hauptbildschirm mit dem Zeigefinger den Pfad verfolgen, den er vor all den Jahren entlanggegangen war.

Die Lagebesprechung wurde auf dem Unfalldeck abgehalten, da es sich um den größten Schiffsabschnitt handelte. Neben dem medizinischen Team nahmen Captain Fletcher und Hewlitt daran teil sowie das per Bildschirm zugeschaltete graubehaarte Gesicht von Colonel Shech-Rar, dem Kommandanten der auf Etla stationierten Einheit des Monitorkorps. Auf dem Monitor vermittelte der Offizier den Eindruck eines sehr beschäftigten und ungeduldigen Orligianers.

„Der Ruf der Rhabwar und der Ihrer Mannschaft eilt Ihnen voraus Doktor“, unterbrach er Prilicla, noch bevor dieser seine freundlich und ungezwungen vorgetragene Begrüßungsrede beenden konnte. „Lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Das Orbit Hospital hat um meine volle Unterstützung während Ihres hiesigen Aufenthalts gebeten. Worum geht es bei Ihrem Einsatz? Wieviel Zeit und welche Form der Unterstützung werden Sie dafür benötigen?“

Hewlitt, der dem Orligianer als ein nichtmedizinischer Berater vorgestelltworden war, fragte sich, ob der Colonel während seiner Dienstzeit lediglich mit zu vielen Kelgianern und zu wenigen Cinrusskern zusammengekommen war, oder ob es sich bei seinem schlechten Benehmen sogar um eine angeborene Charaktereigenschaft handelte.

„Bedauerlicherweise darf ich die genauen Einzelheiten unseres Auftrags nicht preisgeben, Colonel“, antwortete Prilicla ohne feststellbare Veränderung seines freundlichen Auftretens. „Ich kann Ihnen nur sagen, daß er die Untersuchung von Vorfällen umfaßt, die hier auf Etla vor über zwanzig Jahren stattgefunden haben und im wichtigen Zusammenhang mit einem medizinischen Forschungsprojekt stehen könnten, das wir zur Zeit durchführen. Natürlich steht dabei kein galaktisches Geheimnis oder gar die Sicherheit der ganzen Föderation auf dem Spiel, und es handelt sich auch nicht um eine besonders bedeutende oder heikle Angelegenheit. Wenn das der Fall wäre, dann hätte man Sie mit Sicherheit in die Geschichte eingeweiht. Aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht können wir zur Zeit allerdings nur begrenzt Informationen preisgeben. Sobald die Untersuchung beendet und ausgewertet ist, wird man Sie bestimmt über die Ergebnisse in Kenntnis setzen.“

„Besteht die Gefahr, daß Ihre Nachforschungen für mein Personal oder für die Einheimischen ein Gesundheitsrisiko bergen?“ erkundigte sich Shech-Rar argwöhnisch. „Bedenken Sie bitte, daß Etla früher nicht umsonst als der › kranke Planet‹ bezeichnet wurde. Vor vielen Jahren ist es uns endlich gelungen, ihn von all seinen grauenvollen Krankheiten zu befreien. Außerdem wäre es für unseren immer noch geltenden Kulturkontaktauftrag nicht gerade förderlich, wenn man die Einheimischen unnötigerweise an ihre unrühmliche Vergangenheit erinnern würde. Versuchen Sie bitte nicht, Ihre wahren Absichten hinter einer Fassade komplizierter medizinischer Fachausdrücke zu verbergen, Doktor. Also, können Sie mir wirklich versichern, daß nichts dergleichen passieren wird?“

„Ja“, antwortete Prilicla bestimmt.

Shech-Rar entblößte die Zähne – Hewlitt war sich nicht sicher, ob es sich dabei um ein Lächeln oder um eine mürrische Grimasse handelte -,dann fuhr er fort: „Gut. Das war eine klare und einsilbige Antwort. Wenn ein Raumschiff wie die Rhabwar in vertraulicher Mission hier eintrifft, auch wenn es sich dabei um keinen sonderlich bedeutenden oder heiklen Auftrag handelt, dann macht es einen trotzdem ziemlich neugierig… na ja, mich zumindest. Ist auch nicht so wichtig, Doktor. Also gut, was brauchen Sie von mir, und wie kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?“

Prilicla hatte innerhalb kurzer Zeit die benötigten Dinge aufgezählt, doch konnte man eindeutig an Shech-Rars Stimme erkennen, daß die anfängliche Ungeduld des Orligianers in Mißtrauen umgeschlagen war.

„Ich bin erst fünf Jahre nach diesen tragischen Ereignissen hierher versetzt worden, also trage ich für diese Angelegenheiten auch nicht die direkte Verantwortung“, sagte der Colonel. „Die Ursachen des Flugzeugunglücks, bei dem die Eltern des Patienten ums Leben gekommen sind, was meiner Meinung nach das einzig Wichtige daran ist, sind bereits ausführlich ermittelt worden. Die Untersuchungen haben damals ergeben, daß mehrere Faktoren dafür verantwortlich gewesen waren: ungünstige Witterungsverhältnisse, ein Defekt des Antriebssystem – der sich auch auf sämtliche Kontrollfunktionen auswirkte – und ein Fehlverhalten des Piloten, der nicht gewartet hatte, bis das Unwetter vorüber war. Sie können gern eine Kopie des Berichts haben. Warum nehmen junge Leute, denen noch ein langes Leben bevorsteht, eigentlich immer wieder solch unnötige Risiken in Kauf, während die alten Leute, denen viel weniger Zeit bleibt, so vorsichtig sind?“

Der Colonel gab ein unübersetzbares Geräusch von sich, als würde er sich über seinen Abstecher in philosophische Gefilde ärgern, und fuhr dann fort: „Auch wenn Sie mir etwas anderes versichert haben: Allein die Ankunft der Rhabwar und Ihres Teams hier sagt aus, wie wichtig der Auftrag in Wahrheit ist. Sollten Sie jedenfalls während Ihrer Nachforschungen auf irgendwelche Hinweise stoßen, die auf ein fahrlässiges Verhalten seitens einiger meiner Offiziere seinerzeit schließen lassen könnten, werde ich Ihnen nicht erlauben, diese zu befragen, bevor ich mich nicht davon überzeugt habe, daß sie sich mit einem Rechtsbeistanddes Monitorkorps zu diesen Vorwürfen äußern. Haben Sie das verstanden, Doktor?“

Der zerbrechliche Körper und die streichholzdünnen Beine des Empathen zitterten kurz, als ob er die emotionale Ausstrahlung von Shech-Rar trotz der großen Entfernung wahrnehmen würde, dann erwiderte er: „Ich versichere Ihnen, daß es bei den Untersuchungen überhaupt nicht darum geht, irgendwelche Schuldfragen neu zu klären. Wir bitten lediglich um die Erlaubnis, die Gegend genau erkunden zu dürfen, in der die Vorfälle stattgefunden haben, und darum, die beteiligten Wesen zu befragen, soweit sich diese noch auf Etla befinden. Wir möchten nur wissen, woran sie sich noch erinnern können, nichts weiter, wobei wir etwaige Gedächtnislücken selbstverständlich einkalkulieren werden. Der ungefähre Zeitpunkt des Unglücks ist uns zwar bekannt, aber wir werden Ihre Hilfe benötigen, die betreffenden Leute ausfindig zu machen. Im Augenblick kennen wir noch nicht einmal deren Namen.“

„Diese Informationen stehen bestimmt in der Akte meines Vorgängers“, meinte der Colonel. „Warten Sie einen Moment.“

Als Shech-Rar vom Bildschirm verschwand, blieb die Verbindung zwar bestehen, doch sein Bild wurde von dem Symbol des Monitorkorps auf dunkelblauem Hintergrund ersetzt, was daraufhindeutete, daß der Colonel nicht lange auf sich warten lassen würde. Auf der Rhabwar herrschte absolutes Schweigen; offenbar wollte niemand ein Gespräch anfangen, das mit Sicherheit unterbrochen werden würde.

Und tatsächlich tauchte kurz darauf das haarige Gesicht des Colonels auf dem Bildschirm wieder auf, der ohne lange Vorrede direkt zur Sache kam „Die von Ihnen gewünschten Namen lauten wie folgt: Major Stillman, ehemaliger Stabsarzt, der zwar im Ruhestand ist, aber immer noch als etianischer Kulturberater für den Stützpunkt tätig ist, und Doktor Hamilton, Spezialist für ET-Zahnmedizin. Falls Sie mit Oberstabsarzt Telford, dem damaligen medizinischen Offizier, sprechen möchten, dann müssen Sie nach Dutha fliegen, denn er ist vor drei Jahren dorthin versetzt worden. Der jetzige Amtsinhaber, Stabsarzt Krack-Yar, wird Ihnen dieKrankenhausakten zur Verfügung stellen und sie auf Anfrage mit Ihnen gemeinsam durchgehen.“

„Nun, die Angelegenheit ist nicht wichtig genug, als daß ein Flug nach Dutha gerechtfertigt wäre“, meinte Prilicla. „Sobald es Ihnen recht ist, wäre es schön, wenn Sie uns eine Kopie der Akten des damaligen medizinischen Offiziers und den offiziellen Ermittlungsbericht des Flugzeugunglücks aushändigen könnten.“

Shech-Rar warf jemandem einen Blick zu, der sich außerhalb der Bildschirmkamera befand, nickte dann zustimmend und sagte schließlich: „Sind Ihnen fünfzehn Minuten schnell genug?“

„Sie halten wahrlich nichts von Zeitverschwendung, Colonel“, schmeichelte ihm Prilicla. „Selbstverständlich ist das früh genug, danke sehr!“

„Statt Ihnen die Namen, Standorte und eine Landkarte zu übermitteln, könnten Sie viel Zeit sparen, wenn Ihnen Major Stillman als Führer und Begleiter zur Seite stehen würde“, schlug Shech-Rar vor. „Er ist ortskundig und kann Sie den betreffenden Leuten vorstellen. Vor allem wird er mir dann hoffentlich verraten können, was Sie hier nun wirklich treiben… “

Ganz offensichtlich hat der Oberst wirklich sehr viel Zeit mit Kelgianern verbracht, dachte Hewlitt.

„… das Haus, das Sie eben erwähnt haben, wird übrigens nicht mehr von Terrestriern bewohnt. Wollen Sie es trotzdem aufsuchen?“

Für einen kurzen Augenblick geriet der schwebende Cinrussker etwas aus dem Gleichgewicht, doch fing er sich rasch wieder und sagte: „Ja, Colonel, und sei es nur zu dem einen Zweck, daß wir uns bei den Bewohnern des Hauses für unsere ungebetene Landung in deren Hinterhof entschuldigen können.“

Da Prilicla sehr sensibel war, versuchte er unter allen Umständen zu vermeiden, irgend etwas zu tun oder zu sagen, das bei jemand anderem eine unangenehme Reaktion hervorrufen könnte, da der Empath den Zorn oder den Kummer seines Gegenübers mitfühlen würde. Auch wenn derColonel weit außerhalb seiner empathischen Reichweite lag, so war die Gewohnheit, stets die Wahrheit zu sagen, bei dem Cinrussker doch sehr stark ausgeprägt. Nichtsdestoweniger hatte Hewlitt bereits einige Male herausgefunden, daß es durchaus Momente gab, in denen das zerbrechliche Wesen nur sehr sparsam mit der Wahrheit umzugehen pflegte, und er hatte das Gefühl, daß dies auch jetzt der Fall war.

„Major Stillman wird in etwa drei Stunden an Ihrer Luftschleuse eintreffen. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein, Doktor?“

Noch bevor Prilicla nein sagen und sich nochmals bedanken konnte, hatte sich Shech-Rar bereits ausgeblendet.

„Ich hätte Sie auch ohne Stillmans Hilfe zu dem Grundstück und dem Haus führen können“, sagte Hewlitt. „Warum wollen Sie überhaupt dorthin? Ich meine, ich würde gern den wirklichen Grund hören und nicht die höflich umschriebene Erklärung, die Sie dem Colonel gegeben haben.“

„Wenn wir die Hilfe der hier stationierten Einheit des Monitorkorps ablehnen, dann würde der Colonel mit Sicherheit annehmen, daß wir etwas zu verheimlichen versuchen, Freund Hewlitt“, erklärte ihm Prilicla. „Dabei verheimlichen wir gar nichts, denn wir wissen ja noch nicht einmal, ob es überhaupt etwas zu verheimlichen gibt – mit Ausnahme unserer eigenen Verlegenheit vielleicht, in die wir uns demnächst bringen könnten.

Der einzige Grund, das Haus aufzusuchen, besteht darin, altes Terrain zu erforschen, in der Hoffnung, daß uns oder Ihnen währenddessen etwas Hilfreiches einfällt. Ich spüre, daß Sie mit Skepsis vermischte Enttäuschung ausstrahlen. Vielleicht haben Sie einen triftigeren Grund erwartet. Die Wahrheit ist, daß wir keine klare Vorstellung von dem haben, was wir dort, falls überhaupt, finden werden.

Und jetzt lassen Sie uns mit der Einsatzbesprechung fortfahren… “

Selbst wenn angeblich niemand weiß, wonach gesucht werden soll, so sind Captain Fletcher und das ganze medizinische Team für dieses Vorhaben zumindest gut ausgerüstet, dachte Hewlitt etwas spöttisch. Auch wenn sein Kommunikator eingeschaltet war, so verlief das Gesprächdoch viel zu speziell und zu technisch, als daß er etwas hätte verstehen oder dazu beitragen können. Deshalb hörte er nur zu, ohne etwas zu sagen, bis die Besprechung durch eine Ansage aus dem Wandlautsprecher unterbrochen wurde.

„Ich habe eine Mitteilung für Sie. Das von Colonel Shech-Rar versprochene Material ist eingetroffen. Wie lauten die Anweisungen?“

„Spielen Sie es auf unserem Repeaterschirm ab, Freund Haslam, und lassen Sie bitte als erstes den Unfallbericht ablaufen“, ordnete Prilicla an, wobei er sich Hewlitt so weit näherte, bis sich dessen Haare durch den Luftzug des Flügelschlags bewegten. „Sie können gern bleiben, Freund Hewlitt. Sollten Sie das Material oder unsere Unterhaltung allerdings als zu bedrückend empfinden, dann gehen Sie ruhig zu Ihrem Bett zurück, und errichten Sie ein schalldichtes Feld um sich herum.“

„Das alles liegt schon sehr lange zurück“, erwiderte Hewlitt. „Ich bin damals noch viel zu jung gewesen, als daß man mir alle Einzelheiten erzählt hätte, aber jetzt will ich Bescheid wissen. Ich werde das schon verkraften. Trotzdem danke für Ihr Mitgefühl.“

„Nun, ich werde ja merken, wie es Ihnen dabei ergeht, Freund Hewlitt. Also legen Sie los, Freund Haslam“, forderte er den Lieutenant auf.

Der Bericht begann mit den Fotos auf den offiziellen Dienstausweisen seiner Eltern. Hewlitt staunte nicht schlecht, denn auf den Bildern sahen seine Eltern nicht älter aus, als er heute war. Er hatte sie längst nicht so jung und natürlich auch viel größer in Erinnerung gehabt. Während die persönlichen und physiologischen Daten aufgeführt wurden, dachte er immer noch darüber nach, daß die beiden sehr ernst in die Kamera geschaut hatten; es mußte sich um einen der wenigen Augenblicke gehandelt haben, in denen sie einmal nicht gelächelt hatten. Viele Erinnerungen kehrten zurück, klar und deutlich, und sie deckten sich mit den aufgeführten Details des von den Ermittlern rekonstruierten Unfalls.

In jenem schicksalsschweren Augenblick war sein Vater viel zu beschäftigt gewesen, als daß er ihn auch nur hätte ansehen können, doch seine Mutter hatte ihn angelächelt und ihm gesagt, er brauche keine Angstzu haben. Dann war sie über die Rückenlehne des Copilotensitzes gestiegen, um sich neben ihn zu zwängen. Mit einem Arm hatte sie ihn auf ihrem Schoß festgehalten und mit der freien Hand den Sicherheitsgurt um sie beide herumgelegt. Damals konnte er durch die Flugzeugkuppel hindurch sehen, wie sich der Himmel und die bewaldeten Berge drehten und sie den Bäumen so nahe kamen, daß selbst einzelne Zweige zu erkennen waren. Dann drückte ihn seine Mutter kopfüber auf ihren Schoß, so daß sein Hinterkopf zwischen ihre Brüste gepreßt wurde. Plötzlich gab es einen heftigen Ruck – das Flugzeug kippte auf die Seite und wurde auseinandergerissen. Schließlich krachte es laut, und während er durch die Luft geschleudert wurde, spürte er den Regen und die kalte Luft im Gesicht.

Zwar erinnerte er sich noch an den heftigen Schmerz, den er beim Aufprall auf den Boden empfunden hatte, aber an nichts mehr, was danach geschah, bis er von einem Angehörigen des Rettungstrupps, der auf das automatische Notsignal hin reagiert hatte, gefragt wurde, wo er sich verletzt habe.

Dem Bericht zufolge war die Flugzeugkanzel von einer Baumkrone durchbohrt worden. Als die Maschine gefunden wurde, steckte das Cockpit immer noch in den oberen Zweigen fest, während der Rest des Flugzeugs auf den Boden gekracht und den Berg hinuntergerollt war, wo es fünfundvierzig Meter weiter zerschellt liegengeblieben war, bevor es Feuer gefangen hatte. Da das bewaldete Gebiet durch heftige Regenfälle an jenem Tag durchweicht war, hatten die Flammen nicht bis zu dem Teil des Hangs hinauf dringen können, wo sich der einzige Überlebende befunden hatte – ein sieben Jahre alter Junge. Danach wurde der Bericht mit einer ausführlichen Erörterung der technischen Beweise fortgesetzt, die von den Ermittlern zusammengetragen worden waren. Diesen Abschnitt überging Prilicla jedoch, da sich Captain Fletcher später damit befassen sollte. Der Bericht endete mit einigen kurzen Angaben über die Autopsie und die Behandlung der Unfallopfer.

Seine Eltern hatten schwere Verletzungen erlitten, und alles wies darauf

7*5

hin, daß sie wahrscheinlich schon tot, zumindest aber bewußtlos gewesen waren, bevor sie von den Flammen verschlungen worden waren, so daß sie nichts mehr gespürt hatten. Als Hewlitt damals gefunden wurde, stand er noch unter Schock und war völlig verwirrt, doch ansonsten war er unverletzt geblieben, und man nahm an, daß die kleinen Blutflecken auf seiner Kleidung von seiner Mutter stammten. Dennoch behielt man ihn für neun Tage zur Beobachtung im Krankenhaus, genau die Zeit, die seine nächste Angehörige, seine Großmutter, zum Anreisen benötigte, um die Beerdigung der sterblichen Überreste seiner Eltern zu arrangieren und ihn dann mit auf die Erde zu nehmen.

Wie ihm erst jetzt bewußt wurde, hatte es seine Großmutter damals nicht zugelassen, daß er seine Eltern noch ein letztes Mal zu sehen bekam, weil der Vorgang der Einäscherung bereits im brennenden Flugzeug begonnen hatte.

Für einen Moment kehrten der alte, aber nie richtig überwundene Schmerz und die Trauer über den Verlust wie eine schwarze Leere zurück und schnürten ihm die Brust zusammen. Hewlitt gab sich jedoch redlich Mühe, seinen Gefühlen keinen freien Lauf zu lassen, denn Prilicla beobachtete ihn und begann bereits, in der Luft hin und her zu schwanken. Also verdrängte er die schmerzliche Erinnerung und versuchte, sich auf den nächsten Bericht zu konzentrieren, der auf dem Bildschirm erschien.

„Vielen Dank, Freund Hewlitt“, merkte der Empath an und fuhr dann in geschäftsmäßigem Ton fort: „Wie wir sehen können, bezieht sich dieser Bericht auf den Gesundheitszustand, die medizinische Behandlung und das Verhalten des Überlebenden während seines neuntägigen Krankenhausaufenthalts. Offenbar bereitete der kleine Hewlitt schon damals seinen Ärzten einiges Kopfzerbrechen.

Diese Probleme tauchten zum ersten Mal auf, als der damals noch den Rang eines Stabsarzt bekleidende Telford ein oral einzunehmendes Beruhigungsmittel verordnete. Obwohl unverletzt, war der Patient einer physischen Erschöpfung nahe und durch den Verlust seiner Eltern völlig verstört und außerstande zu schlafen. Die Folge war eine heftige, aberuntypische Reaktion: Er bekam Magenschmerzen, Atembeschwerden und Hautausschläge auf Brust und Rücken. Während der Stabsarzt immer noch die Ursachen herauszufinden versuchte, klangen die Symptome bereits wieder ab. Es wurde ein anderes Beruhigungsmittel verschrieben, das vorsichtshalber anfangs nur in minimalen Dosen subkutan injiziert wurde. Dieses Mal folgte ein exakt zwei Komma sechs Minuten andauernder Herzstillstand, begleitet von wiederholt auftretender Beeinträchtigung der Atemtätigkeit. Beides blieb ohne feststellbare Auswirkungen.“

Prilicla deutete mit einem seiner vier Greiforgane auf den unteren Bildschirmabschnitt, wo sich eine Zusammenfassung der Behandlung befand. „Wie Sie sehen können, hat Doktor Telford damals eine hyperallergische Reaktion mit unbekannter Ursache diagnostiziert und jede weitere medikamentöse Behandlung untersagt. Die seelischen Probleme wurden statt dessen der Obhut einer Krankenschwester derselben Spezies anvertraut, die sich kurz vorm Ruhestand befand. Sie versuchte, dem Patienten mit beruhigenden Worten Trost zu spenden. Außerdem wurde dem weder kranken noch verletzten Kind gestattet, sich nach Belieben abzulenken, um sich über den Verlust ein wenig hinwegzutrösten, indem er andere Patienten besuchen und sich mit ihnen unterhalten durfte. Dazu gehörten auch einige weltraumerfahrene Offiziere des Monitorkorps, die viele spannende Geschichten zu erzählen hatten… “

„Diese Schwester ist immer sehr nett zu mir gewesen“, erwähnte Hewlitt, wobei seine Stimme durch die wiederkehrende Trauer, von der er viele Jahre nichts mehr verspürt hatte, sehr bedrückt klang. „Heute ist mir natürlich klar, daß einige dieser Geschichten höchstwahrscheinlich nicht immer ganz der Wahrheit entsprochen haben. Trotzdem funktionierte diese Behandlungsmethode irgendwie … Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrochen habe, Doktor Prilicla. Eigentlich wollte ich meine Erinnerungen für mich behalten.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Freund Hewlitt, zumal Ihre Erinnerungen an diese Zeit sehr wertvoll für uns sind“, ermunterte ihn Prilicla und fuhr nach einer kurzen Pause fort: „Es gibt hier einen Vermerk,daß der damalige Stabsarzt Telford aufgrund Ihrer atypischen Reaktion auf zwei einfache und bewährte Beruhigungsmittel vor einem absoluten Rätsel stand. Leider hatte er vor dem Eintreffen Ihrer Großmutter keine Gelegenheit mehr gehabt, die allergenen Substanzen festzustellen, von denen er annahm, daß sie diese Reaktion ausgelöst hatten. Außer seiner unbefriedigten Neugier gab es für Doktor Telford also keinen Anlaß, ein ansonsten gesundes Kind im Krankenhaus zu behalten.

Möchte sich jetzt jemand von Ihnen zu diesem Bericht äußern?“ erkundigte sich Prilicla abschließend.

Zwar gab es einige Dinge, die Hewlitt gern dazu gesagt hätte, doch wußte er, daß diese Frage nicht direkt an ihn gerichtet war.

Pathologin Murchison meldete sich als erste zu Wort und sagte: „Auch wenn die Form, in der die Symptome mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit aufgetaucht und wieder abgeklungen sind, anormal erscheinen mag, so ist Telfords Diagnose bezüglich dessen, was eine schwere und dennoch in ihrem Verlauf untypische Allergie zu sein schien, unter den gegebenen Umständen vernünftig gewesen. Ebenso verhält es sich mit seiner Entscheidung, die medikamentöse Behandlung einzustellen, solange er nicht genau wußte, was vor sich ging. Im Grunde genommen war es nichts anderes als das, was auch die Ärzte auf der Erde und später im Orbit Hospital getan haben. Kurz gesagt: nichts … “

„Pathologin Murchison!“ fuhr Naydrad aufgebracht dazwischen, deren Fell sich vor lauter Ungeduld stachelig aufrichtete. „Sie stellen das uns längst bekannte Problem lediglich noch mal auf eine andere Weise dar, ohne eine Lösung anzubieten.“

Murchison kannte ihre kelgianische Kollegin viel zu gut, als daß sie sich über deren Bemerkung geärgert hätte, und fuhr unbeirrt fort: „Das mag zwar sein, aber das, was ich klarzumachen versuche, ist, daß die allergischen Reaktionen in einem sehr jungen Alter aufgetreten sind und sich mit nur sehr geringfügigen Veränderungen hier auf der Erde und im Orbit Hospital wiederholt haben. Deshalb frage ich mich, ob der Patient bereits mit dieser Veranlagung geboren wurde und ob wir nach einer genetischenUnstimmigkeit suchen sollten. Es ist kein Fall bekannt, daß jemand auf die synthetisch hergestellte Nahrung, die von den außerplanetarischen Besuchern auf Etla am häufigsten zu sich genommen wird, allergisch reagiert hätte, und das gilt natürlich auch für Säuglings-Milchpräparate. Und es würde auch keine allergische Reaktion hervorrufen, wenn… Sind Sie als Baby eigentlich gestillt worden, Hewlitt?“

„Wenn ja, dann bin ich wohl noch zu klein gewesen, um mich daran erinnern zu können“, antwortete Hewlitt, nachdem er tatsächlich kurz versucht hatte, sich in die Zeit als Säugling zurückzuversetzen.

Murchison lächelte. „Schade, aber möglicherweise ist das auch gar nicht so wichtig. Wenn Sie allerdings gestillt und später mit synthetischer Nahrung entwöhnt worden sind, dann könnte das vielleicht erklären, warum die erste allergische Reaktion durch die Medikamente ausgelöst worden ist. Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Die Symptome traten zum ersten Mal einige Stunden nach dem Flugzeugunglück im Krankenhaus auf. Auch wenn Sie unverletzt geblieben sind, so ist doch anzunehmen, daß Sie infolge des Sturzes auf den weichen und durchnäßten Boden, der zweifellos durch die Zweige abgebremst worden ist, vorübergehend bewußtlos gewesen sind. Der Schockzustand, in dem Sie sich befunden haben, läßt zum Beispiel auf eine kurz zuvor erlittene Gehirnerschütterung schließen. Darüber hinaus ist es durchaus möglich, daß Sie sich kleinere Rißwunden oder Hautabschürfungen zugezogen haben, die unter den gegebenen Umständen als zu geringfügig angesehen worden sind, als daß sich die Rettungsleute die Mühe gemacht hätten, diese aufzuzeichnen. Jedenfalls hätte dadurch irgend etwas in Ihren Blutkreislauf gelangen können, das später die allergischen Reaktionen ausgelöst hat. Zum Beispiel etwas, das auf dem Baum oder am Boden lebt – eine Spore oder ein Insekt, vielleicht sogar ein kleines Tier, das Sie gebissen hat, oder eine giftige Substanz mit unbekannten Eigenschaften, die aus einem zerquetschten Blatt ausgetreten ist und durch einen Hautriß eindringen konnte. Deshalb schlage ich vor, daß wir die Absturzstelle genauer untersuchen. Falls solche Kleinstlebewesen oder Substanzen auf Etla in der Natur vorkommen, dann wird es sie dortauch heute noch geben.

Und Sie können ruhig damit aufhören, Ihr Fell in Knoten zu legen, Naydrad“, merkte sie eher beiläufig an. „Ich weiß selbst, daß die einheimischen Krankheitserreger von Etla kein Wesen befallen können, das sich auf einem anderen Planeten entwickelt hat. Und ich weiß auch, daß die Etlaner und Terrestrier fast identisch sind. Sie ähneln sich sogar so sehr, daß es Theorien über ein prähistorisches Kolonisationsprogramm gemeinsamer raumreisender Vorfahren gibt. Die Fortpflanzungsversuche einiger Angehöriger des Stützpunktpersonals, die sich aus emotionalen Gründen gezwungen sahen, die Kulturkontakte durch die Heirat etlanischer Männer oder Frauen auszuweiten, waren allerdings nicht von Erfolg gekrönt. Falls es jedoch in der genetischen Struktur der beiden Spezies irgendwelche Überschneidungen gibt, auch wenn sie noch so gering sein sollten, dann müßten auch diese untersucht werden. Und wenn sich Patient Hewlitt streng überwachten Tests unterziehen und zur Minderung des Risikos nur geringe Mengen einheimischer etlanischer Medikamente einnehmen würde, könnten wir auf die berühmte Ausnahme stoßen, die die Regel bestätigt.“

„Keine Tests, Freundin Murchison“, widersprach Prilicla sofort, bevor Hewlitt die Gelegenheit hatte, dasselbe mit Kraftausdrücken zu sagen. „Keinerlei Medikamente, weder etlanische noch andere, bis wir eine klarere Vorstellung von dem haben, wonach wir suchen. Vielleicht haben Sie schon vergessen, daß Freund Hewlitt bereits als Vierjähriger mit etlanischer Vegetation in Berührung gekommen ist, als er, bevor er von demPenissithbaum stürzte, hochgiftiges Obst gegessen hat.“

„Nein, ich weiß sehr wohl, daß Patient Hewlitt als Kind insgesamt zwei Stürze völlig unverletzt überstanden hat“, entgegnete Murchison. „Wahrscheinlich geschah das rein zufällig, könnte aber auch bedeutsam sein, wenn wir davon ausgehen, daß in der Frucht, die er vor dem ersten Sturz verzehrt hat, eine Substanz war, die die hyperallergische Reaktion nach dem Flugzeugunglück ausgelöst hat. Die Schilderung der Ereignisse, die während und nach dem zweiten Sturz stattgefunden haben, werdendurch objektive medizinische Beweise belegt, aber die Darstellung der Begleitumstände des ersten Sturzes ist rein subjektiv und wird nur durch Kindheitserinnerungen gestützt, die sich als wenig glaubwürdig herausstellen könnten.

Berücksichtigt man die geringe Körpergröße des Patienten zur damaligen Zeit, dann könnte die Absturzhöhe übertrieben worden sein. Bei der Frucht, die der Junge damals verzehrt hat und die später von anderen als hochgiftig identifiziert worden ist, könnte es sich um eine optisch zwar ähnliche, ansonsten aber ungiftige Sorte gehandelt haben. Die anschließende Bewußtlosigkeit hätte also lediglich eine natürliche Ermüdung nach einem langen Spielnachmittag gewesen sein können. Kinder können großartige Geschichten erzählen, und im nachhinein glauben sie sogar selbst daran. Solange wir aber keine objektiven Beweise haben, die uns … Patient Hewlitt, bitte halten Sie Ihre emotionale Ausstrahlung unter Kontrolle!“

Da Priliclas zerbrechlicher Körper durch Hewlitts Wut und tiefe Enttäuschung emotional erfaßt und wie von einem Sturm durchgerüttelt wurde, versuchte er verzweifelt, seine Gefühle zu unterdrücken. Murchison war die einzige von den an Bord befindlichen Ärzten, die derselben Spezies wie Hewlitt angehörte. Er hatte sie als eine freundliche, entspannte und kompetente Persönlichkeit kennengelernt, die einem sehr viel Vertrauen einflößen konnte, wenn sie sich nicht wie jetzt als betont sachlich unterkühlte Pathologin gab. Eigentlich hatte er sie gemocht und ihr vertraut, und er war davon ausgegangen, daß sie ihm immer mehr Glauben schenkte. Doch jetzt mußte er zu seiner tiefen Enttäuschung feststellen, daß sie wie all die anderen war.

„Ich habe Sie übrigens nicht als Lügner bezeichnet, Hewlitt“, beruhigte ihn Murchison, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. „Ich will damit lediglich klarstellen, daß ich gegenwärtig mehr Beweise brauche, um den Wahrheitsgehalt Ihrer Darstellungen zu untermauern.“

Hewlitt wollte gerade etwas darauf antworten, als ihm die Stimme des Kommunikationsoffiziers das Wort abschnitt.

„Wir haben soeben die Mitteilung erhalten, daß das Bodenfahrzeug mitMajor Stillman an Bord den Stützpunkt verlassen hat“, verkündete Lieutenant Haslam. „Er läßt Ihnen ausrichten, daß er in ungefähr achtzehn Minuten eintreffen wird.“

18. Kapitel

Mit einer Mischung aus Verwunderung und beruflichem Interesse beobachtete Hewlitt, wie sich der füllige, grauhaarige Mann, der ihr Führer sein sollte, aus dem kleinen Bodenfahrzeug zwängte und auf sie zukam. Stillman trug keine Uniform, sondern die einheimische Tracht, bestehend aus einem kurzen Mantel, einem Kilt und knielangen Stiefeln aus weichem Leder. Die Kleidung wirkte bequem und hatte sogar einen gewissen Stil, obwohl in diesem Fall die fließenden Linien des Mantels durch die Unsitte des Trägers verdorben wurden, zu viele Utensilien in den Innentaschen mit sich herumzuschleppen. Dennoch konnte Hewlitt auf den ersten Blick sagen, daß es sich im Gegensatz zu den Overalls, die Murchison, Fletcher und er selbst trugen, um keine synthetische Ware handelte. Während er bereits die Möglichkeit erwog, den etlanischen Kilt einigen seiner weniger konservativen Kunden anzubieten, schwebte Prilicla ein Stück voran, um Stillman auf halbem Weg zu begrüßen.

„Guten Tag, Freund Stillman“, sagte der Empath. „Erst einmal muß ich mich dafür entschuldigen, Sie hier unten auf dem Landeplatz zu begrüßen, anstatt Sie an Bord einzuladen, wo Sie Ihre große Neugier bezüglich der Ausstattung unseres Raumschiffs befriedigen könnten. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, daß es Colonel Shech-Rar lieber wäre, wenn wir Ihre kostbar bemessene Zeit nicht allzusehr in Anspruch nehmen.“

Es dauerte eine ganze Weile, ehe sich Stillman von seinem ersten Zusammentreffen mit einem cinrusskischen Empathen erholt und die Stimme wiedergefunden hatte – mit Ausnahme eines kurzen, anerkennenden Blicks auf die positiv auffallende Erscheinung der Pathologin Murchison hatte er die anderen Besatzungsmitglieder kaum wahrgenommen.

„Ich… ich bin längst pensioniert, Doktor Prilicla“, begrüßte er den Empathen mit einem verkniffenen Lächeln. „Und über meine Zeit bestimme allein ich und nicht der Colonel. Nehmen Sie sich also so viel davon, wie Sie wollen. Ansonsten haben Sie übrigens völlig recht: Was die Rhabwar angeht, so habe ich schon eine ganze Menge darüber gehört und würde mirdas Schiff gerne mal genauer ansehen. Wenn es Ihnen allen recht ist, sollten wir allerdings so vorgehen, wie es sich der Colonel wünscht. Später habe ich noch genug Zeit, meine Neugier zu befriedigen.“

„Ganz wie Sie möchten“, willigte Prilicla ein. „Wie lauten denn die Anweisungen des Colonels?“

„Als erstes sollen wir das Haus aufsuchen“, antwortete Stillman. „Die jetzigen Bewohner sind beim Stützpunkt beschäftigt, haben aber für den Rest des Tages freibekommen und müßten zum Zeitpunkt unseres Eintreffens bereits zu Hause sein. Falls Sie den Zahnarzt persönlich treffen wollen, könnte es ein Problem geben. Doktor Hamilton besucht nämlich gerade unseren anderen Stützpunkt auf dem Kontinent Yunnet und wird frühestens in drei Tagen zurückerwartet. Wenn Sie mit ihm reden wollen, hat er die Anweisung erhalten, mit Ihnen so schnell wie möglich im Haus oder auf dem Schiff Kontakt aufzunehmen. Danach können Sie soviel Zeit, wie Sie brauchen, in der Schlucht verbringen.“

Also sichert man uns die volle Zusammenarbeit zu, und das mit einer solchen Begeisterung, daß kaum Zeit zum Nachdenken bleibt, dachte Hewlitt spöttisch.

Die Außenfassade des Hauses hatte sich kaum verändert; lediglich der Vordereingang war vergrößert und die Treppe durch eine Rampe ersetzt worden, um den tralthanischen Bewohnern den Zutritt zu erleichtern.

Die neuen Inhaber erwarteten sie bereits zur Begrüßung an der Haustür. Stillman, der das Paar offenbar gut kannte, stellte ihnen die beiden Tralthaner als Crajarron und Surriltor vor. Danach war die Abordnung der Rhabwar an der Reihe, wobei natürlich auf die einzigartige terrestrische Sitte des Händeschüttelns verzichtet wurde.

Die Inneneinrichtung seines ehemaligen Elternhauses war überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen. Soweit er sich erinnern konnte, waren die meisten Raumteiler verschwunden und bis auf wenige Ausnahmen auch fast alle Stühle und Liegen, die für etwaige Besuche anderer Spezies benötigt wurden. Da sich die Tralthaner nicht hinsetzen konnten, bevorzugten sie leere Räume, in denen sie ungehindert umherlaufen konnten. Während sichHewlitt das Schlafgestell von Patientin Horrantor auf Station sieben ins Gedächtnis rief, erkannte er in einer Ecke des Raums die ausgepolsterte Schlafstelle. Im Gegensatz zum fast völlig leeren Raum waren die Wände vor lauter Bücher- und Videobänderregalen kaum zu sehen, und an den wenigen freien Stellen hingen Bilder- und Wandteppiche, deren Motive ihm unklar blieben, oder standen schmale, kegelförmige Töpfe mit Duftpflanzen.

Während sich Hewlitt noch immer ein Kompliment für die Einrichtung einfallen zu lassen versuchte, entschuldigte sich Prilicla bei Crajarron und Surriltor für die Unannehmlichkeit, daß das Ambulanzschiff ohne jede Vorwarnung direkt neben ihrem reizenden Domizil gelandet sei.

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Doktor Prilicla“, sagte Crajarron und machte mit einem Tentakel eine wegwerfende Geste. „Sie sind der erste Cinrussker, den wir leibhaftig kennenlernen, und wir sind für jede angenehme Unterbrechung des Alltags dankbar. Dürfen wir Ihnen etwas anbieten? Feste oder flüssige Nahrung vielleicht? Unser Nahrungssynthesizer verfügt über Programme für alle möglichen Spezies.“

„Danke, aber leider haben wir schon gegessen“, antwortete Prilicla.

Murchison, Stillman und Hewlitt blickten den Empathen vielsagend an, denn sie wußten, daß er ihren Hunger spüren konnte. Zwar hatte er nicht gelogen, doch hatte er auch nicht erzählt, wie lange sie schon nichts mehr gegessen hatten.

„Wir sind mit dem Schiff auf Etla gelandet, weil wir eine Untersuchung über einen Unfall durchführen, der zu einer Zeit passierte, als Freund Hewlitt noch ein kleines Kind gewesen ist und mit seinen Eltern hier in diesem Haus gewohnt hat. Während unseres hiesigen Aufenthalts äußerte Freund Hewlitt den Wunsch, noch einmal sein ehemaliges Elternhaus sehen zu können. Da er damals nach dem Flugzeugunglück Etla mehr oder weniger überstürzt verlassen mußte, wollte er Sie fragen, ob Sie möglicherweise wissen, was mit einem gewissen Wesen, zu dem er eine starke emotionale Bindung gehabt hatte, geschehen ist.“

Hewlitt sah die anderen der Reihe nach erstaunt an. Stillman blickte genauso verdutzt drein wie er selbst, nur Murchison wirkte überhaupt nichtüberrascht. Seine Katze Snarfe mußte schon vor einer Ewigkeit an Altersschwäche eingegangen sein, Ms sie überhaupt eines natürlichen Todes gestorben war. Doch warum erkundigte sich Prilicla nach ihr?

Crajarron richtete zwei seiner Augen auf Hewlitt und sagte: „Meinen Sie dieses kleine terrestrische Lebewesen mit einem dichten Pelz und einem etwas niedrigerem Intelligenzgrad? Nun, diese Katze wurde damals zunächst von anderen Terrestriern adoptiert, weigerte sich aber strikt, dort zu bleiben, und lief andauernd in ihr altes Revier zurück. Als wir hierhergezogen sind, streunte die Katze im Garten und im Haus herum. Später haben wir erfahren, daß diese terrestrischen Haustiere eine Zuneigung zu anderen Wesen entwickeln können oder auch eine gewisse Zugehörigkeit zu bestimmten Revieren. Diese Katze besaß jedenfalls ein sehr freundliches Wesen. Na ja, und nachdem wir erst einmal gelernt hatten, welche Nahrungserfordernisse sie hat und wie man verhindern kann, nicht auf sie zu treten, wenn sie sich einem an die Beine schmiegt, um auf sich aufmerksam zu machen, da ist sie bei uns geblieben.“

Mit wehmütigem Blick erinnerte sich Hewlitt an sein vielgeliebtes Kätzchen, und noch während er sich über die unverhofft auftretenden Gefühlen der Trauer und des Verlusts wunderte, gab Crajarron einen merkwürdigen, unregelmäßigen Zischlaut von sich, der nicht übersetzt wurde. Als es Hewlitt allmählich dämmerte, daß der Tralthaner damit die Schnalzlaute nachzuahmen versuchte, die Menschen machen, wenn sie die Aufmerksamkeit einer Katze erlangen wollen, tauchte Snarfe bereits in der Haustür auf und stolzierte gemächlich auf ihn zu.

Während die Katze vor ihm stehenblieb, zu ihm aufschaute und ihn dann umkreiste, wobei sie sich an seine Knöchel schmiegte und sanft mit dem Schwanz gegen seine Waden schlug, sagte niemand einen Ton; diese Form der nonverbalen Kommunikation bedurfte keiner Übersetzung. Hewlitt bückte sich, hob die Katze mit beiden Händen hoch und hielt sie gegen Brust und Schulter. Als er ihr mit den Fingern sanft vom Kopf aus über den Rücken fuhr, versteifte sich ihr Schwanz, und sie begann sanft zu schnurren.

„Snarfe …! Also, dich hier wiederzusehen, damit habe ich wirklich nichtgerechnet!“ rief Hewlitt verblüfft. „Wie geht's dir?“

Prilicla flog näher heran und sagte: „Die emotionale Ausstrahlung ist charakteristisch für ein sehr altes und zufriedenes Wesen, das weder unter physischen noch psychischen Schmerzen leidet und es gegenwärtig über alle Maßen genießt, liebkost zu werden. Wenn es sprechen könnte, würde es Ihnen sagen, daß es wohlauf ist, und Sie darum bitten, mit dem Streicheln fortzufahren. Freundin Murchison, Sie wissen, was zu tun ist.“

„Selbstverständlich“, antwortete die Pathologin und holte den Scanner hervor. „Crajarron, Surriltor, dürfte ich bitte kurz die Katze untersuchen?“ An Hewlitt gewandt, fügte sie hinzu: „Wie Sie wissen, merkt sie nichts davon. Halten Sie Snarfe bitte einen Moment lang fest, während ich sie scanne. Ich will die Daten nur für eventuelle spätere Untersuchungen aufnehmen.“

Snarfe mußte gedacht haben, daß es sich dabei um ein neues Spiel handelte, denn sie schlug zweimal mit eingezogenen Krallen nach dem Scanner. Doch besann sie sich schnell eines Besseren und ließ sich lieber wieder genüßlich kraulen, so daß die Pathologin die Untersuchung in Ruhe zu Ende führen konnte.

„Möchten Sie Ihr Eigentum gern zurückbekommen, Terrestrier Hewlitt?“ erkundigte sich Crajarron, wobei sich sämtliche Augen der beiden Tralthaner auf ihn richteten. Hewlitt mußte weder über empathische Fähigkeiten verfügen, noch mußte er Priliclas Zittern sehen, um zu wissen, daß die zunächst freundlich gesinnte Stimmung zusehends abkühlte.

„O nein, aber vielen Dank auch“, entgegnete er deshalb sofort, während er Snarfe wieder auf dem Fußboden absetzte. „Ganz offensichtlich fühlt sich die Katze hier rundum wohl und wäre woanders nur unglücklich. Trotzdem bin ich Ihnen wirklich sehr dankbar, daß Sie es mir ermöglicht haben, eine alte Freundschaft Wiederaufleben zu lassen.“

Die Atmosphäre entspannte sich zusehends; Prilicla gewann seine Flugstabilität zurück, und Snarfe verlagerte ihre Zuneigung auf Surriltor, indem sie auf einen seiner wuchtigen tralthanischen Füße sprang. Einige Minuten später wurden die höflich ausgetauschten Abschiedsfloskeln durchdas zweimalige Läuten des Hauskommunikators unterbrochen, der einen eingehenden Anruf meldete.

Es war Doktor Hamilton.

„Es tut mir leid, daß ich Ihre Fragen nicht persönlich beantworten kann, Doktor Prilicla“, meldete er sich. „Ich halte mich derzeit in Yunnet im Stützpunkt Vespara auf; das ist nur eine der vielen ungeahnten Freuden, die man als Zahnarzt mit einem Reisegewerbeschein auf diesem Planeten hat. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

Während Prilicla erklärte, was er wollte, zogen sich die beiden Tralthaner in eine Ecke des Zimmers zurück und errichteten ein schalldichtes Feld, da sie dem möglicherweise vertraulich geführten Gespräch nicht beiwohnen wollten. Hewlitt starrte angestrengt auf den Bildschirm und versuchte, sich an Doktor Hamiltons Gesicht und Stimme zu erinnern, doch konnte er sich nur der glänzenden Instrumente entsinnen und auch der Hände, die damals aus weißen Manschetten hervorragten. Vielleicht hatte er als Kind das Gesicht des Zahnarztes nicht lange genug angesehen, um es heute noch richtig einordnen zu können.

„Ich erinnere mich recht gut an den Vorfall“, meinte Doktor Hamilton. „Allerdings weniger, weil er besonders wichtig gewesen wäre, sondern vor allem, weil es das erste und einzige Mal war, daß ich darum gebeten wurde, Zähne herauszuziehen, die eigentlich auf natürlichem Wege herausgefallen wären. Damals kam ich zu der Überzeugung, daß der Junge eine blühende Phantasie hatte, weil er glaubte, sich furchtbare Schmerzen zuzufügen, wenn er sich die Zähne mit den Fingern selbst herausziehen würde, wie es ja die meisten Kinder tun. Um dieses Problem zu beheben, hatte ihn seine Mutter zu mir gebracht. Bei einem solch kleinen Eingriff war natürlich kein Betäubungsmittel erforderlich. Soweit ich mich entsinnen kann, befand sich in seiner Krankenakte sogar ein Vermerk, der vor der Verwendung schmerzstillender Medikamente warnte, weil der Junge unter einer nicht genauer bestimmten Allergie litt.“

„Wir haben immer noch Probleme, diese Allergie genauer zu bestimmen“, mischte sich Murchison ein. „Was ist mit den Zähnen passiert?Haben Sie sie nach der Extraktion aufgehoben oder untersucht?“

Hamilton lachte laut und antwortete schließlich. „Dafür gab es wirklich keinen Grund. Du meine Güte, das waren doch nur ganz gewöhnliche Milchzähne. Vielleicht sind Sie ja mit dem unter terrestrischen Kindern stark verbreiteten Brauch der Zahnfee nicht ganz vertraut, aber natürlich bestand der Junge schon rein aus finanziellen Gründen darauf, sie zurückzuerhalten.“

„Können Sie sich im Zusammenhang mit diesem Vorfall noch an etwas anderes erinnern, Freund Hamilton?“ erkundigte sich Prilicla. „Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, wie abwegig oder unwichtig es Ihnen damals erschienen sein mag.“

„Nein, tut mir leid“, antwortete der Zahnarzt. „Und da ich den Jungen danach nie wieder gesehen habe, gehe ich mal davon aus, daß er seine restlichen Milchzähne auf natürlichem Wege verloren hat.“

Das Ende der Unterhaltung nahm Hewlitt kaum wahr, denn er erinnerte sich noch an etwas anderes; an etwas, das er fast vergessen hätte, bis es ihm durch die Worte des Zahnarztes ins Gedächtnis zurückgerufen wurde. Weder damals noch heute hatte er jemandem davon erzählt, weil ihm ohnehin jeder gesagt hätte, er bilde sich das alles nur ein. Schon als Kind hatte er die Leute gehaßt, die ihm vorwarfen, daß er über eine allzu blühende Phantasie verfüge.

Prilicla flog schwankend näher heran und sagte:

„Ihre emotionale Ausstrahlung setzt sich in unterschiedlichen Graden aus Verwirrung, Vorsicht und zu erwartender Verlegenheit zusammen, Freund Hewlitt. Dies deutet darauf hin, daß Sie etwas vor uns verbergen. Bitte verraten Sie es uns. Wir werden bestimmt nicht lachen, so daß es Ihnen auch nicht peinlich sein muß. Jeder neue Hinweis könnte sich in diesem Fall als wichtig erweisen.“

„Das bezweifle ich zwar“, antwortete Hewlitt, „doch wenn Sie's unbedingt wissen wollen… “

Mit Ausnahme eines lauten, unübersetzbaren Geräuschs von Naydradbeobachteten ihn alle völlig stumm, bis er zu Ende erzählt hatte. Prilicla durchbrach als erster das ungläubige Schweigen.

„Doktor Hamilton hat nichts davon erwähnt“, stellte der Empath fest. „Haben Sie die Zähne jemandem gezeigt oder mit jemandem darüber gesprochen?“

„Wie Sie ja schon wissen, hat Doktor Hamilton sie nicht genauer in Augenschein genommen, bevor er sie mir damals zurückgab“, antwortete Hewlitt. „Jedenfalls sahen diese fünf, sechs weißgrauen Dinger ganz hübsch aus, auch wenn man sie kaum erkennen konnte, da alle nicht einmal einen Zentimeter lang waren. Auf dem Nachhauseweg habe ich sie die ganze Zeit über in den Händen gehalten, sie aber nicht meiner Mutter gezeigt, weil sie etwas mißgelaunt war, daß wir wegen solch einer Lappalie extra zum Zahnarzt mußten. Als wir schließlich zu Hause ankamen, waren die Zähne weg. Sie müssen mir aus den Händen gefallen oder von der Klimaanlage des Bodenfahrzeugs aufgesaugt worden sein. Ich weiß, daß mir das niemand glaubt.“

Murchison lachte und sagte kopfschüttelnd: „Tut mir leid, Hewlitt. Allmählich fällt es mir wirklich schwer, Ihnen Glauben zu schenken, wenn Sie uns andauernd solch merkwürdige, unbewiesene, zusammenhanglose und völlig unglaubliche Geschichten erzählen. Können Sie uns das verdenken?“

Priliclas spinnenartige Gliedmaßen zitterten erneut, als er sagte: „Ich habe Freund Hewlitt versprochen, ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Außerdem ist er sich absolut sicher, nichts als die Wahrheit zu erzählen.“

„Verdammt noch mal, ich weiß, daß er das glaubt!“ reagierte Murchison ungewohnt heftig. „Keine Sorge, ich zweifle weder an Hewlitts Integrität, noch habe ich Haare auf den Zähnen!“

Dieses Mal ergriff Stillman als erfahrener Kulturkontaktspezialist die Initiative und wechselte vorsichtshalber das Thema. „Möchten Sie jetzt vielleicht die Schlucht besichtigen, Doktor Prilicla?“

Hewlitt wartete, bis sie draußen waren, und sagte dann: „Mir war ebensofort klar, daß es sich bei der Katze um Snarfe handelte, und ich wußte auch, daß sie mich im selben Augenblick erkannt hat. Ich kann das Gefühl gar nicht richtig beschreiben… jedenfalls war es sehr merkwürdig.“

„Das Gefühl, das Sie beim Wiedererkennen Ihrer kleinen Freundin hatten, war geradezu umwerfend“, meinte der Empath. „Selten zuvor habe ich eine derart emotionale Reaktion erfahren, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn Sie die Tralthaner darum gebeten hätten, Ihnen das Tier zurückzugeben. Wie Sie die Lage gemeistert haben, hat mich sehr gefreut … Ach, Freundin Murchison, offenbar sind Sie ein wenig verwirrt und mit irgend etwas nicht ganz zufrieden. Worum geht's?“

„Na, um diese Katze“, antwortete die Pathologin und warf einen Blick zum Haus zurück. „Meine Eltern mochten Katzen sehr gern. Wir hatten nie weniger als zwei von diesen Tieren im Haus, so daß ich mit dieser Spezies durchaus vertraut bin. Zum Beispiel beträgt die Lebenserwartung einer gesunden Katze etwa zwölf bis vierzehn Erdjahre. Snarfe ist aber doppelt so alt und dürfte längst nicht mehr leben. Doktor Stillman, sind Sie sich wirklich sicher, daß es sich um eine terrestrische Spezies handelt und nicht um eine langlebigere etlanische oder sonstige Rasse, die nur wie eine terrestrische Katze aussieht?“

„Ja, ich bin mir sogar völlig sicher“, bekräftigte der ehemalige Stabsarzt. „Als die Kontaktspezialisten damals auf diesen Planeten kamen und von vornherein feststand, daß sie hier sehr lange bleiben würden, gab sich das Monitorkorps alle Mühe, auch sämtliche persönliche Habe dieser Mitarbeiter hierher zu transportieren, wozu in einem Fall auch eine Katze gehörte. Einige Wochen später warf sie sechs Junge, die allesamt von Mitarbeitern in Pflege genommen wurden. Snarfe war eins dieser Kätzchen.“

„Und aus welchem Grund sollte eine gewöhnliche Erdkatze hier eine doppelte Lebenserwartung haben?“ wollte Murchison wissen.

Stillman ging ein paar Schritte weiter, bevor er antwortete: „Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Meine Theorie lautet, daß das Tier hier auf Etla im Gegensatz zur Erde keinen katzentypischen Krankheiten ausgesetztwar und ist, und wie wir wissen, haben etlanische Krankheitserreger auf außerplanetarische Spezies keine Auswirkungen. Also ist die Katze hier die ganze Zeit von allen lebensbedrohlichen oder körperlich schädigenden Krankheiten isoliert gewesen und kann eigentlich nur an einem Unfall oder an Altersschwäche sterben… das heißt, sobald sie ihre sämtlichen langen und offensichtlich höchst gesunden neun Leben aufgebraucht hat.“

Murchison lächelte. „Wie wir wissen hatte Snarfe einen sehr schweren Unfall gehabt und ihn überlebt. Nun, in der Theorie klingt das ja ganz hübsch, Doktor, aber gibt es dafür auch irgendwelche Beweise? Was ist denn mit den anderen Katzen aus demselben Wurf?“

„Ich habe schon befürchtet, daß Sie mich das fragen“, entgegnete Stillman. „Was nützen einem die besten Argumente, wenn man von einem Schwertransporter überrollt wird, nicht wahr? Nun, die anderen fünf sind auf natürlichem Wege gestorben. Soweit ich weiß etwa vor zehn Jahren an Altersschwäche.“

„Ach – wirklich?“

19. Kapitel

Prilicla durchbrach das darauffolgende Schweigen, indem er sagte: „Freund Hewlitt, zunächst einmal würden wir gern denselben Weg zurückverfolgen, den Sie damals genommen haben, und zwar von dem Loch im Gartenzaun, durch das Sie entwischt sind, bis zu dem besagten Baum, von dem Sie gefallen sind. Wenn Sie soweit sind, gehen Sie uns bitte voran.“

Hewlitt stapfte auf der anderen Seite des Gartenzauns durch das hohe, dichte Gras, das, wenn man nicht genauer hinsah, wie eine terrestrische Wiese aussah. Überhaupt hatte man das Gefühl, auf der Erde zu sein, zumal die Insekten viel zu klein waren, als daß man Unterschiede hätte erkennen können, und wenn man auf die heiße Sonne und den blauen Himmel mit seinen bizarren Wolken blickte, dann war einem hier als Terrestrier eigentlich gar nichts mehr fremd. Stillman hielt mit ihm Schritt, sagte aber keinen Ton, und die anderen blieben zu weit hinten, als daß Hewlitt ihre Gespräche hätte verstehen können. Er befürchtete, daß sie sich höchstwahrscheinlich gerade über ihn unterhielten und die medizinischen und psychologischen Auswirkungen seiner letzten Geschichte erörterten, die sie bestimmt wieder einmal als eine Ausgeburt seiner übersteigerten Phantasie betrachteten.

„Anfangs bin ich mir zwar nicht ganz sicher gewesen, Doktor Stillman, aber dann habe ich Sie doch wiedererkannt“, versuchte er schließlich den Monitoroffizier in ein Gespräch zu verwickeln, um auf andere Gedanken zu kommen. „Damals sind Sie mir natürlich viel größer vorgekommen, aber das liegt wohl daran, daß Kinder die meisten Erwachsenen für Riesen halten. Das liegt an der Perspektive. Trotzdem scheinen Sie sich kaum verändert zu haben.“

„Ehrlich gesagt, habe ich Sie überhaupt nicht wiedererkannt“, antwortete Stillman und klopfte sich lächelnd auf seinen etwas fülligen Bauch. „Nun ja, ich bin eben mehr in die Breite gegangen, während Sie offensichtlich in die Höhe geschossen sind.“„Jedenfalls kann man von Glück reden, Sie hier auf Etla noch angetroffen zu haben“, fuhr Hewlitt fort. „Ich habe nämlich immer gedacht, daß Mitarbeiter des Monitorkorps häufiger ihren Einsatzort wechseln.“

„Ich bin eigentlich sehr glücklich hier auf Etla“, murmelte Stillman.

Danach gingen die beiden wenigstens dreißig Schritte schweigend weiter, und Hewlitt begann sich bereits zu fragen, ob er eben etwas Beleidigendes gesagt haben könnte, als Stillman fortfuhr: „Die Kulturkontaktsituation auf diesem Planeten ist noch immer… nun ja, sehr interessant und auch ein wenig komplizierter als üblich, weil uns die Einheimischen hier kaum fremd sind. Wenn man es nämlich mit einer völlig fremden intelligenten Spezies zu tun hat, dann werden bei eventuell auftretenden Mißverständnissen auf beiden Seiten rasch Zugeständnisse gemacht. Hier auf Etla versuchen wir hingegen, eine Zivilisation, die auf Abwege gebracht worden war, sowohl zu verstehen, als auch allmählich umzuerziehen. Besser gesagt, sind die Etlaner von ihrem Imperator falsch informiert und zur Massenxenophobie aufgehetzt worden, um sich mit allen Mitteln gegen eine nicht existierende Bedrohung zu verteidigen. Also mußten wir erst einmal ihr Vertrauen gewinnen und ihnen beweisen, daß fremde intelligente Lebensformen nicht unbedingt besser oder schlechter sind als sie, sondern einfach nur anders.

Schon zu Ihrer Zeit auf Etla waren ganz bewußt einige Extraterrestrier hier auf dem Stützpunkt stationiert. Dahinter steckte die Idee, den etlanischen Fremdenhaß abzuschwächen, indem wir gezeigt haben, daß Aliens Seite an Seite mit uns harmonisch leben und arbeiten können. Hin und wieder haben wir einige ETs zu sehr sorgfältig vorbereiteten Besuchen öffentlicher Veranstaltungen geschickt, natürlich stets in Begleitung verdeckt arbeitender Leibwächter. Zum Beispiel wohnten sie als Zuschauer wichtigen Sportveranstaltungen bei oder nahmen an Aussichtsfahrten teil, wobei sie zumeist selbst zur größten Attraktion wurden. Am wichtigsten aber waren die Besuche von Schulen und die dort geführten Gespräche mit den Kindern. Heute kommen auf jeden terrestrischen oder sonstigen Mitarbeiter des Stützpunktpersonals drei Etlaner, so daß das Kulturkontaktprogramm sehr große Fortschritte macht.Erschwert wird diese Arbeit allerdings durch den Umstand, daß die Etlaner, obwohl sie im Grunde sehr umgängliche und freundliche Wesen sind, über einen enormen Stolz verfügen. Selbst ich vergesse manchmal, wie anders sie sind, so daß immer noch Mißverständnisse tagtäglich auftreten. Deshalb ist Shech-Rar auch alles andere als erfreut – und bei seinem natürlichen Mangel an Charme mögen sich seine Äußerungen etwas unwirscher anhören, als sie gemeint sind -, daß ein so bunt gemischter Haufen wie der Ihre hier eine nicht genauer umrissene Untersuchung durchführt und womöglich in völliger Verkennung der Situation auf diesem Planten überall herumstromert.

Nehmen Sie das bitte nicht persönlich“, fügte Stillman hinzu. „Sie haben nämlich soeben eine knappe und leicht abgeänderte Zusammenfassung meiner Begrüßungsrede für neu eingetroffenes Monitorkorpspersonal gehört.“

Hewlitt hielt es nicht für angebracht, etwas darauf zu erwidern, zumal er hörte, daß die anderen allmählich von hinten aufrückten und augenscheinlich lieber zuhören wollten, worüber er sich gerade mit Stillman unterhielt, als selbst miteinander zu reden.

Stillman lachte kurz auf und fuhr dann fort: „Wenn ein engagiert und erfolgreich arbeitender Korpsoffizier erst einmal das Vertrauen der Einheimischen gewonnen hat, sehen es seine Vorgesetzten natürlich gern, wenn er so lange wie möglich bleibt, um eine Kontinuität dieses Prozesses zu gewährleisten. Offenbar habe ich diesbezüglich eine ganz besondere Begabung an den Tag gelegt, denn schließlich habe ich eine Etlanerin geheiratet und bin sogar noch nach meiner Pensionierung auf diesem Planeten geblieben. Meine Frau ist natürlich auch der Grund, weshalb ich Ihnen eben gesagt habe, daß ich hier sehr gerne lebe.“

„Ich verstehe“, merkte Hewlitt an.

Stillman schien Hewlitts leichte Verlegenheit zu registrieren und sagte: „Keine Sorge, ich werde auf meine alten Tage schon nicht sentimental. Ich habe meine Frau bereits im zweiten Jahr hier auf Etla kennengelernt. Sie hat damals als das gearbeitet, was man hier als › Lehrmeisterin der Kinder ‹bezeichnet. Das sind etlanische Frauen, die die Vier- bis Siebenjährigen unterrichten. Und meine Frau ist damals die erste Etlanerin gewesen, die sich damit einverstanden erklärte, ihre Klasse gemeinsam mit einem tralthanischen Lehrer zu unterrichten. Also ist sie schon zu jener Zeit davon überzeugt gewesen, Kinder am besten möglichst frühzeitig mit Aliens zu konfrontieren, damit sie erst gar nicht in die Versuchung geraten konnten, die Vorurteile ihrer Eltern zu übernehmen. Meine Frau ist damals Witwe gewesen. Seinerzeit gab es hier furchtbar viele Witwen und Waisenkinder. Da wir logischerweise selbst keine Kinder kriegen konnten, haben wir vier adoptiert, bevor wir zu alt wurden, um… “

„Doktor Stillman?“ rief Murchison, die größere Schritte machte, bis sie die beiden eingeholt hatte. „Ich weiß zwar, daß die Natur der gemeinsamen Fortpflanzung unterschiedlicher Arten einen Riegel vorgeschoben hat, doch wenn Sie von einer Ausnahme wissen sollten, die die Regel bestätigt, könnte das eine Antwort auf einige ungeklärte medizinische Fragen sein. Vielleicht würde dadurch auch alles nur noch verwirrender. Haben Sie schon mal von einem solchen Ausnahmefall gehört? Und wenn ja, ist es möglich, daß ein Elternteil von Hewlitt etlanisch oder er selbst vielleicht ein etlanisches Pflegekind gewesen ist?“

Stillman schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich weiß nur, daß seine Eltern immer kerngesund gewesen sind, und bei Hewlitts Geburt bin ich sogar dabeigewesen.“

„Das war auch nur so eine verrückte Idee“, entschuldigte sich Murchison und ballte die ausgestreckte Hand zur Faust. „Wenn man nicht mehr weiter weiß, greift man eben nach jedem hypothetischen Strohhalm.“

Hewlitt sagte weiterhin nichts. Zeitweilig hatte er sogar das merkwürdige Gefühl, alles doppelt wahrzunehmen. Das Gras ging ihm bis zu den Hüften, als ob er vier Jahre alt wäre, die Bäume und Büsche waren nun höher und dichter, aber auch er war gewachsen, und der Geruch der sonnengewärmten Vegetation und die surrenden Laute der Insekten waren genauso wie früher. Lediglich die Entfernungen zwischen den Orientierungspunkten waren mit dem Alter geschrumpft.„Ich kann mich an all das hier sehr gut erinnern“, sagte er schließlich und zeigte dabei auf einen Busch. „An dieser Stelle habe ich mich etwas länger aufgehalten und gespielt.“

„Können Sie sich auch daran erinnern, ob Sie etwas gegessen haben?“ erkundigte sich Murchison. „Irgendwelche Wildbeeren? Oder haben Sie vielleicht auf Grashalmen herumgekaut? Eventuell haben Sie nämlich irgendein Gegengift zu sich genommen, durch das die Wirkung der toxischen Frucht, die sie dann später gegessen haben, neutralisiert wurde.“

„Nein“, antwortete Hewlitt knapp und zeigte auf eine Hausruine. „Als nächstes bin ich da vorne bei dem zerstörten Gebäude gewesen. Ich wundere mich nur, daß es bis heute noch nicht abgetragen oder wiederaufgebaut worden ist. Mir kommt diese ganze Gegend noch immer wie die reinste Wildnis vor.“

Stillman blieb kurz stehen und machte eine weit ausladende Geste. „Man hat hier alles ganz bewußt unverändert gelassen. Genau an dieser Stelle wurde nämlich die entscheidende Schlacht geschlagen, durch die der Imperator letztendlich gestürzt wurde, und am Rande dieser Gegend wohnen auch die meisten Fremdweltler. Es soll sowohl als Mahnung an eine finstere Vergangenheit als auch als ein Versprechen an eine bessere Zukunft dienen. Bislang scheint das funktioniert zu haben. An Feiertagen kann man hier sehr schön picknicken, es sei denn, etlanische Kinder finden irgendwelche fremdweltlerischen Blagen zum Spielen, dann ist der Radau nämlich unerträglich.“

In dem bis auf die Grundmauern abgebrannten Haus konnte man durch das offene Dach hindurch den Himmel sehen, und der überall auf dem Boden herumliegende Schutt war von Unkraut überwuchert. Eine Wand war von Brandflecken übersät, und selbst nach all den Jahren bildete man sich ein, den stechenden Geruch des Rauchs in der Nase zu spüren. Eine neue Generation kleinerer Tiere und Insekten krabbelte und huschte durch das Unkraut, und Murchison erkundigte sich bei Hewlitt, ob er sich daran erinnern könne, von einem dieser Tiere gebissen oder gestochen worden zu sein. Obwohl er daraufhin nur den Kopf schüttelte, bat sie Naydrad, ihrbeim Sammeln und Einfangen einiger der selteneren Exemplare für eine spätere Untersuchung zu helfen.

„Als nächstes bin ich da hinten zu dem ausgebrannten Kampfpanzer gegangen“, erinnerte sich Hewlitt.

Dieses Mal übernahm Fletcher den Hauptteil der Erkundungen. Draußen konnte man hören, wie er durch das dunkle Innere kroch und mürrisch vor sich hin murmelte, daß es dort drinnen für einen erwachsenen Mann sehr viel enger als für ein Kind sei, bis sein Kopf wieder in der Einstiegsluke auftauchte.

„Bei dieser Rostlaube handelt es sich um einen technisch etwas rückständigen Schützenpanzer für eine dreiköpfige Besatzung“, berichtete er. „Das größere Geschütz dient zum Abfeuern von Granaten, das kleinere ist eine Art Maschinengewehr. Die Munition, der Brennstoff und die meisten Bedienungselemente sind entfernt worden. Außer ein paar wertlosen Gerätschaften und einer Menge Insekten gibt es da drinnen nicht mehr viel zu entdecken. Brauchen Sie ein paar Exemplare?“

„Ja, bitte“, antwortete Murchison. „Und wenn möglich andere als aus dem Haus.“

„Für mich sehen diese Viecher eins wie's andere aus“, grummelte Fletcher und verschwand wieder in der Versenkung.

„Falls Sie Informationen über einheimische Insekten benötigen, dann sollten Sie sich an meine Frau wenden“, schlug Stillman vor. „Sie ist Ihnen bestimmt gern behilflich. Wonach suchen Sie denn?“

„Das wissen wir selbst nicht so genau, Doktor“, antwortete Murchison. „Es ist aber durchaus möglich, daß Hewlitt damals beim Spielen viel zu aufgeregt war, um sich heute noch daran zu erinnern, ob er gebissen oder gestochen wurde, und das wiederum könnte durchaus von Bedeutung für das sein, was später mit ihm geschehen ist.“

„Aha, ich glaube, ich verstehe“, meinte Stillman. Die anderen folgten Hewlitt jetzt zu einem zweiten Panzerfahrzeug, und zwar zu jenem, das auf die Seite gekippt war und dessen gerissene Ketten wie schmaleRostteppiche im Gras lagen. Danach begaben sie sich auch zu den anderen Fahrzeugen, in oder auf denen er einst gespielt hatte. Alle anderen Gespräche waren längst eingestellt, denn Hewlitt erzählte während des Erkundungsgangs jede Einzelheit, an die er sich erinnern konnte. Schließlich gelangten sie zu dem großen Baum mit den gewundenen Ästen und Zweigen, die weit über den steilen Abhang der Schlucht hinausragten und an denen die grün-gelben, birnenförmigen Früchte hingen.

„Die Äste sehen nur auf den ersten Blick so kräftig aus, aber das täuscht!“ rief Stillman, als Fletcher gerade auf den Baum klettern wollte. „Glauben Sie mir, das Gewicht eines Erwachsenen werden die nicht tragen.“

„Das ist kein Problem, Freund Stillman“, meinte Prilicla und schwang sich mit zunehmendem Flügelschlag wie eine schillernde Riesenlibelle in die Lüfte, bis er über den fruchttragenden Zweigen in der Höhe der Baumkrone schwebte.

„Seien Sie bitte vorsichtig, Doktor!“ rief Stillman ihm mit besorgter Stimme hinterher. „Um diese Jahreszeit ist die Schale nur sehr dünn, und die Früchte sind randvoll mit Saft.“

Danach sagte der Major keinen Ton mehr, obwohl man ihm ansehen konnte, daß er sich einige Male gern eingemischt hätte, als Hewlitt beschrieb, wie er damals die Frucht gepflückt und gegessen hatte und wie er vom Baum gefallen und erst unten in der Schlucht wieder aufgewacht war, als sich der junge Stabsarzt Stillman über ihn gebeugt hatte. Während sie den steilen Abhang hinabstiegen, preßte der Major die Lippen derart fest zusammen, daß man hätte denken können, sie wären zusammengenäht worden.

„Ich merke, daß Sie etwas sagen wollen, Freund Stillman“, stellte Prilicla nicht ganz zu unrecht fest. „Worum geht's?“

Der Monitoroffizier blickte zunächst auf den von Felsgestein und Trümmern übersäten Boden der Schlucht und dann zu den hoch oben hängenden Früchten des Pennisithbaums hinauf. Im Gegensatz zu damals schien die Sonne sehr hell, und erst jetzt wurde Hewlitt bewußt, wiegefährlich dieser steile Abhang war und welch unsägliches Glück er gehabt hatte, den Sturz ohne ernsthafte Verletzungen überstanden zu haben.

Stillman räusperte sich und sagte: „Pennisithbäume sind auf Etla sehr selten und stehen trotz ihrer hochgiftigen Früchte unter Naturschutz. Dieser Baum hier ist sehr alt und wächst nur noch äußerst langsam, so daß er heute höchstens ein, zwei Meter höher ist als zu der Zeit, da der kleine Hewlitt von ihm herabfiel und in diese tiefe und gefährliche Schlucht stürzte. Wenn er damals bis in die obersten Zweige hinaufgeklettert ist und auch nur einen kleinen Happen von einer dieser Früchte gegessen hat und dann auch noch in diese Schlucht gestürzt ist, dann hätte er sozusagen in doppelter Hinsicht tot sein müssen.

Ich möchte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten“, fuhr er fort und blickte Hewlitt dabei direkt in die Augen, „doch kann ich mir die Ereignisse nur dadurch erklären, daß Sie nach dem langen Spielen in der sengenden Sonne übermüdet, hungrig und durstig gewesen sind. Der Anblick der Früchte hat Sie höchstwahrscheinlich tatsächlich dazu verlockt, den Baum hinaufklettern zu wollen, doch mußten Sie dieses im wahrsten Sinne des Wortes fruchtlose Unterfangen vorzeitig abbrechen und sind auf dem Hosenboden die Schlucht hinuntergerutscht und nicht etwa in sie hineingefallen. Der damalige Zustand ihrer Kleidung sowie der Umstand, daß Sie nicht einen einzigen Kratzer oder blauen Flecken abbekommen haben, bestätigt nur diese Theorie. Nach dem gescheiterten Versuch, auf den Baum zu klettern, um an die Früchte zu gelangen, sind Sie eingeschlafen, so daß Ihre Erinnerungen an dieses Ereignis eine Mischung aus Realität und Träumen sind.

Tut mir leid“, beendete Stillman seine Ausführungen, „bestimmt haben Sie nicht bewußt gelogen, aber genausowenig können Sie die Wahrheit gesagt haben.“

Die folgenden Minuten zog es das medizinische Team vor, auf diplomatische Weise zu schweigen und sich lieber dem Sammeln von Pflanzen- und Insektenproben für Murchison zu widmen. Hewlitt hatte sich über all die Jahre hinweg längst an die höflich geäußerte Skepsis anderergewöhnt, und Stillman war nur einer von vielen Ärzten, die zu dem Schluß gelangt waren, daß er lediglich ein Opfer seiner übersteigerten Phantasie sei, so daß er auf die Äußerungen des Majors eher gelassen als zornig reagierte. Deshalb wunderte er sich auch zunächst, als Prilicla beim Fliegen gewisse Anzeichen von Instabilität verriet – an seiner eigenen emotionalen Ausstrahlung konnte es nach seinem Dafürhalten nicht gelegen haben. Weniger überrascht war er allerdings, daß der Empath die Ursache für sein Zittern bereits verkündete, bevor sich jemand danach erkundigen konnte.

„Sie strahlen in einem sehr hohen Maß Neugier und Aufregung aus, Freund Fletcher. Warum?“

Der Captain kniete neben einem dicken, torpedoförmigen Gegenstand, der von dem Unterholz und dem Erdreich, das durch starke Regenfälle den Abhang hinuntergespült worden war, fast völlig verdeckt wurde. Fletcher öffnete seine Ausrüstungstasche und holte daraus ein Gerät hervor, das wie eine Tiefenscanner aussah.

„Es gibt bei diesem Flugobjekt Hinweise auf eine außerplanetarische Technik“, stellte er fest. „Baulich scheint es mir höher entwickelt zu sein als die anderen Trümmer, die hier herumliegen. Sobald ich einen näheren Blick ins Innere geworfen habe, kann ich mehr dazu sagen.“

„Vielleicht ist das, was ich jetzt sage, nicht so wichtig, aber Hewlitt ist damals direkt neben diesem Ding aufgefunden worden“, merkte Stillman an. „Zu dem Zeitpunkt interessierte mich der Gesundheitszustand des kleinen Hewlitt natürlich mehr als irgendeins von diesen überall herumliegenden Wrackteilen.“

„Vielen Dank, Doktor“, sagte Murchison, die sich sofort zu Fletcher gesellt hatte. „Danalta und Naydrad! Bevor wir nicht genau wissen, worum es sich bei diesem Fluggerät handelt, brauchen Sie auch keine weiteren Proben einzusammeln.“

Sowohl aufgrund der emotionalen Ausstrahlung der anderen als auch durch seine eigene Aufregung noch immer zitternd, ließ sich Prilicla auf dem Boden neben den anderen nieder und sagte: „Sämtliche Aufzeichnungsgeräte sind eingeschaltet, Freund Fletcher. Sie können jetztanfangen.“

Während der Captain buchstäblich alles, was er während jedes einzelnen Stadiums seiner Untersuchung sah, dachte oder tat, laut beschrieb, fielen die Wörter und Handlungen des Captains derart präzise und gelassen aus, daß sich Hewlitt zu fragen begann, ob Fletcher den Bericht allein für die Nachwelt erstellen wollte, da ihm das Ding jeden Augenblick um die Ohren fliegen könnte. Doch selbst Prilicla, für den Ängstlichkeit zum Überleben unabdingbar war, und alle anderen standen oder schwebten so nahe wie möglich bei Fletcher, ohne ihn bei der Arbeit zu behindern, und sie schienen völlig unbekümmert zu sein. Hewlitt faßte sich ein Herz und trat nun auch näher heran.

Laut Fletcher handelte es sich bei dem raketenähnlichen Flugobjekt um einen knapp drei Meter langen Hohlzylinder mit einem Durchmesser von einem halben Meter, ausgestattet mit jeweils vier Dreiecksflügeln in der Mitte und am Leitwerk. Die Außenfläche des Gehäuses war verrostet und stark verfärbt, und es gab Schmelzspuren, so daß es kurzfristig extrem hohen Temperaturen ausgesetzt gewesen sein mußte. Außerdem stellte Fletcher eine sehr schwache und harmlose radioaktive Reststrahlung fest, was daraufhindeutete, daß der Flugkörper vorübergehend einer externen Quelle starker atomarer Strahlung und extremer Hitze ausgesetzt gewesen sein könnte. Der Antrieb wurde durch ein chemisches Gemisch bewirkt, das einst Dreiviertel des Gesamtvolumens ausgemacht hatte. Aufgrund einer ersten Analyse der Schmauchspuren und Brandrückstände und nach einer ungefähren Berechnung des Gewichts schätzte Fletcher die Reichweite des Flugobjekts auf hundert bis hundertzwanzig Kilometer.

Entlang der Längsachse befanden sich zwei kleine, vertieft angebrachte Schotts mit geöffneten schwenkbaren Klappen, die etwa einen Meter auseinander lagen und vom Schwerpunkt des Flugobjekts exakt gleich entfernt waren. Die Überreste von jeweils vier verrotteten Kabelsträngen, die aus den Öffnungen hervorragten, ließen darauf schließen, daß das Flugobjekt mit Hilfe eines Zwillingsfallschirms in waagerechter Position weich landen sollte. Zwar waren keine Fallschirmstoffreste mehr zuentdecken, doch Fletcher meinte, dies könne auch daran liegen, daß sie entweder biologisch abbaubar gewesen seien oder auf dem Weg nach unten an Ästen und Zweigen hängengeblieben und abgerissen worden seien.

„Die ersten zwanzig Zentimeter der Rumpfnase sind nach unten geklappt“, fuhr Fletcher fort. „Wahrscheinlich ist die Luke bei der Landung aufgesprungen und wurde später von Gras und Erdreich bedeckt. Neben dem Schnappmechanismus scheint sie dicht mit Polstern ausgestattet zu sein, die nicht verrottet sind. Das vordere Viertel des Flugobjekts, in dem ich normalerweise den Sprengkopf erwartet hätte, ist ebenfalls mit Polstern gefüllt, abgesehen von einem zylindrischen Hohlraum von etwa zehn Zentimetern Durchmesser, der sich etwa über einen Dreiviertelmeter entlang der Längsachse erstreckt. In diesem Hohlraum befindet sich eine ebenfalls zehn Zentimeter breite Plastikscheibe, die auf der Vorderseite dick gepolstert und auf der Rückseite mit einer kurzen Stange verbunden ist und… und das sieht ganz wie ein Kolbenmechanismus aus, der dazu dient, irgendeine Art zylindrischen Behälter aus dem inneren Hohlraum zu katapultieren. Aufgrund einer möglichen Fehlfunktion oder Bruchlandung ist der Kolben jedoch auf halbem Wege steckengeblieben, so daß der Behälter nicht völlig ausgestoßen und unbekannte Zeit später zerstört wurde.“

Die Handschuhe, die er trug, waren wie eine zähe, durchsichtige zweite Haut und boten sowohl eine fast uneingeschränkte Beibehaltung des Tastgefühls als auch einen maximalen Schutz. Fletcher blickte unentwegt auf das Display des Scanners, während er die freie Hand vorsichtig in die Öffnung hineinführte.

„Neben ganzen Horden von Insekten, die in den Polstern nisten, gibt es da drinnen kleine Stücke aus glasähnlichem Material und… ja, und in der Erde und im Gras um die aufgeklappte Luke herum kann ich auch ein paar Splitter davon erkennen. Auf der einen Seite scheinen sie stark poliert und auf der anderen mit einem dunkelbraunen Anstrich versehen zu sein. Ich nehme an, Sie wollen ein paar Proben haben, stimmt's?“Murchison, die bereits auf Händen und Knien neben Fletcher robbte, stimmte selbstverständlich sofort zu.

Hewlitt konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor aus dem Munde eines Menschen das Wort ›Ja‹ in einer solchen Mischung aus Leidenschaftlichkeit und unterdrückter Begeisterung gehört zu haben. Der Captain reichte Murchison eins der Bruchstücke, das sie sofort in den transportablen Analysator steckte, der an ihrem Ausrüstungsgurt hing. Danach warteten alle ungeduldig auf die Ergebnisse.

„Unser Analysator stimmt mit Ihnen völlig überein“, sagte Murchison schließlich zu Fletcher. „Es handelt sich um dünnes und etwas spröde gewordenes Plastik, das stark an herkömmliches Glas erinnert. Der Krümmungsgrad läßt zudem daraufschließen, daß es sich um das Fragment eines zylindrischen Körpers handelt. Neben einiger weniger Reste von Insektenexkrementen ist die Außenfläche sauber und blank poliert. Bei dem undurchsichtigen Anstrich auf der Innenseite scheint es sich um synthetische Nährstoffe zu handeln, wahrscheinlich in flüssiger Form, die nun getrocknet sind. Wenn ich noch ein paar Proben bekomme, um sie später zur genaueren Bestimmung in den Analysator an Bord der Rhabivar m geben, kann ich Ihnen auch demnächst verraten, welche Lebensform damit ernährt werden sollte. Zur Zeit kann ich nur sagen, daß dieses Flugobjekt einen oder mehrere Organismen beherbergt hat, die am Leben erhalten werden sollten.“

Fletcher wollte der Pathologin gerade ein weiteres Bruchstück übergeben, als er kurz innehielt und Stillman mit ernster Miene fragte: „Haben die Etlaner eigentlich jemals chemische oder biologische Waffen eingesetzt, Doktor?“

20. Kapitel

Hewlitt brach in Schweiß aus, was jedoch nicht am Einfluß der Sonnenwärme lag, und wich instinktiv einen Schritt zurück, doch zu seinem großen Erstaunen blieben alle anderen ganz ruhig. Entweder mangelte es ihnen allen an Vorstellungsvermögen, was eher unwahrscheinlich war, oder aber gegenwärtig bestand wirklich keine Gefahr. Dennoch trat er vorsichtshalber einen weiteren Schritt zurück.

„Unseres Wissens nicht, Captain“, antwortete Stillman. „Es gibt auch keine historischen Überlieferungen, daß solche Waffen jemals in etlanischen Planetenkriegen eingesetzt worden sind, und in einem Weltraumkrieg wären sie auch ziemlich unwirksam. Außerdem ist diese Welt schon krank genug gewesen. Allerdings sind sie vielleicht heimlich von den Wissenschaftlern des Imperators entwickelt worden, der gegen Ende der Rebellion verzweifelt genug gewesen sein könnte, um alles zu verwenden, was ihm zu Verfügung stand, aber meiner Meinung nach ist das nicht der Fall gewesen. In den Verletztenlisten aus jener Zeit wurden durch Explosionen und Granatsplitter hervorgerufene Verwundungen sowie Schußwunden erwähnt, jedoch keine durch chemische oder biologische Waffen verursachte Verletzungen.“

Er hielt lange genug inne, so daß Fletcher die Möglichkeit hatte, Murchison drei weitere Splitter zu übergeben, bevor er fortfuhr: „Unabhängig davon sind solche Waffen dafür vorgesehen, sie beim Aufprall oder in der Luft über dem Ziel explodieren zu lassen. Offensichtlich ist diese Granate, oder was auch immer das ist, mit Hilfe eines Fallschirms weich gelandet. Der Auslösemechanismus hat versagt, und sie ist erst explodiert oder aufgebrochen, als sie von etwas getroffen wurde.“

„Oder von jemandem“, wandte Prilicla ein.

Einer nach dem anderen drehte sich um und starrte Hewlitt an, denn sie waren über die Worte des Empathen genauso überrascht wie er selbst. Schließlich brach Stillman als erster das entstandene Schweigen.„Wenn Sie damit sagen wollen, daß ein Kind namens Hewlitt auf dieses Ding da gefallen ist und es dabei zerschlagen und den geheimnisvollen Inhalt freigegeben hat, dann kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Der Junge lag zwar damals direkt daneben, aber ich war zu sehr mit seiner Untersuchung beschäftigt, und darüber hinaus war es viel zu dunkel, als daß ich herumliegende Glasscherben hätte bemerken können. Wie wir alle außerdem wissen, können etlanische Krankheitserreger nicht auf Fremdweltler übertragen werden. Tja, und dann sieht unser Freund hier sowieso so aus, als wäre er in seinem ganzen Leben noch nie einen Tag lang krank gewesen.“

Priliclas Gliedmaßen zitterten leicht, weil es ihn enorme Anstrengung kostete und er seinen ganzen Mut zusammennehmen mußte, jemand anderem zu sagen, daß dieser falsch liege.

„Freund Hewlitts lange Leidensgeschichte ist eine Ansammlung nur schwer zu bestimmender Krankheiten, die darüber hinaus auf sämtliche Behandlungsmethoden negativ reagiert haben“, sagte er. „Aus diesem Grund sind bis heute sämtliche Diagnosen äußerst vage ausgefallen, und die seltsame Aneinanderreihung der bei ihm aufgetretenen Symptome wurde anfänglich und vielleicht irrtümlicherweise auf rein psychologische Ursachen zurückgeführt. Unsere vorläufige Diagnose lautet, daß er auf jede medikamentöse Behandlungsform, die bisher bei ihm angewandt worden ist, hyperallergische Reaktionen gezeigt hat. Wir sind uns ziemlich sicher, daß es sich dabei um keinen lebensbedrohlichen Zustand handelt, es sei denn, ihm wird ein Medikament oral verabreicht oder gespritzt oder auch in die Haut eingerieben. Medizinisch gesehen ist das Ganze ziemlich verwirrend.“

Stillman schüttelte den Kopf und deutete auf den Torpedo. „Und hilft Ihnen dieses Ding dabei, Ihre Verwirrung ein wenig zu verringern?“

Der Körper des Empathen zitterte schwach, als ob irgend jemand – vielleicht sogar Prilicla selbst – eine unangenehme emotionale Ausstrahlung erzeugte. Anstatt auf die Frage einzugehen, sagte er: „Freund Stillman, seitdem ich das gastfreundschaftlich gemeinte Angebot im Haus derTralthaner abgelehnt habe, spüre ich sowohl Ihren als auch den Hunger der anderen. Ich habe das schlicht und einfach nur aus dem Grund getan, weil der Nahrungssynthesizer der Rhabwar erst vor kurzem von Gurronsevas höchstpersönlich neu programmiert worden ist und ich es für eine gute Idee gehalten habe, wenn wir unseren Hunger gemeinsam auf dem Schiffstillen. Würden Sie mit uns zusammen an Bord speisen?“

„Ja, gern“, willigte Stillman sofort ein.

„Allerdings nehme ich auch ablehnende Gefühle und höchste Neugier von jemandem aus dem Team wahr. Gibt es noch ein Problem, Freund Fletcher?“

„Und ob! Das Problem steckt im Detail dieses Flugkörpers“, antwortete der Captain. „Ich würde gerne einen genaueren Blick auf den Mechanismus werfen, durch den der Kolben ausgelöst wird. Für diese im Grunde einfache Aufgabe scheint er mir nämlich unnötig kompliziert zu sein. Da ich die Konstruktion aber nicht beschädigen und nicht anrühren möchte, müßte ich Danalta hinzuziehen, damit er die dazu speziell benötigten Gliedmaßen und Finger ausstülpt, die uns ermöglichen, den Mechanismus auseinanderzunehmen und zu untersuchen. Es liegt mir wirklich fern, Ihnen zu widersprechen, Doktor, aber bei mir müßten Sie vielmehr bis zum Zerbersten gespannte Neugier spüren als irgendwelche Hungergefühle.“

Prilicla gab einen tiefen, trällernden Laut von sich, der nicht übersetzt wurde, bevor er ungeduldig antwortete: „Na schön, Sie sind beide entschuldigt. Freundin Murchison, möchten Sie sich diesen Meuterern etwa anschließen?“

Die Pathologin schüttelte den Kopf. „Ich kann hier zur Zeit sowieso nichts mehr tun. Bei der Schicht auf den Plastikglassplittern handelt es sich ja um eine synthetische Nahrungssubstanz, deren Verwendung sich für eine große Bandbreite verschiedener warmblütiger Sauerstoffatmer eignet. Es sind eine ganze Reihe unbekannter Organismen vorhanden, die zu dem ursprünglichen Inhalt des Behälters gehört haben könnten oder aber auch auf Etla heimisch sind oder eben beides. Eine vollständige Analyse ist mit dieser tragbaren Ausrüstung nicht möglich, also müssen wir sowieso damitwarten, bis wir zum Schiff zurückgekehrt sind und zu Mittag gegessen haben.“

Prilicla fing mit seinen schillernden Flügeln das Sonnenlicht ein, von denen es in allen Spektralfarben reflektiert wurde, dann flog er hoch hinauf über den Rand der Schlucht hinweg und verschwand in Richtung des Schiffs. Fletcher und Danalta blieben vor Ort, um ihre Untersuchung zu vervollständigen, und die anderen kehrten so zurück, wie sie gekommen waren.

Der Empath schien in furchtbarer Eile zu sein, dachte Hewlitt, und es war das erste Mal, daß er bei dem Cinrussker ein solch übernervöses, fast an Unhöflichkeit grenzendes Verhalten festgestellt hatte.

„Manchmal wünsche ich mir, ich könnte fliegen!“ rief Stillman Murchison mit keuchender Stimme zu, die neben ihm den Abhang hinaufkletterte. „Oder noch besser: daß ich es nicht zugelassen hätte, auf meine alten Tage so ausgeprägt dreidimensional zu werden.“ Murchison lächelte freundlich, schwieg jedoch, bis sie oben angekommen waren, und sagte dann: „Würden Sie mir bitte eine Frage beantworten, Oberstabsarzt Stillman?“

„Du meine Güte! Warum schlagen Sie plötzlich einen solch formalen und ernsten Ton an, Frau Doktor?“ reagierte der Major etwas verdutzt. „Das kann ja nur bedeuten, daß Ihre Frage ähnlich ausfallen wird. Wenn ich kann, werde ich sie natürlich trotzdem beantworten.“

„Danke.“ Murchison machte drei lange, raschelnde Schritte durch das hohe Gras und fuhr fort: „Es muß hier etwas sehr Eigenartiges während der Rebellion geschehen sein. Ich weiß zwar, daß die Informationen und Berichte aus jener Zeit nicht geheim sind, aber als ich mich über das Thema informieren wollte, mußte ich feststellen, daß das Monitorkorps sie nur anerkannten Historikern und Gelehrten zur Verfügung gestellt hat, und wie ich weiterhin herausgefunden habe, hat es keiner von denen besonders eilig gehabt, damit an die Öffentlichkeit zu treten.

Der Grund dafür war, daß der Integrationsprozeß der ehemaligen Planeten des etlanischen Imperiums in die galaktische Föderation behindert worden wäre. Hätte man nämlich die wahren Ursachen für die Rebellioninsbesondere hier auf diesem Planeten veröffentlicht, wären sie lediglich von neugierigen Journalisten für Sensationsstories ausgeschlachtet worden oder hätten, schlimmer noch, als billige Vorlagen für Drehbücher gedient, um letztendlich als verfälschte und seichte Dokumentarsendungen über die Unterhaltungskanäle zu flimmern. Wie man mir erzählt hat, leiden die Einheimischen immer noch enorm unter den von ihrem Imperator begangenen Kriegsverbrechen und sollten nicht unbedingt daran erinnert werden.

Aber um welche Verbrechen handelte es sich eigentlich dabei genau? Gehörten chemische Kriegsführung oder biologische Experimente an intelligenten Wesen etwa auch dazu? Wenn wir das wüßten, könnte uns das bei unseren Untersuchungen nämlich sehr behilflich sein. Oder ist es Ihnen etwa auch nicht gestattet, darüber zu sprechen?“

Stillman schüttelte den Kopf. „Nein, Murchison. Leuten wie Ihnen kann ich diese Informationen durchaus preisgeben, denn Sie werden sie ja nicht mißbrauchen. Dennoch teile ich sie Ihnen nur auf strikt vertraulicher Basis mit, denn der Imperator und die auserwählten Familien, die traditionsgemäß als seine Berater fungierten, waren sehr kranke, fast pervers veranlagte Leute.

Möchten Sie mir vielleicht noch eine weitere Frage stellen, Murchison?“ fügte er lächelnd hinzu. „Vielleicht eine ganz nette und harmlose – eine, die nicht so viel Zeit in Anspruch nimmt und die sich nicht um einen solch scheußlichen Teil der Geschichte dreht, daß sie einer förmlichen Antwort bedarf?“

Murchison schwieg so lange, bis sie die Rhabwar erreicht hatten, und erst als sie die Bordrampe hinaufstiegen, antwortete sie: „Ja, ich habe noch eine zweite Frage. Wissen Sie zufällig, ob Snarfe irgendwann einmal in Hewlitts Schlucht auf Entdeckungsreise gegangen ist?“

Captain Fletcher und Doktor Danalta, deren Neugier bezüglich des Flugobjektes in der Schlucht immer noch ihren Hunger übertraf, hörten Stillman per Kommunikator zu, als dieser nach dem Essen ausführlich auf Murchisons erste Frage einging. Natürlich waren die beiden genauso wieHewlitt bei dem einzigen und aufopferungsvoll geführten Schiffsgefecht des Krieges nicht dabeigewesen – bei der entscheidenden Schlacht um das Orbit Hospital.

„… aus politischen Gründen bezeichnet das Monitorkorps den etlanischen Konflikt nicht als Krieg“, berichtete Stillman weiter, während er den Gürtel des Kilts lockerte, um den Druck auf den Bauch zu entlasten, dessen Umfang sich erst vor kurzem um einiges vergrößert hatte. „Die Tatsache, daß ein fünfzig Planeten umfassendes Imperium, das irgendwo verborgen in einem bis dahin unerforschten galaktischen Sektor steckte, gegen eine völlig unvorbereitete galaktische Föderation einen nicht offiziell erklärten Krieg eröffnen konnte, hätte sich, nun ja, gelinde gesagt, destabilisierend auswirken können und mußte deshalb heruntergespielt werden.

Bis dato hatte es nur einen interstellaren Krieg gegeben, und zwar den zwischen der Erde und dem Planeten Orligia, dessen Beendigung letztlich zur Gründung der galaktischen Föderation führte. Seither gilt es als eine unumstößliche Tatsache, daß ein interstellarer Krieg aus wirtschaftlichen oder territorialen Interessen schon aus rein logistischen und ökonomischen Gründen heraus nicht durchführbar ist. Die Kosten sind schlichtweg zu hoch, und außerdem gibt es unendlich viele unbewohnte Planeten, die nur auf eine Kolonisation warten. Wenn eine kriegerische Bevölkerung oder deren Anführer wahnsinnig genug wären, allein aus blindem Haß heraus zu handeln, dann könnten sie ihren Opferplaneten durch eine Explosion vernichten oder sonstwie dafür sorgen, ihn unbewohnbar zu machen. Doch keine Kultur entwickelt Techniken, um ins Weltall zu gelangen, und noch weniger führt sie erfolgreiche interstellare Kolonisationsprojekte durch, ohne zuvor die Grundregeln der Zivilisation erlernt zu haben – wodurch man ja bekanntlich die Fähigkeit erlangt, einander zu verstehen, zusammenzuarbeiten und in Frieden miteinander zu leben. Also war es für uns selbstverständlich, daß jede neu entdeckte Spezies, die zu Interstellarreisen befähigt war, sowohl zivilisiert, als auch technisch fortgeschritten sein mußte.Dennoch mußte das Monitorkorps damals die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß es sich beim etlanischen Imperium um jene berühmte Ausnahme handelte, welche die Regel bestätigt. Bis wir uns wirklich sicher waren, wurde alles mögliche getan, um die Standorte und Positionen der Raumstationen und Planeten der Föderation vor ihnen zu verbergen und um gleichzeitig so viel wie möglich über ihre Kultur zu erfahren, doch dabei haben wir das wahre Ausmaß der Bedrohung unterschätzt. Das ist auch der Grund, weshalb das Monitorkorps, das polizeiliche Aufgaben wahrnimmt und dem Gesetz der Föderation Geltung verschafft, das aber beileibe keine militärische Einrichtung ist, dieses Ereignis lieber als einen großen Polizeieinsatz betrachtet … “

Naydrads Fell richtete sich vor Wut stachelig auf, als sie zornig fauchte: „Doktor, als sich draußen im All Hunderte mit schweren Geschützen ausgerüstete Schiffe überall um uns herum bekämpften und durch Torpedos und Granaten riesige Brocken aus der Außenwand des Hospitals herausgerissen wurden, da hatte man schon das Gefühl gehabt, daß man sich mitten in einem Krieg befand und nicht bloß Zeuge irgendeines x-beliebigen Aufruhrs war! Sind Sie eigentlich selbst dabeigewesen?“

„O ja“, seufzte Stillman nachdenklich. Unangenehme Erinnerungen schienen in ihm wach zu werden, denn er fuhr in einem ruhigen und ernsten Ton fort: „Ich bin damals Assistenzarzt auf der Vespasian gewesen, und als unser Schiff mit einem etlanischen Transporter zusammengestoßen ist, habe ich dabei geholfen, die Opfer ins Hospital zu schaffen. Als Conway, der damals noch den Rang eines Chefarztes bekleidete, sah, daß ich mir lediglich ein paar blaue Flecken zugezogen hatte, teilte er mir mit, daß sie viel zu wenig Personal hätten, um alle Verletzten versorgen zu können, und setzte mich kurzerhand auf irgendeiner ET-Station ein. Der Übersetzungscomputer des Krankenhauses war außer Funktion, und die Verständigung völlig zusammengebrochen… Nun ja, auch wenn es einem damals wirklich wie ein Krieg vorgekommen sein mochte, so ist dieser Vorfall in den Akten offiziell nur als ein Polizeieinsatz festgehalten worden, der sich gegen organisiert vorgehende, schwerbewaffnete Gesetzesbrecherrichtete.“

In der darauffolgenden Stille blickte Hewlitt von Stillman zu Murchison und dann zu Prilicla, denen man ansehen konnte, wie sehr sie auch noch in der Erinnerung unter diesem gemeinsam geteilten, schrecklichen Erlebnis litten. Zwar fühlte er sich ausgeschlossen, doch war er zum ersten Mal in seinem Leben dankbar dafür, ein Außenseiter zu sein.

Nach einem abrupten Kopfschütteln, erzählte Stillman weiter: „Die eigentlichen Probleme begannen, als einer Ihrer ehemaligen Patienten, ein hochintelligentes Wesen namens Lonvellin, etwas entdeckte, das es als ›den kranken Planeten Etla‹ bezeichnete …“

„Ich bin mit Lonvellins Fall durchaus vertraut“, unterbrach ihn Prilicla. „Er war seinerzeit Patient des damaligen Chefarztes Conway, und als Lonvellin bewußtlos war, assistierte ich bei der Messung der emotionalen Ausstrahlung… Entschuldigen Sie Freund Stillman, bitte fahren Sie fort.“

Nachdem Lonvellin damals aus dem Orbit Hospital entlassen worden war, ging er an Bord seines Raumschiffs und nahm die unterbrochene Suche nach einem Planeten wieder auf, der sich, wie es hieß, in einem bislang unerforschten Abschnitt der Kleinen Magellanschen Wolke befinden sollte und über den ihm sehr beunruhigende Gerüchte zu Ohren gekommen waren. Trotz seiner physiologischen Klassifikation EPLH, des massiven Körpers und der furchterregenden natürlichen Waffen war Lonvellin ein hochintelligentes, zwanghaft altruistisches, äußerst langlebiges und absolut unabhängiges Wesen. Es gab einem sehr deutlich zu verstehen, daß es beim Meistern unangenehmer Situationen, in die es geraten könnte, von niemandem Hilfe brauchte und wahrscheinlich auch niemals brauchen würde, denn schließlich hatte es den größten Teil seines sehr langen Lebens damit verbracht, kranke Planetenzivilisationen zu heilen.

Um so überraschender kam es deshalb für die Leute des Monitorkorps, daß Lonvellin eines Tages mit ihnen Verbindung aufnahm, um ihnen per Hyperraumfunk mitzuteilen, daß er den von ihm gesuchten Planeten endlich gefunden habe und er dringend Hilfe benötige.

Die Verhältnisse, die er auf dem betreffenden Planeten laut eigenerAussage vorgefunden hatte, grenzten sowohl in soziologischer als auch in medizinischer Hinsicht an Barbarei. Was die medizinische Seite anging, brauchte er dringend Unterstützung, bevor er die vielen gesellschaftlichen Krankheiten wirkungsvoll bekämpfen konnte, von denen dieser in jeder Hinsicht wirklich kranke Planet befallen war. Außerdem bat er, ihm einige Angehörige der physiologischen Klassifikation DBDG zu schicken, insbesondere Terrestrier, um diese als eine Art Spione einzusetzen. Die Einheimischen gehörten nämlich derselben Klassifikation an und waren allen fremdartigen Lebensformen gegenüber entsetzlich feindlich gesinnt – ein Umstand, durch den Lonvellins Aktivitäten ganz offensichtlich am meisten behindert wurden.

Lonvellins Bericht zufolge hatte er zunächst den Planeten während mehrerer Umkreisungen beobachtet, wobei er per Translator verschiedene Sender abgehört hatte. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß dieser Planet, den die Bewohner Etla nannten, früher einmal eine wohlhabende Kolonie gewesen war, die sich durch die Einwirkung vieler verschiedener Krankheiten zurückentwickelt hatte, von denen mehr als fünfundsechzig Prozent der Bevölkerung infiziert waren.

Das Vorhandensein eines kleinen und immer noch betriebsbereiten Raumflughafens bedeutete, daß ihm die erste und gewöhnlich schwierigste Aufgabe eigentlich hätte stark erleichtert werden müssen – nämlich die Einheimischen zu bewegen, einem Alien zu vertrauen, der für sie buchstäblich vom Himmel gefallen war und dessen Anblick sie möglicherweise in Angst und Schrecken versetzt hätte -, da die Bewohner Etlas offenbar darauf eingestellt waren, von außerplanetarischen Wesen Besuch zu erhalten.

Lonvellins Plan war, die Rolle eines nicht besonders aufgeweckten Wesens aus einer anderen Welt zu spielen, das angeblich wegen dringend anstehender Reparaturarbeiten zu einer Notlandung gezwungen worden war. Für die Wiederinstandsetzung seines Raumschiffs wollte er die Etlaner um verschiedene völlig absonderliche und wertlose Reparaturhilfsmittel aus Metalloder Gesteinsresten bitten und so tun, als würde es ihm ungeheuerschwerfallen, den Etlanern verständlich zu machen, was er genau benötigte. Für diesen Ramsch beabsichtigte er, ihnen dann im Austausch äußerst nützliche und wertvolle Gegenstände zu geben, mit denen die etwas findigeren Etlaner schon bald etwas würden anfangen können.

Zwar erwartete Lonvellin, während dieser Phase schamlos ausgebeutet zu werden, das war ihm aber egal, denn seiner Überzeugung nach würde sich die Lage allmählich ändern – anstatt ihnen immer wertvollere Gegenstände zu geben, wollte er ihnen seine noch wertvolleren Dienste anbieten, nämlich als Lehrer zum Beispiel. Danach hatte er vor, sie wissen zu lassen, daß die technischen Voraussetzungen auf Etla nicht ausreichend seien, um das Schiff zu reparieren, und über kurz oder lang würden sich die Einheimischen an den Dauergast gewöhnt haben. Schließlich würde alles nur noch eine Frage der Zeit sein, und davon hatte Lonvellin ja bekanntlich genug.

„…für ein solch extrem langlebiges und hochintelligentes Wesen wie Lonvellin war alles praktisch nichts anderes als ein spannendes Spiel mit variablen Regeln, das er in der Vergangenheit schon viele Male höchst erfolgreich bestritten hatte“, fuhr Stillman fort. „Das Schöne an diesem Spiel war, daß sich alle Beteiligten als Gewinner wähnen konnten; also sowohl die betroffenen Planetenbevölkerungen als auch Lonvellin, da er sich deren Dank sicher sein konnte. Bei dieser Unternehmung hatten sich die Dinge für Lonvellin jedoch in eine völlig falsche, fast fatale Richtung entwickelt. Kaum war er in der Nähe einer Kleinstadt gelandet, war er im Nu durch die notwendig gewordene massive Anwendung verschiedenster Verteidigungstechniken viel zu sehr in Anspruch genommen worden, als daß er irgend etwas anderes hätte unternehmen können…“

Ohne zu wissen, warum diese raumfahrterfahrene Spezies außerplanetarischen Wesen gegenüber derart feindlich gesinnt war, war Lonvellin in dieser Situation ein weiteres Vorgehen unmöglich, und da er zu diesem Zeitpunkt allein nicht mehr weiterwußte, bat er um terrestrische Hilfe. Aufgrund des ungewöhnlich hohen Krankheitsbefalls der Bevölkerung äußerte er außerdem den Wunsch, Chefarzt Conway, der ihneinst im Orbit Hospital behandelte hatte, als Berater mitzuschicken. Kurz darauf traf ein Monitorkreuzer mit Erstkontaktspezialisten und Conway an Bord ein, um sich zunächst einmal ein eigenes Bild von der Lage zu machen und erst dann entsprechend einzugreifen.

Schließlich entschloß sich das Monitorkorps, bei der Kontaktaufnahme mit den Etlanern zwei verschiedene Methoden gleichzeitig anzuwenden. Bei der einen Vorgehensweise rüsteten sich ein paar ausgebildete Linguisten und Ärzte nach einer unbemerkten Landung mit Translatoren aus, die sie unter einheimischer Kleidung verborgen hielten, so daß aufgrund der täuschend echt wirkenden äußerlichen Ähnlichkeit keine weitere Tarnung notwendig war. Probleme mit der Betonung oder der einheimischen Sprechweise wurden gemeistert, indem die Agenten so taten, als hätten sie einen Sprachfehler. Wenn man stotterte oder eine auf Etla durchaus übliche Krankheit im Rachen oder an der Zunge vorschützte, konnte man den Dialekt nämlich kaum identifizieren.

Bei der zweiten Methode landete die Vespasian ganz offen auf dem Raumflughafen. Die Monitore verleugneten auch nicht ihre außerplanetarische Herkunft und gaben den Etlanern per Translator zu verstehen, sie hätten von deren mißlichen Lage gehört und seien gekommen, um ihnen medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Die Etlaner hatten sich mit dieser Erklärung abgefunden und ihrerseits den Monitoren offenbart, ihnen seien in der Vergangenheit bereits immer wieder ähnliche Angebote gemacht worden, und obwohl alle zehn Jahre ein, wie sie es nannten, › Schiff des Imperiums ‹ mit den neuesten Medikamenten kommen würde, habe sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung ständig verschlechtert. Also wurde das Vorhaben der Monitore, die gesundheitliche Situation auf dem Planeten zu verbessern, zwar begrüßt, aber die Etlaner erweckten den Eindruck, als würden sie das Korps, ohne ihm die positiven Absichten absprechen zu wollen, nicht ganz ernst nehmen. Der Grund dafür war, daß nicht einmal die ständigen medizinischen Hilfsmaßnahmen des eigenen Imperiums, das immerhin fast fünfzig Planeten umfaßte, etwas bewirkt hatten.Bei der Mehrheit der Etlaner handelte es sich um durchaus freundliche, vertrauensvolle Wesen, die, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, bereitwillig über sich und das Imperium Auskunft gaben. Natürlich verhielten sich die Kontaktspezialisten des Korps ebenfalls sehr freundlich, waren aber in ihren Äußerungen zurückhaltender.

Sobald sich das Gespräch aus irgendeinem Anlaß um das so fremdartig und furchterregend aussehende Wesen namens Lonvellin drehte, gaben sich die Monitore völlig ahnungslos und äußerten sich dazu stets nur in höchst gemäßigtem Ton.

Doch die bei weitem wichtigsten Informationen stammten von den Agenten. Diese fanden nämlich schon sehr bald heraus, daß die Etlaner Angst vor Lonvellin hatten, weil man ihnen beigebracht hatte, daß alle außerplanetarischen Wesen Krankheiten übertrügen. Die erste medizinische Lektion, die sämtliche raumreisende Zivilisationen lernen, nämlich daß die Lebensformen des Planeten X nicht von den Krankheitserregern des Planeten Y befallen werden und sich verschiedenartige Spezies generell mit ihren Krankheiten gegenseitig nicht anstecken können, war ihnen also vorenthalten worden.

Und das mit voller Absicht!

„Zumindest war ihre ungeheure und kaum zu bremsende Angst, sich neue Infektionen zuzuziehen, durchaus verständlich, weil Etla ein wirklich furchtbar kranker Planet war“, fuhr Stillman fort. „Damals war Etla eine Kolonie in der siebzehnten Generation, die zwar weiträumig, aber nur dünn besiedelt war und in der seit etwa hundert Jahren Krankheiten grassierten. Zu jener Zeit waren sage und schreibe gut fünfundsechzig Prozent der Frauen, Männer und Kinder von verschiedensten Krankheiten befallen; zumeist handelte es sich um entstellende Leiden oder Gebrechen, die bei den Etlanern Verkrüppelungen oder Mißbildungen hervorriefen, wenngleich sie nur selten lebensbedrohlich waren. Viele der ansteckenden Krankheiten hätten durch die Einrichtung von Isolierstationen und die Verabreichung einfacher Medikamente ausgemerzt werden können, doch bewegte sich der Stand der Medizin auf niedrigstem Niveau, und es gab auch keinerleiForschungseinrichtungen, weil das Imperium sämtliche Aufgaben der Gesundheitsfürsorge für die Etlaner längst übernommen hatte.

Vom medizinischen Standpunkt aus war diese Situation für uns natürlich untragbar, zumal sämtliche Krankheiten, die wir bis dato gesehen hatten, heilbar waren“, setzte Stillman seine Ausführungen fort. „Hätten wir den Planeten zum Katastrophengebiet erklärt, um massive medizinische Hilfe leisten zu können, wäre das Problem binnen weniger Jahre gelöst gewesen, doch die Erstkontaktsituation war äußerst kompliziert. Die Etlaner sind durchaus stolze und selbstbewußte Wesen und verhielten sich damals gegenüber dem Imperator, der auf dem Hauptplaneten Imperial-Etla lebte, völlig loyal und waren ihm und all den anderen Bewohnern des etlanischen Reiches für deren anhaltende Hilfe dankbar. Von Fremden geleistete medizinische Unterstützung wäre unter den gegebenen Umständen von der Bevölkerung als demütigend empfunden worden und hätte von dem offiziellen Repräsentanten des Imperiums und der von ihm befehligten militärischen Streitmacht auf diesem Planeten als eine feindliche Invasion aus dem All mißverstanden werden können… “

Um gegenüber der etlanischen Regierung die guten Absichten der galaktischen Föderation zu beteuern und um herauszufinden, weshalb das Imperium seinen kranken Planeten nur so spärlich und in so großen, wenn auch regelmäßigen Abständen mit medizinischen Hilfsgütern versorgte, wurde ein Monitorschiff mit einem medizinischen Offizier an Bord zum Zentralplaneten geschickt; möglicherweise war den Behörden aufgrund der großen Entfernung das Ausmaß der Notlage der darniederliegenden Kolonie nicht bewußt. Als das unbewaffnete Kurierschiff auf dem Raumflughafen der Hauptstadt nach vorheriger Anmeldung und ohne jede Geheimniskrämerei landete, wurde es sofort von Truppen der imperialen Streitkräfte umstellt.

Die offizielle Begründung für diesen offensichtlich feindseligen Akt lautete, daß man fremdenfeindliche Ausschreitungen von Teilen der einheimischen Bevölkerung befürchte und die Sicherheit der Gäste höchste Priorität genieße. Deshalb sollte auch die Schiffsbesatzung mit Ausnahmedes medizinischen Offiziers an Bord bleiben und jeden Kommunikationsversuch unterlassen, bis die Behörden die psychologischen Barrieren bei einigen der weniger aufgeschlossenen Bürger durchbrochen hätten.

Der Monitorarzt wurde von den Regierungsberatern herzlich willkommen geheißen und sowohl auf gründliche wie auch auf freundliche Art und Weise über sämtliche Aspekte der Föderation befragt, während ihm gleichzeitig Ehren zuteil wurden, wie sie normalerweise nur Regierungschefs bei offiziellen Staatsbesuchen vorbehalten waren. Unterdessen hatte man auf dem Kurierschiff mittels Sensorenmessungen einige äußerst beunruhigende Informationen eingesammelt, die sich in erster Linie um das drehten, was die Sendeanstalten auf Imperial-Etla ganz offen als › Seuchen-Etla‹ bezeichneten. Außerdem stießen die an Bord befindlichen politischen Analytiker des Monitorkorps bei ihren Untersuchungen auf etliche Ungereimtheiten bezüglich der Finanzgebaren sowie der behördlichen Strukturen des etlanischen Imperiums.

Als erstes entdeckten sie, daß der Seuchenplanet, auch wenn er als Reiseziel ganz bestimmt nicht mehr in Betracht kam, längst nicht in Vergessenheit geraten war. So waren an jeder Kreuzung und in regelmäßigen Abständen auch an jeder Landstraße riesige Plakatwände angebracht, auf denen in drastischer und häufig erschreckender Weise auf die entsetzliche Not der Mitbürger auf dem verseuchten Planeten hingewiesen wurde, um so zu Spenden für die Linderung des Leids aufzurufen. Auf sämtlichen Fernsehsendern wurden fortwährend Spendenaufrufe ausgestrahlt, und von den Bewerbern um ein politisches Mandat wurde jede Gelegenheit genutzt, diesen Appell zu wiederholen. Es handelte sich um die am meisten geförderte und populärste Wohlfahrtseinrichtung, und das nicht nur auf Imperial-Etla, sondern auch auf allen anderen Planeten des Imperiums, so daß unaufhörlich und reichlich Spenden flossen.

Deshalb konnte man unmöglich glauben, daß all diese gesammelten Gelder lediglich dazu ausreichen sollten, alle zehn Jahre ein einziges Schiffmit medizinischen Hilfsgütern auf den Weg zu schicken.

Wie dem Monitorkorps bereits bekannt war, wurde die Ladung nach der Ankunft des Schiffs stets sofort gelöscht. Gleich darauf trat man den Rückflug an, weil die Besatzung keine Sekunde länger als unbedingt nötig auf dem Seuchenplaneten bleiben wollte. Anschließend wurde die komplette Fracht zu einem riesigen Anwesen transportiert, das weiträumig von schwerbewaffneten Elitetruppen bewacht wurde. Auf dieser parkähnlichen Anlage befanden sich zahlreiche Kasernen und ein Palast, der von einem gewissen Teltrenn, dem offiziellen Vertreter des Imperiums, bewohnt wurde. Vor den unbewaffneten Kolonisten, die für den Stützpunkt Lebensmittel liefern und rangniedriges Dienstpersonal stellen mußten, wurde diese militärische Präsenz mit einer möglichen Bedrohung aus dem All gerechtfertigt. In Abständen von mehreren Monaten – offenbar bestand kein großer Handlungsbedarf – reiste Teltrenn in die entferntesten Gegenden des Planeten, um die Medikamente höchstpersönlich zu übergeben und vom neuesten Stand der Forschung auf Imperial-Etla sowie von den unablässigen Bemühungen der ortsansässigen Behörden und Institutionen zu berichten.

Natürlich wäre alles sehr viel schneller und wirkungsvoller vonstatten gegangen, wenn man sämtliche medizinischen Institutionen und Ärzte mit dem neuen Material gleichzeitig beliefert hätte, doch bestand Teltrenn auf der persönlichen Übergabe, um den Betroffenen auf diese Weise sowohl seine eigene Betroffenheit kundzutun, als auch die besten Genesungswünsche des glorreichen Imperators zu übermitteln.

Diese mangelnde Einsatzbereitschaft ließ schließlich bei Conway und den anderen Korpsärzten, die bei ihren Forschungen die verschiedenen Seuchenüberträger der letzten Jahrzehnte genau untersucht hatten, einen schrecklichen Verdacht aufkommen. Sie fanden nämlich heraus, daß viele der früheren Seuchen so gut wie ausgerottet waren, weil die Erkrankten und deren Familien im Laufe der Zeit wahrscheinlich eine natürliche Widerstandskraft gegen die Erreger entwickelt hatten. Doch kaum war eine alte Krankheit verschwunden, wurde sie unweigerlich durch eine neueersetzt, die normalerweise von optisch abstoßenden Hautausschlägen, einer Deformierung der Gliedmaßen und einer Art Schüttellähmung begleitet wurde. Dennoch verliefen die meisten Krankheiten gegen jede medizinische Logik nur selten tödlich.

All das ließ nur den einen unglaublichen und beängstigenden Schluß zu, daß Teltrenn, der allseits beliebte und hochgeschätzte Vertreter des Imperiums, ganz bewußt und systematisch für die Ausbreitung von Krankheiten sorgte, anstatt sie zu bekämpfen – und der einzige Grund dafür war Geldgier.

21. Kapitel

Die von einer armen, aber mitfühlenden Bevölkerung als Antwort auf entsprechend veröffentlichte Katastrophenmeldungen und Aufrufe gespendeten Gelder summierten sich zu einem beachtlichen Betrag, zumal die Bürger des etlanischen Imperiums großzügige und mitfühlende Menschen waren, die fortwährend an die schreckliche Notlage ihrer Brüder und Schwestern auf dem Seuchenplaneten erinnert wurden. Dieser kontinuierliche Spendenfluß der Gesamtbevölkerung von fast fünfzig bewohnten Planeten übertraf sämtliche Erwartungen, und da sich nur alle zehn Jahre ein einziges Schiff mit Hilfsgütern auf den Weg machte, lag es auf der Hand, daß nur ein Bruchteil des Geldes wirklich denen zugute kam, für die es ursprünglich vorgesehen war. Statt dessen wurden diese Spenden als eine Art indirekte Steuer betrachtet und flossen zum Nutzen des Imperators und der ihn unterstützenden Familienclans fast komplett in die Staatskasse.

Diese Situation konnte von der Föderation nicht länger toleriert werden, und als man sowohl auf Imperial-Etla als auch auf Seuchen-Etla direkte Fragen nach dem Verbleib der Spendengelder stellte, gerieten Teltrenn und dessen oberster Dienstherr in Panik. Um nicht durch den Einsatz von Atomwaffen die eigenen Raumhäfen zu zerstören, wurden von den imperialen Streitkräften mit herkömmlichen Sprengköpfen bestückte Raketen auf die Schiffe des Monitorkorps gerichtet, die daraufhin mit ausgefahrenem Meteoritenschild den Rückzug antraten.

Von dem Monitorarzt, der Imperial-Etla besucht hatte, hat man nie wieder etwas gehört.

Das Korpspersonal auf dem Seuchenplaneten war von dem auf Imperial-Etla stationierten Schiff vorgewarnt worden, so daß es sich rechtzeitig zurückziehen konnte, noch bevor Lonvellin, der sich innerhalb des Schutzschilds seines eigenen Schiffs sicher wähnte, in einem nuklearen Feuerball den Tod fand.Natürlich konnte es der Imperator nicht zulassen, daß die etlanischen Bürger die Wahrheit über seine niederträchtigen Handlungen erfuhren. Deshalb beschuldigte er nun die Föderation, einzig und allein für die Zustände auf dem Seuchenplaneten verantwortlich zu sein, und klagte sie genau jener Verbrechen an, die er selbst seit über einem Jahrhundert an der Bevölkerung begangen hatte. Er behauptete sogar, von einem der Monitore erfahren zu haben, daß die Angehörigen des Korps, die man auf den etlanischen Planeten zu Gesicht bekommen habe, etlanischen Wesen zwar ungeheuer ähnlich sähen, doch daß sich die Mehrheit der galaktischen Föderation aus häßlichen und sadistischen Monstern zusammensetze, die aufgrund ihrer enormen Intelligenz nur um so furchterregender seien. Zum ersten Mal in seiner langen Geschichte sei das Fortbestehen des etlanischen Imperiums durch das Auftauchen der fremden Wesen aus dem All bedroht, und die einzige Verteidigung sei ein mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geführter Angriffskrieg. Die imperialen Propagandisten und der den Etlanern seit frühester Kindheit eingeimpfte Fremdenhaß taten den Rest, so daß schon bald eine riesige Kriegsflotte zusammengezogen wurde.

„…aber wir sind auch nicht auf den Kopf gefallen, und solange wir Fremdweltler nicht genauer kennengelernt haben, vertrauen wir ihnen nicht“, fuhr Stillman fort. „Erst wenn wir uns vergewissert haben, daß es sich bei ihnen um friedliebende Wesen handelt, verraten wir ihnen unsere genaue Herkunft. Sowohl auf Imperial-Etla als auch hier auf dem ehemaligen Seuchenplaneten durfte niemand, der die Koordinaten irgendwelcher Planeten der Föderation kannte, mit einem Etlaner in Kontakt treten. Das ist bei Erstkontaktsituationen bis heute oberstes Gebot. Doch jeder raumreisende Korpsarzt kennt zumindest die Koordinaten des Orbit Hospitals, und ein solcher war den Schergen des Imperators ja bekanntermaßen in die Hände gefallen.

Deshalb griff die etlanische Kriegsflotte kurz darauf das Hospital an, und zwar mit dem Ziel, es zu erobern, anstatt es zu zerstören, weil man hoffte, auf diese Weise an weitere Informationen zu gelangen. Aus unserer Sicht mußten dem Imperator diese Informationen natürlich so lange wie möglichvorenthalten werden, und deshalb wurden sämtliche Patienten und Mitarbeiter des Orbit Hospitals, die auch nur im geringsten Maße über astronavigatorisches Wissen verfügten, evakuiert, so daß nur einige hundert Freiwillige zurückblieben…“

Daß die Verwundeten von beiden Seiten trotz des Personalmangels im Hospital behandelt werden mußten, stand außer Frage, zumal es unmöglich war, zwischen terrestrischen und etlanischen Verwundeten Unterschiede auszumachen und sich die Ärzte sowieso weigerten, sich nach der Herkunft der Opfer zu erkundigen. Schon bald waren sämtliche Stationen und Korridore, die noch nicht zerstört und oder die wenigstens einigermaßen in Takt geblieben waren, mit Verwundeten überfüllt, so daß sich die auf dem Weg der Genesung befindlichen etlanischen Patienten damit abfinden mußten, direkt neben aus ihrer Sicht optisch furchterregenden Monstern zu liegen oder gar von Aliens medizinisch versorgt zu werden. Die Patienten der galaktischen Föderation hingegen führten den Kampf mit der einzigen Waffe fort, die ihnen geblieben war, nämlich mit den Mitteln der Sprache. Es war ein erbittert geführter, unblutiger Kampf, in dem die Etlaner die Wahrheit über die Vorkommnisse auf ihrem Seuchenplaneten erfuhren. Dies führte letztendlich dazu, daß die ranghöchsten Patienten beider Seiten den draußen tobenden Feindseligkeiten ein Ende bereiten konnten.

Daraufhin reformierte sich die etlanische Kriegsflotte und verließ den galaktischen Sektor zwölf, um jeden einzelnen Planeten des Imperiums aufzusuchen und dort die neu erfahrenen Wahrheiten zu verbreiten. Man bot den Planetenbevölkerungen des etlanischen Reiches die Hilfe der Kriegsflotte an, um den Imperator mitsamt seinen Lakaien und Privatarmeen zu entmachten.

„Dieser Aufstand entwickelte sich zur größten und ausgedehntesten Rebellion in der Geschichte“, fuhr Stillman fort. „Aber auch wenn die Etlaner außer sich vor Zorn waren, so hatten sie sich doch ihren Stolz bewahrt. Deshalb sagten sie uns, daß es sich um einen internen Familienzwist handle und wir uns, mit einer Ausnahme, von sämtlichen Planeten mit dem Namen Etla fernhalten sollten, bis sie die Angelegenheitselbst geklärt hätten. Und in dieser Gegend hier begann der Krieg, und hier fand er auch sein Ende. Der eigentliche Auftakt war, als Teltrenn auf Lonvellins Schiff eine Nuklearrakete abschießen ließ. Da hinten, etwa fünfzehn Kilometer westlich von hier, ist übrigens noch der Krater zu sehen. Das Ende kam, als die Bewohner zusammen mit einigen übergelaufenen Soldaten gepanzerte Fahrzeuge erobern konnten, um die entscheidende Schlacht gegen Teltrenns Armee zu schlagen. Aber die Etlaner schämen sich noch immer ein bißchen ihrer Vergangenheit und auch darüber, so gehandelt zu haben, obwohl sie alle Gründe dazu gehabt hatten. Deshalb möchte Shech-Rar auch nicht, daß Sie während Ihrer Untersuchungen überall wahllos herumstöbern und womöglich versehentlich auf den äußerst empfindlichen Gefühlen anderer herumtrampeln.“

Stillman musterte eins von Priliclas zierlichen Beinen, das nur wenige Zentimeter über seinem Kopf schwebte, und fügte grinsend hinzu: „Allerdings glaube ich kaum, daß sich der Colonel diesbezüglich irgendwelche Sorgen machen muß.“

„Das denke ich auch, Freund Stillman“, pflichtete ihm der Empath trocken bei.

Der Monitoroffizier seufzte zufrieden und fuhr fort: „Bevor der etlanische Flottenkommandant damals das Orbit Hospital verließ, der übrigens zuvor die Segnungen der in der Föderation angewandten medizinischen Kunst am eigenen Leibe erfahren durfte, bat er uns, zum Seuchenplaneten zurückzukehren und die durch den Krieg unterbrochene Arbeit wiederaufzunehmen. Nun, das haben wir dann auch getan, und wie Sie ja bereits selbst sehen konnten, sind zusammen mit der Xenophobie auch alle anderen Krankheiten ausgemerzt worden, die von dem ehemaligen Imperator importiert wurden. Etla ist heute längst kein kranker Planet mehr.“ Ein langes Schweigen trat ein, das erst durch Murchison unterbrochen wurde, als sie sagte: „Ich finde Happy-Ends genauso schön wie Sie, und ich möchte Ihnen Ihres keineswegs verderben, aber wie sicher sind Sie sich, daß diese Gegend hier wirklich sauber ist? Auch wenn die gegenseitige Ansteckung verschiedener Speziesangehöriger für unmöglichgehalten wird, wäre es nicht trotzdem möglich, daß sich bei derart vielen künstlich verbreiteten Krankheiten eine davon so weit entwickelt hat oder so weit mutiert ist, daß sie die planetare Speziesbarriere überwinden konnte? Oder nehmen wir mal an, daß Teltrenn vor lauter Wut oder Angst oder auch nur aus purer Boshaftigkeit heraus eine biologische Waffe gegen seine einst loyalen und gefügigen Schützlinge eingesetzt hat. Die Bombe funktionierte nicht richtig und konnte erst einmal keinen Schaden anrichten, bis Hewlitt als Kind mit ihrem Inhalt in Kontakt gekommen ist und sich dabei infiziert haben könnte … “

Die Pathologin hielt inne, weil sie das Summen des eingeschalteten Lautsprechers hörte. Dann ertönte das Geräusch eines sich räuspernden Terrestriers und schließlich die Stimme von Captain Fletcher.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich habe die Untersuchung der chemischen Bombe abgeschlossen, und ich denke, daß Sie allesamt auf der falschen Fährte sind. Die Rakete besitzt zwar viele Merkmale einer biologischen Waffe, aber unsere Rekonstruktion des ursprünglichen Kurses, der in das durch die unmittelbare Nähe einer Kernexplosion beschädigte Leitsystem einprogrammiert war, deutet darauf hin, daß das eigentliche Ziel etwa einhundert Kilometer nordwestlich von hier entfernt lag. Dort befindet sich ein gebirgiges und dicht bewaldetes, unbewohntes Gebiet. Nach meinem Dafürhalten wäre es doch ziemlich merkwürdig, über einer solchen Gegend eine biologische Bombe abwerfen zu wollen. Darüber hinaus handelt es sich bei dem vermeintlichen Geschoß um kein etlanisches Produkt, sondern um einen technisch zwar leicht modifizierten, doch ansonsten auch in der Föderation benutzten Flugkörper.

Es gibt aber noch mehr zu berichten“, fuhr er rasch fort, um den Fragen der anderen vorzukommen. „Die Nutzlast befand sich nämlich in einem dünnwandigen Plastikbehälter, der zwar der relativ leichten Erschütterung einer Fallschirmlandung standhalten konnte, aber niemals dem Aufprall und kontinuierlichen Druck eines schweren Gegenstands. Pathologin Murchison hat ja bereits erwähnt, daß die Innenflächen der von uns gefundenen Bruchstücke des Behälters mit Nährstoffen bedeckt sind. MeineUntersuchung der Form, Größe und Lage dieser Splitter läßt auf den Einschlag eines großen Objekts schließen, das eher runde Formen hat und ganz bestimmt nicht scharfkantig wie Felsgestein oder irgendwelche Trümmer ist. Das Aufprallgewicht entspricht ungefähr der Körpermasse eines Kleinkindes, das von einem hohen Baum fällt.“

Plötzlich herrschte absolutes Schweigen, und alle starrten wie gebannt den Wandlautsprecher an. Das einzige, was sich auf dem Unfalldeck bewegte, war Naydrads Fel

Fletcher räusperte sich erneut und berichtete weiter: „Ein weiteres interessantes Faktum ist, daß es sich bei dem Auslösemechanismus, der den Nutzlastbehälter hätte öffnen sollen, um eine sehr präzise Atomuhr handelt – eingestellt auf einen Zeitpunkt in etwas über einhundert Jahren.“

Zwar begriff Hewlitt nicht sämtliche Zusammenhänge von dem, was der Captain gerade gesagt hatte, doch eins stand nun fest: Nachdem er ein Leben lang irrtümlicherweise als ein mit einer übersteigerten Phantasie ausgestatteter Hypochonder angesehen worden war, konnte er die Aussagen Fletchers in diesem Augenblick unmöglich unkommentiert lassen.

„Jetzt müssen Sie mir endlich glauben!“ stieß er voller Inbrunst hervor und mußte dann unwillkürlich lachen. „Ich weiß selbst nicht, was ich daran so komisch finde, aber mir ist als Kind hier irgend etwas zugestoßen, und bis heute hat mir nie jemand… “

Er hielt abrupt inne, weil Prilicla plötzlich auf das Deck hinabgestürzt war und am ganzen Körper zitterte, woraufhin Murchison jeden der Reihe nach vorwurfsvoll anblickte. Schon lange war Hewlitt aufgefallen, daß die Pathologin des öfteren ein Verhalten an den Tag legte, das Naydrad auch als › mütterliches Gehabe ‹ bezeichnete, sobald die unbedachte emotionale Ausstrahlung von jemandem ihren Vorgesetzten aus der Fassung zu bringen drohte.

„Wer auch immer dafür verantwortlich ist, halten Sie gefälligst Ihre Gefühle unter Kontrolle!“ brüllte sie die anderen an. Priliclas Zittern ließ allmählich nach. „Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal,Freundin Murchison, ich habe nämlich selbst die emotionale Kontrolle verloren. Ich habe gerade über Lonvellin und über Freund Hewlitts herausgefallene Milchzähne nachgedacht und komme mir nun furchtbar töricht vor. Doch von nun an benutze ich hoffentlich wieder meinen Verstand. Freund Fletcher?“

„Ja, Doktor“, antwortete der Captain.

„Wir müssen sofort zum Orbit Hospital zurückkehren“, ordnete der Empath in knappen Worten an. „Maschinenraum, alles startklar machen, damit wir abheben können, sobald der Captain und Danalta wieder an Bord sind. Kommandozentrale, setzen Sie das Krankenhaus über eine mögliche speziesüberschreitende Infektion in Kenntnis, die eine große Anzahl unbestimmter allergischer Reaktionen hervorruft und die von den Patienten Hewlitt und Morredeth ausgeht. Diese Patienten bedürfen dringend weiterer Untersuchungen. Geben Sie die Anweisung, daß sämtliche medizinischen Mitarbeiter oder Patienten, die mit Hewlitt oder Morredeth Körperkontakt hatten, unter Quarantäne zu stellen sind, indem sie ständig leichte Ganzkörperschutzhüllen tragen. Sollten beim besagten Personal durch kleinere Verletzungen oder Arbeitsstress Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Gliederschmerzen auftreten, dann dürfen sie auf keinen Fall Beruhigungs- oder Schmerzmittel einnehmen, und den betroffenen Patienten dürfen selbstverständlich auch keinerlei Medikamente verabreicht werden. Weitere Anweisungen folgen, sobald Patient Hewlitts Testergebnisse zur Verfügung stehen.“ Nachdem er diese Anweisungen erteilt hatte, wandte sich der Empath an Doktor Stillman. „Während Sie sich noch auf dem Rückweg von der Schlucht hierher befanden, habe ich für Sie das aufgezeichnete Protokoll unseres Diagnostikertreffens überspielt, das vor unserem Abflug im Orbit Hospital stattgefunden hat. Die Passagen, die für unseren Auftrag hier auf Etla irrelevant waren, habe ich herausgeschnitten. Dieses Band wird Ihnen viele der Fragen beantworten, denen wir bis jetzt ausgewichen sind. Colonel Shech-Rar und Sie sollten nach Begutachtung des Bandes so handeln, wie sie es angesichts dieser Informationen für angemessen halten. Da aber Ihres Wissens nach seit überzwanzig Jahren bei keinem Bewohner Etlas ähnliche Symptome wie bei Hewlitt aufgetreten sind, besteht auch höchstwahrscheinlich keine Gefahr mehr. Gegenwärtig gibt es für uns auf Etla nichts mehr zu tun, und wir müssen unverzüglich aufbrechen.“

An die Oberschwester gewandt, fuhr Prilicla fort: „Freundin Naydrad, wir haben einen Hyperraumflug von vier Tagen zum Orbit Hospital vor uns. Die Zeit sollte für uns ausreichen, um eine umfassende medizinische Untersuchung durchzuführen und die Reaktionen auf die gesamte Palette gegenwärtig eingesetzter DBDG-Medikamente zu testen. Dazu gehören auch jene Medikamente, mit denen Patient Hewlitt bereits behandelt worden ist, die jedoch abgesetzt worden sind, weil sie bei ihm allergische Reaktionen hervorgerufen haben. Stellen Sie für den Notfall drei Überwachungskameras auf und …“

„Aber ich verstehe das alles nicht!“ protestierte Stillman mit erhobener Stimme über die dröhnenden Maschinengeräusche des Schiffs hinweg, das kurz vor der Abreise stand. „Als Lonvellin damals in seinem Schiff verdampft ist, war Hewlitt doch noch nicht einmal geboren!“

„Sie sollten jetzt das Schiff lieber auf der Stelle verlassen, Freund Stillman!“ ermahnte ihn Prilicla ungeduldig, als er die Schritte von Fletcher und Danalta hörte, die gerade die Bordrampe heraufstiegen. „Es sei denn, Sie wollen dem Orbit Hospital unbedingt einen außerplanmäßigen Besuch abstatten. Für Erklärungen bleibt mir jetzt keine Zeit, aber ich werde Ihnen und dem Colonel unsere Untersuchungsergebnisse zu gegebener Zeit zukommen lassen. Entschuldigen Sie bitte mein etwas unhöfliches Verhalten. Tausend Dank für Ihre Zusammenarbeit und auf Wiedersehen.“

Hewlitt wartete ungeduldig, bis der Monitoroffizier durch die Besatzungsschleuse verschwunden war, und rief dann mit wutentbrannter Stimme: „Verdammt noch mal! Ich weiß auch nicht, was hier gespielt wird! Warum wollen Sie dieselben Medikamente noch einmal an mir austesten, obwohl Sie wissen, daß ich daran vor kurzem fast zugrunde gegangen wäre?“

„Jetzt reißen Sie sich mal zusammen, Freund Hewlitt!“ erwiderte derzitternde Prilicla in ungewohnt scharfem Ton. „Ich denke nicht, daß Sie dabei ein ernsthaftes Risiko eingehen. Bitte gehen Sie jetzt ins Bett. Und Sie bleiben darin liegen, bis ich Ihnen erlaube, es wieder zu verlassen. Solange wir hier unsere Vorstellungen über die künftige Vorgehensweise diskutieren, wird um Ihr Bett herum ein schalldichtes Feld errichtet, damit sie sich keine unnötigen Sorgen zu machen brauchen.“

22. Kapitel

Hewlitt ließ den flimmernd grauen Hyperraum außerhalb des Sichtfensters nicht aus den Augen und wartete darauf, daß etwas Verhängnisvolles mit ihm passieren würde. Die anderen blickte er lieber nicht an, denn sie beobachteten ihn und warteten auf das Eintreten desselben Ereignisses wie er, während sie ihn anlächelten oder auf andere Weise Ermutigung auszustrahlen versuchten. Die Menge der Überwachungsgeräte, von denen er umgeben war, und die Anzahl der Sensoren, die an seinem Körper hafteten, waren nämlich alles andere als ermutigend.

„Sie haben mir doch selbst gesagt, ich solle nie wieder irgendwelche Medikamente bekommen!“ protestierte Hewlitt, als Murchison erneut eine Spritze auf seinen Oberarm richtete und ihm völlig schmerzfrei eine weitere Dosis verabreichte. „Jetzt scheinen Sie ja alles, was Sie auf Lager haben, an mir ausprobieren zu wollen. Verflucht noch mal, was soll das?“

Die Pathologin musterte ihn eine ganze Weile mit kritischem Blick, dann erst antwortete sie: „Wir haben unsere Meinung eben geändert. So, und wie fühlen Sie sich jetzt?“

„Soweit ganz in Ordnung“, gab sich Hewlitt geschlagen. „Ich merke kaum eine Veränderung, abgesehen davon, daß ich etwas schläfrig bin. Wie sollte ich mich denn ihrer Ansicht nach fühlen?“

„Nun, soweit ganz in Ordnung und ein bißchen schläfrig eben“, erwiderte Murchison lächelnd. „Ich habe Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben. Es soll Ihnen helfen, sich ein wenig zu entspannen.“

„Sie wissen doch, was passiert ist, als Chefarzt Medalont versucht hat, mir ein Beruhigungsmittel zu geben“, wandte Hewlitt ein.

„Natürlich weiß ich das“, antwortete Murchison. „Aber wir haben speziell dieses und auch einige andere Medikamente an Ihnen in minimalen Dosen getestet, ohne irgendwelche Anzeichen einer hyperallergischen Reaktion feststellen zu können, wie es sonst der Fall war. Ich probiere jetztmal ein völlig neues Mittel aus, das den Ärzten auf der Erde noch nicht zur Verfügung stand. Spüren Sie schon etwas?“

Hewlitt spürte lediglich den Luftzug von Priliclas Flügeln auf Gesicht und Brust, als der kleine Empath näher herangeflogen kam, aber ihm war klar, daß diese Sinnesempfindung für die Pathologin nicht von Interesse war.

„Immer noch nichts“, antwortete er, doch dann korrigierte er sich rasch: „Nein, Moment mal! Die ganze Gegend wird taub. Was passiert da?“

„Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müßten“, beruhigte ihn die Pathologin mit einem Lächeln. „Dieses Mal teste ich an Ihnen ein Lokalanästhetikum. Den Sensoren zufolge sind Ihre Lebenszeichen optimal. Aber bemerken Sie vielleicht irgendwelche anderen Symptome? Einen leichten Juckreiz auf der Haut, ein allgemeines Unwohlsein oder andere, möglicherweise rein subjektive Empfindungen, die Ihrem Unterbewußtsein eine Art Frühwarnung vor auftretenden Beschwerden signalisieren?“

„Nein“, erwiderte Hewlitt.

Prilicla gab ein leises Trällern von sich, das nicht übersetzt wurde, dann sagte er: „Der Patient verhält sich sehr höflich, weil er mit aller Kraft versucht, seine heftigen Gefühle von Neugier, Sorge, Verwirrung und Wut im Zaum zu halten. Vielleicht würde die Befriedigung der Neugier die Intensität der anderen drei Gefühlsregungen auf ein erträgliches Maß abschwächen. Falls Sie also Fragen haben, Freund Hewlitt, dann kann ich Sie Ihnen jetzt gern beantworten.“

Aber sicherlich nicht alle, dachte Hewlitt, doch bevor er etwas sagen konnte, kam ihm Murchison zuvor.

„Sie wissen ganz genau, daß wir alle Fragen an Sie haben, Doktor Prilicla“, sagte sie, wobei sie Danalta und Naydrad und dann wieder Prilicla anblickte. „Warum veranstalten Sie eigentlich diesen ganzen Wirbel um einen ehemaligen Patienten, der bereits vor einem Vierteljahrhundert gestorben ist? Wozu haben Sie Vorsichtsmaßnahmen vor einer speziesübergreifenden Infektion angeordnet, obwohl wir wissen, daß so etwas unmöglich ist? Warum diese überstürzte Rückkehr zum OrbitHospital, und wozu soll diese Testreihe dienen, die Sie für Patient Hewlitt angeordnet haben?“

„Genau das wären auch meine Fragen gewesen“, bemerkte Hewlitt trocken.

Prilicla trudelte auf das Deck herab – vielleicht bereitete er sich so auf eine Woge emotionaler Ausstrahlungen vor, die ihm das Fliegen erschweren würden, und antwortete dann: „Nun, beim Krankheitsverlauf der Patienten Lonvellin und Hewlitt gibt es gewisse Parallelen, insbesondere was die anfängliche negative Reaktion und nachfolgende Akzeptanz auf die medikamentöse Behandlung betrifft. Natürlich ist es durchaus möglich, daß ich falsch liege und die Ähnlichkeiten rein zufällig sind, aber so oder so muß ich Bescheid wissen, bevor wir das Krankenhaus erreichen. Freund Hewlitt steht für Untersuchungen zur Verfügung, aber Lonvellin bedauerlicherweise nicht.“

Murchison schüttelte den Kopf. „Vielleicht nicht persönlich, aber wenn Sie einen direkten Vergleich brauchen, warum rufen Sie dann nicht einfach seine aufgezeichnete Krankenakte ab?“

„Im Verlauf der etlanischen Bombardierung wurde der Zentralcomputer des Orbit Hospitals zusammen mit dem kompletten Übersetzungscomputersystem für sämtliche ET-Sprachen zerstört, wobei auch Lonvellins Aufzeichnungen zunichte gemacht wurden, so daß … “

„An den Totalausfall des Zentralcomputers kann ich mich auch noch erinnern“, seufzte Murchison mit einer Stimme, die darauf schließen ließ, daß es sich dabei um ein äußerst unangenehmes Erlebnis gehandelt haben mußte. „An einen Patienten namens Lonvellin hingegen überhaupt nicht.“

„…so daß alles, was wir über seinen Fall noch wissen, allenfalls die schwachen Erinnerungen der Diagnostiker Conway und Thornnastor und auch von mir sind“, fuhr Prilicla fort. „Schließlich haben wir drei direkt mit seiner Behandlung zu tun gehabt. Da er als geheilt entlassen wurde und sein nachfolgender Tod in keinerlei Zusammenhang mit seiner Behandlung im Orbit Hospital stand, haben wir damals auch keinen Anlaß gesehen, seine Krankengeschichte erneut aufzuzeichnen. Außerdem brauchen Sie sichkeinen Vorwurf zu machen, daß Sie sich nicht an Lonvellin erinnern können, Freundin Murchison. Zu der Zeit sind Sie erst im letzten Ausbildungsjahr gewesen und noch längst keine Pathologieexpertin. Außerdem hatten Sie noch keine Ahnung, daß Sie die Lebensgefährtin des damaligen Chefarztes Conway werden würden, obwohl ich mich noch sehr gut an Ihre emotionale Ausstrahlung erinnern kann, wenn Sie beide aufgrund des Dienstplans zusammen in einem Raum arbeiten mußten und…“

„Unsere emotionale Ausstrahlung ist damals sicherlich unser Berufsgeheimnis gewesen“, unterbrach ihn Murchison, die selbst nach so vielen Jahren sichtlich nervös wirkte.

„Wohl kaum“, widersprach Prilicla, „denn Ihre emotionale Ausstrahlung war damals im Hospital so gut wie jedem bekannt. Darüber hinaus strahlte jeder terrestrische männliche Mitarbeiter der Klassifikation DGBD in Ihrer Gegenwart ähnliche Gefühle aus, auch wenn diese durch Neid ersetzt wurden, als Sie und Conway sich offiziell vermählt haben. Na ja, und von Lonvellin werden Sie höchstwahrscheinlich, Ms überhaupt, nur am Rande erfahren haben. Wenn Sie mit Conway mal allein zusammen waren, haben Sie die Zeit bestimmt nicht mit ausgiebigen Diskussionen über irgendwelche Patienten verbracht, nicht wahr?“

„Da haben Sie wohl nicht ganz unrecht“, seufzte Murchison, und ihrer sehnsuchtsvollen Stimme war anzumerken, daß sie sich in Gedanken in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort befand und daß es sich dabei um sehr angenehme Erinnerungen handeln mußte.

Prilicla ließ die Pathologin erst einmal ins Hier und Jetzt zurückkehren, bevor er fortfuhr: „Jedenfalls handelt es sich um dieselben Informationen, die ich für Shech-Rar und Freund Stillman aufgenommen habe, und Sie können sich das Originalband ja jederzeit ansehen. Das aufgezeichnete Protokoll eines Diagnostikertreffens könnte für einen medizinischen Laien allerdings etwas schwierig zu verstehen sein, deshalb werde ich es für Freund Hewlitt in vereinfachter Form zusammenfassen… “

Lonvellin war von einer Raumpatrouille des Monitorkorps in einem Schiffgefunden worden, das, obwohl es unbeschädigt gewesen war, Notsignale ausgesandt hatte. Damals bezichtigte man ihn anfänglich des Mordes und möglicherweise sogar des Kannibalismus, da das vorgefundene Logbuch auf die Anwesenheit eines zweiten Wesens an Bord schließen ließ, bei dem es sich um eine Art Leibarzt gehandelt haben mußte, der seinen Dienstherrn anscheinend falsch behandelt hatte und von dem keine Spur mehr zu entdecken war. Aus diesem Grund, und auch weil es sich bei dem Patienten um ein ausgesprochen korpulentes und mit natürlichen Waffen hervorragend ausgestattetes Wesen handelte, wurde es bis zur endgültigen Klärung der Angelegenheit unter die Obhut des Monitorkorps gestellt.

Lonvellin war ein warmblütiger Sauerstoffarmer der physiologischen Klassifikation EPLH. Sein Kopf war lediglich eine unbewegliche knöcherne Schädelkuppe, die auf einem birnenförmigen, schuppigen Körper saß. Direkt unterhalb der fünf Tentakel befanden sich in regelmäßigen Abständen große Mundöffnungen, von denen vier verschwenderisch mit Zähnen ausgerüstet waren und einer als Sprechapparat diente. Die Tentakel selbst wiesen an ihren Enden auf einen hohen Spezialisierungsgrad hin; drei von ihnen dienten als Greifarme, einer enthielt die Sehorgane, und der letzte war mit einer harten, knochigen Spitze besetzt, die einer Keule glich, mit der sich diese Spezies ganz offensichtlich bis auf den Wipfel ihres evolutionären Stammbaums hochgeprügelt hatte. Der stark muskulöse untere Teil wies auf eine schlangenähnliche, wenn auch nicht unbedingt langsame Fortbewegungsmethode hin.

Der EPLH litt an Schuppengeschwulsten aus Epithelzellen im fortgeschritten Stadium, die sich bereits über den ganzen Körper ausgebreitet hatten, doch wurde ein solcher krebsartiger Zustand der Schuppenhaut normalerweise nicht von einer tiefen Ohnmacht begleitet. Als ihm ein rasch wirkendes Mittel, das für den Metabolismus des EPLH geeignet war, subkutan injiziert wurde, gingen die Geschwülste an der behandelten Stelle zurück. Allerdings zeigte der Körper des Patienten kurz darauf panikartige Reaktionen, wodurch die Wirkung des Medikaments auf unergründliche Weise neutralisiert wurde, und die Geschwülste wiederauftraten. Während dieser Vorgänge meldeten die Biosensoren, daß sich der Patient die ganze Zeit in tiefer Bewußtlosigkeit befunden hatte und aufgrund des narkotisierten Zustands zu keiner körperlichen Regung in der Lage hätte sein dürfen. Da Lonvellin auf die medikamentöse Behandlung nicht ansprach, wurde mit der operativen Entfernung der befallenen Schuppen begonnen, doch auch dagegen sträubte sich der Körper des Patienten. Nachdem die ersten Geschwülste noch erfolgreich herausgeschnitten worden waren, entwickelten die übrigen Schuppen komplizierte Wurzelsysteme, deren Ausläufer tiefer liegende Organe zu durchdringen drohten, so daß eine weitere Entfernung ohne lebensbedrohliche Folgen unmöglich schien.

In der Hoffnung, eine Erklärung für dieses medizinisch rätselhafte Phänomen zu finden – sowie für die Tatsache, daß der EPLH vehemente körperliche Reaktionen zeigte, obwohl er angeblich bewußtlos war und zu keiner Regung in der Lage hätte sein dürfen -, ordnete Conway eine Untersuchung der emotionalen Ausstrahlung des Patienten an.

„Und an diesem Punkt trat ich auf den Plan“, fuhr Prilicla fort. „Wir fanden rasch heraus, daß in Lonvellin eine zweite intelligente Lebensform steckte; ein total eigenständig denkendes und voll bei Bewußtsein befindliches Wesen, bei dem die dem Patienten verabreichten Medikamente keinerlei Wirkung gezeigt hatten, und dessen Gegenwart von keinem Scanner oder anderem Diagnoseinstrument registriert worden war. Wie es für einen angehenden Diagnostiker typisch ist, folgte Freund Conway damals einer spontanen Eingebung, indem er davon ausging, daß dieses zweite Wesen sowohl allgegenwärtig als auch zu klein sein könnte, um bei einer normalen Scanneruntersuchung entdeckt zu werden. Diese von ihm aufgestellte Hypothese basierte allein auf den wenigen Tatsachen, die sich aus der Untersuchung des Patienten ergaben sowie aus den dem Logbuch zu entnehmenden Hinweisen auf einen Leibarzt… “

Lonvellin war ein in die Jahre gekommener Angehöriger dieser ohnehin extrem langlebigen Spezies. Wie alle Wesen im fortgeschrittenen Alter war auch er einem zunehmenden körperlichen Verfall ausgesetzt, und das trotzall seiner Bemühungen, sich physisch und mental ständig zu regenerieren, um seine Arbeit fortsetzen zu können, die sein einziger Lebensinhalt war. Bei dieser Tätigkeit kümmerte er sich als grundsätzlich friedfertiges Wesen ausschließlich um rückständige oder auf Abwege geratene planetarische Zivilisationen, um deren Lebensverhältnisse zu verbessern. Da er nicht damit rechnen konnte, auf den Planeten, auf denen er zu tun hatte, eine adäquate medizinische Versorgung vorzufinden, wurde er stets von einem Leibarzt begleitet, der seinen sehr hohen medizinischen Ansprüchen genügen mußte.

Irgendwann mußte Lonvellin in der jüngsten Vergangenheit den für seine Zwecke idealen ›Leib- und Magenarzt‹ entdeckt haben – in der jüngsten Vergangenheit deshalb, weil das besagte Wesen noch nicht viel Erfahrung als Arzt gesammelt haben konnte, was an den von ihm begangenen Kunstfehlern abzulesen war.

Wie Conway herausfand, entpuppte sich dieser ominöse Leibarzt als eine intelligente amöboide Lebensform – eine organisierte Anhäufung submikroskopischer, virusähnlicher Zellen -, die im Körper des Patienten lebte. Dieser Leibarzt konnte, sobald er die notwendigen Informationen dazu besaß, jede Krankheit oder organische Fehlfunktion von innen her untersuchen und behandeln. Da es sich aber um ein denkendes Wesen handelte, konnte dessen emotionale Ausstrahlung einem Empathen wie Prilicla nicht verborgen bleiben, auch wenn es im Körper des sich in tiefer Bewußtlosigkeit befindlichen Lonvellins steckte. Um diese Theorie zu beweisen, unternahm Conway einen auf den ersten Blick barbarisch wirkenden Angriff auf Lonvellins Körper, dem dessen natürliche Abwehrkräfte nicht hätten standhalten können, indem er ganz langsam einen spitzen Holzkeil an einer Stelle durch die Schuppenhaut trieb, unter der sich lebenswichtige Organe befanden. Wie von Conway vermutet, konzentrierte die Virenkreatur sämtliche Abwehrkräfte auf diesen einen Punkt, indem sie an dieser Stelle aus eigenen und Lonvellins Gewebezellen im Nu eine kleine, harte Knochenplatte ausbildete, um den Keil am Weiterkommen zu hindern.Kaum war dieser Vorgang abgeschlossen, entfernte Conway die Kreatur, deren Körpermasse etwa einer geschlossenen menschlichen Faust entsprach, und legte sie zur späteren Untersuchung in einen steril versiegelten Behälter. Anschließend entfernte er die Geschwülste und versorgte die mit dem Holzkeil künstlich zugefügte Wunde; eine reine Routinearbeit, die relativ wenig Zeit beanspruchte und ohne weitere Störversuche durch Lonvellins Leibarzt zu Ende geführt werden konnte.

Das eigentliche Problem war durch die Unwissenheit der Virenkreatur ausgelöst worden, die die ganze Zeit versucht hatte, den physischen Zustand ihres Wirtskörpers unter allen Umständen unverändert zu lassen, indem sie die absterbenden Hautschuppen beibehalten wollte, die von Lonvellins Spezies aber in regelmäßigen Abständen abgestoßen wurden, um durch neue ersetzt zu werden. Diesen Irrtum konnte man durch den Umstand entschuldigen, daß zwischen den beiden Wesen trotz ihrer Intelligenz keine direkte Kommunikation, sondern nur eine lose empathische Bindung bestand, die lediglich den Austausch von Gefühlen, nicht aber von Gedanken zuließ.

Trotz dieses Fehlverhaltens bestand Lonvellin darauf, daß man seinen Leibarzt wieder an den ihm angestammten Platz zurücksetzte. Zwar hätte man im Orbit Hospital diese einzigartige Lebensform gerne genauer untersucht, da sich die Virenkreatur aber vom ethischen Standpunkt her in einer merkwürdigen Grauzone aus intelligentem Wesen und parasitärer Krankheit bewegte, kam man dem Wunsch des EPLH nach. Nach seiner Genesung begaben sich Lonvellin und sein Leibarzt zum Seuchenplaneten Etla, wo er und sein Schiff in einer atomaren Wolke schließlich verdampften. Damals waren sich alle sicher gewesen, daß die Virenkreatur mit seinem Wirtswesen gemeinsam umgekommen war. Das jedenfalls war der Wissensstand, als man auf dem Diagnostikertreffen beschloß, die Rhabwar nach Etla zu schicken, weil man dort eine Erklärung für die mysteriösen Hewlitt-Morredeth-Vorkommnisse zu finden hoffte, auch wenn niemand erwartet hatte, daß die Mission des medizinischen Teams tatsächlich von Erfolg gekrönt werden würde.„… aber jetzt wissen wir, daß Lonvellin die Möglichkeit eines tödlichen Angriffs vorhergesehen hat und deshalb die notwendigen Vorkehrungen traf, seinem intelligenten Symbionten ein Weiterleben zu ermöglichen“, fuhr Prilicla fort. „Zwischen den beiden fand zwar nur ein begrenzter Informationsaustausch statt, aber ich nehme an, daß die Schiffssensoren einen unmittelbar bevorstehenden Nuklearschlag meldeten. Die furchtbare Erkenntnis, daß sein ungeheuer langes Leben kurz vor dem Ende stand, löste bei Lonvellin einen heftigen emotionalen Schock aus, der die Virenkreatur aus dem Wirtskörper hinaustrieb, um in den kleinen Überlebenscontainer der Rakete zu flüchten. Der Öffnungsmechanismus des Containers war mit einer auf hundert Standardjahre eingestellten Zeitschaltuhr ausgestattet, weil Lonvellin gehofft hatte, daß dann beim Freiwerden des Inhalts sowohl der Krieg als auch die Fremdenfeindlichkeit der etlanischen Bevölkerung längst vergessen sein würden. Aber der nukleare Einschlag muß bereits Sekunden nach dem Abheben der Fluchtrakete stattgefunden haben, die daraufhin vorzeitig abstürzte. Schließlich wurde die Virenkreatur durch ein terrestrisches Kind, das von einem Baum herab direkt auf den Container fiel, vorzeitig aus ihm befreit.“

„Du meine Güte! Ist das Ihr Ernst?“ rief Hewlitt in einer Mischung aus Staunen und Entsetzen, wobei er gleichzeitig über alle Maßen erleichtert war und laut lachen mußte. Endlich war eine Erklärung für seine lebenslange Hypochondrie gefunden worden, so abwegig sich diese auch anhören mochte. „Wollen Sie mir damit etwa sagen, daß ich nie richtig krank gewesen bin, sondern all die Jahre nichts anderes als einen Leibarzt in mir stecken hatte?“

23. Kapitel

„Richtig“, antwortete Prilicla, „aber ich bin mir meiner Sache erst ziemlich sicher gewesen, als ich das, was Ihnen als Kind mit Ihren Milchzähnen widerfahren ist, mit Lonvellins Schuppen in Verbindung gebracht habe. Wenn wir nun sämtliche Geschichten, die Sie uns erzählt haben, als wahr akzeptieren, dann müssen wir Ihre Aussagen völlig neu bewerten und noch einmal alles von Anfang an durchgehen. Lassen Sie mich also laut nachdenken:

Als Sie auf diesen Baum geklettert sind, die giftige Frucht gegessen haben und in die Schlucht gefallen sind, hätten Sie sterben müssen, und das in zweifacher Hinsicht. Einmal höchstwahrscheinlich aufgrund des schweren Sturzes aus dieser gewaltigen Höhe und spätesten an der Menge des Giftes, das Sie zu sich genommen haben. Statt dessen sind Sie aber auf dem kleinen Plastikcontainer gelandet, der daraufhin zerbrach, so daß die Virenkreatur in Ihren verwundeten Körper eindringen konnte. Als das Wesen feststellte, daß Sie, obwohl Ihr Körper kurz vor dem Verenden war, einen geeigneten Wirt abgaben, hielt es Sie am Leben, reparierte die physischen Schäden und stimulierte den natürlichen Entgiftungsmechanismus Ihres Körpers. Daß ihm das alles so schnell gelingen konnte, liegt vermutlich daran, daß Ihre Körpermasse damals etwa nur ein Zwanzigstel seines vorhergehenden Wirts betrug. Wie und warum die Virenkreatur so gehandelt hat, können wir erst dann beantworten, wenn wir mit dem Wesen eine Kommunikationsmethode entwickelt haben, die über die Empathie hinausgeht.

Spontan würde ich behaupten, daß die Virenkreatur ohne einen Wirtskörper nicht lange allein existieren kann, daß sein Überleben also davon abhängt, ein möglichst großes und voraussichtlich langlebiges Wesen zu finden. Um den Wirtskörper bei optimaler Gesundheit zu erhalten, holt es sich aus dem genetischen Zellenmaterial die notwendigen Informationen und verlängert so automatisch auch sein eigenes Leben. Aber unser Wunderdoktor ist nicht unfehlbar. Zum Beispiel ist ihm nicht klar gewesen,daß der Zustand eines Wirtskörpers nicht unter allen Umständen aufrecht erhalten werden darf, weil gewisse Veränderungen völlig natürlich und sogar gesundheitsfördernd sind. Lonvellins Problem mit der alternden Schuppenhaut, die er nicht abstoßen konnte, und Ihre Milchzähne, die nicht herausfallen wollten, sowie Ihre lange Geschichte allergischer Reaktionen auf sämtliche medikamentöse Behandlungsformen beweisen das.

Darüber hinaus gibt es Anzeichen, daß die Virenkreatur zeitweilig sogar die Kontrolle über den Wirt übernimmt“, fuhr Prilicla fort und hielt eine Weile inne.

Einen Augenblick lang glaube Hewlitt, daß der Empath den anderen Anwesenden auf diese Weise die Möglichkeit bieten wollte, sich zu seinen Thesen zu äußern, doch sagte niemand einen Ton. Also legte er wahrscheinlich nur eine Kunstpause ein, um die passenden Worte zu finden oder auch nur um sein Sprechorgan zu schonen.

„Zum Beispiel gab es da diesen Zwischenfall mit der verletzten Katze“, fuhr er schließlich fort. „Ihre emotionale Bindung zu diesem Tier war so stark, daß Sie es sogar mit ins Bett genommen haben, weil sie in Ihrem kindlichen Glauben hofften, es auf diese Weise heilen zu können. Ihr Bedürfnis, daß die Katze wieder gesund werden würde, muß derart überwältigend gewesen sein, daß sich die Virenkreatur dazu veranlaßt sah, in die Katze einzudringen, um deren Verletzungen zu kurieren und deren Gesundheit über Nacht völlig wiederherzustellen. Erst danach kehrte sie dann in den ihres Wissens nach langlebigeren Wirtskörper zurück.

Viele Jahre später haben Sie sich dann hier im Orbit Hospital mit Patientin Morredeth angefreundet. Weil die Kelgianerin aufgrund des beschädigten Fells für den Rest ihres Lebens unendliche seelische Qualen hätte ertragen müssen, empfanden Sie ebenfalls tiefes Mitleid für sie, und als sie mit ihr in Körperkontakt kamen, passierte dasselbe.“

„Aber das war doch keine Absicht!“ protestierte Hewlitt. „Das war purer Zufall, und ich habe mich lediglich mit den Händen an ihrem Fell festgehalten.“

„Auch wenn die Verletzung von Morredeth aus medizinischer Sicht ganzharmlos war, so wurde ihr Körper praktisch völlig runderneuert, das heißt, von der Verunstaltung des Fells war überhaupt nichts mehr zu sehen. Ähnlich ist es zwar auch mit Ihrer Katze gewesen, doch im Gegensatz zu damals ist die Virenkreatur nach der Heilung der Patientin nicht in Ihren Körper zurückgekehrt. Und warum nicht?“

Da es sich um eine rhetorische Frage handelte, sagte niemand einen Ton.

„Für jeden Organismus ist es ganz natürlich, daß er sich weiterentwickelt“, fuhr Prilicla schließlich fort. „Und für einen intelligenten Organismus ist es darüber hinaus ganz natürlich, zu lernen und neue Herausforderungen zu suchen. Ich bin mir sicher, daß sich auch Lonvellins ehemaliger Leibarzt im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts weiterentwickelt hat. Vielleicht trat diese Veränderung als Folge der Nuklearexplosion ein, obwohl normalerweise nur ein organisches Wachstum damit einhergeht. Genauso gut könnte es sich um einen normalen Evolutionsprozeß handeln, wie auch immer ein solcher Vorgang bei einer Ansammlung von Viren aussehen mag. So oder so deutet alles daraufhin, daß das Wesen sowohl seine Sinne in empathischer Richtung als auch hinsichtlich seiner Reaktionen auf äußere Einflüsse geschärft hat. Ganze drei Milchzähne weigerten sich herauszufallen. Die nachfolgenden Zähne verhielten sich völlig normal, und viele der späteren Krankheiten waren nur vorübergehend und tauchten nie wieder auf. Dies führte, wie wir heute wissen, fälschlicherweise zu der Annahme, daß Ihre Krankheitssymptome einer übersteigerten Phantasie zugeschrieben wurden. Völlig zu Recht wollte keiner der Ärzte auf der Erde das Risiko auf sich nehmen – und später auch nicht hier auf Station sieben -, Ihnen ein Medikament ein zweites Mal zu verabreichen, das zuvor eine allergische Reaktion bei Ihnen hervorgerufen hatte. Wenn Ihr Symbiont aber mittlerweile genügend über Ihren Metabolismus erfahren hat, um solche Fremdstoffe als harmlos einzustufen, dann müßte Ihre Reaktion auf eine zweite Dosis normal ausfallen.

Das Verhalten der Virenkreatur während Ihres Aufenthalts im Orbit Hospital weist darüber hinaus auf eine deutliche Veränderung hin. ImGegensatz zu dem Wesen, an das ich mich erinnern kann und dessen emotionale Ausstrahlung in erster Linie von der Angst geprägt war, nicht umgehend in Lonvellins Körper zurückkehren zu können, scheint es jetzt viel eher bereit zu sein, andere Körper aufzusuchen. Vielleicht war es mit Ihnen als Wirt nicht länger zufrieden.“

„Unter diesen Umständen wäre ich allerdings eher froh als beleidigt, wenn sich mein Leibarzt ein neues Betätigungsfeld gesucht hat“, bemerkte Hewlitt trocken.

Prilicla ignorierte die Bemerkung und fuhr fort: „Deshalb kann es durchaus sein, daß sich die Virenkreatur nach einem Vierteljahrhundert der Inbesitznahme eines terrestrischen DBDGs zusehends langweilte und sich nach einer interessanteren Lebensform umschauen wollte, wofür das Orbit Hospital bekanntermaßen der idealste Ort im ganzen Universum ist. Meiner Meinung nach sucht sich das Wesen allerdings instinktiv, oder auch ganz bewußt, einen Wirt mit einer extrem langen Lebenserwartung wie Lonvellin, um die eigene Existenz möglichst lange sicherzustellen. Deshalb hat es auch eine so kurzlebige und nicht intelligente Lebensform wie Ihre Katze damals verlassen und ist gleich nach Verrichtung seiner Arbeit sofort in Ihren Körper zurückgekehrt. Nicht zurückgekehrt ist es aber in Ihren Körper, nachdem es in Morredeth eingedrungen war und das Fell der Kelgianerin wieder zum Wachsen gebracht hatte. Vielleicht hatte es wegen des darauffolgenden Durcheinanders einfach keine Chance dazu. In Morredeths Körper ist es aber auch nicht geblieben. Das weiß ich, weil ich die Kelgianerin vor unserem Abflug genau untersucht habe. Die letzten vier Testtage und meine ständige Überwachung Ihrer emotionalen Ausstrahlung seit Sie an Bord der Rhabwar sind, haben bewiesen, daß es auch nicht mehr in Ihnen oder gar in Ihrem in die Jahre gekommenen ehemaligen Haustier steckt.

Die ernsthafteste und dringendste Frage, die sich uns jetzt stellt, lautet also, wen das Wesen gerade in Besitz genommen hat und was es als nächstes vorhat“, beendete Prilicla seine Ausführungen.

Zwar fühlte sich Hewlitt noch immer über alle Maßen erleichtert, daß erdiese Kreatur endlich losgeworden war, doch machten sich in ihm ebenso nagende Zweifel über sein zukünftiges Schicksal breit. Alle blickten ihn an. Danalta hatte eine völlig ausdruckslose Form angenommen, Murchisons Lächeln begrenzte sich auf die Augenpartien, Naydrads Fell legte sich in krause Wellen, und Prilicla hatte seit Beginn seiner Rede am ganzen Körper gezittert.

Nach seinem Dafürhalten war ihm der Empath zumindest eine Antwort schuldig geblieben, und deshalb fragte er: „Wäre es denn möglich, daß diese Virenkreatur gelernt hat, wie sie ihre Gefühle vor Ihnen verbergen kann?“

„Nein, Freund Hewlitt“, antwortete der Empath, ohne zu zögern. „Ob nun ein organisches Wesen intelligent ist oder nicht: Es hat immer Gefühle. Häufig strahlen die kleinsten und weniger intelligenten Wesen die stärksten und aufwühlendsten Empfindungen aus. Wie ich mich erinnern kann, ließ die emotionale Ausstrahlung von Lonvellins Leibarzt jedoch auf ein sehr intelligentes Wesen schließen. Kein denkendes Wesen kann seine Gefühle vor mir verbergen. So etwas würde allenfalls einem anorganischen Computer gelingen, weil er schlichtweg keine besitzt.

Ansonsten brauchen Sie sich übrigens keine Sorgen zu machen, Freund Hewlitt. Auch wenn unser Leibarzt in der Vergangenheit versehentliche Fehler begangen hat, so hat er Sie, Ihre Katze und auch Lonvellin bis zu dessen gewaltsamen Tod mit einer perfekten Gesundheit ausgestattet. Die Katze, die für ihre ansonsten doch relativ kurzlebige Spezies ein extrem hohes Alter erreicht hat, ist nur ein Beweis dafür. Deshalb würde ich sagen, daß Sie ebenfalls ein überdurchschnittlich langes und gesundes Leben führen werden, es sei denn, Sie erleiden einen Unfall.“

„Danke, Doktor“, seufzte Hewlitt erleichtert und lachte. „Trotzdem habe ich das Gefühl, irgendwas verpaßt zu haben. Warum stellt diese Kreatur ein solch ernsthaftes und dringendes Problem dar, wenn Sie selbst sagen, daß sie praktisch keinen Schaden anrichtet, sondern eher gute Arbeit leistet? In dem Fall hätten Sie im Orbit Hospital doch nur einen Arzt mehr, der zwar vielleicht etwas verrückt sein mag, aber das gehört dort ja fast zum gutenTon. Was wäre daran also so furchtbar neu?“

Von Murchisons Lächeln war nun endgültig nichts mehr zu sehen, Danaltas gallertartiger Körper wabbelte unruhig hin und her, und Naydrads Fell nahm unter krampfartigen Zuckungen immer merkwürdigere Formen an. Außerdem war offensichtlich, daß auch Prilicla die letzte Bemerkung nicht sonderlich humorvoll fand.

„Absichtlich richtet die Virenkreatur wohl keinen Schaden an“, antwortete der Empath. „Andererseits wollte sie das auch bei Ihnen nicht tun, und dennoch haben ihre im Grunde guten Absichten bei Ihnen zwanzig Jahre seelischen und gesundheitlichen Stress ausgelöst. Gegenwärtig scheint sie Freude am Experimentieren gefunden zu haben, indem sie so häufig wie möglich die Wirte wechselt. Den Schaden und das Chaos, das diese Kreatur in einem Krankenhaus anrichten könnte, in dem sie über eine Auswahl von mehr als sechzig verschiedenen Spezies verfügt, sprengt bei weitem jede Vorstellungskraft.“

Mit einem Mal nahm Hewlitt das schwindelerregende Gefühl des Auftauchens aus dem Hyperraum wahr. Hinter dem Sichtfenster waren nur noch die sternenübersäte Dunkelheit des Weltraums und die unzähligen bunten Lichter des Orbit Hospital zu sehen, das selbst aus dieser Entfernung ein imposantes Bild bot. Doch dieser umwerfende Anblick schien außer ihm niemanden zu interessieren.

„Unsere vorrangige Aufgabe muß also sein, dieses Wesen ausfindig zu machen, um es dann zu isolieren und aus dem Körper seines gegenwärtigen Wirts zu entfernen“, erklärte Prilicla gerade den anderen. „Danach müssen wir herausfinden, wie man sich mit einem Wesen verständigen kann, das eventuell keine anderen Kommunikationsformen kennt, als Gefühle zu empfangen und auszustrahlen. Irgendwie müssen wir Mittel und Wege finden, mit Lonvellins ehemaligem Leibarzt in beide Richtungen zu kommunizieren, um ihm Gewißheit über unsere guten Absichten zu geben und seine Erlaubnis für eine gründliche medizinische Untersuchung einzuholen. Danach sollten wir uns nach seiner Herkunft, seinen körperlichen und seelischen Bedürfnissen und vor allem nach der Methodeund Häufigkeit seiner Fortpflanzung erkundigen. Wenn alles glatt verläuft, und das können wir nur hoffen, müssen wir entscheiden, ob wir es zulassen können, daß er oder seine Nachkommen sich weiterer Wirtskörper bemächtigen.“

An Hewlitt gewandt fuhr Prilicla fort: „Dazu sollte ich erklären, daß der Leibarzt von Lonvellin, Morredeth und Ihnen alle anderen Ärzte überflüssig machen könnte. Zwar handelt es sich bei ihm um das einzige uns bekannte Exemplar einer wahrhaftig einzigartigen Lebensform, doch falls sich diese Spezies in ausreichender Menge vermehren und ohne schädliche Nebenwirkungen bei anderen Spezies aktiv werden kann, dann wäre die medizinische Heilkunst in der gesamten galaktischen Föderation überflüssig oder allenfalls noch auf Notfalloperationen und dergleichen beschränkt.“

Alle blickten den Empathen derart eindringlich an, daß ihn die damit einhergehenden emotionalen Ausstrahlungen zur Landung auf dem Decksboden zwangen. Hewlitt wußte nicht recht, wie er die Lage einschätzen sollte. Sicherlich hatte der Empath gerade für jeden aufrechten Angehörigen der medizinischen Zunft sehr gute und aufregende Neuigkeiten verkündet, aber warum hatte er eben bei ihm den Eindruck erweckt, daß er im Grunde nichts anderes versucht hatte, als sich selbst und den anderen Mut zuzusprechen, und dabei kläglich gescheitert war?

„Es tut mir aufrichtig leid, wenn Sie immer noch einige Probleme zu klären haben, und ich will bei Ihnen auch bestimmt nicht den Eindruck erwecken, egoistisch zu sein, aber ich habe dennoch ein paar weitere Fragen“, unterbrach Hewlitt schließlich das entstandene Schweigen. „Falls diese Virenkreatur meinen Körper verlassen hat – und die Tests haben ja bewiesen, daß ich auf Medikamente nicht mehr allergisch reagiere -, heißt das, daß ich damit auch von meinen anderen Problemen kuriert bin? Und bedeutet das wiederum, daß ich, sobald ich auf die Erde zurückgekehrt bin, nun ja… also, daß ich dann weiblicher Gesellschaft nicht mehr aus dem Wege gehen muß … ?“

„Genau das heißt es“, bestätigte Murchison. „Sie sollten sich allerdings damit vorerst zurückhalten, bis Sie wirklich auf die Erde zurückgekehrtsind.“

Hewlitt stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Am liebsten wäre er all diesen Leuten um den Hals gefallen, wenn sie alle einen gehabt hätten, um ihnen zu sagen, wie dankbar er ihnen für all das war, was sie für ihn getan hatten. Obwohl ihm anfangs kaum jemand geglaubt hatte, war sein Fall stets mit vollem Engagement weiterverfolgt worden. Doch wollten ihm die passenden Worte nicht einfallen, und alles, was er hervorbrachte, war: „Also sind meine Probleme damit ein für allemal gelöst.“

„Nein, denn damit fangen sie überhaupt erst an“, bemerkte Naydrad schnippisch.

„Da spricht die wahre Expertin in Sachen…“, begann Hewlitt, als er durch das knackende Einschaltgeräusch des Wandlautsprechers unterbrochen wurde, und die Stimme von Captain Fletcher verkündete:

„Das Hospital sendet gerade auf sämtlichen Kanälen eine aufgezeichnete Warnmeldung der Alarmstufe drei, Doktor Prilicla. Darin heißt es, daß alle anfliegenden Schiffe mit verletzten oder erkrankten Patienten, deren Zustand nicht kritisch ist, zum nächstgelegenen Hospital der jeweiligen Spezies umgeleitet werden sollen. Lediglich dringende Fälle, die einer Untersuchung durch Diagnostiker bedürfen, sind bis auf weiteres hereinzulassen. Hereinkommende Transport- und Versorgungsschiffe werden aufgefordert, vorläufig außerhalb der inneren Leitbaken in Position zu gehen und sich auf eine mögliche Massenevakuierung sämtlicher Patienten und Mitarbeiter vorzubereiten. Wie es heißt, soll es sich um ein Energieversorgungsproblem handeln, das die Wartungsleute aber höchstwahrscheinlich bald wieder in den Griff bekommen werden.

Ich versuche jetzt, jemanden auf den Schirm zu bekommen, der weiß, was dort eigentlich vor sich geht… “

24. Kapitel

Da Hewlitt nicht als Patient ins Orbit Hospital zurückkehrte, wurde er auch nicht mehr auf Station sieben untergebracht, sondern in einer Einzelunterkunft für terrestrische DBDGs. Weil es ihm als Patient nur im geringen Maße erlaubt gewesen war, persönliche Habseligkeiten mitzunehmen, wirkte der Raum zwar etwas kahl, doch war er durchaus behaglich. Gleich nach der Ankunft war er mit einem Satz Overalls ausgestattet worden, die in Ergänzung eines Helms und Handschuhen auch als leichter Schutzanzug dienten. Jeder direkte körperliche Kontakt mit anderen Wesen war ihm verboten worden, doch das Visier des Helms durfte geöffnet bleiben, weil die intelligente Virenkreatur in der Luft nicht übertragbar war. Er wurde angewiesen, sich nur in Begleitung eines Mitglieds des medizinischen Teams der Rhabwar oder eines Mitarbeiters der psychologischen Abteilung im Hospital zu bewegen. Dennoch war er während der ersten drei Tage fast ständig irgendwohin unterwegs und mußte derart viele Fragen beantworten, daß er seine Unterkunft nur zum Schlafen nutzte.

Nur äußerst widerstrebend hatte er schließlich doch noch zugestimmt, im Orbit Hospital zu bleiben, weil man Prilicla kaum einen Gefallen abschlagen konnte. Der Empath hoffte nämlich, mit Hewlitts Hilfe den gegenwärtigen Wirt der Virenkreatur schneller ausfindig machen zu können. Zählte man alle Patienten und Mitarbeiter zusammen, dann gab es allerdings mehr als zehntausend Zufluchtsorte für diese gänzlich unerforschte Lebensform. Kaum kam Hewlitt in Gegenwart des Empathen darauf zu sprechen, daß er seinen Beitrag bei der Suche für völlig unwichtig halte und lieber wieder nach Hause wolle, pflegte Prilicla sofort das Thema zu wechseln.

Am vierten Tag schaute in aller Herrgottsfrühe Braithwaite vorbei, um ihn zum Büro des Chefpsychologen zu begleiten, wo nach den Worten des Lieutenants › wegen mangelnder Fortschritte ‹ ein Krisengespräch stattfinden sollte. Kaum hatten sie das Büro betreten, war klar, daß sie bereits sehnsüchtig erwartet wurden.„Ich bin Diagnostiker Conway“, stellte sich ihm ein großer Terrestrier vor, dessen Gesichtszüge durch einen Helm kaum zu erkennen waren. „In Ihrem eigenen Interesse sollte ich Ihnen die gegenwärtige Situation so einfach wie möglich erklären, ohne Sie damit beleidigen zu wollen. Bitte hören Sie mir jetzt genau zu, und Ms Sie irgendwelche Fragen haben, können Sie mich natürlich jederzeit unterbrechen.“

Bevor Conway fortfuhr, blickte er abwechselnd die im Büro des Chefpsychologen versammelten Wesen an. „Um unnötigen Spekulationen und einer sich daraus ergebenden Besorgnis beim Krankenhauspersonal vorzubeugen, schlage ich vor, daß sämtliche aktuellen Kenntnisse über die Suche und deren eigentlichen Gegenstand auf die hier Anwesenden und natürlich auf die höhere Ärzteschaft, der das Problem bereits bekannt ist, beschränkt bleiben. Schließlich handelt es sich dabei um die einzigen Leute, die zumindest eine ungefähre Ahnung davon haben, wonach wir suchen… “

Und wie Hewlitt längst gelernt hatte, war bereits der Vorschlag eines Diagnostikers wenn auch nicht Gesetz, so doch nicht weniger als ein Ausblick auf die nahe Zukunft.

„… obwohl es höchst unwahrscheinlich ist, daß wir das Wesen in seinem natürlichen Zustand vorfinden werden. Als ich es das letzte Mal in natura gesehen habe, handelte es sich um eine lichtdurchlässige, gallertartige Masse. Die blaßrote Farbe dieses faustgroßen Klumpens kann allerdings auch an einem leichten Blutverlust gelegen haben, der durch die operative Entfernung der Virenkreatur aus Lonvellins Körper hervorgerufen wurde …“

Bei dem etwas älter und ziemlich grimmig dreinblickenden Offizier im grünen Monitoranzug, der hinter dem großen Schreibtisch saß, mußte es sich nach Hewlitts Einschätzung um Major O'Mara handeln. Links und rechts von ihm standen Braithwaite und Conway, während sich das medizinische Team der Rhabwar vor ihnen im Halbkreis versammelt hatte. Alle trugen leichte Schutzanzüge, selbst Prilicla, der zum Schweben einen Schwerkraftneutralisator benutzte, weil er die Flügel in der ihn umgebenden Schutzhülle fest anlegen mußte. Mit Ausnahme von Naydrad, die ein fürihre Körperbedürfnisse geeignetes Sitzmöbel gefunden hatte, und dem an der Decke schwebenden Prilicla standen alle auf den Beinen und hörten schweigend zu.

„…für eine genauere Untersuchung des Wesens hatten wir damals keine Zeit“, setzte Conway seine Ausführungen fort. „Da es sich um eine intelligente Lebensform handelt, hätten wir uns für solch eine gründliche und für sie womöglich riskante Untersuchung ihre Erlaubnis einholen müssen. Das einzige uns zur Verfügung stehende Kommunikationsmittel war die emotionale Ausstrahlung der Virenkreatur, die zwar exakte Informationen über ihre Gefühle, aber keine medizinischen Fakten liefern konnte. Als Lonvellin darauf bestand, ihm seinen Leibarzt umgehend wieder einzusetzen, fand die Wiedervereinleibung über die Schleimhäute einer Mundöffnung innerhalb von acht Komma drei Sekunden statt. Danach konnten wir mit Ausnahme des Vorhandenseins von nun zwei Quellen emotionaler Ausstrahlungen und einer leichten Gewichtszunahme, die exakt dem Gewicht der Virenkreatur entsprach, keine weiteren Merkmale seiner Anwesenheit im Wirtskörper ausfindig machen.

Aber wir müssen diesen kaum nachweisbaren Parasiten finden, und das so schnell wie möglich. Wie wir wissen, handelt es sich um einen intelligenten Organismus, der bislang versucht hat, hilfsbereit zu sein, wenngleich seine Bemühungen im Fall von Hewlitt auch langfristige physische und psychische Leiden verursacht haben. Dennoch können wir es nicht zulassen, daß sich ein Organismus, der die Speziesbarriere überwinden kann und über seinen eigenen und stark begrenzten Erfahrungsbereich hinaus über keinerlei medizinisches Wissen verfügt, in einem Krankenhaus frei herumbewegt, das für über sechzig verschiedene Spezies zuständig ist.“

Conway hielt inne, um jeden Anwesenden im Raum einzeln anzublicken, bis er seine Aufmerksamkeit wieder Hewlitt zuwandte. Als der Diagnostiker weitersprach, klang seine Stimme zwar ruhig und nüchtern, aber die emotionale Anspannung ließ Prilicla an der Decke leicht ins Trudeln geraten.„Es ist unumgänglich, die Suche einzuschränken, indem wir einerseits gewisse Individuen und Gruppen als in Frage kommende Wirtskörper ausschließen und andererseits unsere Bemühungen nur auf aller Wahrscheinlichkeit nach in Frage kommende Wirte konzentrieren. Sämtliche Mitarbeiter der psychologischen Abteilung haben sich mittlerweile auch ins Krankenhausgetümmel gestürzt, weil wir hoffen, auf diese Weise von irgendwelchen Gerüchten über Patienten zu erfahren, deren Gesundheitszustand sich ohne ersichtlichen Grund plötzlich verschlechtert oder, ebenso unverhofft, schlagartig verbessert hat. Sollte jemand etwas in dieser Richtung erfahren, werden wir uns sofort mit dem betreffenden Patienten genauer befassen. Wenngleich es zum Krankenhausalltag gehört, daß sich der Zustand von Patienten normalerweise auch ohne das Zutun unseres intelligenten Virenfreundes ständig verbessert und in seltenen Fällen auch mal verschlechtert. Haben Sie nach Ihren ausgiebigen persönlichen Erfahrungen mit diesem Organismus irgendwelche Vorschläge, die uns bei der Suche behilflich sein könnten?“

Als der einzige Nichtmediziner im Raum war Hewlitt überrascht, daß die erste Frage gleich an ihn gerichtet wurde. Entweder war Diagnostiker Conway ein sehr höflicher Mensch oder aber wirklich verzweifelt.

„Ich… ich wußte ja nicht einmal, daß dieses Ding in mir steckte“, antwortete er etwas verlegen. „Tut mir leid.“

Nun meldete sich zum ersten Mal O'Mara zu Wort: „Irgend etwas müssen Sie aber wissen, auch wenn es Ihnen nicht bewußt ist. Haben Sie nicht hin und wieder irgendwelche Gefühle oder Gedanken gehabt, die Ihnen damals eigenartig vorgekommen sind? Oder ist Ihnen aufgefallen, daß Sie Personen, Gegenstände oder Begebenheiten von einem Standpunkt aus betrachtet haben, der sich möglicherweise mit Ihrem eigenen gar nicht vereinbaren ließ? Erinnern Sie sich daran, merkwürdige Träume oder Alpträume gehabt zu haben, oder an atypische Verhaltensweisen? Auch wenn die Inbesitznahme Ihres Körpers durch diese Kreatur keine optisch oder körperlich spürbaren Folgen hatte, so müssen Sie seine Gegenwartzumindest unterbewußt wahrgenommen haben. Können Sie sich rückblickend an irgend etwas in dieser Richtung erinnern? Denken Sie bitte genau nach.“

Hewlitt schüttelte den Kopf. „Die überwiegende Zeit habe ich mich eigentlich recht wohl gefühlt. Allerdings hat es mich zur Weißglut getrieben, wenn ich hin und wieder wirklich krank gewesen bin und mir niemand geglaubt hat. Jetzt kenne ich ja auch den Grund für das, was mir widerfahren ist. Aber dieses Ding ist fast mein ganzes bisheriges Leben in meinem Körper gewesen, also kann ich auch nicht sagen, wie ich mich gefühlt oder verhalten hätte, wenn es nicht in mir drin gewesen wäre. Deshalb fürchte ich, daß ich Ihnen keine große Hilfe bin.“

„Solange Sie nicht bereit sind, wirklich genau nachzudenken, haben Sie wohl recht“, bemerkte O'Mara in geringschätzigem Ton.

„Freund Hewlitt!“ mischte sich Prilicla rasch ein, der Hewlitts Gefühle notgedrungen teilte und dessen empfundene Scham auf ein erträgliche Maß reduzieren wollte. „Wahrscheinlich stellt sich die Frage sowieso ganz anders, weil diese Kreatur sozusagen von Natur aus nicht nachweisbar ist. Aber betrachten wir es doch mal so: Über zwanzig Jahre lang sind Sie von einem Wesen in Besitz genommen worden, das die Fähigkeit besaß, den genetischen Entwurf Ihres Körpers genau zu studieren, um Sie gesundheitlich völlig wiederherzustellen, als Sie sich versehentlich vergiftet haben und bei einem Sturz vom Baum und später bei einem Flugzeugunglück schwere Verletzungen zugezogen haben. Dabei kann es sich natürlich um den reinen Selbsterhaltungstrieb handeln, das Leben eines gesunden und langlebigen Wirtskörpers unbedingt aufrechterhalten zu müssen. Ebenso ist es denkbar, daß Ihr ehemaliger Leibarzt Vergnügen und eine gewisse Befriedigung darin findet, sich neuen Lebensformen anzupassen. Vielleicht steckt aber noch mehr dahinter. Von einem hochintelligenten Wesen kann man aber weniger eigennützige und eher subtilere Motive wie Altruismus, einen gewissen Gerechtigkeitssinn oder auch nur Dankbarkeit erwarten. Es konnte Ihre Gefühle mit Ihnen teilen, zumindest diejenigen, die einfacher nachzuvollziehen waren oder von Ihnenbesonders stark empfunden wurden – obwohl es die während Ihrer Pubertät zusammenhängenden Gemütsschwankungen genausowenig wie Sie richtig einzuordnen wußte. Einige Ihrer emotionalen Signale, die unter anderem zur Genesung Ihrer sterbenden Katze und zur Wiederherstellung von Morredeths Fell führten, verstand es wiederum so gut, daß es sich zum sofortigen Handeln genötigt sah.

Hat es das getan, weil es Ihren Kummer geteilt hat, oder wollte es nur die Gelegenheit nutzen, eine andere Lebensform zu erforschen? Unabhängig davon hat es die Katze in einem Gesundheitszustand hinterlassen, der weit über die normale Lebenserwartung dieser Spezies hinaus aufrechterhalten wurde. Sie selbst, Patientin Morredeth und voraussichtlich eine unbekannte Anzahl anderer Wesen hat es ebenfalls zu einer perfekten Gesundheit verhelfen. Jetzt müssen wir das › Warum? ‹ herausfinden. Falls Freund O'Mara eine Idee hat, woher dieses Wesen seine Motivation bezieht, dann würden unsere Chancen, es zu finden und zu isolieren, erheblich steigen.“

„Ich würde Ihnen wirklich gern behilflich sein, wenn ich könnte, aber … “, begann Hewlitt, doch der Chefpsychologe hob ungeduldig die Hand.

„Ja ja, das wissen wir“, murmelte O'Mara. „Jedenfalls hat dieses denkende Wesen in Ihrem Körper gelebt und muß auch Ihre Sinneseindrücke wahrgenommen haben, weil es sich Ihrer Außenwelt bewußt gewesen ist und während der Zwischenfälle mit der Katze und Morredeth unter Ihrer emotionalen Anleitung gehandelt hat. Mir ist klar, daß die Situation ungewöhnlich war, weil Sie in physischer wie psychischer Hinsicht über keine Erfahrungswerte verfügen, um Vergleiche anzustellen. Wenn Sie allerdings die Sinneseindrücke und Gefühle mit dem Wesen geteilt haben, kann man logischerweise davon ausgehen, daß es sich dabei um einen Austauschprozeß gehandelt hat und daß Sie die Gedankengänge der Virenkreatur durchaus zur Kenntnis genommen haben, auch wenn Sie diese nicht richtig einzuordnen wußten.

Wahrscheinlich denken Sie jetzt, daß ich mich an einen Strohhalm klammere, nicht wahr? Tja, und da haben Sie auch völlig recht“, beendete der Chefpsychologe seine Ausführungen. „Trotzdem möchte ich gernwissen, wie Sie darüber denken.“

Hewlitt schwieg eine Weile und versuchte, seine Gedanken zu sortieren, dann antwortete er: „Ich will Ihnen wirklich gern helfen, Major O'Mara. Wenn ich mir aber die Gefühle und Erlebnisse über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren ins Gedächtnis zurückrufen soll, dann kann ich mich an einige Dinge nur noch sehr verschwommen erinnern. Und da ich heute weiß, was wirklich mit und in mir vorgegangen ist, könnte ich unterbewußt dazu neigen, im nachhinein die Wahrheit womöglich noch verzerrter darzustellen, als sie es ohnehin schon gewesen ist. Oder sehen Sie das anders?“

Der Chefpsychologe hatte Hewlitt die ganze Zeit mit seinen stahlgrauen Augen fixiert und erwiderte nur: „Und den nächsten Satz werden Sie höchstwahrscheinlich wieder mit einem ›Aber‹ beginnen.“

„Aber“, fuhr Hewlitt entgegenkommenderweise fort, „die Ereignisse, die mir seit meiner Ankunft im Orbit Hospital widerfahren sind, stellen sich für mich sehr viel klarer dar, und einige meiner Gefühle überraschen mich. Um das genauer zu erklären, muß ich bis in meine Kindheit zurückgehen.“

O'Mara starrte ihn noch immer unentwegt an; der Chefpsychologe schien völlig vergessen zu haben, daß man hin und wieder die Augenlider auf und ab bewegen sollte.

Hewlitt holte tief Atem und erzählte weiter. „Ich bin damals viel zu jung gewesen, um zu verstehen, weshalb von allen Fremdweltlern, die auf dem etlanischen Stützpunkt stationiert waren, ein solch vorbildliches Verhalten verlangt wurde. Aufgrund der noch im Aufbau befindlichen Kulturkontakte mußten sie vor der einheimischen Bevölkerung demonstrieren, wie gut sich Tralthaner, Orligianer, Kelgianer und Terrestrier verstehen und wie schön deren Kinder miteinander spielen können – natürlich nur unter entsprechender Aufsicht. Als ich aber eines Tages von einer melfanischen Amphibie, die anscheinend glaubte, ich könne auch Wasser atmen, auf den Grund gezogen wurde, muß das aufsichtsführende erwachsene Wesen einen anderen Bereich des Schwimmbeckens im Augenmerk gehabt haben. Sicher war das keine Absicht, und ich war auch eher zu Tode erschrocken,als daß ich einen körperlichen Schaden davongetragen hätte, trotzdem habe ich danach nie wieder den Spielplatz einer fremden Spezies aufgesucht. Meine Eltern erzählten mir damals, daß ich diese Angst mit zunehmendem Alter überwinden würde, doch ansonsten fanden sie sich damit ab und unternahmen nichts weiter dagegen. Deshalb habe ich oft allein zu Hause gesessen und mich gelangweilt, bis ich darauf kam, die Gegend zu erforschen, wo dann auch der Unfall mit dem Baum passierte.

Da Sie meine Gespräche auf der Station abgehört haben, wissen Sie ja, daß meine Arbeit auf der Erde zwar interessant, aber bestimmt nicht aufregend ist, und daß irgendwelche Treffen mit Fremdweltlern nicht dazugehören. Natürlich habe ich immer wieder Aliens in den verschiedenen Nachrichtensendungen gesehen, aber entgegen den Beteuerungen meiner Eltern habe ich trotz zunehmenden Alters nie die Angst vor ihnen verloren. In den Krankenhäusern, in denen ich behandelt wurde, waren natürlich auch einige Extraterrestrier beschäftigt, aber ich habe sie nie in meine Nähe kommen lassen, und da mich die Ärzte für psychisch krank hielten, willigten sie sogar ein, mich von Aliens nicht versorgen zu lassen.“

O'Mara runzelte ungeduldig die Stirn, einen Augenblick lang waren seine Augen sogar hinter den Brauen verborgen, und dann grummelte er: „Ich nehme an, daß uns das, was Sie da von sich geben, irgendwo hinführt, nicht wahr?“

„Wahrscheinlich nirgendwohin“, entgegnete Hewlitt, ohne auf die sarkastische Bemerkung genauer einzugehen. „Auf dem Weg hierher bin ich von einem großen und stark behaarten orligianischen Arzt betreut worden, der sich in seiner maßlosen Selbstüberschätzung eingebildet hat, er könne mich allein dadurch heilen, indem er mich davon überzeugt, daß meine Probleme lediglich einer übersteigerten Phantasie entsprängen. Mir war durchaus klar, und sei es nur unterbewußt, daß er mir trotz seiner äußeren Erscheinung nichts antun würde. Andererseits ist er der erste Alien gewesen, den ich seit meiner Kindheit persönlich kennengelernt habe. In seiner Gegenwart habe ich sowohl Neugierde als auch Angst empfunden, doch ist mir sein arrogantes Auftreten derart auf die Nerven gegangen, daßich auch keine Lust hatte, ihm irgendwelche Fragen zu stellen.

Bei meiner Ankunft hier im Orbit Hospital bin ich dann von einer hudlarischen Schwester empfangen worden, und auf dem Weg zur Station sind wir an Wesen vorbeigekommen, die ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht hätte vorstellen können. Obwohl ich wußte, daß es sich um Mitarbeiter und Patienten des Hospitals handelte, habe ich mich trotzdem derart vor ihnen gefürchtet, daß ich eine ganze Weile vor Angst nicht einschlafen konnte. Gleichzeitig bin ich aber auch neugierig gewesen und wollte mehr über sie erfahren. Vor Oberschwester Leethveeschi hatte ich zum Beispiel eine Heidenangst, und zugleich faszinierte sie mich.“

Naydrad gab ein gurgelndes Geräusch von sich, was aber Hewlitt und die anderen im Raum nicht zu irritieren vermochte.

„Innerhalb weniger Stunden erkundigte ich mich über Hudlarer und über Wesen wie Leethveeschi und Medalont. Am nächsten Tag unterhielt ich mich bereits mit anderen Patienten und spielte sogar Karten mit ihnen. Was ich damit sagen will, ist, daß ich ein solches Verhalten von mir selbst niemals erwartet hätte. Die Xenophobie, die ich empfunden habe, entsprang sicherlich meinen ureigensten Ängsten, aber die brennende und anhaltende Neugier auf die anderen Lebensformen um mich herum, muß von jemand anderem ausgegangen sein.“

Kurz erweckte das Büro den Eindruck eines Standbilds, auf dem ihn alle anblickten, weil er die Kamera in der Hand hielt. Erst als O'Mara das Wort ergriff, kehrten Ton und Bewegung zurück.

„Im Grunde trifft es wohl zu, was Sie gesagt haben, aber eben nicht ganz. Anscheinend haben Ihre Eltern nämlich doch recht behalten, daß Sie Ehre Angst vor Fremdweltlern mit der Zeit ablegen würden, denn nach Ihrer Ankunft hier im Hospital haben Sie das innerhalb weniger Stunden geschafft. Selbst Prilicla war von Ihnen tief beeindruckt. Er hat mir erzählt, daß er bei Ihnen, als Sie das medizinische Team der Rhabwar zum ersten Mal kennengelernt haben, nur hin und wieder sehr schwache fremdenfeindliche Gefühle feststellen konnte – zu einem Zeitpunkt also, als die Virenkreatur gar nicht mehr in Ihrem Körper steckte. Seitdem diesesWesen nach dem Zwischenfall mit Morredeth Sie verlassen hat, sind für die Neugierde und das Interesse, das Sie plötzlich für ETs empfinden, allein Sie selbst verantwortlich.“

„Ich nehme an, das sollte ein Kompliment sein“, warf Hewlitt lächelnd ein.

„Nein, lediglich eine Feststellung“, entgegnete O'Mara mit grimmiger Miene. „Meine Aufgabe hier ist es, die Leute auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, und nicht, sie abheben zu lassen. Trotzdem hilft uns das, was Sie eben gesagt haben, vielleicht etwas weiter. Können Sie den Intensitätsgrad dieser geteilten Neugierde genauer beschreiben? Ich meine, wenn man einmal unterstellt, daß diese Virenkreatur ein gesteigertes Interesse an anderen Lebensformen als potentielle Wirtskörper hat, haben Sie dann – neben Ihren eigenen Gefühlen der Neugier – auch etwas von diesen doch eher egoistischen Absichten bemerkt? Hatten Sie zum Beispiel den Eindruck, daß Ihr Leibarzt aus eigenem Willen einen anderen Wirtskörper aufsuchen konnte? Und sind Sie sich wirklich sicher, daß seine Übertragung auf einen anderen Körper von Ihrem emotionalen Zustand abhing, wie es ja bei Ihrer Katze und Morredeth der Fall gewesen ist? Versuchen Sie, sich an all Ihre Gefühle genau zu erinnern, und nehmen Sie sich bitte Zeit zum Nachdenken, bevor Sie antworten.“

„Da brauche ich nicht lange nachzudenken“, widersprach Hewlitt. „Beide Male, als die Virenkreatur meinen Körper verlassen hat, habe ich tiefes Mitleid empfunden, so daß ich mir nicht absolut sicher sein kann, ob diese Gefühle für die Übertragung unbedingt notwendig waren. Was die Katze angeht, so habe ich sie die ganze Nacht dicht am Körper gehalten, aber der Kontakt mit Morredeth dauerte nur etwa eine Minute, allenfalls zwei. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß ich meine Hände wegziehen wollte, weil das Zeug, das auf die Wunde und Verbände geschmiert war, sich eklig anfühlte, daß ich sie aber zuerst kaum bewegen konnte. Als es mir schließlich gelang, mich loszureißen, hatte ich in den Handflächen und Fingern ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, ein heißes Kribbeln, das aber nach wenigen Sekunden wieder verschwand. Damalshabe ich nichts davon erwähnt, weil mir sowieso niemand meine Geschichten abnahm und ich es ohnehin nicht für so wichtig hielt.“

„Und erinnern Sie sich noch an mehr Dinge, die Sie selbst nicht für so wichtig halten?“ zischte O'Mara.

Hewlitt atmete tief durch, wobei er Prilicla zuliebe versuchte, die sarkastische Bemerkung des Majors zu überhören. Dann fuhr er fort: „Wenn wir unterstellen, daß die Virenkreatur für das Aufsuchen eines neuen Wirts körperlichen Kontakt benötigt und es schon immer daran interessiert war, eine solche Möglichkeit wahrzunehmen, wie ist es dann um mein Interesse an Leethveeschi und diesem Doktor bestellt, der in einem Druckbehälter auf die Station gerollt kam? Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich mit den beiden keinen körperlichen Kontakt haben wollte, insbesondere nicht mit der Oberschwester, so daß die Neugierde nicht von mir stammen konnte. Bedeutet das nun, daß diese Virenkreatur ihre Zeit verschwendet, indem sie Sehnsüchten nachhängt, obwohl sie diese selbst unmöglich stillen kann, oder ist sie womöglich in der Lage, in jedes x-beliebige Lebewesen einzudringen?“

O'Mara stieß verärgert einen kurzen Seufzer aus. „Die ganze Zeit bestand die Gefahr, daß Sie das Problem nur noch komplizierter machen würden, anstatt bei der Suche nach einer Lösung behilflich zu sein. Falls Sie nämlich recht haben sollten und unser Freund nicht allein von warmblütigen Sauerstoffatmern als Wirtskörper abhängig ist, dann kompliziert das unsere Suche erheblich.“ Der Chefpsychologe blickte die anwesenden Mediziner der Reihe nach an. „Ist eine solch radikale, speziesübergreifende Übertragung überhaupt möglich?“

„So gut wie unmöglich“, antwortete Diagnostiker Conway als erster.

„Bis zur Einlieferung von Patient Hewlitt haben wir es alle für unmöglich gehalten, daß ein Mikroorganismus vom Planeten X in einer Lebensform des Planeten Y weiterexistieren kann“, konterte O'Mara in seinem typisch ironischen Ton.

Conway schien sich nicht beleidigt zu fühlen und fuhr fort: „Deshalb habe ich ja auch gesagt: so gut wie unmöglich. Jedoch gibt es riesigeUnterschiede gegenüber dem Metabolismus eines Chloratmers. Die erforderliche Anpassung an die biochemischen Prozesse solcher Wesen wäre, und ich wiederhole mich da gern, so gut wie unmöglich… “

„Und wer hätte darüber hinaus schon Lust, in einem illensanischen Körper zu leben?“ merkte Naydrad an.

„… dasselbe gilt natürlich auch für exotischere Lebensformen wie die TLTUs, SNLUs oder VTXMs“, setzte Conway seine Ausführungen fort, wobei er Hewlitt einen Blick zuwarf, der ihm zu verstehen geben sollte, daß diese ergänzenden Erläuterungen in erster Linie ihm galten. „Ich würde sogar behaupten, daß diese als Wirtskörper überhaupt nicht in Frage kommen. Die ersten atmen überhitzten Dampf, und das unter Bedingungen, unter denen in grauer Vorzeit OP-Instrumente sterilisiert wurden. SNLUs sind zarte, kristalline, auf Methan basierende Lebensformen, die sofort zu Asche zerfallen, wenn die Umgebungstemperatur auf über minus hundertzwanzig Grad Celsius steigt. Bei den VTXM-Telfanern handelte es sich wiederum um eine sogenannte heiße Lebensform, das aber nicht wegen einer erhöhten Körpertemperatur, sondern weil diese Wesen für die Aufrechterhaltung ihrer Lebensfunktionen hohe Mengen harte Strahlung aufnehmen müssen.

Daraus folgt, daß diese drei Spezies als potentielle Wirte ausgeschlossen werden können, weil in deren Körpern kein Virus zu überleben vermag.“

Bevor O'Mara darauf antworten konnte, vollzog Prilicla eine ziemlich wackelige Landung auf einem der freien Möbel und zitterte leicht. Dies war, wie Hewlitt längst herausgefunden hatte, ein deutliches Indiz dafür, daß sich der Empath innerlich darauf vorbereitete, etwas Unangenehmes sagen zu müssen – und richtig:

„Es könnte durchaus sein, daß Sie sich irren, Freund Conway. Und auch ich trage möglicherweise eher zur Erschwerung als zur Lösung des Problems bei, weil wir die Telfaner als in Frage kommende Wirtskörper nicht ausschließen können. Obwohl sich die Fluchtrakete unserer Virenkreatur in unmittelbarer Nähe zu der Nuklearexplosion befand, durch die Lonvellins Schiff zerstört wurde, gelang es ihr zu überleben. DieAußenhülle des Schutzbehälters war teilweise geschmolzen und durch herumfliegende Wrackteile in Mitleidenschaft gezogen worden, so daß sie problemlos erhebliche Mengen radioaktiver Strahlung verarbeitet haben muß, wenn sie nach fünfundzwanzig Jahren immer noch am Leben ist. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich den kleinen Hewlitt als Wirt ausgesucht hat, hatte sie in diesem Behälter gelebt und eine enorm hohe Dosis radioaktiver Strahlen aufgenommen, auch wenn diese während der fünf Jahre nach der Explosion allmählich schwächer wurde.“

Diagnostiker Conway nickte nachdenklich.

O'Mara lächelte sogar, obwohl man ihm ansehen konnte, daß seine Gesichtsmuskulatur eine solch anstrengende Übung nicht gewohnt war. „Will sich noch jemand blamieren? Hewlitt, Sie wollen etwas dazu sagen.“

Einen Augenblick lang fragte sich Hewlitt, ob auch der Chefpsychologe über empathische Fähigkeiten verfügte, doch dann kam er zu dem Schluß, daß O'Mara wahrscheinlich nur eine gute Beobachtungsgabe und lange Erfahrung besaß.

„Na ja, aber wahrscheinlich ist das nicht wichtig“, antwortete er schließlich etwas verlegen.

„Ich werde es Sie sofort wissen lassen, ob es wichtig ist oder nicht“, reagierte O'Mara etwas ungehalten. „Also spucken Sie's schon aus!“

Hewlitt schwieg ein Weile und dachte darüber nach, wie es einem so unsympathischen Menschen hatte gelingen können, in einem solch verantwortungsvollen Beruf wie dem des Psychiaters eine derartige Karriere zu machen. „Etwas an dem Wiedersehen mit meiner Katze auf Etla macht mir schon die ganze Zeit zu schaffen. Früher ist Snarfe nichts als ein kleines Kätzchen gewesen, also längst nicht so groß und fett wie heute, und trotzdem habe ich sie sofort wiedererkannt. Andererseits habe auch ich mich körperlich völlig verändert, bin vier- bis fünfmal schwerer, sehe völlig anders aus und besitze eine ganz andere Stimme als damals, und dennoch hat sie mich gleich erkannt und ist zu mir gekommen. Wahrscheinlich denken Sie jetzt, daß ich zu Sentimentalitäten neige …“„Richtig, der Gedanke ist mir gerade gekommen“, warf O'Mara ein.

„…aber ich glaube, dahinter steckten mehr als nur liebevolle Erinnerungen. Bevor ich hier eingeliefert wurde und sich Lieutenant Braithwaite bei mir über meine Kindheit erkundigt hat, hatte ich Snarfe nämlich so gut wie vergessen gehabt. Das Wiedersehen war eher so, als bestünde zwischen uns eine Bindung, ein Gefühl, das in gewisser Weise an den Stolz auf ein gemeinsam geteiltes Erlebnis erinnerte, das weit über das normale Verhältnis zwischen einem Kind und seinem Lieblingstier hinauszugehen schien. Dieses Gefühl war nur unterschwellig vorhanden und ist nur sehr schwer zu beschreiben und… na ja, wahrscheinlich liegt das nur an diesem ganzen Gerede über diese Invasion von intelligenten Viren. Dieses Mal scheint meine Phantasie wirklich mit mir durchzugehen, und ich hätte das lieber nicht erwähnen sollen.“

„Und dennoch haben Sie es gerade getan, obwohl es Ihnen peinlich ist und Sie sich vielleicht sogar lächerlich vorkommen“, stellte O'Mara klar. „Oder wollen Sie etwa damit bewirken, daß ich oder eine der hier versammelten medizinischen Koryphäen entscheiden soll, ob Sie das, was Sie eben gesagt haben, lieber hätten erwähnen sollen oder nicht?“

O'Maras › medizinische Koryphäen‹ folgten Hewlitts Beispiel und schwiegen lieber. Er erwiderte ihre Blicke und fragte sich, ob die Augenlider des Chefpsychologen oben festgeklebt waren, damit er sie nie schließen mußte.

O'Mara schmunzelte zufrieden. „Sehr schön, und jetzt überlegen Sie einmal ganz genau, und vor allem denken Sie Ihren Gedanken bis zu Ende. Der Gebrauch des Wortes ›unmöglich‹ wird mir in diesem Raum ein wenig zu locker gehandhabt, und deshalb werde ich der Versuchung widerstehen, es ein weiteres Mal zu verwenden. Also, Hewlitt, wollen Sie damit behaupten, und sei es auch nur widerstrebend, daß es sich bei diesem merkwürdigen und schwer zu beschreibenden Gefühl, das Sie für Ihr ehemaliges Haustier empfunden haben und das nach Ihrem Dafürhalten von diesem erwidert wurde, um eine Art Hinterlassenschaft Ihres gemeinsamen Vireneindringlings handeln könnte? Und wollen Sie darüber hinausbehaupten, daß die ehemaligen Wirtskörper der Virenkreatur gemeinsam dieses ganz besondere und nur schwer zu bestimmende Gefühl teilen und sich womöglich untereinander erkennen können? Vermutlich habe ich recht, weil Ihr Gesicht knallrot geworden ist, trotzdem hätte ich gern von Ihnen eine mündliche Bestätigung.“

„Ja, verdammt noch mal!“ fauchte Hewlitt. „Und dieses ›Ja‹ gilt für beide Fragen.“

O'Mara nickte zufrieden und fuhr in ruhigem Ton fort: „Das bedeutet, daß ich Sie als eine Art Virenjäger einsetzen könnte, der die Fähigkeit besitzt, unsere Jagdbeute mittels seiner ehemaligen und mutmaßlich auch gegenwärtigen Wirtskörper aufzuspüren. Natürlich sind wir Ihnen für jede Hilfe dankbar. Mal ganz unabhängig von dem sofortigen Wiedererkennen und den vagen Gefühlen, die Sie nach Ihrer eigenen Aussage mit der Katze geteilt haben – wobei uns Snarfe bedauerlicherweise keine Zusammenarbeit anbieten kann -, gibt es noch irgendwelche anderen Beweise, Beobachtungen oder schwer zu beschreibende Gefühle, auf denen sich Ihre Behauptung stützen läßt?“

Hewlitt entriß sich dem Blick O'Maras, weil er das Gefühl hatte, daß seine Schamröte den ganzen Raum aufheizen mußte.

„Freund, O'Mara“, ergriff Prilicla erneut das Wort. „Beim Wiedersehen von der Katze und Freund Hewlitt habe ich die Gefühle der beiden wahrnehmen können, und sie sind genau so gewesen, wie sie Freud Hewlitt eben beschrieben hat.“

„Und wie ich bereits nahegelegt habe, mein kleiner Freund, sind Hewlitts nur sehr vage zu beschreibende und äußerst subjektiv wahrgenommenen Gefühle für unsere Zwecke höchstwahrscheinlich unbrauchbar“, stellte O'Mara fest. Dann drückte er auf den Kommunikator und sagte: „Ist der Padre schon zurück? Gut, dann schicken Sie ihn herein.“ An Hewlitt gewandt, fuhr er fort: „Wir müssen jetzt einige medizinische Angelegenheiten klären, so daß Ihre Anwesenheit nicht länger erforderlich ist. Außerdem bin ich mir sicher, daß ich Sie mehr in Verlegenheit gebracht habe, als es Ihnen lieb und für einen einzigen Tag verträglich ist. Danke fürIhre Hilfe. Padre Lioren wird Sie jetzt in die Kantine begleiten.“

Im selben Augenblick, als der Tarlaner den Raum betrat, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte Hewlitt mit all seinen vier Augen direkt in dessen immer röter werdendes Gesicht. Hewlitt erwiderte den Blick und wollte etwas sagen, hatte aber Angst, sich erneut lächerlich zu machen.

„Hewlitt, was ist denn?“ erkundigte sich O'Mara in einem Ton, der sich überhaupt nicht mehr sarkastisch anhörte, sondern eher von Mitleid und Besorgnis geprägt war. „Sie haben über viele Jahre die Erfahrung machen müssen, daß Ihnen von der medizinischen und psychiatrischen Zunft kein Wort geglaubt wird, und deshalb hatte ich gehofft, daß ich Ihre Gefühle mit meiner etwas grobschlächtigen Art nicht verletzen könnte. Unter diesen Umständen kommt mir Ihre Reaktion etwas anormal vor. Jetzt erzählen Sie mir doch bitte, was Sie mir nur äußerst ungern verraten wollen.“

Hewlitt zögerte noch mit der Antwort, doch dann zeigte er auf Lioren und sagte: „Dieses vage Gefühl des Wiedererkennens, das ich Ihnen eben zu beschreiben versucht hatte, stammt vom Padre.“

„Das kann ich nur voll und ganz bestätigen“, bekräftigte Prilicla.

Zum ersten Mal seit dem Betreten von O'Maras Büro sah Hewlitt den Chefpsychologen mit den Augen zucken.

25. Kapitel

O'Mara schwang sich auf dem Sessel herum, damit er den in der Tür stehenden Padre besser sehen konnte, und fragte ihn: „Verbergen Sie etwas vor uns, Padre?“

Lioren verdrehte ein Auge in Richtung des Psychologen und hielt die anderen drei auf Hewlitt gerichtet, als er antwortete: „Jedenfalls nicht bewußt. Für mich kommt das alles genauso überraschend wie für Sie. Ihre Anweisung lautete, daß die Mitarbeiter des psychologischen Teams das hier geführte Gespräch zur späteren Analyse draußen mit anhören sollten. Da ich von der AUGL-Station vorzeitig zurückgekehrt bin, habe ich auch Patient Hewlitts Schilderung seiner Gefühle bezüglich der Katze mitbekommen. Ich… ich brauche erst mal etwas Zeit, um darüber nachzudenken.“

„Dann tun sie das“, ermunterte ihn O'Mara. „Aber versuchen Sie bitte, beim Sortieren Ihrer Gedanken nichts wegzulassen.“

„In Ordnung.“ Lioren schien sich durch die letzte Bemerkung des Chefpsychologen nicht sonderlich beleidigt zu fühlen, es sei denn, das Verdrehen eines Auges an die Decke galt auf Tarla bereits als abfällige Geste. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Während meiner Tätigkeit hier am Hospital empfinde ich sehr oft unterschwellige und zumeist kaum zu beschreibende Gefühle für meine Schützlinge, sowohl für die Patienten als auch für die Mitarbeiter; umgekehrt gilt übrigens häufig dasselbe. Obwohl wir Tarlaner körperlichen Kontakt zwischen fremden Wesen abstoßend finden, so halte ich es doch für notwendig, jemandem einfach die Hand zu halten oder ihn zu streicheln, um Gefühle zu vermitteln, die für die betroffenen Personen zu schwierig auszudrücken sind. Bevor Hewlitt von der Existenz einer von ihm empfundenen Bindung zwischen ihm und seiner Katze erzählte und mir klar wurde, daß zwischen uns beiden und der ehemaligen Patientin Morredeth eine ähnliche Verbindung besteht, habe ich die ganze Angelegenheit überhaupt nicht für wichtig gehalten. Doch jetzt stellt sich alles gänzlich anders dar, denn anscheinend bin ich zu einemneuen Wirt für die Virenkreatur geworden. Ich weiß sogar, wie und wann diese Übertragung stattgefunden haben muß.

Damals ist mir an dem Zwischenfall natürlich nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Die Beschädigung des Fells ist für eine junge Kelgianerin eine doppelte Tragödie. In den Augen dieser Spezies handelt es sich nicht nur um eine häßliche körperliche Entstellung, durch die eine zukünftige Paarung praktisch ausgeschlossen ist, sondern auch um eine ernsthafte Beeinträchtigung ihres wichtigsten Kommunikationsmittels. Von dem Zeitpunkt an, an dem Patientin Morredeth erfuhr, daß es sich um einen dauerhaften Zustand handeln würde, bedurfte sie dringend seelischen Beistands. Wie die meisten zivilisierten Planetenbevölkerungen verfügen auch die Kelgianer über verschiedene religiöse Überzeugungen, deren Grundzüge mir einigermaßen vertraut sind, doch Morredeth billigte keine davon. Während meiner täglichen Besuche konnte ich ihr deshalb nur ganz allgemein Trost spenden und mich mit ihr unterhalten. Dazu gehörte natürlich auch der neueste Krankenhausklatsch über irgendwelche Patienten oder Mitarbeiter, um sie von ihren eigenen Problemen abzulenken. Viel habe ich allerdings nicht damit erreicht, denn die Patientin fiel stets in einen Zustand tiefster Depressionen zurück. Erst bei dem Treffen, das direkt nach dem unfreiwilligen körperlichen Kontakt mit Patient Hewlitt stattfand, legte sie ein völlig verändertes Verhalten an den Tag.“

Lioren hielt kurz inne, und bei der freudigen Erinnerung an dieses Ereignis geriet sein großer, spitz zulaufender Körper unter dem umhangähnlichen Mantel leicht ins Zittern, eher er sich wieder beruhigte.

„Auch wenn ich hier der Krankenhausgeistliche bin, so habe ich doch Schwierigkeiten damit, irgendein Vorkommnis, selbst wenn es einem hin und wieder völlig unerklärlich vorkommen mag, als übernatürlich anzusehen. Da ich aber zu dem Zeitpunkt noch nichts von der Existenz dieser intelligenten Virenkreatur wußte, begann selbst ich allmählich an Wunder zu glauben. Morredeths Verhalten nach ihrer Heilung kann man wirklich nicht mehr als ganz normal bezeichnen, weil sie vor Freude undErleichterung fast durchgedreht zu sein schien. Ich hatte die beschädigte Stelle ihres Fells schon zuvor einmal berührt oder, besser gesagt, leicht gestreichelt, um ihr Trost zu spenden. Als Morredeth wieder gesund war, bestand sie aber darauf, die Freude mit ihr zu teilen, indem ich die Beweglichkeit ihres wiederhergestellten Fells mit meinen Händen selbst überprüfen sollte. Dabei muß es passiert sein.

Das Fell war wirklich ungeheuer beweglich, und zwar so sehr, daß sich lange Büschel davon um meine Finger wickelten. Einen Augenblick lang wurde eine meiner mittleren Hände fest gegen die Haut gepreßt, und ich hatte Angst, mich loszureißen, weil ich befürchtete, dabei einige Strähnen des nachgewachsenen Fells herauszureißen. Danach habe ich zwar bemerkt, daß meine Handfläche feucht war, doch war ich mir nicht sicher, ob es sich dabei um meinen eigenen oder um den Schweiß der Patientin handelte. Natürlich hatte ich erst recht keine Ahnung, daß eine solch plötzlich auftretende Feuchtigkeit mit demÜbertragungsmechanismus dieser Kreatur in Verbindung stehen könnte. Sekunden später zog ich meine Hand ohne Probleme von ihrem Fell zurück, beglückwünschte Patientin Morredeth zu ihrer Heilung und machte mich dann auf den Weg zu anderen Patienten.“

„Haben Sie denn sonst nichts gespürt?“ erkundigte sich Hewlitt, bevor jemand anders etwas sagen konnte. „Ich meine, haben Sie sich irgendwie besser gefühlt oder gesünder oder zumindest irgendwie anders? Oder haben Sie gar keine Veränderungen wahrgenommen?“

O'Mara warf Hewlitt einen mürrischen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Lioren zuwandte und knurrte: „Das wären auch meine Fragen gewesen. Also, wie sieht's damit aus, Padre?“

„Ich kann mich an keine ungewöhnlichen Gefühle erinnern“, antwortete Lioren. „Das Gefühl, das ich jetzt in unmittelbarer Nähe zu einem Exwirt der Virenkreatur empfinde, wurde damals vielleicht durch meine Erleichterung und Freude über Morredeths Heilung in den Hintergrund gedrängt. Was meine Gesundheit angeht, so ist diese sowieso ganz hervorragend, und deshalb kann ich mich körperlich kaum besser fühlen.Was allerdings meinen seelischen Gesundheitszustand betrifft, so bin ich mir da weniger sicher, und anscheinend sind die Heilfähigkeiten unseres Leibarztes auf diesem Gebiet stark begrenzt.“

Hewlitt fragte sich, welches psychologische Problem ein solch integres und selbstloses Wesen, dessen Beliebtheitsgrad bei den Patienten und dem Krankenhauspersonal nur noch durch Prilicla übertroffen wurde, beschäftigen könnte. Noch während er überlegte, ob er sich trauen sollte, diese Frage zu stellen, wurde die Antwort darauf von dem Chefpsychologen höchstpersönlich geliefert.

„Padre, Sie sind von jeder Schuld am Tod der Cromsaggi freigesprochen worden, und ich hoffe, daß Ihr Unterbewußtsein dieses Urteil endlich mal akzeptiert. Aber wo wir gerade bei diesem Thema sind: Auf Cromsag sind Sie ernsthaft verletzt worden und mußten von einem Schiffsarzt operiert werden, der mit der tarlanischen Physiologie nicht sonderlich gut vertraut war, so daß Sie einige kleine Narben zurückbehalten haben. Sind die noch sichtbar?“

„Das weiß ich nicht, weil ich mir meinen Körper nur sehr selten genauer ansehe. Narzißmus ist für uns Tarlaner ein Fremdwort. Soll ich meinen Mantel ablegen?“

„Ja, das wäre wohl angebracht“, forderte ihn O'Mara auf.

Zwei von Liorens mittleren Händen tauchten aus Schlitzen seines langen, blauen Mantels hervor und machten sich daran, die Verschlüsse zu öffnen.

Hewlitt war das etwas peinlich. Er blickte hilfesuchend zu Prilicla, der direkt neben ihm schwebte, und flüsterte zu ihm hoch: „Soll ich mich umdrehen?“

„Nein, Freund Hewlitt“, beruhigte ihn der Empath. „Tarlaner können mit dem terrestrischen Nacktheitstabu überhaupt nichts anfangen, und der blaue Mantel, den er trägt, ist zum einen ein Symbol für seinen Beruf und seine akademische Würde, und zum anderen verbergen sich darin etliche Innentaschen. Und jetzt sehen Sie genau hin. Freund Lioren hat sich mehrmals umgedreht, und ich habe keine einzige Narbe entdeckenkönnen.“

„Weil es offensichtlich keine mehr gibt“, stellte Lioren verdutzt fest, wobei sich seine vier Augen nach unten bogen und an ihren Stielen wie reife Früchte baumelten. „Die Operation ist damals trotz der gebotenen Eile sehr ordentlich durchgeführt worden, so daß die Narben kaum zu sehen waren, aber jetzt sind sie sogar völlig verschwunden.“

O'Mara nickte. „Augenscheinlich hat unser kleines Virus seine übliche Visitenkarte hinterlassen: einen perfekt geheilten und gesunden Körper. Das ist genau die Bestätigung, die wir brauchen, um zu wissen, daß Sie ein Wirt gewesen sind, und vielleicht sind Sie es sogar immer noch.“ Der Major blickte zu Prilicla hinauf. „Na, was ist? Ist unser kleiner Hausarzt noch in seiner Praxis oder schon auf dem Weg zu einem anderen Patienten?“

„Offenbar ist er nicht mehr da“, antwortete der Empath. „Vom Padre geht nur eine Quelle emotionaler Ausstrahlungen aus, und diese stammt von ihm selbst. Falls eine andere Intelligenz anwesend wäre, würde ich sie bei dieser kurzen Entfernung auf jeden Fall bemerken.“

„Sind Sie sich wirklich sicher?“ hakte O'Mara nach. „Demnach gehen Sie also davon aus, daß Sie dieses Wesen immer entdecken würden, ungeachtet der Spezies seines Wirtskörpers, richtig?“

„Ja, Freund O'Mara. Ich käme gar nicht darum herum. Auf emotionaler Ebene könnte es seine Gegenwart vor mir niemals verbergen, genausowenig wie es mir entgehen würde, wenn Ihnen ein zweiter Kopf wüchse …“

O'Mara lächelte tatsächlich zum ersten Mal. „In diesem medizinischen Irrenhaus könnte das durchaus von Vorteil sein.“

„…bei einer Person wie Freund Conway, der gleichzeitig über den Verstand von acht oder neun verschiedenen Wesen zu verfügen glaubt, bin ich mir allerdings weniger sicher“, fuhr der Empath fort. „Dadurch wird die emotionale Ausstrahlung ziemlich verworren, so daß ihr ein gewisser Zweifel anhaftet.“

„Diagnostiker Conway ist auf gar keinen Fall ein ehemaliger Wirt“,mischte sich Hewlitt ein.

„Dem kann ich nur voll und ganz zustimmen“, pflichtete ihm Lioren bei.

„Da bin ich aber heilfroh!“ seufzte Murchison erleichtert und lachte. „Mit einem mehrfach geistig abwesenden Mann verheiratet zu sein ist schon schlimm genug.“

Der Chefpsychologe klopfte einmal ungeduldig mit der Hand auf den Schreibtisch. „Wir schweifen vom Thema ab. Aus naheliegenden Gründen müssen wir das Aufspüren des gegenwärtigen Aufenthaltsortes dieser Kreatur als eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit behandeln… “

So naheliegend sind die Gründe für mich gar nicht, dachte Hewlitt, doch hatte er kaum eine Chance, Fragen zu stellen.

„… für diese Suche steht uns – entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, Prilicla – ein empathischer Spürhund zur Verfügung, der ihre Gegenwart feststellen kann, wenn sich der Wirtskörper in Hörweite befindet und zu keinem Diagnostiker gehört. Außerdem haben wir zwei ehemalige Wirte, die diejenigen Wesen identifizieren können, die bereits in Besitz genommen worden sind, wenn sie sich in Sichtweite befinden. In beiden Fällen muß die exakte Entfernung noch berechnet werden. Alle ehemaligen sowie der gegenwärtige Wirt müssen umgehend aufgespürt werden. Wir sind uns ziemlich sicher, daß Hewlitts einziger körperlicher Kontakt innerhalb des Hospitals mit Patientin Morredeth stattgefunden hat, von der wiederum der Padre die Virenkreatur empfangen hat, bevor diese in einen anderen Patienten eingedrungen ist… “

„Bei allem Respekt, aber es muß sich dabei nicht unbedingt um einen Patienten handeln“, korrigierte ihn Lioren.

O'Mara nickte grimmig und fuhr dann fort: „Padre, ich habe nicht vergessen, daß es zu Ihrem Job gehört, sowohl den Mitarbeitern als auch den Patienten seelischen Beistand zu leisten. Sie müssen noch einmal mit allen reden, und denjenigen ausfindig machen, der sich das Virus von Ihnen eingefangen hat, und, falls es bei der betreffenden Person nicht mehr vorhanden ist, mit allen sprechen, mit denen diese danach in Kontaktgekommen ist, bis sie den aktuellen Wirt aufgespürt haben. Melden sie den Aufenthaltsort sofort dieser Abteilung, und fordern Sie gleichzeitig die Unterstützung des Monitorkorps für die zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen an. Stellen Sie den Ort unter Quarantäne, und bleiben Sie dort mit dem betreffenden Wesen, bis Doktor Prilicla eintrifft, damit er die Anwesenheit der Virenkreatur bestätigen kann.

Falls Sie nichts dagegen haben, kleiner Freund, möchte ich gern, daß Sie parallel dazu eine zweite Suche aufnehmen, und zwar zunächst auf den Stationen der warmblütigen Sauerstoffatmer, in der Hauptkantine und auf der Freizeitebene. Wer auch immer diese Virenkreatur als erster entdeckt, und ganz unabhängig davon, in welchem Wirtskörper sie sich gerade befindet, sie muß isoliert werden, damit wir die notwendigen Schritte einleiten können, die sie daran hindern, ein anderes Opfer aufzusuchen. Sie, Prilicla, werden dann versuchen, das Wesen mit projizierender Empathie zu besänftigen, bis uns eine bessere Kommunikationsform eingefallen ist. Auf keinen Fall dürfen Sie sich dabei körperlich überanstrengen. Wir brauchen Sie nämlich noch als kombiniertes Such- und Kommunikationsgerät und nicht als Patienten.“

„Ich bin kräftiger, als ich auf den ersten Blick aussehe, Freund O'Mara“, merkte Prilicla an. „Naja, wenigstens etwas kräftiger.“

Die Terrestrier im Raum lachten, selbst O'Mara, der dann fortfuhr: „Aus zwei Gründen möchte ich, daß Hewlitt und der Padre als Team zusammenarbeiten. Einer davon ist, daß ich das von Ihnen beschriebene, nur sehr vage und vielleicht auch unzuverlässige Gefühl des Wiedererkennens, das zwischen ehemaligen Wirtskörpern besteht, nicht genau verstehe. Wenn Sie nun beide zusammenarbeiten, ist die Möglichkeit, eine solche Verbindung zu versäumen, meines Erachtens sehr viel geringer. Das zweite ist, daß ein ehemaliger Patient, der frei im Krankenhaus herumläuft – insbesondere einer, der sich im Orbit Hospital nicht genau auskennt und auch zu wenig Erfahrung hat, um Unfälle mit ETs zu vermeiden -, sehr bald wieder als Patient auf eine Station eingeliefert werden würde, es sei denn, er hat einen… nun ja… einen Schutzengel. Ausdiesem Grund werden wir Sie jetzt in eine Unterkunft umquartieren, die ganz in der Nähe von Liorens Quartier liegt. Hat einer von Ihnen etwas gegen diese Regelung einzuwenden?“

Hewlitt schüttelte den Kopf und beobachtete den Padre, der zwei seiner Augen senkte; eine Geste, die wahrscheinlich ebenfalls sein Einverständnis mit O'Maras Vorschlag ausdrücken sollte.

„Gut“, sagte O'Mara. „Aber Sie sollten nachdenken, bevor Sie allem so schnell zustimmen. Ich möchte, daß Sie beide jeden wachen Moment mit dieser Suche verbringen. Prilicla ist sich nicht sicher, ob er auch bei den Diagnostikern in der Lage ist, ,die Virenkreatur von den anderen Wesen zu isolieren, da ihnen gleichzeitig mehrere Schulungsbänder in den Köpfen herumspuken. Knöpfen Sie sich also diese Herrschaften als erstes vor.

In drei Stunden findet eine Besprechung auf Ebene dreiundachtzig statt, Lioren weiß in welchem Raum. Aufgrund des Problems mit dem Energieerzeugungssystem des Krankenhauses werden all diese hohen Kreaturen dort anwesend sein. Warten Sie vor dem Eingang, sehen Sie sich die Diagnostiker beim Hineingehen gut an, und melden Sie mir dann umgehend Ihre Beobachtungen. Sollten Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben, Hewlitt, wird Ihnen der Padre bestimmt behilflich sein. So, das war's dann mit dem nichtmedizinischen Teil der Besprechung, es sei denn, Sie beide haben noch etwas dazu beizutragen.“

„Moment noch“, sagte Hewlitt. „Das Problem mit der Energieversorgung, das Sie eben erwähnt haben, bereitet mir nämlich einige Sorgen. Beim Anflug der Rhabwar wurde uns doch mitgeteilt, daß der Hauptreaktor …“

„Wenn Sie meinen, sich deswegen Sorgen machen zu müssen, dann tun Sie das“, fiel ihm O'Mara ins Wort. „Dabei handelt es sich aber um ein technisches Problem, um dessen Lösung wir uns jetzt nicht auch noch den Kopf zerbrechen können, schließlich haben wir schon genug medizinische Probleme am Hals.“

Er deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. Angst ist immer noch das vorherrschende Gefühl, dachte Hewlitt, während er wieder einmal zu Fuß durch das dreidimensionale Labyrinth der überfüllten Korridore des Orbit Hospitals ging. Damals bei seiner Ankunft war es ihm gar nicht bewußt gewesen, wie angenehm und sicher es doch sein konnte, in einem von einer hudlarischen Schwester gelenkten G-Schlitten transportiert zu werden, um den jeder lieber einen möglichst großen Bogen machte. Dementsprechend war ihm nun durchaus bewußt, daß er das, was er gegenwärtig erlebte, eigentlich als viel furchterregender hätte empfinden müssend Doch traten keine Konfrontationen mit fremden Wesen ein, die in körperlichen und möglicherweise lebensbedrohlichen Zusammenstößen hätten enden können, weil immer eine tarlanische Hand fest auf seiner Schulter lag, die ihn aus allen schwierigen Situationen zu lenken wußte. Den Grund, weshalb er so furchtbar ängstlich und dennoch nicht vor Angst gelähmt war, konnte er allerdings selbst nur sehr schwer begreifen.

Daß sich bei ihm kein blankes Entsetzen einstellte, mußte nach seinem Dafürhalten an Lioren liegen. Der Padre redete nämlich über sämtliche gehenden, kriechenden oder sich schlängelnden Horrorgestalten, an denen sie vorbeikamen, geradewegs so, als wären sie gemeinsame Bekannte. Häufig tat er dies sogar in einer Art und Weise, die, hätte es sich nicht um allgemein bekannten Krankenhaustratsch gehandelt, die Grenzen der Vertraulichkeit zu überschreiten drohte. Wenn man lustige Geschichten über Horrorgestalten erzählt bekam, verloren diese natürlich ihre furchteinflößende Wirkung, und Hewlitt fragte sich, ob er diese Kreaturen endlich als das zu begreifen begann, was sie waren. Anstatt sie lediglich anzusehen und am liebsten davonlaufen zu wollen, entwickelte er ihnen gegenüber sogar wachsende Neugier.

Vielleicht handelte es sich bei diesem ungewohnten und anhaltenden Interesse an den Extraterrestriern im Orbit Hospital um eine Art ansteckende Neugier, die ihm die Virenkreatur hinterlassen hatte. Gerade als er diesen Gedanken dem Padre gegenüber äußern wollte, bogen sie in einen langen Seitenkorridor ab, der – ganz im Gegensatz zu ihrer eigenenGemütsverfassung ruhig und leer war.

„Das hier sind die Personalunterkünfte“, erklärte ihm Lioren. „Normalerweise ist es nicht so ruhig, aber im Moment sind die Bewohner entweder im Dienst oder schlafen. Das hier ist Ihr neues Quartier. Ich komme lieber nicht mit hinein, denn der Raum reicht kaum für eine Person, trotzdem ist er einigermaßen komfortabel. Nur zu, gehen Sie hinein, und sehen Sie sich um.“

Von der Fläche her war das Zimmer sogar ein bißchen größer als die Kabine auf dem Schiff, mit dem Hewlitt einst zum Orbit Hospital transportiert worden war. Mit Erleichterung stellte er fest, daß die Beleuchtung in die relativ niedrige Zimmerdecke eingelassen war, da er mit den Haaren daran entlangstreifte.

„Die Betten sind doch viel zu klein für mich“, beschwerte er sich. „Da passe ich mit meinen langen Beinen niemals rein.“

„Normalerweise wird diese Unterkunft von zwei Nidianern bewohnt, die gerade draußen im All an einem mehrwöchigen Kurs für Schiffsbergungen teilnehmen“, klärte ihn der Padre auf, wobei er sich so weit nach vorn beugte, daß er ein Auge und einen Arm in den Raum schieben konnte. „Keine Sorge, die Betten kann man so verrücken, daß sie an den Fußenden zusammengeschoben werden können. Hinter der braunen Tür befindet sich übrigens ein Multispezies-Bad, das dem auf Station sieben sehr ähnlich ist. Die Wanddekorationen empfinden Sie hoffentlich nicht als allzu geschmacklos. Bei den beiden ursprünglichen Bewohnern dieser Kabine handelt es sich nämlich um männliche Wesen, die offensichtlich weibliche Motive irgendwelchen Landschaftsmalereien vorziehen.“

Hewlitt sah sich die Bilder von rotbepelzten Teddybären in vermeintlich aufreizenden Posen an und hätte beinahe laut losgelacht. „Ich kann daran nichts Anstößiges entdecken“, meinte er schmunzelnd.

„Gut, dort drüben in der Ecke befindet sich übrigens das Steuerpult“, erklärte ihm Lioren. „Der Sitz ist höhenverstellbar, die Tasten sind für Terrestrier groß genug, und der Bildschirm läßt sich auf Ihre visuellen Erfordernisse exakt abstimmen. Sie können die üblichen Unterhaltungs-,Bibliotheks- und Schulungsprogramme abrufen, und die gelben Knöpfe auf dem grünen Rechteck sind für die Speisekarte und die Auswahlanleitung des Essensspenders. Haben Sie eigentlich auch solch einen Hunger wie ich? Kommen Sie mit in den Speisesaal, oder wollen Sie sich lieber erst noch etwas ausruhen?“

„Ja… ich… Ach, ich weiß nicht recht. Ich würde mich gern weiter mit Ihnen unterhalten, kommen Sie doch einfach herein, oder, besser gesagt, quetschen Sie sich herein. Soll ich uns etwas zu essen bestellen? Was können Sie denn empfehlen?“

Lioren zögerte, bevor er antwortete: „Bis morgen wird Ihr Automat so umprogrammiert worden sein, daß er die terrestrischen Standardgerichte liefern kann.

Zwischen nidianischem und terrestrischem Essen kann man praktisch kaum einen Geschmacksunterschied wahrnehmen; für einen Tarlaner sind jedoch beide Ernährungsformen gleichermaßen ekelerregend. Deshalb würde ich den Speisesaal bevorzugen, was Sie an meiner Stelle bestimmt auch tun würden. In der Kantine ist die Speisekarte für sämtliche Spezies sehr viel umfangreicher, so daß auch Sie keine Probleme haben werden, etwas Geeignetes für sich zu finden.“

Dieses Mal zögerte Hewlitt. „Ist dort sehr viel Betrieb? Ich meine, noch schlimmer als in den Korridoren? Und… ahm… na ja, welches Verhalten wird dort von einem erwartet?“

„Sämtliche warmblütigen Sauerstoffarmer des Personals essen dort, wenn auch nicht, was Sie sicherlich freuen wird, alle zur gleichen Zeit. Sie sitzen, knien oder stehen um Tische herum und nehmen so ihre Mahlzeiten zu sich, wobei ein jeder darauf bedacht ist, anderen nicht in die Quere zu kommen. Falls wir einen freien Tisch in der Nähe des Eingangs finden – und das sollte kein Problem sein, weil das der unbeliebteste Bereich ist -, dann wird es uns sogar möglich sein, während des Essens zu arbeiten.“

„Arbeiten?“ fragte Hewlitt verdutzt; in letzter Zeit passierte ihm einfach häufig zu viel in viel zu kurzen Abständen. „Wie denn das?“„Indem wir unsere jüngst entdeckte Fähigkeit des Wiedererkennens trainieren und das Klinikpersonal beim Hereinkommen oder Weggehen unter die Lupe nehmen, um nach Beweisen für eine ehemalige Inbesitznahme durch die Virenkreatur zu suchen. Selbst wenn die Ergebnisse negativ ausfallen sollten, handelt es sich dabei um eine effektive Methode, eine große Anzahl von Klinikmitarbeitern bei der künftigen Suche auszuschließen, so daß wir uns während der uns zur Verfügung stehenden Zeit mehr auf die Patienten und das diensthabende Personal konzentrieren können. Der gegenwärtige Wirt muß gefunden werden, und das so schnell wie möglich. Daß eine solche Virenkreatur in einem Multispezies-Krankenhaus ausgebrochen ist… darüber darf man eigentlich gar nicht nachdenken.“

„Aber warum denn nicht?“ hakte Hewlitt nach. „Soweit ich weiß, hat diese Kreatur bislang niemandem Schaden zugefügt, sondern allenfalls das Gegenteil bewirkt. Das Orbit Hospital hat die Aufgabe, Wesen zu heilen, und die Virenkreatur macht dasselbe. Warum sind alle nur so furchtbar besorgt? Eigentlich wollte ich schon O'Mara danach fragen, aber er hat mir ja keine Gelegenheit mehr dazu gegeben, und auf der Rhabwar sind alle der Frage ausgewichen.“

Lioren ging in den Korridor zurück und wartete, bis Hewlitt die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, bevor er sagte: „Bedauerlicherweise kann ich Ihnen auch keine Antwort darauf geben.“

„Aber warum denn, verflucht noch mal!“ fauchte Hewlitt wütend. „Schließlich bin ich kein Patient mehr, dem man irgendwelche medizinischen Geheimnisse vorenthalten muß.“

„Weil wir einfach keine einleuchtende Antwort für Sie parat haben“, erwiderte Lioren. „Außerdem ist es besser für Sie, wenn wir Sie mit unseren Zweifeln und Ängsten nicht unnötig belasten.“

„Ich persönlich bevorzuge es, mich lieber etwas unwohl in meiner Haut zu fühlen, als in Unkenntnis gehalten zu werden“, meinte Hewlitt.

„Und ich persönlich bevorzuge es, das Schlimmste zu erwarten unddabei das Beste zu hoffen. Das bedeutet, daß ich niemals enttäuscht bin, wenn am Ende das Erreichte nur knapp an einer totalen Katastrophe vorbeigeht oder, wie es in unserem Fall durchaus sein kann, wenn unsere Besorgnis völlig unbegründet ist. Wir dürfen uns nicht unnötig Angst machen. Und die Antwort auf Ihre vorherige Frage lautet, daß es keine gibt.“

„Keine was?“ fragte Hewlitt verblüfft.

„Na, keine Tischmanieren oder sonstige Verhaltensregeln“, stellte der Padre klar. „Niemand wird sich in der Kantine um die Art Ihrer Nahrungsaufnahme scheren, noch wird man es Ihnen verübeln, wenn Sie es bewußt vermeiden, einen Gesprächspartner während einer Unterhaltung anzusehen, weil Sie nicht dabei zuschauen wollen, wie sich einige von uns eklige Speisen in die Mundöffnungen schieben. Und nun, Patient Hewlitt, müssen wir sowohl arbeiten, als auch essen.“

26. Kapitel

Auf der Rhabwar hatte Hewlitt den Empathen dabei beobachten können, wie dieser, über dem Teller schwebend, terrestrische Spaghetti – das nichtcinrusskische Lieblingsgericht Priliclas -, zu langen, gelben Strängen geflochten und mit seinem winzigen Mund aufgesogen hatte. Genausowenig war ihm entgangen, daß Naydrad beim Essen nicht die Hände zu benutzen pflegte, sondern die Hälfte ihres schmalen, kegelförmigen Kopfs solange in dem von ihr bevorzugten geraspelten, öligen Grünzeug vergrub, bis die Schüssel leer war. Hewlitt hatte sogar mitbekommen, wie sich der Gestaltwandler Danalta entweder auf etwas gesetzt oder sich gegen etwas gelehnt hatte, das er zu verdauen gedachte, bis nur noch die ungenießbaren Reste übriggeblieben waren. Da er schon zuvor auf Station sieben den Eßtisch mit Bowab, Horrantor und Morredeth geteilt hatte, überraschte es ihn kaum, daß er dem Padre ohne die leiseste Spur des Unbehagens bei der Nahrungsaufnahme zusehen konnte.

Lioren benutze beim Essen die Finger von zweien seiner oberen beweglichen Gliedmaßen, wobei die kleinen Hände in silberfarbenen Einweghandschuhen steckten, die – wie Hewlitts Messer und Gabel – in einem Zubehörpäckchen auf dem Tablett des Essensspenders mitgeliefert worden waren. Wenn der Padre das Essen zur Mundöffnung führte, fielen seine Bewegungen präzise und beinahe anmutig aus. Die schwammigen braunen und gelben Klumpen, die er verzehrte, waren Hewlitt viel zu fremd, als daß er sich hätte vorstellen können, aus welchem Material sie bestanden, oder um von ihnen angewidert zu sein.

Er hoffte, daß dies für Lioren umgekehrt genauso zutraf, zumal ihm das synthetische Steak sehr gut schmeckte. Doch wie der Padre wirklich empfand, konnte Hewlitt nicht einmal erahnen, da Lioren seit Betreten des Speisesaals noch kein Wort von sich gegeben hatte.

„Nun haben wir zwar gegessen, aber bis jetzt noch kein bißchen gearbeitet“, stellte Hewlitt fest und warf einen Blick in Richtung des nahen Eingangs. Dort teilte sich eine hereinkommende Gruppe Kelgianer in zweiHälften, um der massiven Gestalt eines Tralthaners Platz zu machen, der gerade die Kantine verlassen wollte. „Oder haben Sie bei jemandem etwas gespürt, was ich verpaßt haben könnte?“

„Nein“, antwortete Lioren und aß weiter. Der Padre wirkte verärgert und ungeduldig. Seit sie zu essen angefangen hatten, waren mehr als zweihundert Mitarbeiter an ihrem Tisch vorbeigegangen, -geschlittert, -geschlängelt oder -getrampelt. Natürlich bestand die Möglichkeit, daß sich der Padre genauso wie er allmählich fragte, ob es sich bei der vermeintlichen Fähigkeit, ehemalige Viruswirte erkennen zu können, um nicht viel mehr als um reine Einbildung oder gar Selbsttäuschung handelte.

Als sich das Schweigen in die Länge zog, sagte Hewlitt: „Vielleicht funktioniert dieses Gefühl der geistigen Verbindung, oder worum es sich dabei auch immer handelt, nur zwischen Tarlanern, Terrestriern und Katzen, die sich bereits gut kennen. Vielleicht sind uns all diese Wesen einfach nicht vertraut genug, um den Unterschied zwischen vorher und nachher zu bemerken. Fürchten Sie nicht, daß wir hier nur unsere Zeit vergeuden?“

„Nein“, antwortete Lioren genauso knapp wie kurz zuvor. Es dauerte noch eine Weile, bis er seinen Teller leer gegessen hatte, dann erst fuhr er fort: „Die Dienstpläne des Personals sind so aufgestellt, daß der Speisesaal niemals überfüllt ist, auch wenn Ihnen Augen und Ohren etwas anderes sagen. Dennoch sind nie mehr als fünf Prozent der warmblütigen Sauerstoffatmer gleichzeitig anwesend. Die illensanischen Chloratmer, die Hudlarer sowie die bei extrem niedrigen Temperaturen lebenden Methanarten und all die anderen exotischen Lebensformen verfügen ebenso wie die Patienten über eigene Versorgungseinrichtungen. Sie verwechseln das Ausbleiben von positiven Ergebnissen mit Mißerfolg, Hewlitt.“

„Ich verstehe. Sie wollen mir also mit anderen Worten sagen, daß ich geduldiger sein muß und wir so weitermachen sollten wie bisher, richtig?“ „Nein“, antwortete Lioren abermals. „Wir sind nicht…“

Plötzlich wurde er unterbrochen, weil der Bildschirm des Eingabegeräts für die Speisenauswahl rot blinkte und aus dem Lautsprecher eine forschklingende Stimme ertönte, die eine übersetzte Mitteilung wiederholte:

„Gäste, die fertig gegessen haben, werden gebeten, den Tisch umgehend zu räumen, damit er von nachfolgenden Kantinenbesuchern benutzt werden kann. Ihre Zeit ist um. Sie werden gebeten, berufliche oder private Gespräche, die nicht beendet werden konnten, umgehend einzustellen oder woanders weiterzuführen. Gäste, die fertig gegessen haben, werden gebeten…“

„Wenn wir nichts essen, dürfen wir hier nicht länger bleiben!“ rief Lioren über den Lärm hinweg. „Je länger wir hier bleiben, desto mehr nimmt die Lautstärke zu, und den Wartungsdienst darum zu bitten, den Lautsprecher abzuklemmen, würde zu viel Zeit beanspruchen. Natürlich könnten wir ständig die Tische wechseln und jedesmal wieder Mahlzeiten bestellen, aber ehrlich gesagt, bin ich nicht mehr hungrig genug, um so etwas allzu lange durchzustehen.“

„Ich auch nicht“, pflichtete ihm Hewlitt bei.

„Dann schlage ich vor, daß wir den von mir verdächtigten Patienten Besuche abstatten“, fuhr der Padre fort. „Der erste liegt übrigens auf Station sieben und wurde gleich nach Ihrer Entlassung eingeliefert. Oberschwester Leethveeschi erwartet mich bereits. Es sei denn, sie gehören zu diesen Wesen, die nach einer großen Mahlzeit erst einmal ins Koma fallen müssen oder dringend Schlaf brauchen.“

Dieses Mal war Hewlitt an der Reihe, ›nein‹ zu sagen.

Die automatische Durchsage endete im selben Augenblick, als Sie vom Tisch aufstanden, der daraufhin sofort von zwei haarigen Orligianern, die Rangabzeichen von Chefärzten trugen, in Beschlag genommen wurde, aber keiner der beiden strahlte dieses undefinierbare Gefühl aus, das besagte, ein ehemaliger Wirt der Virenkreatur gewesen zu sein.

Als Hewlitt und Lioren gerade gehen wollten, kam Prilicla durch den Eingang hereingeflogen und blieb direkt über ihnen schweben. Zwar unterhielt er sich kurz mit beiden, erkundigte sich aber lieber erst gar nicht danach, wie es ihnen ergangen war, weil er ihre leichte Enttäuschung längstwahrgenommen hatte. Sie verharrten noch eine Weile vor dem Eingang und beobachteten, wie er sofort zu einer Gruppe Aliens hinüberflog, die sich um einen in der Nähe befindlichen Tisch versammelt hatten. Dort unterhielt er sich unter irgendeinem Vorwand mit den Anwesenden auf augenscheinlich freundschaftlicher Ebene, auch wenn er in Wirklichkeit nur versuchte, einen oder auch mehrere Geister ausfindig zu machen, die nicht nur eine, sondern zwei Quellen emotionaler Ausstrahlung besaßen. Höchstwahrscheinlich besaß dieser zerbrechliche und kleine Empath tatsächlich an jedem Tisch dieses riesigen Raums Freunde. In Anbetracht des mangelnden Durchhaltevermögens des Cinrusskers wünschte ihm Hewlitt in Gedanken viel Glück bei seinem Vorhaben und hoffte nur, daß Prilicla das finden würde, wonach er suchte, bevor er vor Überanstrengung womöglich eine Bruchlandung hinlegen würde.

Plötzlich unterbrach Prilicla seine Unterhaltung, um ihm zuzurufen: „Danke, Freund Hewlitt!“

Ein paar Minuten später befand sich Hewlitt zusammen mit Lioren in einem der überfüllten Hauptgänge, dennoch konzentrierten sich seine Gedanken nur teilweise darauf, Zusammenstöße mit anderen Wesen zu vermeiden.

„Ich habe eben über etwas nachgedacht, was mir ein wenig zu schaffen macht“, sagte er.

Liorens Antwort wurde nicht übersetzt.

„Und zwar wundere ich mich über diese merkwürdige Fähigkeit, durch die wir uns gegenseitig als ehemalige Wirtskörper erkennen“, fuhr er fort. „Als ich mir vor ein paar Minuten Sorgen um Prilicla gemacht habe und ihm in Gedanken viel Glück gewünscht habe, reagierte er auf das Gefühl, obwohl er ziemlich weit von uns entfernt gewesen ist und seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet war. Eigentlich ist daran nichts Seltsames gewesen, weil die emphatischen Fähigkeiten des Cinrusskers selbst bei solch einer relativ großen Entfernung noch sehr ausgeprägt sind. Aber was ist mit unserer eigenen Fähigkeit? Könnte es sich dabei nicht ebenfalls um eine abgeschwächte Form der Empathie handeln, die zwarimmerhin für eine Wiedererkennung ausreicht, ansonsten aber nicht viel bewirken kann? Und wenn das so ist, aus welcher Entfernung können sich ehemalige Wirte gegenseitig erkennen? Brauchen sie dazu Blickkontakt? Wirkt sich ein räumliches Hindernis negativ aus? Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir bei einem Experiment behilflich zu sein?“

„Ich weiß es nicht, und diese Antwort gilt für alle sechs Fragen“, erwiderte der Padre. „Wie soll dieses Experiment überhaupt aussehen?“

Nachdem Hewlitt ihm erklärt hatte, was er von ihm wollte reagierte Lioren anfangs etwas ungehalten. „Aber das ist doch kein Experiment, sondern ein Spiel für Kleinkinder!“ Schließlich beruhigte er sich und fuhr fort: „Andererseits: was soll's? Immerhin würde es uns nützliche Erkenntnisse liefern. Wenn ich einwillige mitzumachen, dann dürfen Sie aber niemandem verraten, daß ich mich – ein gereifter Erwachsener, der sich immerhin das Recht erworben hat, den Blauen Mantel zu tragen -, auf dieses Spiel eingelassen habe.“

„Jetzt beruhigen Sie sich mal, Padre“, besänftigte ihn Hewlitt. „Mir wäre es auch ziemlich peinlich, wenn andere erfahren, daß ich in diesem Alter Verstecken gespielt habe. Jedenfalls schlage ich vor, daß Sie sich verstecken sollten und nicht ich, da Sie die besseren Schlupfwinkel kennen…“

Sie gingen gerade einen langen Korridor entlang, der in einer T-förmigen Einmündung endete, wo der Komplex mit den Rampen, Treppen und Aufzügen untergebracht war, durch die man auf die oberen und unteren Ebenen gelangen konnte. In den Wänden befanden sich etliche Türen, die zu verschiedenen Stationen, Lager- und Vorratsräumen sowie zum Wartungstunnelsystem führten. Hewlitt sollte sich drei Minuten lang umdrehen, damit Lioren genug Zeit blieb, sich zu verstecken - entweder ganz in der Nähe oder weiter entfernt den Gang hinauf. Dabei gab es lediglich zwei Spielregeln zu beachten; zum einen, daß sich der Padre in einer leeren Abteilung verstecken sollte anstatt auf einer Station, weil sie sonst nur unnötig ins Gerede gekommen wären und die Gefahr bestanden hätte, den Stationsablauf zu stören, und zum anderen, daß Hewlitt dasVersteck allein durch den Einsatz des Instinkts, der Empathie oder dessen, was er sonst noch von dieser Virenkreatur geerbt haben könnte, ausfindig machen sollte, ohne hinter die Türen gucken zu dürfen.

Als nach zwanzig Minuten, in denen er vor potentiellen Verstecken gestanden und versucht hatte, Liorens Gegenwart im Geiste aufzuspüren, wobei er etliche Fragen und spöttische Bemerkungen von Passanten einfach überhört hatte, und sämtliche Möglichkeiten erschöpft waren, benutzte er enttäuscht den Kommunikator.

„Ich habe absolut nichts wahrgenommen“, sagte er. „Kommen Sie bitte heraus, ich weiß wirklich nicht, wo Sie sind.“

Lioren tauchte hinter einer Tür auf, die Hewlitt erst einige Minuten zuvor in Gedanken abgetastet hatte, und eilte auf ihn zu. „Ich auch nicht, obwohl ich gehört habe, wie Sie vor meinem Versteck einen Moment lang stehengeblieben sind“, meinte der Padre. „Das Geräusch von terrestrischen Schritten ist nämlich praktisch nicht zu verwechseln. Doch kaum habe ich Sie eben gesehen, hatte ich wieder dieses Wiedererkennungsgefühl.“

„Mir ging's genauso“, pflichtete ihm Hewlitt bei. „Aber warum müssen wir uns dabei sehen können?“

Der Padre gab ein glucksendes Geräusch von sich, das nicht übersetzt wurde, und erwiderte: „Das weiß wohl nur Gott allein und vielleicht noch diese Virenkreatur.“

Den ganzen Weg bis zu seiner alten Station zerbrach sich Hewlitt schweigend den Kopf darüber. Abgesehen davon, sich per Kommunikator bei O'Mara zu melden, um ihm die neue Information weiterzugeben, schien der Padre keine Lust auf eine weitere Diskussion über dieses Thema zu haben. Wahrscheinlich drehten sich seine Gedanken in erster Linie um die Probleme des Patienten, den er gerade besuchen wollte.

„Patient Hewlitt, was machen Sie denn hier?“ begrüßte ihn Leethveeschi erstaunt, als er kurz darauf das Personalzimmer betrat.

Wie er wußte, gehörten die regelmäßigen Besuche des Padre längst zum Stationsalltag, doch klang die Oberschwester so, als wäre sie über dieGegenwart eines ehemaligen Patienten, der sich als ein Störfaktor erwiesen hatte, nicht sonderlich erfreut. Während Hewlitt noch immer nach einer passenden Antwort suchte, übernahm Lioren diese Aufgabe bereits für ihn. Dabei fiel ihm zwar auf, daß der Padre nicht wirklich log, aber mit der Wahrheit recht sparsam umzugehen wußte.

„Mit Ihrer Erlaubnis, Oberschwester, wird er mich begleiten, damit er die Patienten beobachten und mit ihnen sprechen kann, um mir mit nichtmedizinischem Rat zur Seite zu stehen. Ich versichere Ihnen, daß er mit niemandem reden wird, dessen Behandlungsmethode oder Gesundheitszustand eine Unterhaltung nicht zuläßt. Darüber hinaus garantiere ich Ihnen, daß Ihnen der ehemalige Patient Hewlitt keine Unannehmlichkeiten mehr bereiten wird.“

Ein Teil von Leethveeschis Körper zuckte in der Chlorhülle, was vermutlich eine nonverbale Geste der Zustimmung war. Dann sagte sie: „Ich glaube, ich verstehe, was Sie damit sagen wollen. Das, was Sie mit Patientin Morredeth erlebt haben, Expatient Hewlitt, hat Sie wahrscheinlich dazu veranlaßt oder auch nur darin bestärkt, sich für eine Ausbildung zum geistlichen Berater zu entscheiden. Das ist sehr lobenswert, und Sie haben einen hervorragenden Mentor gefunden.“

„Der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin, ist, daß wir…“, begann Hewlitt.

„Das zu erklären würde sicherlich zu lange dauern“, unterbrach ihn Leethveeschi. „Im Moment habe ich wirklich nicht die Zeit, den theologischen Ausführungen oder Bekenntnissen eines Aliens zuzuhören, so interessant das alles auch sein mag. Sie können sich ja mit dem einen oder anderen Patienten darüber unterhalten, aber bitte sorgen Sie dafür, daß keine weiteren Wunder bei uns geschehen.“

„Das verspreche ich Ihnen“, antwortete Hewlitt lächelnd, während er dem Padre auf die Station folgte.

Nachdem sie sowohl Leethveeschi als auch alle anderen diensthabenden Schwestern und Pfleger im Personalraum von ihrer Liste potentieller Exwirte gestrichen hatten, taten sie dasselbe mit dem Patienten, dem Lioreneinen Besuch abstattete. Bei diesem bedauernswerten Geschöpf handelte es sich um einen Melfaner namens Kennonalt, dessen Stützgestell von beängstigend vielen Biosensoren und medizinischen Geräten umgeben war. Was dem Melfaner fehlte, konnte er nicht genau feststellen, zumal Lioren ihm klar zu verstehen gegeben hatte, daß die Unterhaltung mit Kennonalt rein privat sei und Hewlitt die Zeit lieber damit verbringen solle, die anderen Patienten zu überprüfen, bis er sich wieder zu ihm gesellen würde.

Folglich ging er gemächlich im Zickzack die Station auf und ab. Es war ein Spaziergang durch vertrautes Territorium, wenngleich er sich nicht sicher war, ob diese Vertrautheit auch auf die Patienten zutraf, denn er hatte immer noch große Probleme damit, einen Tralthaner, Kelgianer, Melfaner oder wen auch immer vom anderen zu unterscheiden. Die meisten von ihnen schienen froh über die Gelegenheit zu sein, sich unterhalten zu können. Andere wiederum wirkten eher zurückhaltend, oder sie ignorierten ihn einfach, und einer wurde gerade behandelt und durfte nicht gestört werden. Aber Hewlitt hatte die Gelegenheit, sie alle genau anzusehen; Patienten und Krankenpfleger gleichermaßen, und das sehr eingehend und in weit mehr Zeit, als er gebraucht hätte, um sie als ehemalige Wirte ausschließen zu können. Sein letzter Besuch galt einer Tralthanerin und einem Duthaner, die am Eßtisch für ambulante Patienten Scremman spielten. Noch während er sie ansprach, hatte er sie als ehemalige Wirtskörper bereits ausgesondert.

„Sie sind doch Horrantor und Bowab, nicht wahr?“ begrüßte er die beiden. „Geht es Ihnen gut?“

„Ach, demnach müssen Sie Patient Hewlitt sein, richtig?“ erkundigte sich die Tralthanerin. „Meine Gliedmaße heilt, danke der Nachfrage, und Bowab geht es sehr gut, sowohl gesundheitlich als auch bei diesem verflixten Spiel hier. Wie schön, Sie mal wiederzusehen. Erzählen Sie uns was von sich. Haben die Ärzte herausgefunden, was Ihnen fehlt?“

„Ja“, antwortete Hewlitt, und er wählte die Worte mit Bedacht, als er fortfuhr: „Ich habe keine Beschwerden mehr und fühle mich gesundheitlich sehr gut. Aber wie man mir gesagt hat, handelte es sich bei mir um einhöchst ungewöhnliches Krankheitsbild. Deshalb wurde ich darum gebeten, noch eine Weile hierzubleiben und dabei zu helfen, ein paar letzte offene Fragen bezüglich meines Falls zu klären. Das bei der mir geleisteten Hilfe abzulehnen wäre mir sehr schwer gefallen.“

„Sind Sie demnach jetzt so etwas wie ein gesundes Versuchsexemplar?“ erkundigte sich Bowab mit besorgter Stimme. „Das klingt aber gar nicht gut. Hat man denn mit Ihnen irgend etwas Schlimmes angestellt?“

Hewlitt lachte. „Nein, und alles ist nur halb so tragisch, wie es sich vielleicht anhört. Ich habe jetzt mein eigenes Quartier im Personalbereich. Das ist zwar nur ein kleines Zimmer, das normalerweise von zweiNidianern bewohnt wird, aber ich kann mich im ganzen Krankenhaus frei bewegen, solange der Padre bei mir ist. Er ist nämlich sozusagen mein Aufpasser, damit ich mich nicht verlaufe oder von jemandem überfahren werde. Ich soll mich mit Leuten unterhalten und deren Fragen beantworten. Das ist alles, was man von mir will.“

„Sie sind schon immer ein merkwürdiger Patient gewesen, aber das, was Sie über Ihre Genesung berichten, kommt mir noch merkwürdiger vor“, bemerkte Bowab.

„Jetzt mal im Ernst!“ sagte Horrantor energisch. „Wenn Sie lediglich mit Leuten reden und deren Frager beantworten, dann reden diese vermutlich auch mit Ihnen oder unterhalten sich in Ihrer Gegenwart miteinander. Erzählen Ihnen diese Leute aus Versehen oder aus Unkenntnis darüber, daß Sie nicht dem Klinikpersonal angehören, auch Sachen, die Sie eigentlich nicht wissen sollten? Wenn das der Fall ist und es Ihnen gestattet ist, Fragen zu beantworten, würden Sie dann auch eine unserer Fragen beantworten?“

Das klingt aber schon etwas ernster als die normale Wißbegier eines Patienten nach dem neuesten Krankenhaustratsch, dachte Hewlitt, und er hielt es für angebracht, Vorsicht walten zu lassen.

„Wenn es mir möglich ist, klar“, antwortete er.

„Horrantor ist gemein und hinterhältig, und sie läßt ihrer Phantasie wiedereinmal freien Lauf“, mischte sich Bowab erneut ein. „Deshalb schlägt sie mich auch andauernd beim Scremmanspielen. Wir haben zufällig einiges von dem mitbekommen, worüber sich die Schwestern unterhalten haben. Sobald sie aber bemerken, daß wir zuhören, stellen sie ihre Gespräche sofort ein. Wahrscheinlich handelt es sich nur um ganz gewöhnlichen Tratsch, wie er unter Personalangehörigen üblich ist, oder vielleicht auch nur um ein absolutes Mißverständnis unsererseits, weil wir lediglich ein paar Gesprächsfetzen mitbekommen haben… Möglicherweise steckt aber doch mehr dahinter, und das macht uns wirklich Sorgen.“

„Gegen Klatsch und Tratsch ist sicherlich nichts einzuwenden, solange alles in Grenzen bleibt und keine unnötigen Ängste geschürt werden. Also, wie lautet nun Ihre Frage?“

Einen Moment lang blickten sich Bowab und Horrantor schweigend an, dann sagte der Duthaner: „Nach dem, was mir die Oberschwester vor ungefähr zehn Tagen erzählt hat, hätte ich längst für die restliche Genesungsphase in ein Krankenhaus meines Heimatplaneten verlegt werden müssen. Wegen der großen Nachfrage nach den einmaligen medizinischen Einrichtungen des Orbit Hospitals wird hier eigentlich nie unnütze Zeit mit Patienten vergeudet, die einigermaßen wiederhergestellt sind. Als ich aber gestern Leethveeschi gefragt habe, warum ich immer noch hier sei und ob sie mir irgend etwas verheimliche, hat sie mir geantwortet, daß zur Zeit kein geeignetes Transportmittel zur Verfügung stehe, das mich nach Hause bringen könne, und daß es keine gesundheitlichen Probleme für mich gebe, um die ich mir Sorgen machen müsse.

Fast zur selben Zeit, also vor knapp zwei Wochen, hat Chefarzt Medalont den Auszubildenden an Horrantors Bett einen Vortrag gehalten“, fuhr Bowab fort. „Er erzählte den Anwesenden, daß die Patientin soweit wiederhergestellt sei, um umgehend entlassen werden zu können. Das hätte eigentlich binnen weniger Tage geschehen sollen, weil die Besatzungsmitglieder der meisten Versorgungs- und Transportschiffe, die manchmal vier- oder fünfmal in der Woche hierherkommen, einersauerstoffatmenden Warmblüterspezies angehören und laut Föderationsgesetz dazu verpflichtet sind, die Mehrheit der transportfähigen warmblütigen Sauerstoffatmer unterzubringen. Bedenken Sie, daß Traltha und Dutha zentrale Handelswelten sind, die praktisch für alle direkt auf dem Weg liegen. Aber die Begründung, die Leethveeschi Horrantor für deren Aufenthaltsverlängerung genannt hatte, war genau dieselbe, die sie mir gegeben hatte, daß nämlich hinsichtlich der für mich erforderlichen Umweltbedingungen kein geeignetes Transportmittel zu Verfügung stehe.“

„Vergessen Sie nicht, ihm über die Notfallübung zu berichten“, erinnerte ihn Horrantor.

„Nein, ganz bestimmt nicht“, erwiderte Bowab. „Also, vorgestern ist nämlich ein zwanzig Mann starkes Wartungsteam über unsere Station hergefallen. Leethveeschi hat das Ganze als eine Evakuierungsübung für den Notfall deklariert. Dabei trennten die Wartungsleute erst einmal die Betten der am ernsthaftesten erkrankten Patienten von den Wandbefestigungen und rüsteten die Gestelle mit zusätzlichen Sauerstoffbehältern und Gravitationsgittern aus. Dann wurden luftdichte Schutzzelte verteilt und man transportierte uns von der Station zu dem Gang, der zur Schleuse fünf führt, bis man uns schließlich wieder zurückbrachte. Leethveeschi stoppte die Zeit und ermahnte die Wartungsleute, daß der ganze Ablauf schneller werden müsse. Danach entschuldigte sie sich bei uns für die Unannehmlichkeiten und sagte, daß wir unser Spiel fortsetzen könnten und uns ansonsten keine Sorgen zu machen brauchten. Noch während die Leute des Wartungsdienstes die Station verließen und sich über den unverschämten Ton der Oberschwester beklagten und vor allem über den ungerecht hohen Leistungsstandard, den ihre Vorgesetzten von ihnen verlangten, obwohl es eine Katastrophenübung dieses Ausmaßes seit ungefähr zwanzig Jahren nicht mehr gegeben habe, konnten wir einige merkwürdige Wortfetzen aufschnappen, die uns sehr beunruhigt haben.

Also lautet unsere Frage: Was genau verheimlichen die vor uns?“ beendete Bowab seine Ausführungen.

„Ich weiß es nicht…“, antwortete Hewlitt und fügte leise hinzu:„…jedenfalls nicht genau.“

Das entsprach durchaus der Wahrheit. Dennoch erinnerte er sich an die Rückreise mit der Rhabivar und an die Warnmeldung, die von der Anmeldezentrale gesendet worden war; nämlich daß alle Raumschiffe vorläufig außerhalb der inneren Leitbaken in Position zu gehen hätten, wenn sie keine Verletzten beförderten, die dringend versorgt werden müßten. Als Grund war ein nicht näher bestimmtes technisches Problem angeführt worden, mit dem sich der Wartungsdienst umgehend befassen werde, wenngleich diese Warnmeldung für das Ambulanzschiff Rhabivar offensichtlich nicht gegolten hatte.

Hewlitt fühlte sich nicht ansatzweise so locker, wie er sich anhörte, als er weitersprach: „Bislang sind mir zwar keinerlei Gerüchte über eine Evakuierung zu Ohren gekommen, aber ich werde mich trotzdem mal umhören und mich überall erkundigen. Wäre es nicht möglich, daß Sie das Gespräch, von dem Sie zufällig einiges mitgehört haben, mißverstanden haben? Schließlich führen alle öffentlichen Einrichtungen mit einem solch intensiven Personalaufwand von Zeit zu Zeit Notfallübungen durch. Na ja, und als jemand gemerkt hat, daß im Orbit Hospital seit zwanzig Jahren keine mehr stattgefunden hat, ist von der Krankenhausverwaltung wahrscheinlich entschieden worden, eine solche Übung lieber gestern als heute durchführen zu lassen, und natürlich waren die rangniedrigen Angestellten wieder einmal die Hauptleidtragenden.

Also könnte es doch durchaus sein, daß Leethveeschi recht hat und es nichts gibt, worüber Sie beunruhigt sein müßten“, fügte er hinzu, wobei er in Gedanken die Daumen drückte.

„Das ist genau das, was wir uns auch immer sagen, aber nachdem wir nun schon so lange miteinander Scremman spielen, fällt es uns schwer, überhaupt noch etwas zu glauben, was der andere erzählt“, wandte Horrantor ein.

„Wo wir gerade beim Thema sind, möchten Sie mitspielen?“ wollte Bowab wissen. „Einer von uns könnte Sie kurzfristig als politischen Berater einkaufen, der die Seite wechseln will und …“Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Hewlitt, wie der Padre langsam die Station entlangging. Lioren bewegte sich im Zickzack und sah nach den Patienten oder wechselte mit Ihnen ein paar Worte, so wie er es selbst kurz zuvor getan hatte.

„Tut mir leid, diesmal geht's nicht“, lehnte er schließlich das Angebot dankend ab. „Ich muß gleich gehen.“

Nachdem er sich von seinen beiden ehemaligen Mitpatienten verabschiedet hatte und sich schließlich mit Lioren draußen auf dem Korridor befand, sagte er: „Ich habe bei den Patienten und beim Personal nichts wahrgenommen. Und wie ist es Ihnen ergangen, Padre?“

„Auch nicht anders“, antwortete Lioren.

„Aber ich habe ein interessantes Gerücht vernommen“, fuhr Hewlitt fort und berichtete über Horrantors und Bowabs Beobachtungen und den Wortlaut der Warnmeldung, die von der Rhabwar empfangen worden war. Er wußte, daß Lioren ihm keine Märchen erzählen würde, und wenn der Padre ihm nicht die Wahrheit sagen durfte, dann würde er seine Fragen geflissentlich überhören. „Sind Ihnen auch irgendwelche Gerüchte über eine Evakuierung zu Ohren gekommen? Und wenn ja, wissen Sie, was da vor sich geht?“

Es dauerte eine Weile, ehe Lioren antwortete: „Als nächstes begeben wir uns zu demDiagnostikertreffen auf Ebene dreiundachtzig.“

27. Kapitel

Als erster traf ein großer, alter Tralthaner ein, der sich nur schleppend fortbewegte und den Lioren sofort als Thornnastor, den leitenden Diagnostiker der Pathologie, identifizierte. Sie beobachteten ihn von dem Augenblick seines Auftauchens aus einem Seitengang, der ungefähr dreißig Meter von ihnen entfernt lag, bis zu dem Zeitpunkt, als er an ihnen vorbeizog. Die beiden standen direkt gegenüber dem Raum, in dem das Treffen stattfinden sollte. Ohne ein Auge in ihre Richtung zu biegen oder ein Wort zu sagen, trottete er durch den Eingang hindurch.

„Nichts?“ fragte der Padre.

„Nichts“, stimmte ihm Hewlitt zu. „Aber warum hat er uns nicht einmal eines Blickes gewürdigt? Wir sind groß genug, um gesehen zu werden, und außer uns hält sich hier niemand im Korridor auf.“

„Ihm geht einfach zu viel durch den Kopf, weil er…“, begann Lioren, hielt dann aber inne und fuhr fort: „Dahinten kommen drei weitere. Conway und der Chefpsychologe sind, wie wir ja bereits wissen, sozusagen sauber. Bei der Kelgianerin handelt es sich übrigens um die Diagnostikerin Kurrsedeth. Und? Auch nichts?“

„Nichts“, bestätigte Hewlitt abermals.

Conway nickte, als sie an ihnen vorbeigingen, O'Mara blickte sie mit mürrischer Miene ungeduldig an, und Kurrsedeth fragte: „Warum starren mich der Padre und dieser DBDG-Terrestrier eigentlich so komisch an?“

„Im Moment haben die beiden wohl nichts Besseres zu tun“, bemerkte O'Mara trocken.

Ein Kühlfahrzeug, in dem laut Lioren der Diagnostiker Semlic steckte, bog in den Gang ein. Der Vosaner kam schon aufgrund seines Metabolismus als Wirtskörper nicht in Frage, da seine Spezies, kristalline Methanatmer, bei extrem niedrigen Temperaturen lebte. Im Gegensatz zu der Kälte, die von Semlics Fahrzeug ausging, kochte Hewlitt innerlich vor Wut, seit O'Mara an ihnen vorbeigekommen war.„Wie hat es solch ein ungehobelter, abscheulicher und vor miesem Sarkasmus strotzender Typ überhaupt fertigbringen können, Chefpsychologe dieses Krankenhauses zu werden? Wieso ist noch nie jemandem eingefallen, ihn aus Notwehr mit einem Tritt in den Hintern einfach ins All zu befördern? So, wie ich es jetzt am liebsten tun würde … “

Lioren deutete mit erhobenem Mittelarm den Korridor entlang und sagte nur: „Da hinten kommt Colonel Skempton, ein weiterer DBDG-Terrestrier, wie Sie sehen können. Er ist der Leiter des Wartungsdienstes und somit der ranghöchste Monitorkorpsoffizier im Orbit Hospital. In erster Linie ist er für das Nachschub- und Nachrichtenwesen, aber auch für die Energieversorgung verantwortlich. Ich nehme an, wir sind uns einig, daß er als Wirt der Virenkreatur ebenfalls nicht in Frage kommt, oder?“

„Sie haben völlig recht“, stimmte ihm Hewlitt zu. „Trotzdem ist es mir unverständlich, warum nicht jemand wie Prilicla O'Maras Job erledigt. Er ist einfühlsam und beruhigt einen, zudem ist er immer nett und empfindet aufrichtiges Mitleid für die Patienten. Beim Thema Einfühlungsvermögen und Empathie stellt sich mir außerdem die Frage, warum Priliclas Fähigkeiten bei Diagnostikern nicht funktionieren. Oder habe ich damit wieder nur ein paar Fragen aufgeworfen, die Sie mir sowieso nicht beantworten wollen?“

Da sämtliche Augen von Lioren in beide Richtungen des Korridors gerichtet waren, sah er Hewlitt nicht an, als er erwiderte: „Auf Ihre letzten Fragen gibt es im Grunde nur eine, wenn auch etwas komplexe Antwort, die ich Ihnen, vorbehaltlich einiger Unterbrechungen durch die eintreffenden Diagnostiker, ohne weiteres geben kann, da sie nicht im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Notfall steht.

Erst einmal ist Prilicla viel zu sanftmütig und sensibel, als daß er der Position des Chefpsychologen gewachsen wäre, wohingegen O'Mara durchaus einfühlsam und fürsorglich, jedoch alles andere als sanftmütig ist…“

„Einfühlsam und fürsorglich? Daß ich nicht lache!“ unterbrach ihn Hewlitt empört. „Ist etwa mein Translator kaputt?“„Für private Meinungen haben wir nicht genügend Zeit“, wies ihn der Padre zurecht. „Wollen Sie nun etwas über O'Mara erfahren oder lieber nur dummes Zeug über ihn reden?“

„Entschuldigung, ich halte mich von nun an zurück“, murmelte Hewlitt verlegen.

Wie Lioren erklärte, war O'Mara für die reibungslose und rationelle Arbeitsweise der mehr als zehntausend Mitarbeiter des medizinischen Stabs und des Wartungspersonals verantwortlich. Aus administrativen Gründen bekleidete er innerhalb des Monitorkorps nur den Rang eines Majors, wodurch er sich rein theoretisch auf niederster Kommadoebene befand. Aber die harmonische Zusammenarbeit bei so vielen verschiedenen und möglicherweise feindlichen Lebensformen aufrechtzuerhalten war eine große Aufgabe, deren Grenzen, wie auch bei O'Maras tatsächlicher Autorität, schwer zu definieren waren.

Wie Lioren weiterhin ausführte, gab es selbst bei der äußerst großen Toleranz zwischen den verschiedenen Spezies und dem gegenseitigen Respekt unter den Beschäftigten und trotz der eingehenden psychologischen Durchleuchtung, der sich jeder neue Mitarbeiter vor der Zulassung zum Dienst an einem Multispezies-Krankenhaus unterziehen mußte, immer noch Augenblicke, in denen Reibereien zwischen Angehörigen verschiedener Spezies oder innerhalb des Personals möglich waren. Zu potentiell gefährlichen Situationen konnte es durch schlichte Unwissenheit oder durch Mißverständnisse kommen, aber auch, was noch schlimmer war, wenn ein Mitarbeiter eine neurotische Xenophobie gegenüber einem Patienten oder Kollegen entwickelte, die seine geistige Stabilität oder fachliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigte.

O'Mara und seine Abteilung hatten die Aufgabe, derartige Probleme rechtzeitig zu entdecken und im Keim zu ersticken oder, wenn alle Stricke rissen, den betreffenden Störenfried aus dem Hospital zu entfernen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sich der Major und seine Mitarbeiter durch dieses ständige Ausschauhalten nach Anzeichen von falscher, schädlicher oder intoleranter Denkweise, dem sie sich mit großer Hingabe widmeten,zu den unbeliebtesten Lebewesen im Hospital entwickelt hatten, insbesondere O'Mara selbst. Doch der Chefpsychologe schien sich in seiner Rolle doppelt wohl zu fühlen, denn er hatte es nie darauf angelegt, von anderen bewundert zu werden, und allem Anschein nach genoß er seine Arbeit.

„O'Mara trägt auch die besondere und persönliche Verantwortung für die geistige Gesundheit der Diagnostiker“, fuhr Lioren fort. „Diese sind oft gleichzeitig im Besitz von mehreren Schulungsbändern. Bei dem Melfaner, der sich uns gerade nähert, handelt es sich übrigens um den Diagnostiker Ergandhir. Als ich mich das letzte Mal mit ihm unterhalten habe, hatte er gleichzeitig drei dieser Bänder im Kopf gespeichert. Nehmen Sie bei ihm irgendwelche Wiedererkennungsmerkmale wahr?“

Hewlitt wartete, bis der Melfaner auf seinen vier Ektoskelettbeinen an ihnen vorbeigeklappert und zu den anderen hineingegangen war, bevor er antwortete: „Nein. Und dieses komische Wesen hat unsere Gegenwart ebenfalls völlig ignoriert, obwohl ich dem, was Sie mir eben erzählt haben, entnehmen konnte, daß Sie sich beide einigermaßen kennen.“

„Wir kennen uns sogar sehr gut“, bestätigte Lioren. „Aus seinem Verhalten läßt sich nur schließen, daß Ergandhirs Verstand zur Zeit von einem anderen Wesen dominiert wird, das mich nicht kennt, und daran wird sich auch nichts ändern, da der Uhrheber dieses Schulungsbandes nicht mehr lebt.“

„Ich stelle Ihnen ungern noch eine Frage, aber würden Sie mir das bitte genauer erklären?“ hakte Hewlitt nach.

„Im Grunde gehört es zu derselben Frage wie zuvor, und ich werde versuchen, sie zu beantworten“, sagte der Padre.

Wie Lioren ausführte, waren diese Physiologiebänder für ihren Benutzer sicherlich ein zweifelhaftes Vergnügen, aber ihre Anwendung war unverzichtbar, da sich niemand einbilden konnte, das gesamte physiologische und pathologische Wissen im Kopf zu behalten, das für die Behandlung derart vieler Patienten verschiedener Spezies benötigt wurde. Die fast unvorstellbare Datenmenge, die für eine angemessene Behandlungerforderlich war, wurde mittels dieser Schulungsbänder weitergegeben, bei denen es sich um nichts anderes als um die Aufzeichnung der Gehirnströme von medizinischen Kapazitäten der jeweils betreffenden Spezies handelte. Wenn beispielsweise ein terrestrischer Arzt einen kelgianischen Patienten medizinisch zu versorgen hatte, speicherte er bis zum Abschluß der Behandlung eins der DBLF-Schulungsbänder im Gehirn und ließ es anschließend wieder löschen. Chefärzte, zu deren Aufgabe auch die Weiterbildung des medizinischen Personals gehörte, mußten häufig zwei, drei dieser Bänder über einen längeren Zeitraum im Kopf behalten, was alles andere als ein Vergnügen für sie war. Sie konnten sich allenfalls damit trösten, daß es Diagnostikern noch schlechter erging als ihnen.

Diagnostiker bildeten die geistige Elite des Orbit Hospitals. Ein Diagnostiker war eines jener seltenen Wesen, deren Psyche und Verstand als ausreichend stabil erachtet wurden, bis zu zehn Bänder permanent und gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, medizinische Grundlagenforschung zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu diagnostizieren und zu behandeln.

Im Hospital gab es das geflügelte Wort – das angeblich vom Chefpsychologen selbst stammte -, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden wollte, schon von vornherein verrückt sein mußte.

„Dabei muß man wissen, daß einem mit einem Schulungsband nicht nur die physiologischen Fakten einer Spezies ins Gehirn eingetrichtert werden, sondern auch die Persönlichkeit und das Gedächtnis des Wesens, das dieses Wissen einst besessen hatte“, fuhr Lioren fort. „Praktisch setzen sich Diagnostiker freiwillig einer höchst drastischen Form multipler Schizophrenie aus, und da sich sämtliche Aliens, die in Ihren Hirnen herumgeistern, charakterlich völlig voneinander unterscheiden und häufig nicht einmal dasselbe logische System anwenden… Nun ja, Genies, egal auf welchem Gebiet, sind nur selten leicht umgängliche Wesen. Zwar üben diese Bandurheber auf die Denkprozesse und Körperfunktionen desBandinhabers keine Kontrolle aus, aber ein Diagnostiker, der nicht über eine völlig stabile oder ausgeglichene Persönlichkeit verfügt, kann sich hin und wieder ziemlich lächerlich machen, wenn er das Gegenteil für wahr hält und nicht mehr Herr der eigenen Sinne ist. Wenn man daran gewöhnt ist, auf zwei Füßen zu gehen, der Verstand aber darauf besteht, daß man sechs Beine hat, dann ist das schon schlimm, aber die verschiedenartigen Essensvorlieben und vor allem die Träume, die einem im Schlaf überraschen, wenn der Verstand keine Kontrolle über das Unterbewußtsein hat, sind noch sehr viel schlimmer. Am allerschlimmsten jedoch sind die sexuellen Phantasien fremder Speziesangehöriger… die können einem wirklich arg zu schaffen machen.

Kein Wunder also, daß O'Mara mit einigen Diagnostikern alle Hände voll zu tun hat“, beendete der Padre seine Ausführungen.

Hewlitt überlegte einen Moment, dann sagte er: „Jetzt verstehe ich auch den Grund für die Bemerkung von Pathologin Murchison, daß ihr Mann gleich mehrfach geistesabwesend sei, und auch Priliclas Unsicherheit, die emotionale Ausstrahlung der Virenkreatur entdecken zu können, wenn sein Wirt ein Diagnostiker ist. Dennoch kann ich kaum glauben, daß … “

Er hielt inne, als ein weiterer Diagnostiker watschelnd und quatschend ins Blickfeld rückte. Das Wesen trug einen durchsichtigen Schutzanzug, und das Visier seines Helm war geöffnet. Wie Lioren erklärte, handelte es sich um einen creppelianischen Oktopoden, der einer warmblütigen amphibischen Lebensform angehörte, die sowohl Wasser als auch Luft atmen konnte. Aufgrund seines angegriffenen Hautzustands, der im höheren Alter bei dieser Spezies durchaus üblich war, empfand es dieses Wesen offenbar als angenehmer, Luft zu atmen und seinen Körper in Wasser getaucht zu halten. Hewlitt verstand seinen Namen nicht, denn selbst durch den Translator hindurch hörte sich dieser eher wie ein kurzes Niesen an. Nachdem er sich auch bei diesem Diagnostiker mit Lioren einig darüber war, daß dieses Wesen niemals ein Wirt der Virenkreatur gewesen war, sprach Lioren in den Kommunikator.

„Der letzte ist gerade hineingegangen, Major“, meldete er demChefpsychologen. „Mit Ausnahme von Semlic, der in seinem Umweltprotektor nicht zu sehen war, können wir davon ausgehen, daß alle Diagnostiker sowie Colonel Skempton nicht betroffen sind.“

„In Ordnung, Padre“, antwortete O'Mara knapp. „Dann nehmen Sie beide sofort die Suche wieder auf.“

Offenbar fand in dem Raum eine hitzige Debatte statt, denn sie wurden von einer Vielzahl aufgeregt klingender ET-Stimmen begleitet, als sie sich auf den Weg machten, aber die Geräusche waren zu gedämpft, als daß Hewlitts Translator sie so hätte übersetzen können, daß sie einen Sinn ergeben hätten.

„Als nächstes werden wir der AUGL-Station einen Besuch abstatten“, stellte Lioren klar. „Aber wir sind eben unterbrochen worden, also erzählen Sie mir bitte erst einmal, was genau Sie kaum glauben können.“

„Na ja, ich will Sie nicht kränken, aber ich fürchte, daß Sie schon aufgrund Ihres Berufs dazu neigen, dem Chefpsychologen gegenüber etwas zu freundlich gesinnt zu sein. Mich wird niemand davon überzeugen können, daß er kein mißmutiger, unverschämter und gefühlloser alte Griesgram ist, der allenfalls dann einfühlsam und fürsorglich ist, wenn es um ihn selbst geht. Sobald er den Mund aufmacht, bestärkt er mich nur in meiner Überzeugung.“

Der Padre gab zunächst ein unübersetzbares Geräusch von sich, dann entgegnete er: „Natürlich hat Major O'Mara den einen oder anderen Charakterfehler, und es gibt sogar eine Menge Krankenhausmitarbeiter, die Ihnen sagen werden, daß ihre psychische Stabilität allein darauf zurückzuführen sei, daß sie schlichtweg zuviel Angst vor O'Mara hätten, um durchzudrehen, was natürlich nichts anderes als eine witzig gemeinte Übertreibung ist. Darüber hinaus entspricht es auch in keiner Weise der Wahrheit.“

„Naja, wenn Sie das sagen, Padre“, seufzte Hewlitt.

Während sie weiter den Hauptkorridor entlanggingen, gelang es Hewlitt zum ersten Mal, auch ohne Liorens führender Hand auf der SchulterZusammenstöße mit anderen Wesen zu vermeiden und gleichzeitig eine Unterhaltung zu führen, was ihn ebenso erfreute wie erstaunte.

„Glauben Sie mir, wenn irgendein Wesen, egal welcher Spezies es angehört, dringend psychiatrischer Hilfe bedarf, dann gibt es im ganzen Krankenhaus keine geeignetere Person, und da beziehe ich mich durchaus mit ein, als Major O'Mara, der sie gewährleisten könnte. Der Major übernimmt fast nur die aussichtslos erscheinenden Fälle, also diejenigen, bei denen dauerhafte seelische Erkrankungen zu befürchten sind, die letztendlich dazu führen könnten, daß hochmotivierte und aufopferungsvoll arbeitende Personalangehörige aus dem Dienst entlassen werden müßten. Doch meistens sichert er nicht nur die geistige Gesundheit dieser Mitarbeiter, sondern auch deren beruflichen Werdegang. Diese Akten werden allesamt unter Verschluß gehalten, und weder der Major noch seine Patienten sprechen über die Behandlungsmethode und deren zumeist positiven Folgen… “

Hewlitt wußte zwar nicht warum, aber er war sich ziemlich sicher, daß einer dieser Patienten Lioren gewesen war.

„… O'Mara würde Ihnen übrigens erzählen, daß er sämtliche Klinikmitarbeiter als Patienten betrachtet“, fuhr der Padre fort. „Die meisten von ihnen brauchen nur ein Minimum an Aufmerksamkeit oder überhaupt keine Behandlung, und bei denen kann er sich, wie er sagt, entspannen und sich ganz normal verhalten, nämlich als griesgrämiges und sarkastisch veranlagtes Wesen. Aber wenn er sich besorgt gegenüber einer Person zeigt, so wie er es getan hat, als sich bei Ihnen erste Anzeichen einer psychischen Stressituation einstellten, weil Sie mich als ehemaligen Wirtskörper erkannt hatten, dann kümmert er sich sofort darum. Da Sie sich relativ rasch erholt haben, kehrte O'Mara sofort zu seinem normalen Verhaltensmuster zurück, das er jenen Personen gegenüber an den Tag legt, die er zu den geistig gesunden und seelisch stabilen Patienten zählt.

Anstatt wütend auf ihn zu sein, sollten Sie lieber erleichtert und ihm dankbar sein. Und sicherlich sind Sie auch ein wenig erstaunt … “

Hewlitt lachte. „Vielen Dank auch für diese wirklich erstaunlichenInformationen“, sagte er. „Aber mal im Ernst, ich habe noch eine Frage, und zwar die, die ich Ihnen vorher schon einmal gestellt habe: Was genau verheimlichen Sie mir?“

„Meine vorherige Antwort sollte eigentlich dazu dienen, das Thema zu wechseln, um Ihnen die Gelegenheit zu geben, mal über etwas anderes nachzudenken“, erwiderte Lioren. „Wir kommen übrigens gleich auf die AUGL-Station. Können Sie schwimmen?“

28. Kapitel

In der äußeren Umkleidekabine kontrollierte Lioren die Verschlüsse des Helms und die Luftzufuhr des Schutzanzugs. Bevor er jedoch in die Station schwimmen durfte, wurde diese Prozedur von Oberschwester Hredlichli in dem wassergefüllten Personalraum wiederholt. Allmählich fragte er sich, ob Illensanerinnen so etwas wie ein medizinisches Monopol auf den Oberschwesterposten hatten, denn auf den zwei Stationen, die er bisher kennengelernt hatte, bekleideten jeweils Chloratmerinnen diese Position. Da er von der Schwester durch den Stoff zweier Schutzanzüge getrennt war und immerhin einige Meter Wasser dazwischenlagen, hatte er das Gefühl, daß ihm der typische Chlorgeruch allmählich zu schaffen machte.

„Ich besuche jetzt den Patienten AUGL-Zwei-Dreiunddreißig, das ist die physiologische Klassifikation für diese wasseratmende Spezies. Die AUGLs auf dieser Station sind nach den Nummern ihrer jeweiligen Krankenakte benannt, weil ihre Eigennamen nur den engen Familienangehörigen bekannt sind. Sie sehen ziemlich furchterregend aus, legen ein etwas extrovertiertes Verhalten an den Tag und – es sei denn, man verbietet es ihnen – gehen mit kleineren Wesen etwas verspielt um, verletzen eine andere Kreatur aber niemals absichtlich.“

Als der Padre in Richtung des Stationseingangs schwamm, wirkten die Bewegungen seines sonst so klobig anmutenden Pyramidenkörpers mit den zwölf Gliedmaßen im Wasser geradezu anmutig. „Die meisten Leute empfinden bei der ersten Begegnung mit einem Chalder eine gewisse Beklommenheit, und man wird es Ihnen keineswegs als mangelnde emotionale Stärke ankreiden, wenn Sie sich nicht all zu nahe an diese Wesen herantrauen“, fuhr Lioren fort. „Das hier soll übrigens auch keine Mutprobe oder dergleichen sein. Also nehmen Sie sich Zeit, und unterhalten Sie sich nur dann mit ihnen, wenn Sie das Gefühl haben, innerlich bereit dazu zu sein.“

Hewlitt starrte fast eine Ewigkeit durch die durchsichtige Wand des Personalraums in eine trübe, grüne Unterwasserwelt, in der Unmengenanscheinend zur Dekoration dienende Vegetation trieb, wobei es sich bei den größeren Pflanzen durchaus um die Patienten selbst hätte handeln können. Da sich Hredlichli und eine kelgianische Schwester auf ihre Bildschirme konzentrierten und ihn nicht weiter beachteten, schwamm er ohne weiteres Zögern langsam in die Station hinein.

Den Personalraum hatte er noch keine zehn Meter hinter sich gelassen, da trennte sich vom äußersten Rande des Sichtfelds einer der verschwommenen, dunkelgrünen Schatten aus dem Winkel zwischen Boden und Wand ab und schoß wie ein großer organischer Torpedo auf ihn zu, und je näher dieses undefinierbare Etwas auf ihn zukam, desto mehr nahm es eine grauenerregende, dreidimensionale Gestalt an. Als dieses Ungetüm ruckartig zum Stehen kam, wurde Hewlitt aufgrund der Druckwellen und Turbulenzen, die durch das überstürzte Herannahen und das schnelle Schlagen der Flossen entstanden waren, im Kreis herumgewirbelt.

Plötzlich schwang eine der wuchtigen Flossen nach oben und blieb wie eine weiche Gummimatratze einen Augenblick an seinem Rücken haften, um ihm Halt zu geben. Dann nahm das Wesen etwas Abstand und begann ihn wie ein übergroßer und nicht enden wollender Doughnut zu umkreisen, der vom Kopf bis zum Schwanz mindestens zwanzig Meter lang sein mußte. Er hätte ohne weiteres nach oben oder unten schwimmen können, doch aus irgendeinem Grund waren Arme und Beine und selbst seine Stimme wie gelähmt.

Aus unmittelbarer Nähe sah das Wesen wie ein gewaltiger, gepanzerter Fisch mit einem kräftigen, messerscharfen Schwanz aus, der eine scheinbar planlose Anordnung von kurzen Flossen und einen breiten Ring von Tentakeln besaß, die aus den wenigen sichtbaren Öffnungen seines organischen Panzers hervorragten. Beim Vorwärtsschwimmen lagen die Tentakel flach an den Körperseiten an, aber sie waren so lang, daß sie über die dicke, stumpfe Keilform des Kopfes hinausreichten. Während die Kreatur ihn enger umkreiste, beobachtete sie ihn aus zwei lidlosen Augen, die in Form und Größe umgedrehten Suppenschüsseln ähnelten. Plötzlichteilte sich der Kopf und entblößte einen riesigen, rosafarbenen Rachen, umsäumt von einer Dreierreihe scharfer, weißer Zähne.

„Hallo“, begrüßte ihn der Chalder. „Sind sie etwa die neue Schwesternschülerin? Wir hatten eigentlich eine Kelgianerin erwartet.“

Hewlitt öffnete ebenfalls den Mund, aber es dauerte einen Augenblick, ehe er seine Stimme wiedergefunden hatte. „N-nein“, stammelte er. „Ich bin kein Mediziner, sondern nur ein ehemaliger Patient und besuche die Chalderstation zum ersten Mal.“

„Oh, ich hoffe, daß ich Sie dann durch mein Herannahen nicht allzu sehr erschreckt habe“, entschuldigte sich der Chalder. „Falls doch, tut es mir leid. Sie haben aber auch überhaupt nicht wie ein Besucher reagiert, der das erste Mal hier ist. Ich bin übrigens AUGL-Zwei- Elf. Wenn Sie mir die Aktennummer der Person nennen, die Sie besuchen möchten, bringe ich Sie gerne zu ihr.“

Als Hewlitt sich vorstellen wollte, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, daß Chalder ihren Namen nicht preisgeben und vermied es deshalb, sich oder sein Gegenüber in ernste Verlegenheit zu bringen. Die Höflichkeit des AUGLs mußte ihn wohl ein wenig übermütig gemacht haben, denn zu seiner eigenen Verwunderung entgegnete er: „Vielen Dank, aber eigentlich möchte ich zu keiner bestimmten Person. Wäre es vielleicht möglich, alle Patienten kurz kennenzulernen?“

Patient Zwei-Elf machte das Maul einige Male auf und zu. Noch während sich Hewlitt fragte, ob der Chalder sein Bitte ablehnen wollte, antwortete dieser: „Das wäre durchaus möglich und in meinen Augen sogar wünschenswert. Dies gilt insbesondere für die drei Patienten, zu denen übrigens auch ich gehöre, deren Entlassung überfällig ist und die sich zusehends langweilen. Es bleibt Ihnen allerdings nicht viel Zeit, denn in knapp einer Stunde wird die Hauptmahlzeit ausgeteilt. Die Nahrung ist selbstverständlich synthetisch, aber höchst beweglich und naturgetreu nachgebildet, und kleine Wesen wie Sie werden aufgefordert, während der Essenszeit die Station zu verlassen, damit sie nicht versehentlich verspeist werden.“„Keine Sorge, ich werde mich bestimmt rechtzeitig zurückziehen“, versicherte ihmHewlitt.

„Das klingt sehr vernünftig“, pflichtete ihm der Chalder bei und hielt kurz inne, bevor er fragte: „Kann es sein, daß ich Sie durch irgendeine unpassende Bemerkung oder Andeutung beleidigt habe?“

Hewlitt musterte erneut den gewaltigen Panzerkörper und die respekteinflößenden Zähne und erwiderte: „Ich bin keineswegs beleidigt.“

„Dann bin ich ja beruhigt“, sagte der AUGL, bevor er näher herankam und direkt an Hewlitt vorbeiglitt, bis nur noch ein riesiges Auge, eine Hälfte der Mundöffnung und eine steif vorstehende Flosse von ihm zu sehen waren. „Terrestrier kann man nicht unbedingt als wassertauglich bezeichnen; sie bewegen sich viel zu langsam und müssen ungeheuer viel Energie dafür aufwenden. Wenn Sie nach der Flosse greifen, die in Ihrer Reichweite ist, und sich an deren Ende mit beiden Händen festhalten, dann können wir zwischen den Patienten umherschwimmen und werden dafür nur einen Bruchteil der Zeit benötigen, die Sie sonst aufwenden müßten.“

Hewlitt zögerte. „Die Flosse sieht… nun ja… ziemlich empfindlich aus. Kann ich Ihnen dabei auch wirklich keinen Schaden zufügen?“

„Quatsch, überhaupt nicht!“ widersprach Zwei-Elf entschieden. „Ich gebe zwar gern zu, daß ich mich in letzter Zeit etwas schwach gefühlt habe, aber ich bin sehr viel besser bei Kräften, als es derzeit den Anschein hat.“

Hewlitt, dem dazu keine passende Antwort einfiel, griff kurzerhand nach der Flosse, deren dickes, rotgeädertes Ende wie eine riesige, durchsichtige Rhabarberstange aus einer Öffnung des schuppigen Panzers sproß. Als er plötzlich spürte, wie etwas Unsichtbares ihn loszureißen versuchte, packte er fester zu, bis er merkte, daß nur der steigende Wasserdruck an ihm zerrte, der durch die rasche Vorwärtsbewegung ausgelöst worden war. Während sie wie ein Torpedo durch die ganze Station schossen, glitten sie an den Zierpflanzen, den riesigen Patienten und dem im direkten Vergleich geradezu winzig wirkenden Pflegepersonal vorbei.

Wie Hewlitt sehen konnte, gab es auf dieser Station keine Betten, wasallerdings angesichts der hier herrschenden Umweltbedingungen alles andere als verwunderlich war. Diejenigen Chalder, die bettlägerigen Patienten am ehesten gleichkamen, waren an offene Behandlungsgestelle gebunden, die wie Kastendrachen aussahen. Einer dieser Patienten, dessen gesamte Körperoberfläche aus krankheits- und altersbedingten Gründen rissig und verfärbt war, erhielt gerade Besuch von Lioren. Die Mehrheit der anderen schwamm ohne Einschränkungen in den ihnen zugewiesenen, an Wänden und Decke markierten Bereichen umher, und da sie die Augen auf flackernde Bildschirme richteten, sahen Sie sich vermutlich Unterhaltungsprogramme an. Zwei Chalder trieben Kopf an Kopf fast bewegungslos am Ende der Station und unterhielten sich offenbar. Dort befand sich auch das Ziel. Als sich Zwei-Elf und Hewlitt den beiden näherten, schlugen sie mit den gewaltigen Schwänzen, drehten sich schwerfällig um und starrten sie mit weit aufgesperrten Mäulern an.

„Wenn Sie möchten, können Sie jetzt absitzen“, meinte Zwei-Elf und deutete mit einem fransigen Tentakel auf die beiden AUGLs: „Das sind übrigens die Patienten Eins-Dreiundneunzig und Zwei-Einundzwanzig. Und das hier ist eine terrestrische Besucherin, die sich mit uns unterhalten möchte.“

„Ich sehe auch so, daß es sich nicht um einen deiner widerlichen Körperparasiten handelt“, frotzelte Eins-Dreiundneunzig. „Worüber möchte er sich denn mit uns unterhalten? Über den idiotischen Grund, weshalb wir immer noch hier sind?“

Bevor Hewlitt antworten oder die geschlechtliche Frage klarstellen konnte, meldete sich Zwei-Einundzwanzig zu Wort: „Bitte entschuldigen Sie das Verhalten unseres Freundes, kleine Sauerstoffatmerin. Seine Manieren lassen aufgrund einer Mischung aus Ungeduld, Langeweile und Heimweh in letzter Zeit etwas zu wünschen übrig. Normalerweise ist sein Benehmen viel besser… na ja… zumindest etwas besser, als es jetzt der Fall ist. Dennoch bleibt seine Frage bestehen, nämlich warum Sie hier sind und was Sie uns zu sagen haben.“

Hewlitt wartete solange, bis die drei die Position gewechselt hatten undnebeneinander im Wasser schwebten, so daß sie ihn direkt ansehen konnten. Der Anblick eines aufgerissenen Rachens mit drei Zahnreihen war ihm schon etwas nahe gegangen, aber die drei übergroßen, aufgesperrten Mäuler, die nur wenige Meter von seinem Kopf entfernt waren, hatten nun eine eher lächerliche als furchterregende Wirkung auf ihn, so daß er sich langsam zu entspannen begann. Nach kurzer Überlegung faßte er den Entschluß, daß es sich wieder einmal um einen jener Augenblicke handelte, in dem man lieber sparsam und vielleicht sogar etwas erfinderisch mit der Wahrheit umgehen sollte.

„Ich weiß selbst nicht so genau, worüber ich reden möchte“, antwortete er. „Das Thema ist mir eigentlich egal. Ich möchte mich lediglich ein bißchen unterhalten. Ich bin weder Mediziner noch Psychologe, sondern nur ein ehemaliger Patient, der bei einigen Nachforschungen behilflich ist. Da es noch eine Weile dauern kann, bis man mir genehmigen wird, das Krankenhaus zu verlassen, und es nichts Interessantes für mich zu tun gibt, hat man mir auf meine Bitte hin die Erlaubnis erteilt, die Zeit dafür zu nutzen, so viele Patienten und Klinikmitarbeiter wie möglich kennenzulernen und mich mit ihnen zu unterhalten.

Hier im Orbit Hospital bietet sich einem die fast einmalige Chance, praktisch jede Spezies der Föderation hautnah zu erleben, während ich mich auf der Erde schon glücklich schätzen könnte, zu meinen Lebzeiten überhaupt nur fünf verschiedenen Fremdweltlern zu begegnen. Eine solch günstige Gelegenheit wollte ich mir einfach nicht entgehen lassen.“

„Aber es gibt über hundert Chalder auf der Erde“, wandte Zwei-Elf ein. „Sie kümmern sich um die Fortbildung der intelligenten Meeressäugetiere, die von Ihren Vorfahren fast ausgerottet worden wären.“

„Sicher, aber die meisten davon sind chalderische Wissenschaftler und deren Familien“, sagte Hewlitt. „Nur einigen wenigen terrestrischen Meeresbiologen ist es erlaubt, sich mit ihnen zu treffen oder zusammenzuarbeiten. Leuten, die wie ich nicht vom Fach sind, ist es aus Gründen des Umweltschutzes strikt verboten, mit ihnen in Kontakt zu treten, wohingegen sich die Patienten hier im Orbit Hospital gegenseitigbesuchen dürfen.“

„Dennoch glaube ich, daß ein körperlich so schwaches Wesen wie Sie ein ernsthaftes Risiko eingeht, wenn es sich hier im Hospital überall umsieht, nur um die Zeit bis zur Entlassung totzuschlagen“, meinte Eins-Dreiundneunzig. „Im Vergleich zu einigen anderen Stationen sind die Umweltbedingungen hier auf der Chalderstation nämlich noch ausgesprochen freundlich. Aber mal was anderes: Spielte bei ihrer überwundenen Krankheit eigentlich auch eine psychologische Komponente eine Rolle?“

„Auf der Erde hielten das die meisten Mediziner sogar für sehr wahrscheinlich“, entgegnete Hewlitt, dem klar war, daß eine ironische Antwort keinen Sinn gehabt hätte. „Im Orbit Hospital wurde aber die wahre Ursache entdeckt, und es stellte sich heraus, daß sich die terrestrischen Ärzte allesamt geirrt hatten. Und was Ihre Befürchtungen angeht, daß ich ein zu großes Risiko eingehen würde, wenn ich mich hier im Hospital umsehe, so kann ich Sie beruhigen, da sich Padre Lioren bereiterklärt hat, mir sozusagen als Fremdenführer und Beschützer in einem zur Seite zu stehen.“

„Das Krankenhaus muß sich Ihnen gegenüber ziemlich verpflichtet fühlen, wenn es Ihnen einen solch ungewöhnlichen Wunsch erfüllt“, merkte Eins-Dreiundneunzig an. „Was fehlte Ihnen denn?“

Hewlitt versuchte immer noch, sich eine angemessene, nicht offenkundige Antwort einfallen zu lassen, als Eins-Dreiundneunzig sagte: „Wahrscheinlich handelte es sich um eins dieser ekligen Fortpflanzungsprobleme, die diese Wesen haben, die keine Eier legen können. Ihr seht doch, daß die Terrestrierin es uns nicht sagen will, und außerdem glaube ich nicht, daß ich es überhaupt wissen will.“

Eigentlich wollte sich Hewlitt spontan gegen die Vermutung wehren, ein weibliches Wesen zu sein, das keine Eier legen konnte. Da er aber ebensowenig wußte, ob er es mit weiblichen oder männlichen Chaldern zu tun hatte, konnte er es ihnen umgekehrt nicht vorwerfen, wenn sie mit ihm denselben Fehler begingen. Also besann er sich eines Besseren undantwortete diplomatisch:

„Meistens ist der übliche Klatsch und Tratsch hier im Orbit Hospital mit irgendeinem körperlichen oder emotionalen Aspekt des Fortpflanzungsprozesses verbunden. Wenn ich Ihnen die peinlichen Erlebnisse anderer Wesen erzählen sollte, dann wäre ich natürlich weniger zurückhaltend, als wenn es sich um die eigene Person dreht.“

„Aha, ich fürchte, wir verstehen, was Sie uns damit sagen wollen“, meinte Eins-Dreiundneunzig. „Aber jetzt würden wir lieber erst einmal wissen, wann wir voraussichtlich nach Hause geschickt werden. Haben Sie diesbezüglich irgend etwas vernommen?“

„Nein, leider nicht“, antwortete Hewlitt. „Aber ich werde versuchen, das herauszufinden.“

Das stimmt zumindest, dachte er, wobei er sich an die von der Rhabwar empfangene Warnung erinnerte und an die Notfallübung, die auf seiner ehemaligen Station stattgefunden hatte. Ob es ihm überhaupt erlaubt war, etwas von seinen Erkenntnissen preiszugeben, stand auf einem ganz anderen Blatt, denn allmählich befürchtete er, daß es weder einfach noch angenehm sein würde, die ganze Angelegenheit zu erklären. Doch stellte sich schon bald heraus, daß die drei Chalder im Grunde nur über ihre alles geliebte Heimat sprechen wollten.

Zuerst hatte er damit gerechnet, daß der Versuch, ihm die Wasserwelt von Chalderescol zu beschreiben, dasselbe wäre, als würde man einem Farbenblinden einen Sonnenuntergang beschreiben, doch hatte er sich diesbezüglich geirrt. Innerhalb weniger Minuten erfuhr er etwas über die Freiheit eines Meeres, das, abgesehen von zwei kleinen Gegenden an den Polen, die gesamte Planetenoberfläche bedeckte und über hundertfünfzig Kilometer tief war. Nachdem sich die Chalder auf die oberste Sprosse der evolutionären Unterwasserleiter ihres Heimatplaneten Chalderescol II hochgekämpft und etabliert hatten, war es ihnen gelungen, die Energie der Unterwasservulkane in den Griff zu bekommen und zu nutzen und gleichzeitig mit den natürlichen Ressourcen des vielleicht schönsten Planeten der Föderation hauszuhalten; wenngleich die meisten außerplanetarischenWesen spezielle druckbeständige Unterwasserfahrzeuge und Sehhilfen benötigten, um diese Welt vor Ort bewundern zu können. Schon lange vor der Entdeckung des Feuers waren die Chalder eine hoch zivilisierte Spezies und konnten schon nach den ersten technischen Errungenschaften durch die fast vakuumdichte Atmosphäre über ihren Ozean fliegen und schon bald darauf Weltraumflüge unternehmen. Doch egal wie weit oder häufig diese Wesen auch reisten und aus welchen Beweggründen sie dies auch immer taten, sie blieben doch stets ein Teil des chalderischen Heimatozeans und mußten regelmäßig auf ihren geliebten Planeten zurückkehren.

Angesichts ihrer gewaltigen Größe und des enormen Aufwands an erforderlichen Lebenserhaltungssystemen sowie der extremen Gefahren und Unannehmlichkeiten, denen sich diese Wesen bei Weltraumreisen aussetzten, fragte sich Hewlitt, warum sie nicht einfach zu Hause auf Chalderescol II blieben.

„Warum wollen wohl sämtliche Spezies, die ansonsten alle sieben Sinne einigermaßen beisammen haben, unbedingt Weltraumreisen unternehmen?“ fragte Zwei- Elf zurück und erinnerte Hewlitt daran, daß er laut nachgedacht haben mußte. „Falls Sie sich auch noch mit den anderen Patienten auf unserer Station unterhalten wollen, dann ist das eine viel zu umfassende philosophische Frage, als daß wir sie noch vor der Jagd nach dem Mittagessen klären könnten. Halten Sie sich bitte wieder an meiner Flosse fest…“

Die Begegnung mit den drei Chaldern hatte ihm die Angst vor diesen Unterwassermonstern gänzlich genommen, so daß er sich fortan mit den anderen Patienten auf fast freundschaftlicher Ebene unterhalten konnte, da er deren Gefühle nun etwas besser verstand, ohne sich dabei zum Narren machen zu müssen. Bei dem schwer erkrankten Patienten, mit dem sich Lioren unterhielt, legte er zwar einen kurzen Zwischenstop ein, sagte aber keinen Ton. Die beiden waren bereits in ein Gespräch vertieft, und er hielt es für angebrachter, sie dabei nicht zu stören. Dennoch hatte der kurze Aufenthalt neben dem Behandlungsgestell für ihn ausgereicht, um festzustellen, daß auch dieser Chalder kein Wirt der Virenkreatur gewesenwar, was ebenso für den Rest der Patienten und das gesamte Pflegepersonal auf dieser Station zutraf.

Als er zum Personalraum zurückkehren wollte, entdeckte er, daß die Klappe des Essenspenders neben dem Eingang offenstand, und mehr als hundert flache, eiförmige Gebilde horizontal durchs Wasser trieben, die alle knapp einen Meter Durchmesser hatten. An der Oberfläche waren sie mit unregelmäßigen matten Flecken bedeckt, während die Unterseite blaßgrau gefärbt war. Eine lange, flache Rückenflosse verlief von vorn nach hinten, und im äußeren Rand der Schwanzflosse befanden sich drei kreisförmige Löcher. Als er ein Stück darauf zuschwamm, um eins dieser Objekte genauer zu begutachten und es versehentlich berührte, begann es sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Plötzlich tauchte Oberschwester Hredlichli neben ihm auf.

„Was ist das für ein… ?“ begann Hewlitt und hielt inne, als eine formlose illensanische Gliedmaße vorschoß, nach dem Objekt griff und es wieder ausrichtete.

„Sie dürfen die Flugbahn nicht verändern“, ermahnte ihn Hredlichli in ihrer gewohnt ungeduldigen Art. „Zu Ihrer Information: Falls Sie es noch nicht wissen sollten, das hier ist ein Behälter mit konzentrierter Nahrung und einer genießbaren Außenhülle, der durch verborgen angebrachte Hochdruckkapseln mit ungiftigem Gas angetrieben wird. Dadurch wird die Bewegung eines im Wasser fliehenden, nicht empfindungsfähigen Schalentiers simuliert, das im chalderischen Ozean heimisch ist. Man hat herausgefunden, daß bewegliche Nahrung den Appetit der Patienten anregt und sich generell positiv auf das körperliche Wohlbefinden auswirkt. Sollte solch ein Krusten tier-dummy gegen eine Wand oder die Decke knallen und aufspringen, dann würde das einen ziemlichen Dreck verursachen, den mein Pflegepersonal aus dem Wasser filtern und entfernen müßte, obgleich wir hier wirklich etwas Wichtigeres zu tun haben. Gehen Sie also bitte wieder in den Personalraum.“ Damit wandte sich Hredlichli von Hewlitt ab, blickte in Richtung der Station und verkündete: „Achtung! Ich bitte alle Anwesenden um Ihre Aufmerksamkeit!“Hredlichlis Stimme war sowohl aus den Wandlautsprechern als auch über Hewlitts Kopfhörer zu vernehmen.

„…die Hauptmahlzeit steht unmittelbar bevor“, fuhr die Oberschwester fort. „Fünfzehn Minuten später folgen die mit blauen Kreisen gekennzeichneten Behälter, in denen sich die für die Patienten Eins-Dreiundneunzig, Zwei- Elf und Zwei-Fünfzehn erforderliche Schonkost befindet. Denken Sie bitte freundlicherweise daran, daß diese Kost ausschließlich für die eben genannten Patienten bestimmt ist. Den in Behandlungsgestellen befindlichen Patienten werden die Mahlzeiten vom Pflegepersonal geliefert, sobald die schwimmfähigen Patienten mit dem Essen fertig sind. Alle Klinikmitarbeiter, die sich noch auf der Station befinden, werden aufgefordert, sofort in den Personalraum zurückzukehren. Das gilt übrigens auch für Sie, Padre Lioren.“

Kurz darauf traf Lioren im Personalraum ein, doch schien er keine Lust zu haben, sich zu unterhalten. Wahrscheinlich war er noch mit seinen Gedanken bei dem kranken Patienten. Hewlitt beobachtete, wie die künstlichen Krustentiere aus den Essensfahrzeugen herauskatapultiert wurden und durch die Station trudelten und wie sich ihre Anzahl rasch verringerte, weil riesige Schatten mit zuschnappenden Mäulern auf sie zuschossen. Hredlichli, die in ihrem Schutzanzug wie eine in Plastik eingewickelte Pflanze wirkte und ziemlich grotesk aussah, trieb näher zu ihm heran. Zum ersten Mal seit seinem Eintreffen auf dieser Station, schien selbst die Oberschwester nichts zu tun zu haben.

Hin und wieder gab es seiner Meinung nach Zeiten, wo man durch das Vortäuschen falscher Tatsachen oder das Anbringen von Halbwissen sehr viel mehr erreichen konnte, und deshalb entschloß er sich, eine etwas riskante Frage zu stellen.

„Die AUGL-Spezies ist außerhalb ihres Heimatplaneten bestimmt nicht leicht zu transportieren, nicht wahr, Oberschwester Hredlichli? Wie lange würde eigentlich eine Evakuierung sämtlicher Patienten von dieser Station dauern? Und wie würden Sie ganz persönlich die Erfolgsaussichten einer solchem Maßnahme beurteilen?“In Hredlichlis Schutzanzug zuckten einige der öliggelben, palmwedelähnlichen Blätter, als sie antwortete: „Offensichtlich wissen Sie über den Notfall schon längst Bescheid. Das erstaunt mich, weil diese Information ausschließlich den ranghöchsten Offizieren und medizinischen Mitarbeitern vorbehalten ist sowie einer einzigen Oberschwester, nämlich mir, weil diese Station bei einer eventuellen Evakuierung spezielle Probleme mit sich bringt. Oder sind Sie etwa mehr als nur ein neugieriger Besucher, und steckt womöglich ein ganz anderer Grund dahinter, weshalb Sie sich mit sämtlichen Patienten auf der Station unterhalten wollten?“

Daß die Antwort auf beide Fragen ›ja‹ lautete, war Hewlitt klar, aber das konnte er nicht zugeben, da von der Existenz der Virenkreatur ebenfalls nur einige wenige wußten. Eigentlich wollte er von der Oberschwester ein paar genauere Details über den Notfall erfahren, doch traute er sich nicht mehr, irgendwelche Fragen zu stellen, zumal er so tun müßte, als wüßte er Bescheid. Aus seiner anfänglichen Neugier wurde allmählich wachsende Furcht.

„Tut mir leid, Schwester, aber leider ist es mir nicht erlaubt, diese Frage zu beantworten“, versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen.

Immer mehr Körperteile Hredlichlis zuckten aufgeregt. „Wenn es um meine Station geht, dann kann ich einer solchen Geheimniskrämerei nicht zustimmen. Meine Chalder mögen zwar eine gewisse Übergröße haben, aber deswegen sind sie noch lange nicht dumm. Selbst in diesem Krankenhaus gibt es noch immer viel zu viele Leute, die körperliche Größe mit einem Mangel an Intelligenz gleichsetzen. Sollten meine Patienten erfahren, daß es eine Fehlfunktion im Energieversorgungssystem gibt, durch die das ganze Orbit Hospital bedroht ist, würden sie trotzdem niemals in Panik geraten. Sie würden nicht einmal auszubrechen versuchen, wenn man ihnen sagt, daß sie aufgrund ihrer Größe und den daraus folgenden Problemen mit ihrer Evakuierung zu den letzten zählen, die das Krankenhaus verlassen können, und daß wegen der knapp bemessenen Zeit nicht genügend Schiffe für ihre Unterbringung umgerüstet werden könnten. Und die giftige und verdünnte Atmosphäre außerhalb dieserStation wäre für diese Wesen genauso tödlich wie meine Chloratmosphäre oder der Weltraum. Diejenigen Patienten, die zurückbleiben müßten, würden ihr Schicksal akzeptieren und ganz bestimmt darauf bestehen, daß sich ihr Pflegepersonal retten solle, weil diese Chalder sehr intelligente, hoch sensible und äußerst fürsorgliche Monster sind.“

„Das kann ich nur bestätigen“, pflichtete ihr Hewlitt bei, schließlich hatte er sich erst kurz zuvor mit allen Chaldern unterhalten und selbst davon überzeugen können. Außerdem hatte er eben eine beängstigende Bestätigung des Grunds für die Notfallübungen erhalten, die offenbar überall stattgefunden hatten, nur nicht auf der Chalderstation. Am meisten beschäftigte ihn allerdings der Gedanke, weshalb er urplötzlich ein für ihn unerklärliches Mitleid mit dieser optisch so abscheulichen Chloratmerin empfand. „Wahrscheinlich wird es sowieso nicht so weit kommen, Oberschwester“, fügte er hinzu. „Ich denke, daß die Wartungsingenieure dieses Problem noch rechtzeitig in den Griff bekommen.“

„Bedenkt man, wie lange die gebraucht haben, nur um den Müllabzug am Behandlungsgestell von Eins- Siebenundachtzig zu reparieren, dann kann ich das Vertrauen, das Sie in diese Stümper setzen, nicht ganz nachvollziehen“, antwortete Hredlichli in ihrer gewohnt bärbeißigen Art.

Während seines Gesprächs mit der Oberschwester hatte Lioren die ganze Zeit sämtliche Augen auf Hewlitt gerichtet, doch selbst nie ein Wort dazu gesagt. Als sie sich wenige Minuten später wieder auf dem Korridor befanden, fragte sich Hewlitt, ob ihm der Padre das Gespräch mit Hredlichli krummnahm.

„Sind wir uns einig, daß es auf der Chalderstation keine Exwirte der Virenkreatur gibt?“ erkundigte sich Hewlitt.

„Ja“, antwortete Lioren knapp.

Immerhin hatte dieses kleine Wort schon mal ein kleines Loch in die Mauer des Schweigens gerissen. Doch mit der wachsenden Angst wuchs auch Hewlitts Verlangen, mehr zu erfahren, und ihm war klar, daß seine nächste Frage dieses kleine Loch in der Mauer wieder verschließen könnte.„Haben Sie den Grund für die Notfallübung eigentlich auch gekannt und ihn mir extra nicht verraten, Lioren?“

„Ja“, antwortete der Padre, und bevor Hewlitt die naheliegende Frage nach dem Warum stellen konnte, fuhr Lioren fort: „Dafür gab es drei Gründe. Einer davon ist Ihnen ja bereits bekannt; nämlich der, daß Sie auf diesem Gebiet kein Experte sind, was wiederum bedeutet, daß es überhaupt keinen Sinn gehabt hätte, Sie über den wahren Sachverhalt zu informieren, da es nicht zur Lösung des Problems beigetragen hätte. Zweitens hätten Sie sich nur unnötige Sorgen gemacht, was sich möglicherweise auf Ihr Verhalten bei unserer gegenwärtigen Suche negativ ausgewirkt hätte. Und drittens bin ich über den Notfall unter ganz besonderen Begleitumständen informiert worden, die es mir verbieten, meine Kenntnisse preiszugeben. Auf jeden Fall haben Sie von Hredlichli auch nicht viel weniger erfahren, als ich weiß, so daß ich mich jetzt durchaus in der Lage sehe, mich mit Ihnen über die aktuelle Situation zu unterhalten… zumindest ganz allgemein.“

„Soll das etwa heißen, daß es da immer noch etwas gibt, das Sie mir nicht verraten wollen“, hakte Hewlitt nach und fügte im geringschätzigen Ton hinzu: „Natürlich nur, damit ich mir keine unnötigen Sorgen mache, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete Lioren.

Jetzt war Hewlitt an der Reihe, lieber eine Mauer des Schweigens um sich herum zu errichten, denn die Wörter, die er Lioren gerne an den Kopf geworfen hätte, wären dem Padre höchstwahrscheinlich nicht gerecht geworden.

Folglich mußte sich dieses Mal Lioren als Abbruchunternehmer von Schweigemauern betätigen. „Als nächstes begeben wir uns auf die SNLU-Station“, verkündete er. „Die SNLUs sind sehr zarte Methanwesen mit einer kristallinen Gewebestruktur, die auf helles Licht und steigende Umgebungstemperatur extrem empfindlich reagiert. Die für uns erforderlichen Schutzfahrzeuge sind stark isoliert und etwas unbeweglich, aber mit Außensensoren und fernbedienbaren Greifarmen ausgestattet.Aufgrund der extremen Hörempfindlichkeit ist es notwendig, die nach außen gehenden akustischen Signale zu reduzieren und die hereinkommenden zu verstärken, deshalb ist es sehr leise auf dieser Station. Sie können sich meinem Patienten ruhig nähern, wenn ich Sie mit ihm bekanntmache. Danach müssen Sie uns beide aber allein lassen. Sie können sich dann mit den drei anderen Patienten, die dort zur Zeit sonst noch behandelt werden, unterhalten, wie Sie es schon auf der Chalderstation getan haben. Um die Steuerung Ihres Schutzfahrzeugs brauchen Sie sich nicht zu kümmern, weil es vom Personalraum aus von einem Mitarbeiter ferngesteuert wird.“

Hewlitt schwieg beharrlich, da er sich noch immer maßlos darüber ärgerte, daß Lioren ihm Informationen vorenthielt, nur damit er sich keine unnötigen Sorgen machte.

„Wie Sie gleich feststellen werden, kühlt bei den auf der SNLU-Station herrschenden Umweltbedingungen selbst das heißblütigste Temperament rasch ab“, fügte Lioren weise hinzu.

29. Kapitel

Auf der Station herrschten Dunkelheit und eisige Kälte. Schwere Blei-und Panzerplatten dienten als Isolation vor der Reststrahlung und Wärme, die durch den hospitalnahen Schiffsverkehr hervorgerufen wurden. Natürlich gab es keine Fenster, weil selbst das schwache Licht der weit entfernten Sterne diesen sensiblen Bereich des Orbit Hospitals nicht erreichen durfte. Die Abbildungen, die auf Hewlitts kleinem Bildschirm erschienen, waren aus dem nicht sichtbaren Spektrum umgewandelt worden, wodurch sie unwirklich und nahezu geisterhaft wirkten. Die Schuppen, mit denen der achtgliedrige, seesternähnliche Körper des Patienten bedeckt war, glänzten durch den Methannebel hindurch wie vielfarbige Diamanten, wodurch das Wesen einem wundersam anmutenden Wappentier ähnelte.

Während sich Hewlitt zwischen den Patienten hindurchbewegte, stellte er den Translator aus, um auf diese Weise den natürlichen Stimmen der SNLUs zu lauschen, und er nahm Klänge wahr, wie er sie noch nie zuvor gehört hatte. So kristallklar und schön waren diese Laute, daß er beinahe das Gefühl hatte, dem akustisch verstärkten Klingeln zusammenprallender Schneeflocken zu lauschen. Auch wenn sich auf dieser Station kein Wirtskörper befand – wobei Hewlitt bezweifelte, daß hier irgend etwas, außer einem SNLU selbst, länger als fünf Minuten überleben könnte -, so wunderte er sich nur um so mehr, wie schwer ihm der Abschied von diesen exotischen Wesen fiel.

Liorens nächster Besuch galt einer melfanischen Schwester namens Lontallet, die gerade dienstfrei hatte. Nachdem Hewlitt ihr vorgestellt worden war und sie von der Verdächtigenliste ehemaliger Viruswirte hatte streichen können, wartete er draußen auf dem Flur, während Lioren die Schwester nach drinnen in deren Unterkunft begleitete.

Das Warten war nicht besonders langweilig, weil eine sich langsam bewegende Patientenkolonne an ihm vorbeizog. Hewlitt zählte dreißig Wesen, die fünf verschiedenen sauerstoffatmenden Spezies angehörten undvon denen einige mit G-Schlitten transportiert wurden. Den hektisch geführten Gesprächen des Begleitpersonals war zu entnehmen, daß es sich offenbar um eine Evakuierungsübung handelte, die ziemlich chaotisch verlief. Als der letzte Pfleger an ihm vorbeigegangen war, kam der Padre wieder nach draußen.

„Ist die Gruppe langsam genug an Ihnen vorbeigezogen, um jeden einzelnen überprüfen zu können?“ erkundigte sich Lioren. „Und haben Sie irgendwas bemerkt?“

„Erstens ja und zweitens nein“, antwortete Hewlitt. „Wohin geht's als nächstes?“

„Zur Luftschleuse des Anlegedocks auf Ebene eins. Doch vorher werden wir sämtliche dazwischenliegenden Ebenen und den dazugehörigen Stationen einen kurzen Besuch abstatten und nebenbei alle Passanten auf den Verbindungskorridoren überprüfen“, sagte Lioren. „Auf jeden Fall müssen wir sehr viel schneller arbeiten und dürfen uns nicht so lange mit den Patienten unterhalten. Ein paar Worte wechseln oder ein kurzer Blickkontakt ist alles, was wir uns noch erlauben können. Sind Sie müde?“

„Nein, nur neugierig, aber auch hungrig“, antwortete Hewlitt. „Wir haben schon lange nichts mehr gegessen, und ich…“

„Kurzfristig wird uns der Hunger schon nicht umbringen“, unterbrach ihn der Padre. „Ich habe von Schwester Lontallets Zimmer aus Kontakt mit der Abteilung aufgenommen. O'Mara befindet sich gerade in einer Konferenz, dieses Mal per Kommunikator mit den Kapitänen der wartenden Schiffe, aber er hat eine Nachricht für uns hinterlassen. Demnach hat sich die Situation zwar verschärft, aber dennoch sind die genauen Umstände des technischen Notfalls immer noch nicht publik gemacht worden. Gegenwärtig sind drei verschiedene Evakuierungsübungen in Gang, doch bislang haben noch keine Schiffe an den Anlegeschleusen festgemacht. Die Patienten beklagen sich schon über die Unannehmlichkeiten. Die medizinischen Mitarbeiter ahnen längst, daß etwas im Argen liegt und verlangen nach Antworten auf ihre Fragen, und obwohl ihnen der Krankenhausfriede am Herzen liegt und sie alles fürdessen Aufrechterhaltung tun, bekommen die Patienten doch etwas von ihrer Unruhe mit, und so schaukeln sie sich gegenseitig hoch. In psychologischer Hinsicht befinden wir uns in einer äußerst prekären Situation, und dieser angespannte Zustand ist nicht mehr allzu lange tragbar.“

„Wo liegt denn nun das eigentliche Problem?“ wollte Hewlitt wissen. „Sind nicht genügend Schiffe für eine Evakuierung vorhanden? Wenn es sich um ein Geheimnis handelt, behalten Sie es von mir aus für sich, aber das Personal hier weiß sehr wohl mit Notfällen umzugehen, zumindest mit medizinischen. Folglich würden alle sehr viel besser reagieren können, wenn sie in voller Kenntnis der Lage wären, so beängstigend diese auch sein mag.“

Während eines freien Abschnitts auf dem Flur steigerte Lioren die Schrittfrequenz und antwortete: „Genügend Schiffe für die Evakuierung des Orbit Hospitals zusammenzubekommen, sollte nicht das Hauptproblem sein, bedenkt man, wie schnell die Föderation in der Vergangenheit auf solche Katastrophen mit umfangreichen Hilfseinsätzen reagiert hat. Vielleicht kann niemand über das Problem sprechen, weil es selbst niemand versteht oder weil es mehr als lediglich ein Problem gibt.“

„Wollen Sie mich nur noch mehr verwirren, oder soll das eine Art Hinweis sein?“ hakte Hewlitt nach.

Lioren ging auf die Frage nicht ein und fuhr fort: „Prilicla hat mir übrigens aus dem Speisesaal keine besonderen Vorkommnisse gemeldet. Keiner der Gäste, deren emotionale Ausstrahlung er prüfen konnte, war oder ist von der Virenkreatur befallen. Aufgrund seines geringen Durchhaltevermögens muß unser kleiner Freund leider erst einmal eine längere Ruhepause einlegen, bevor er die Suche wiederaufnehmen kann. Also sind wir beide zur Zeit die einzigen Wesen, die die Virenkreatur ausfindig machen können, und das, wie O'Mara sagt, unverzüglich. Außerdem sollen wir von nun an unsere Helme verschließen und ausschließlich die Sauerstofftanks benutzen, um beim Wechseln in unterschiedliche Umweltbedingungen keine kostbare Zeit zu verlieren.“„Dadurch sparen wir doch höchstens ein paar Minuten und…“, begann Hewlitt zu protestieren, gab sich aber geschlagen. „Ach, ist mir auch egal…“

Nach seiner Auffassung handelte es sich dabei trotzdem um eine törichte Anweisung, denn mit Ausnahme von zwei Stationen, die sie aufsuchen wollten, gehörten alle anderen zu warmblütigen Sauerstoffatmern, die ähnliche Druck- und Atmosphäreverhältnisse wie sie selbst benötigten. Vielleicht war ja sogar der Chefpsychologe aufgrund dieses ominösen Notfalls nicht mehr ganz Herr seiner Sinne.

Die nächste Station gehörte zu einer der wenigen im Orbit Hospital – die Chalderstation, die sie kurz zuvor besucht hatten, war eine weitere -, auf der nur eine einzige Patientenspezies behandelt wurde. Zum ersten Mal konnte er aus nächster Nähe und erschreckend klar und deutlich eine ganze Station voller illensanischer Körper sehen, die nicht von einer halb durchlässigen, chlorgefüllten Schutzhülle umgeben waren. Es erstaunte ihn nicht, daß keiner dieser Patienten die Virenkreatur beherbergt hatte, weil er sich selbst in seinen kühnsten Phantasien kein Wesen vorstellen konnte, das einen solchen Körper bewohnen wollte, so sehr sich dieses auch nach einem Wirt sehnen mochte.

Eine Station folgte der nächsten und damit einhergehend eine verblüffende Folge von Patienten und Mitarbeitern, von denen die meisten Lebensformen angehörten, die Hewlitt noch nie zuvor gesehen hatte. Zeit für einen großartigen Austausch von Fragen und Antworten war nicht vorhanden. Zwar waren diese Wesen keineswegs auch nur ansatzweise so abstoßend wie die Illensaner, dennoch stellten sie sich nicht als ehemalige Wirtskörper heraus. Die Geschwindigkeit, mit der er und Lioren die Besuche abstatteten, blieb natürlich genausowenig unkommentiert wie der von ihnen ausgehende Chlorgeruch, der noch immer an ihren Schutzanzügen haftete, aber die Gegenwart des Padre gewährleistete, daß sich die Bemerkungen immerhin in einem höflichen Rahmen hielten. Die Überprüfung der Wesen, denen sie in den Verbindungskorridoren begegneten, ergab ebenfalls ausschließlich negative Resultate.„Allmählich frage ich mich, ob wir uns mit unserer Wirtskörperwiedererkennungsfähigkeit nicht ein wenig überschätzen“, äußerte Hewlitt irgendwann erste Zweifel. „Sicherlich haben wir ein nur sehr schwer zu beschreibendes Gefühl füreinander, das man vielleicht am besten als eine Art Verbindung unter Leidensgenossen bezeichnen kann, aber möglicherweise ist diese Fähigkeit nur auf einige wenige beschränkt. Außerdem ist an dieser ganzen Situation sowieso etwas faul. Ich weiß zwar nicht genau, was, aber ich bin mir sicher, daß Sie es wissen und es mir eigentlich sagen könnten.“

Lioren blieb urplötzlich wie angewurzelt stehen, so daß Hewlitt erst einmal einige Schritte zurückkehren mußte. Die Ebenen mit den Patientenunterkünften und medizinischen Versorgungseinrichtungen schienen sie hinter sich gelassen zu haben, weil die Leute, die an ihnen vorbeikamen, die Overalls der Wartungsmannschaften trugen und an den Türen und Nebengängen Symbole angebracht waren, die auf Energieversorgungs- und Wärmeaustauschsysteme hinwiesen. Direkt über dem vor ihnen liegenden Schleusengang war eine Warnung vor radioaktiver Strahlung angebracht, und Hewlitt fragte sich, was sich dahinter verbergen könnte.

„Sind sie müde?“ erkundigte sich Lioren.

„Nein“, antwortete Hewlitt. „Wollen Sie wieder mal das Thema wechseln?“

„Wie Sie vielleicht schon mitbekommen haben, bin ich hier am Orbit Hospital früher mal als Arzt ausgebildet worden“, sagte Lioren. „Was ich damit sagen will, ist, daß ich die terrestrische Physiologie gut genug kenne, um zu wissen, daß Sie irgendwann an die Grenzen Ihrer körperlichen Belastbarkeit geraten. Mittlerweile müßten sie sowohl sehr müde als auch extrem hungrig sein. Bei meinem nächsten und letzten Patientenbesuch handelt es sich übrigens um einen Angehörigen der Klassifikation VTXM. Das ist ein sogenannter Strahlenverwerter, der schon aus diesem Grund als Wirtskörper nicht in Frage kommt. Dieser Patient ist ebenfalls ein hoffnungsloser Fall. Ich habe ihn vor einiger Zeit zum ersten Mal besucht,und er hat mich darum gebeten, bis zu seinem Ende immer mal wieder nach ihm zu sehen. Sie könnten diese Gelegenheit dazu nutzen, etwas zu essen oder ein wenig zu schlafen.“

„Ich bin aber nicht müde“, wehrte sich Hewlitt. „Haben Sie vergessen, daß wir dank der Virenkreatur mit einer optimalen Gesundheit ausgestattet sind? Zu dieser Hinterlassenschaft gehört vermutlich auch, daß wir zu einem Höchstmaß an körperlicher Leistung befähigt sind und längst nicht so schnell erschöpft sind wie andere. Bedenkt man das enorme Ausmaß an körperlichen Aktivitäten, die wir in den letzten Stunden geleistet haben, dann gehe ich wahrscheinlich recht in der Annahme, daß Sie sich ebenfalls weniger müde fühlen, als es normalerweise der Fall sein müßte, stimmt's?“

„Ich streite mich nicht gerne mit Ihnen“, antwortete der Padre. „Vor allem dann nicht, wenn Sie, wie in diesem Fall, recht haben. Zur Zeit gehen mir allerdings sehr viel wichtigere Dinge durch den Kopf. Dennoch stimme ich Ihnen gern zu, daß wir längst nicht so müde sind, wie wir's sein müßten.“

Es war klar, daß Lioren verärgert über ihn war, wahrscheinlich aus verständlichen religiösen Gründen, zumal der Padre kurz vor einem wichtigen Krankenbesuch stand.

„Ich scheine mich mein ganzes Leben lang gestritten zu haben“, setzte Hewlitt zu einer Entschuldigung an. „Meistens mit Ärzten, die fest davon überzeugt waren, daß sie im Recht waren und ich mich irrte. Tut mir leid, aber Streiten ist für mich zu einer schlechten Angewohnheit geworden, die ich ablegen sollte. Falls Sie aufgrund persönlicher oder religiöser Gründe lieber auf meine Gesellschaft bei diesem Besuch verzichten wollen, dann sagen Sie das einfach. Da wir aber bislang alle in Frage kommenden Kontaktpersonen unserer Virenkreatur gemeinsam überprüft haben, sollten wir vielleicht im Interesse der Verläßlichkeit unsere Arbeit auch gemeinsam beenden, selbst auf die Gefahr hin, damit nur unsere Zeit zu verschwenden.“

Als ihm der Padre wieder einmal eine Antwort schuldig blieb, fuhr Hewlitt lächelnd fort: „Wenn Sie diese telfischen Strahlenverwerterebenfalls nicht als geeignete Wirtskörper ansehen, wie ist es dann um die bei extrem niedrigen Temperaturen lebenden SNLUs bestellt? Könnte eine Virenkreatur bei Temperaturen nahe vor dem absoluten Nullpunkt leben? Und wenn es sich um einen intelligenten Virus handelt, warum sollte er das wollen?“

Lioren schien an Hewlitts Äußerung nichts Komisches zu finden und erwiderte: „Über die Beweggründe der Virenkreatur weiß ich einfach zu wenig, um über deren Verhaltensweisen irgendwelche Vermutungen anzustellen. Und wenn Sie an die Naturkunde Ihres Heimatplaneten denken, dann finden Sie viele Beispiele dafür, daß einfache Lebensformen sogar über einen Zeitraum mehrerer Millionen Jahre unter den Polareisschichten überlebt haben.“

„Und erinnern Sie sich noch daran, wie ich O'Mara gesagt habe, daß unsere Virenkreatur die Auswirkungen einer Atomexplosion überstanden hat und es dieses Ereignis über zwanzig Jahre offenbar ohne Folgen überleben konnte, bevor es mich infiziert hat?“

Sie mußten rasch zwei orligianischen Monitorkorpsoffizieren ausweichen, die ihre Ausrüstungsschlitten anscheinend mit Rennfahrzeugen verwechselten, und nach diesem kurzen Zwischenfall vergingen erst einmal einige Minuten, ehe sich Lioren zu Hewlitts letzter Frage äußern wollte.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, weil ich diesen Teil des Gesprächs in O'Maras Büro noch nicht mitgehört habe. Also ist diese Information neu für mich. Dennoch gibt es einen gewaltigen Unterschied, ob man den Ausläufern radioaktiver Strahlung kurzfristig ausgesetzt ist, wie es bei der Virenkreatur der Fall gewesen war, oder ein Leben lang extrem harter Strahlung wie bei den Telfis. Jetzt streiten Sie sich zwar schon wieder mit mir, aber auch dieses Mal könnten Sie durchaus recht haben. Also gut, dann begleiten Sie mich auf die Telfi-Station.“

„Vielen Dank. Sobald ich den Patienten gesehen habe, lasse ich Sie beide allein, damit Sie sich mit ihm privat unterhalten können.“

„Das wird nicht nötig sein, da der Patient bald sterben wird. Außer dem Umstand, daß er sich dieser unumstößlichen Tatsache voll und ganz bewußtist, hat er nicht gesagt, daß ihm irgend etwas auf der Seele liegt. Wie nicht anders zu erwarten, basieren alle telfischen Religionen auf verschiedenen Formen der Sonnenverehrung. Allerdings hat er mir nicht verraten, ob er ein Anhänger einer dieser Glaubensrichtungen ist. Alles, was er zu diesem Zeitpunkt braucht oder sich wünscht, ist der Kontakt mit anderen intelligenten Wesen, die ihm zuhören oder mit ihm reden, bis er nicht mehr in der Lage ist, seine Gedanken in Worte zu fassen. Wir können ihn lediglich auf seinem Leidensweg ein Stück begleiten und ihm zuhören, in der Hoffnung, daß wir ihm damit etwas Gutes tun und Trost spenden.“

Lioren bog plötzlich in einen Seitengang ein, so daß Hewlitt sich beeilen mußte, um ihn einzuholen. „Würde sich der Patient nicht besser fühlen, wenn in einer solch wichtigen Zeit einer seiner Freunde oder Verwandten bei ihm wäre?“ keuchte er außer Atem.

„Offensichtlich wissen Sie nicht viel über die Telfis nicht wahr?“

„Zumindest nur wenig“, räumte Hewlitt ein, wobei ihm die Anspielung auf seine Unkenntnis die Schamröte ins Gesicht trieb. „Da ich nie gedacht hätte, jemals einem persönlich zu begegnen, gab es auch keinen Grund für mich, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Ich weiß nur, daß sie aufgrund ihrer Radioaktivität äußerst gefährlich und keine … na ja, keine sehr zugänglichen Wesen sind.“

„Ihre Umwelt ist uns feindlich gesinnt, nicht aber die Wesen selbst“, hielt ihm Lioren entgegen. „Übrigens lernen nur sehr wenige Bürger der Föderation Telfis persönlich kennen, deshalb ist Ihre Wissenslücke auch kein Grund, sich zu schämen. Bevor wir diesen Patienten gleich besuchen, sollten Sie etwas mehr über die Lebensgewohnheiten der Telfis erfahren und, was in diesem Fall noch wichtiger ist, über deren Sterbebräuche. Können Sie eigentlich Wissen aufnehmen, während Sie Ihre unteren Gliedmaßen etwas schneller bewegen?“

„Keine Sorge, ich werde Ihnen schon folgen können“, antwortete Hewlitt.

Lioren überhörte bewußt die Doppeldeutigkeit von Hewlitts Bemerkung und fuhr fort: „Ich habe diesem sterbenden Telfi namens Cherxic – er istTeilwesen eines telfischen Astronavigators – versprochen, seinen letzten Gedanken zuzuhören, solange er noch die Kraft dazu besitzt, diese laut genug für den Translator zu artikulieren. Obwohl wir bislang bei unserer Suche noch keinen Erfolg gehabt haben, möchte ich mir etwas von unserer knapp bemessenen Zeit nehmen, um dieses Versprechen einzulösen.“

„Und würden Sie auch etwas Zeit dafür opfern, mir ein wenig zuzuhören?“ erkundigte sich Hewlitt.

„Ja“, antwortete der Padre, ohne zu zögern. „Seit einiger Zeit stelle ich bei Ihnen eine emotionale Unruhe fest. Ob es sich dabei um gegen mich gerichtete Wut handelt, weil ich Ihre Neugierde nicht befriedige, oder ob Ihnen eher persönliche Probleme zu schaffen machen, weiß ich nicht. Falls letzteres zutrifft: Ist die Angelegenheit sehr dringend? Natürlich werde ich Ihnen so oder so zuhören, jetzt oder auch später, aber Sie wissen genauso gut wie ich, daß der Zeitpunkt alles andere als günstig ist. Können Sie mir in möglichst einfachen und hoffentlich auch knappen Worten schildern, was genau Ihnen zu schaffen macht?“

Hewlitt blickte Lioren nicht an, als er antwortete: „Sie haben in beiden Punkten recht, Padre. Zum einen bin ich neugierig und wütend auf Sie, weil Sie mir andauernd irgendwelche Antworten schuldig bleiben. Zum anderen bereitet mir der Umstand, daß man Ihnen verboten hat, meine Neugierde zu befriedigen, immer mehr Angst. Deshalb stelle ich mir andauernd Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten kann, was wiederum zur Folge hat, daß ich mir nur noch mehr Sorgen mache. Etwas an dieser ganzen Geschichte macht mir ganz besonders zu schaffen.“

„Fahren Sie fort“, ermunterte ihn Lioren, während er vor einem offenen Schrank stehenblieb, in dem sich terrestrische Strahlenschutzanzüge in verschiedenen Größen befanden. „Legen Sie einen davon an, ohne den jetzigen Anzug auszuziehen. Sprechen Sie ruhig weiter, während ich Ihnen beim Anziehen helfe.“

Damit wir bloß keine Zeit verlieren, ergänzte Hewlitt in Gedanken, aber der Padre war zu höflich, um dies direkt zu sagen.

„In Ordnung. Soweit ich weiß, sind meine Katze, Morredeth, Sie und ichselbst sowie eine oder mehrere unbekannte Personen die einzigen Wesen, die von der Virenkreatur infiziert oder befallen worden sind, oder wie auch immer man das nennen will. Sie hat uns mit einer ungewöhnlich guten Gesundheit ausgestattet sowie aus einem für uns unerfindlichen Grund mit dieser merkwürdigen Fähigkeit, ehemalige Wirtskörper wiederzuerkennen. Warum sollte dieses Wesen das wollen? Und was genau hat es mit uns angestellt?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr Hewlitt fort: „Handelt es sich dabei um telepathische oder eher um empathische Fähigkeiten wie bei Prilicla? Wahrscheinlich nicht, da wir weder die Gedanken noch die Gefühle des anderen empfangen können. Ich verstehe nicht genug von Xenobiologie oder vom Verhalten extraterrestrischer Viren, seien sie nun intelligent oder nicht, aber alle weigern sich, und damit meine ich natürlich insbesondere Sie, Padre, mir irgendwelche Fragen zu beantworten. Gehe ich dennoch recht in der Annahme, daß wir diese Wiedererkennungsfähigkeit nur dadurch erlangt haben können, weil in uns eine physische Veränderung stattgefunden hat? Ist dieses unsichtbare Erkennungsmerkmal, durch das sich ehemalige Wirtskörper gegenseitig identifizieren können, lediglich eine Begleiterscheinung oder steckt noch etwas anderes dahinter? Etwas, das die Virenkreatur mit allen Wesen anstellt, die von ihr befallen werden? Hat womöglich der Fortbestand dieser Spezies irgend etwas damit zu tun? Sind wir alle von diesem Ding besamt worden und züchten munter wachsende Embryos dieser Spezies heran?“

Hewlitt hielt gerade auf einem Bein das Gleichgewicht, während er mit dem anderen in den Strahlenschutzanzug stieg. Der Padre stand, ohne etwas zu sagen, reglos hinter ihm und stützte Hewlitts Oberkörper ab. Das entstandene Schweigen wurde schließlich vom Padre unterbrochen.

„Aus genau den Gründen, die Sie eben genannt haben, hat man mir verboten, Ihnen irgendwelche Fragen zu diesem Thema zu beantworten. Man wollte Ihnen den seelischen wie mentalen Stress ersparen, wenn Sie von unseren beängstigenden Vermutungen erfahren hätten. Da nun aberfeststeht, daß Sie selbst daraufgekommen sind, werde ich mich mit meinen Antworten nicht mehr länger zurückhalten müssen.“

Hewlitt schwieg; er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er seine Fragen überhaupt noch beantwortet haben wollte.

„Wie Sie bereits wissen, ist einer der wichtigsten Faktoren bei der Behandlung von Patienten in einem Multispezies-Krankenhaus, daß wir kein Risiko gegenseitiger Ansteckung eingehen müssen, weil Krankheitserreger oder Keime, die sich auf einem Planeten X entwickelt haben, eine auf einem Planeten Y entstandene Lebensform nicht befallen können. Aus dieser Tatsache haben wir sehr viel Zuversicht geschöpft, und in der gesamten erforschten Galaxis ist nie eine Ausnahme von dieser Regel entdeckt worden. Jedenfalls bis heute nicht.“

„Aber dieses Virus ist doch gar nicht schädlich!“ widersprach Hewlitt. „Er ist keine Krankheit, sondern genau das Gegenteil.“

„Sicher, und dennoch bleibt es ein Virus, eine Form eines speziesübergreifenden Krankheitserregers, und das mit allen dazugehörigen Konsequenzen. Zugegebenermaßen handelt es sich voraussichtlich um einen intelligenten, vielleicht sogar um einen hochintelligenten Organismus, der wahrscheinlich keinen Schaden anrichten möchte, aber wir können uns dessen nicht sicher sein. Möglicherweise legen wir das selbstsüchtige Verlangen, einen Wirtskörper aufzusuchen und diesen bei optimaler Gesundheit zu halten, irrtümlicherweise als Selbstlosigkeit aus. Sicherlich wäre ein solch selbstloses Verhalten ein sehr tröstlicher Gedanke, aber in einer Einrichtung wie dem Orbit Hospital können wir es uns nicht leisten, die Möglichkeit auszuschließen, daß es sich bei diesem Wesen um den schlimmsten medizinischen Alptraum handelt, den man sich vorstellen kann. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob die Handlungen dieses Wesens von Intelligenz und Altruismus gesteuert werden oder Folge eines stark ausgeprägten Selbsterhaltungstriebs sind.“

„Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie sich alle solche Sorgen machen. Diese Virenkreatur heilt andere Wesen“, wandte Hewlitt ein.

„Sie vergessen dabei, was sie angerichtet hat“, entgegnete Lioren.„Unseres Wissen hat sie bislang sechsmal diese Speziesbarriere durchbrochen. Dies hat sie mit Leichtigkeit getan und ohne die natürlichen Abwehrkräfte der Wirtskörper zu aktivieren, obwohl sie später auf sämtliche toxischen Stoffe oder Medikamente, die den von ihr befallenen Wesen verabreicht wurden, überreagiert hat. Letztendlich haben wir es mit einem Allroundvirus zu tun, mit einer organisierten, intelligenten Virenansammlung, die ihren Körperbau beliebig verändern kann und sich im hohen Maße den Temperaturen, Physiologien und Metabolismen einer bislang noch unbekannten Anzahl ehemaliger Wirtskörper anpassen kann…“

„Moment mal“, unterbrach ihn Hewlitt. „Hat das medizinische Team der Rhabwar davon gewußt und mir diese Informationen bewußt vorenthalten?“

„Ja, und zwar spätesten zu dem Zeitpunkt, als allen klar wurde, daß Lonvellins ehemaliger Leibarzt darin verwickelt ist und Sie auf neue Medikamente nicht mehr überempfindlich reagiert haben. Prilicla wollte aber nicht, daß Sie sich Sorgen machen.“

„Jetzt fällt mir auch wieder ein, daß Naydrad auf dem Rückflug von Etla gesagt hat, meine Probleme würden jetzt erst anfangen“, erinnerte sich Hewlitt. „Und ich dachte immer, sie hätte damit was ganz anderes gemeint.“

„Nein, genau das hat sie damit gemeint“, bestätigte Lioren Hewlitts Vermutungen und fuhr fort: „Ein Organismus, der zu all dem in der Lage ist, könnte in der Tat sehr gefährlich sein. Auch wenn er keinen Schaden anrichten will, so birgt der Mechanismus, der ihn dazu befähigt, sich so leicht zwischen den verschiedenen Spezies zu bewegen, die Gefahr, tödlichen Krankheitserregern als eine Art Brücke zwischen ehemaligen Wirtskörpern zu dienen. Falls ein solch anpassungsfähiger, speziesübergreifender Krankheitserreger im Hospital freigesetzt wird, kann es selbstverständlich durchaus möglich sein, daß die Virenkreatur die davon befallenen Patienten heilt, wie sie es schon bei früheren Gelegenheiten getan hat. Das heißt, wenn es uns gelingt, mit ihr zu kommunizieren und ihr unsereSorgen mitzuteilen.

Doch würde es in dem Fall nur ein einziges Individuum sein, das versuchen müßte, sämtliche Patienten gleichzeitig zu heilen, und sollte es eine krankenhausweite Epidemie geben, wäre das nicht schnell genug. Das Orbit Hospital und vielleicht die gesamte galaktische Föderation könnten in ernste Schwierigkeiten geraten.

Das würde auch das vorläufige Ende unserer gegenwärtig völlig ungehinderten Kontakte zwischen den planetarischen Kulturen bedeuten“, beendete Lioren seine Erläuterungen. „Und wir wären dazu gezwungen, fast nur noch unsere Heimatplaneten zu bewohnen oder bei Besuchen fremder Welten strikte Vorsichtsmaßnahmen treffen zu müssen.“

„Das also ist der Grund, weshalb die Evakuierungsschiffe noch nicht andocken dürfen“, seufzte Hewlitt.

Dieses Mal stellte er ausnahmsweise keine weiteren Fragen.

30. Kapitel

Einen Moment lang fror Hewlitt so sehr, als befände er sich ohne den Schutzanzug wieder auf der SNLU-Station, und er fragte sich, warum ihm die Schweißperlen, die ihm auf der Stirn standen, nicht wie Hagelkörner herunterfielen. Alle Augen des Padre waren auf ihn gerichtet, und er wußte nicht, ob die folgenden Worte Liorens seiner Ungeduld entsprangen oder der Notwendigkeit, das Thema aus therapeutischen Gründen zu wechseln.

„Versuchen Sie bitte, alle anderen Probleme erst einmal zu verdrängen“, riet ihm der Padre. „Sie sind im Begriff, Ihrem ersten Telfi zu begegnen; bedauerlicherweise einem, der im Sterben liegt. Zum einen benötigen Sie dazu einige zusätzliche Informationen und zum anderen müssen Sie ein paar Vorsichtsmaßnahmen beachten. Beides ist für Ihre eigene Sicherheit bestimmt und um zu vermeiden, Patient Cherxic noch mehr zu belasten. Hören Sie mir also bitte genau zu und wenn möglich, ohne irgendwelche Fragen zu stellen… “

Lioren fuhr damit fort, die Bedingungen auf Telfi zu beschreiben, einem Planeten, der sich in etwa fünfzig Millionen Kilometern Entfernung, stets eine Seite seiner Sonne zugewandt, um sein Zentralgestirn drehte. Die Flora auf diesem Planeten setzte sich ausnahmslos aus mineralienartigen Pflanzen zusammen. Die extrem hohen Temperaturen und Strahlenemissionen wären für alle anderen intelligenten Spezies der Föderation tödlich gewesen, so daß der Planet – mit Ausnahme für die telfischen Bewohner selbst – im wahrsten Sinne des Wortes die reinste Hölle darstellte.

Bei den Telfis handelte es sich um tierähnliche Wesen, die sich auf der Tagseite des Planeten entwickelt hatten und zum Überleben die von der Sonne gelieferte hohe Hitze und harte Strahlung benötigten. Neben einer eigenen Sprache verfügte diese Spezies zusätzlich über telepathische Fähigkeiten, die zwar auch zwischen den Einzelwesen angewandt wurden, insbesondere aber zwischen den Teilwesen einer sogenannten Gesamtgestalt, die körperlich eng miteinander verbunden waren.Ihre Zivilisation war sehr alt und zu Beginn ihres Raumfahrtzeitalters schon sehr weit fortgeschritten. Die für sie notwendigen Umweltbedingungen in einem Schiff zu reproduzieren war sehr schwierig, und obwohl das Ausmaß an Funktionsstörungen und Verlusten unter telfischen Besatzungsmitgliedern im Vergleich zum üblichen Föderationsstandard verhältnismäßig hoch war, konnte sie dieser Umstand nicht von interstellaren Raumflügen abhalten. Die Telfis waren schon vor längerer Zeit der galaktischen Föderation beigetreten, um die damit verbundenen wirtschaftlichen und kulturellen Vorteile einer Mitgliedschaft zu nutzen, wozu auch der häufige Gebrauch der medizinischen Einrichtungen gehörte.

Unter der Voraussetzung, daß ein telfisches Schiffmit Verletzten an Bord schnell genug im Orbit Hospital eintraf, konnte man dort durchaus Hilfe gewähren. Wenn allerdings der Strahlenabsorptionsmechanismus eines verletzten Telfi zusammenbrach – zumeist ausgelöst durch einen plötzlichen Strahlenentzug oder eine katastrophale Übersättigung von harter Strahlung -, dann blieben dem Krankenhaus höchstens einhundert Stunden vom Eintreten des Unglücksfalls bis zur Einleitung der Behandlung. Dazu gehörte, daß der Strahlencocktail in der erforderlichen Dosierung und Dauer reproduziert werden mußte, da dies eine unabdingbare Voraussetzung für den Genesungsprozeß des Verletzten war.

Die Notwendigkeit, diese Vielfalt heilender atomarer Strahlen für die Telfis zu reproduzieren, war der einzige Grund, weshalb das Orbit Hospital einen kleinen Atomreaktor unterhielt, der inmitten modernster Kernfusionsanlagen eher wie ein Museumsstück wirkte. Über die Jahre hinweg hatte das Krankenhaus nicht nur gelernt, wie man telfische Unfallopfer behandeln konnte, sondern auch Patienten, die an den telfischen Entsprechungen für Atem- und Darmbeschwerden und gynäkologischen Krankheiten litten. Aus naheliegenden Gründen mußten für solche Behandlungen häufig nicht nur Ärzte, sondern auch Physiker und Ingenieure herangezogen werden.

„Das Teilwesen, das wir besuchen werden, ist der letzte noch lebendePatient von insgesamt dreien, die sich bei einer Funktionsstörung ihres Schiffs verletzt haben. Die technischen Einzelheiten will ich uns lieber ersparen, da wir beide sowieso nicht viel davon verstehen. Cherxic war ein Teilwesen der Gesamtgestalt, die auf die Bedienung des Schiffes spezialisiert war. Da er kein funktionierendes Mitglied seiner Gruppe mehr ist, haben die anderen die Reihen so gut wie möglich geschlossen und jeglichen körperlichen, verbalen und telepathischen Kontakt mit Cherxic abgebrochen, um…“

„Haben Sie nicht eben noch behauptet, daß es sich bei den Telfis um eine zivilisierte Spezies handelt?“ unterbrach ihn Hewlitt.

„Ja“, antwortete Lioren, wobei er mit den Augen und den mittleren Händen schnell die Verschlüsse von Hewlitts Schutzanzug überprüfte. „In Ordnung. Die Schutzhandschuhe und die darunter befindlichen Stoffhandschuhe brauchen Sie nicht anzulegen, da wir sie während des Besuches bei Cherxic nicht benötigen, aber überprüfen Sie die Sichtblende ihres Helms lieber doppelt, während ich mich umziehe. Die Lichtstrahlung ist auf der Telfi-Station nämlich das reinste Teufelszeug.“

„Der Anzugstoff scheint sehr dünn zu sein“, merkte Hewlitt mit kritischem Blick an.

„Die Materialien, aus denen sowohl der Anzug als auch die Sichtblende sind, wurden vom Planeten Telfi importiert, wo man sie zum Schutz für außerplanetarische Besucher entwickelt hat“, klärte ihn der Padre auf. „Weder Sie selbst noch einer Ihrer zukünftigen Nachkommen, die Sie vielleicht noch hervorbringen werden, müssen sich Sorgen machen.“

Hewlitt schluckte schwer und versuchte, mit fester Stimme zu reden, als er sagte: „Wenn wir tatsächlich Virenembryos in uns tragen, müßte Prilicla sie dann nicht wahrnehmen können?“

„Ja, vorausgesetzt, daß sie sich in einem Entwicklungsstadium befinden, wo sie sich ihrer eigenen Existenz bereits bewußt sind.“

Noch bevor Hewlitt etwas entgegnen konnte, fuhr Lioren fort: „Weder Patient Cherxic noch irgendein anderer Telfi würde in solch einer tragischenZeit daran denken, um die Anwesenheit eines Familienangehörigen oder Freundes zu bitten. Bei vollem Bewußtsein langsam sterben zu müssen ist für jede Lebensform eine schreckliche Erfahrung, und da die Telfis ihre telepathischen Fähigkeiten bis zum Ende bewahren, möchten sie diese nicht mit ihren Artgenossen teilen. Selbst bei nachlassendem Bewußtsein spürt ein Telfi heftige Schmerzen, begleitet von Angst, die nicht gebändigt oder verheimlicht werden kann, weil ein Telepath außerstande ist, seine Gefühle zu verheimlichen. Für ein Wesen, das von Geburt an daran gewöhnt ist, in engem körperlichen und geistigen Kontakt mit seinen Mitwesen zu stehen, bedeutet dieser Zustand eine unbekannte und schreckliche Isolation; eine Einsamkeit, die dermaßen groß ist, daß Nichttelepathen sich das kaum vorstellen können. Folglich sind nur Nichttelepathen wie wir in der Lage, einem sterbenden Telfi Trost zu spenden. Dies erreichen wir am besten dadurch, indem wir uns mit ihm per Translator unterhalten, seinen letzten Gedanken zuhören und ihm ermöglichen, die körperliche Nähe eines anderen empfindungsfähigen Wesens noch einmal zu spüren, denn er weiß, daß wir Mitgefühl haben, seinen Schmerz aber nicht spüren können.“

Hewlitt schämte sich ein wenig dafür, daß seine egoistische Angst größer gewesen war als sein Mitleid für dieses Wesen, dem er gleich begegnen würde. „Wie sehen Telfis eigentlich aus? Und als Sie eben von körperlicher Nähe gesprochen haben, was genau haben Sie damit gemeint?“

„Wir werden jetzt bis zur Schleusenkammer gehen, die zum Telfi-Schiff führt“, sagte Lioren, ohne Hewlitts Frage zu beantworten. „Folgen Sie mir. Sie brauchen keine Angst zu haben, denn wo wir hingehen, ist die Strahlenemission ungefährlich.“

Die Luftschleuse klappte auf und enthüllte einen Bordtunnel, dessen Ende wie eine viereckige Sonne glühte. In der Zeit, in der sie ihn durchquert hatten, hatten sich Hewlitts Augen an das grelle Licht gewöhnt, aber trotz seiner Sichtblende mußte er die Augen zusammenkneifen, um die Einzelheiten erkennen zu können. Die Geräte, die aus den Wänden und der Decke hervorragten, nahm er nur verschwommen wahr – und das sowohl in optischer als auch in geistiger Hinsicht -, doch in der Mitte derSchleusenkammer war ein G-Schlitten festgebunden, auf dem zwei lange, offene Metallkästen standen. Hewlitt folgte dem Padre und blieb mit ihm neben den beiden Kästen stehen. Ihm fiel dabei auf, daß Särge offenbar auf allen Welten gleich aussahen, wenngleich die Tatsache, daß diese Wesen anscheinend in ihre letzte Ruhestätte gelegt worden waren, bevor sie klinisch tot waren, nach seinem Dafürhalten von einem gewissen Mangel an Sensibilität zeugte.

„Diese beiden sind klinisch tot“, korrigierte ihn Lioren mit leiser, mißbilligender Stimme, die Hewlitt deutlich werden ließ, daß er zuvor laut nachgedacht haben mußte. „Sie sind beide innerhalb weniger Minuten nach meinem ersten Besuch gestorben. Man hat sie hier in der Schleusenkammer in der Nähe des Bordtunnels gelassen, damit die physische Anwesenheit ihrer Körper dem noch lebenden Teilwesen ihrer ehemaligen Gesamtgestalt keinen Kummer bereitet. Außerdem ist es so für die Pathologie bequemer, die Leichen abzutransportieren. Da die Telfis ihre Toten lediglich in der Erinnerung ehren, sind die Leichen dem Krankenhaus für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt worden, allerdings unter der Voraussetzung, daß die sterblichen Überreste auf die Oberfläche irgendeiner Sonne befördert werden. Bei den raumreisenden Gestaltwesen der Telfis hat sich dieser einheimische Brauch so eingebürgert. Entschuldigen Sie mich bitte kurz, denn ich muß mich erkundigen, ob es überhaupt noch möglich ist, Cherxic zu besuchen. Vielleicht ist er bereits gestorben… Ach, und bitte denken Sie daran, daß der Tod während einer Unterhaltung mit einem Telfi nie angesprochen werden darf.“

„In Ordnung, und trotzdem habe ich noch eine Frage: Eben haben Sie gesagt, daß die körperliche Nähe zu…“

„Padre Lioren und Patient Hewlitt, ein DBDG-Terrestrier, möchten mit dem verletzten Teilwesen Cherxic Kontakt aufnehmen“, sagte Lioren in den Kommunikator. „Wäre das wohl möglich?“

In Hewlitts Hörmuschel knisterte so etwas wie eine lang anhaltende statische Entladung, die der Translator folgendermaßen übersetzte: „Sowohl Sie Lioren, als auch der Fremde namens Hewlitt sindwillkommen. Ein kurzer Besuch ist möglich. Bitte warten Sie.“

Der Padre trat näher an Hewlitt heran und betrachtete mit ihm gemeinsam einen der toten Telfis. Als Lioren sprach, war seine Stimme von tiefem Bedauern durchdrungen. „Der Telfi leidet schon sehr lange unter seiner Einsamkeit, doch können wir beide wenigstens etwas dazu beitragen, ihm sein Los zu erleichtern.“

Nach dem, was ihm alles über diese exotische strahlenverspeisende Spezies zu Ohren gekommen war, hätte Hewlitt niemals damit gerechnet, daß diese Wesen so gewöhnlich aussehen würden.

Mit Ausnahme eines zusätzlichen Paars Vorderglieder, die aus dem Halsansatz wuchsen, ähnelten die Telfis großen terrestrischen Eidechsen, die vom knolligen Kopf bis zum spärlichen Schwanz knapp anderthalb Meter lang waren. Die Leichname lagen auf dem Bauch, so daß die beiden kleinen lidlosen Augen und der geschlossene Mund die einzigen sichtbaren Gesichtsmerkmale waren. Die vier kurzen Gehgliedmaßen lagen flach am Körper an, während die beiden längeren Greiforgane über Kreuz nach vorn ausgestreckt waren, damit das Kinn auf dem Kreuzungspunkt ruhen konnte. Die blaßgraue Haut war überall gesprenkelt und geädert, wodurch sie Statuen aus unpoliertem Marmor glichen.

Obwohl Hewlitt sich daran erinnerte, daß man die Toten ruhen lassen und nichts Nachteiliges über sie sagen sollte, platzte es automatisch aus ihm heraus: „Die Hautfarbe sieht ja furchtb… ahm… wirklich sehr interessant aus. Man könnte fast sagen schön, wenn man farbenblind wäre.“

„Sie dürfen das Cherxic gegenüber niemals erwähnen, wenn Sie ihm begegnen“, ermahnte ihn der Padre in scharfem Ton. „Für einen Telfi ist blasse Haut nämlich weder interessant noch schön, sondern nur ein Symptom für fortgeschrittenen Strahlenhunger und den lebensbedrohlichen Ausfall des Absorptionsmechanismus. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann können Sie die Leichen ruhig anfassen. Legen Sie Ihre flache Hand irgendwo auf die Körperoberfläche.“

Nachdem sich Hewlitt mit seiner Bemerkung über die vermeintlich schöne Haut der Leichen etwas weit aus dem Fenster gelehnt hatte, fühlteer sich nun dem Padre gegenüber verpflichtet, einen der toten Telfis zu berühren. „Der fühlt sich ja ganz warm an“, staunte er.

„Da er keine Energie mehr absorbiert, hat sein Körper die Raumtemperatur angenommen“, erklärte der Padre. „Für Cherxic ist es nachher übrigens am angenehmsten, wenn man seinen Kopf sanft und langsam streichelt. Körperlicher und verbaler Kontakt ist zwar nur ein dürftiger Ersatz für die Gestalttelepathie, aber beides scheint dem Patienten Trost zu spenden.“

Hewlitt hörte auf, die blasse Eidechsenhaut zu streicheln, und ließ seine Hand darauf ruhen. „Moment mal! Ich habe Ihnen schon vorher diese Frage zu stellen versucht: Wollen Sie mir damit allen Ernstes sagen, daß Sie auch Cherxic mit der bloßen Hand berührt haben, genauso wie Sie Morredeths Fell angefaßt haben?“

„Ja“, antwortete der Padre. „Aber das ist kein Grund, sich darüber so aufzuregen. Physiologisch gesehen sind die Telfis keine geeigneten Wirtskörper für die Virenkreatur. Schließlich wäre es fast dasselbe, als würde sie versuchen, einen Atomreaktor zu infizieren.“

Allmählich ging Hewlitt ein Licht auf. „Ich habe Ihnen bereits erzählt, daß dieses Wesen eine Kernexplosion überlebt hat, und der Krankenhausreaktor funktioniert doch auch nicht mehr richtig und ist sozusagen sehr krank …“

Dann bemerkte Hewlitt, daß das Licht, das ihm aufgegangen war, nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich schien, denn die große Innenluke der Schleuse öffnete sich und enthüllte die Gestalt eines Telfi. Dahinter befand sich eine weitere, transparente Tür, die den Blick auf das Schiffsinnere freigab. Er kam zu der Überzeugung, daß es sich um einen gesunden Telfi handeln mußte, weil das Wesen trotz der unbeschreiblich grellen Beleuchtung überhaupt kein Licht reflektierte. Sowohl dieser als auch die anderen Telfis, die Hewlitt hinter der durchsichtigen Luke entdecken konnte, wirkten auf ihn wie ein Haufen beweglicher schwarzer Löcher in Eidechsenform.

Und jeden einzelnen Telfi, den er sehen konnte, erkannte Hewlitt sofortals einen ehemaligen und einen davon sogar als den gegenwärtigen Wirtskörper der Virenkreatur.

Es ertönte eine knisternde Explosion statischer Entladungen als das Wesen, das in der offenen Luke stand, näherkam und sagte: „Ich bin das Teilwesen Cherxic. Bitte berühren Sie mich, meine lieben Fremdweltler, möglichst immer nur einer zur gleichen Zeit. Unser Schiff wird in Kürze zum Planeten Telfi zurückkehren, und es gibt wichtige Informationen, die ich Ihnen vorher noch mitteilen muß.“

31. Kapitel

Hewlitt beobachtete, wie Cherxic sich zwischen sie gesellte, und wie der Padre, der wohl neugieriger oder vielleicht auch nur weniger feige als er selbst war, eine bloße Mittelhand auf den Kopf des Telfis legte. Eine Weile zitterte Lioren fast am ganzen Körper, obwohl er nicht beunruhigt zu sein schien. Kein Wort wurde gesprochen, und Hewlitt, der immer noch lernen mußte, den Gesichtsausdruck eines Tarlaners zu deuten, hatte keine Ahnung, was in diesem Augenblick im Padre vor sich ging. Erst nach einigen Minuten zog Lioren die Hand zurück, und somit war Hewlitt an der Reihe.

Im Gegensatz zum Körper des toten Telfi, den er berührt hatte, fühlte sich die undurchsichtige, pechschwarze Haut von Cherxic kalt an, und er spürte ein leichtes, warmes Kribbeln in der Handfläche – ein ähnliches Gefühl hatte er auch gehabt, als seine Händen mit Morredeths beschädigtem Fell in Kontakt gekommen waren. Aber dieses Mal stieg das Kribbeln den Arm hinauf, dann durch die Schulter und bis in den Kopf hinein. Für einen Moment spielten seine Sinnesnerven verrückt: sanfte Empfindungen von Wärme, Kälte, Druck, Freude und Schmerz durchdrangen seinen Körper, und gleichzeitig durchfluteten Farbenspiele, die jenseits seines bisherigen Vorstellungsvermögens lagen und die von vertrauten und absolut fremden Gerüchen und Lauten begleitet wurden, seine Sinne.

Aus einem unerfindlichen Grund tauchte vor seinem geistigen Auge plötzlich das Bild seiner Katze auf; wie sie sich bei dem Versuch, in seinem Schoß in eine bequemere Form zu drücken, im Kreis drehte und sanft mit ihren Pfoten stampfte, bevor sie sich zum Schlafen einrollte. Jetzt drückte und bohrte etwas anderes in seinem Kopf und versuchte, sich sowohl sanft als auch beharrlich in eine bequeme Position zu bringen.

Und plötzlich war es so, als ob eine gewaltige Informationsflut über sein Gehirn hereinbräche.Während er immer noch wie ein aufgeregtes Kind, das einen neuen Spielplatz erkundet, seine soeben erworbenen Erkenntnisse erforschte, bahnte sich die Virenkreatur bereits den umgekehrten Weg durch Hewlitts Schulter, Arm und Handfläche, um zu Cherxic zurückzukehren. Ohne ein Wort zu sagen, verließ der Telfi die Schleusenkammer, und die Innenluke fiel hinter ihm ins Schloß.

Lioren und Hewlitt wußten, daß es nichts mehr gab, was man Cherxic hätte sagen oder fragen müssen.

Während Hewlitt dem Padre folgte, der den G-Schlitten mit den telfischen Leichnamen durch den Bordtunnel hindurch in die Schleusenkammer des Krankenhauses lenkte, sagten beide keinen Ton. Die Luke schloß sich hinter ihnen, und gleich darauf ertönte ein lautes, zweimaliges Läuten, das von einer optischen Warnung begleitet wurde, die anzeigte, daß sich das telfische Schiff von den Dockluken gelöst hatte. Dann benutzte Lioren den Kommunikator.

„Braithwaite? Hier spricht Lioren. Ich muß mit Major O'Mara reden. Es ist dringend.“

„Ja, hier O'Mara“, ertönte die Stimme des Chefpsychologen. „Was ist los, Padre?“

„Wir stellen die Suche ein“, antwortete Lioren. „Wir haben eben den letzten und einzig übriggebliebenen Wirt der Virenkreatur aufgespürt. Sie befindet sich gegenwärtig in einem Teilwesen einer telfischen Gesamtgestalt, deren Schiff in diesem Augenblick ablegen will. Das Raumschiff muß ohne Verzögerung eine Starterlaubnis erhalten. Sie können auch die Evakuierungsübungen abbrechen und somit die bereitstehenden Schiffe zurückziehen. Das Problem mit dem Energieerzeugungssystem und die…“

„Ich sehe da überhaupt keinen Zusammenhang“, fiel ihm O'Mara scharf ins Wort. „Oder wollen Sie mir etwa erzählen, daß es da einen gibt?“

„Ganz genau“, bekräftigte Lioren. „Wenn zwei ungewöhnliche Ereignisse zur selben Zeit geschehen, dann besteht sogar eine sehr große Wahrscheinlichkeit, daß sie eine gemeinsame Ursache haben. Leider hatteich dieses ungeschriebene Naturgesetz längst vergessen. Ach, und außerdem ist es Hewlitt gewesen und nicht ich, der diese Verbindung als erster erkannt hat. Es besteht für niemanden mehr irgendeine Gefahr, weder die einer Nuklearexplosion noch die einer speziesübergreifenden Ansteckung. Wir werden Ihnen vollständig Bericht erstatten, sobald wir in Ihrer Abteilung eintreffen.“

„Sie bleiben dort, wo Sie jetzt sind!“ befahl O'Mara. „Moment… “ Hewlitt schien Lioren eine Ewigkeit anzustarren, der mit allen Augen auf

die beiden toten Telfis blickte, bevor die Stimme des Chefpsychologen

erneut ertönte.

„Sie haben recht, Padre“, verkündete O'Mara. „Die technische Abteilung hat gerade bestätigt, daß die Instabilität der Kernkraft- und sonstigen Energieversorgungsanlagen behoben ist, wieso oder weshalb wissen sie zwar nicht, doch der Ausnahmezustand ist bereits aufgehoben. Das alles soll innerhalb der letzten fünfzehn Minuten passiert sein. Trotzdem war dieses Problem nur das geringere von den beiden Übeln. Die Geschichte mit der sich frei im Krankenhaus bewegenden Virenkreatur muß noch immer geklärt werden, und Sie beide sind, bei allem Respekt, so tief und persönlich in diese Angelegenheit verstrickt, daß es sich bei Ihrer Zusicherung, es bestehe keine Gefahr mehr… nun ja, wohl eher um ein Produkt Ihres Wunschdenkens als um eine medizinische Tatsache handelt. Ist sich Hewlitt der ganzen Situation überhaupt bewußt?“

Als feststand, daß Lioren nicht vorhatte, darauf zu antworten, sagte Hewlitt: „Ja, ich denke, schon.“

„Dann gibt es keinen Zweifel mehr, daß Sie beide nicht mehr ganz bei Sinnen sind und in ernsten Schwierigkeiten stecken“, meinte O'Mara. „Mir persönlich tut das, wie auch allen anderen hier, wirklich sehr leid. Ihre Probleme, Hewlitt, fingen damit an, daß Sie bereits als Kind auf Etla von der Virenkreatur infiziert wurden, die dann auf die ehemalige Patientin Morredeth und Padre Lioren übertragen wurde, und nun also, was ich absolut unglaublich finde, auf einen Telfi, dessen Physiologie und Umgebung für eine mikrobiologische Lebensform weniger geeignet ist als der heißesteDampfkochtopf unserer terrestrischen Vorfahren. Wir gehen jedenfalls davon aus, daß es noch weitere Wirtskörper gibt, von deren Existenz wir nur noch nichts wissen. Als sich beim Energieversorgungssystem trotz all der umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen und automatischen Reparatureinrichtungen erste Anzeichen zunehmender Instabilität bemerkbar machten, haben wir deshalb lieber erst einmal Notfallübungen durchführen lassen, als sofort alle Patienten und Mitarbeiter auf die zum Zweck der Evakuierung zusammengezogenen Schiffe zu verfrachten. Wir können es uns nämlich nicht leisten, das Risiko einzugehen, einen speziesübergreifenden Krankheitserreger mit unbekanntem Potential unkontrolliert in der Föderation umherreisen zu lassen.

Padre, ich möchte Sie wirklich nicht kränken, indem ich die Worte eines Trägers des Blauen Mantels von Tarla anzweifle“, fuhr der Chefpsychologe fort, „doch der Überlebenswille, der in Ihnen beiden wie in jedem anderen Bürger der galaktischen Föderation steckt, ist ein evolutionäres Gebot, das auch durch ethische Überlegungen nicht ersetzt werden darf. Deshalb sind die Behörden auf Kelgia angewiesen worden, Patientin Morredeth bei ihrer Ankunft unter orbitale Quarantäne zu stellen. Ähnliche Anweisungen betreffend des Schiffs, das gerade abgeflogen ist, werden bereits an den Planeten Telfi übermittelt und bezüglich der Katze auch an den Planeten Etla. Sie beide werden für intensive Studien, die von der Pathologie durchgeführt werden, ab sofort unter Quarantäne gestellt. Außerdem wird gerade die Entscheidung getroffen, die Evakuierungsschiffe zurückzuziehen und sie durch ein Geschwader des Monitorkorps zu ersetzen, das dafür sorgen soll, sämtliche Außenkontakte des Orbit Hospitals vorläufig zu unterbinden. Das könnte zwar überall in der Föderation zu einer ernsthaften Destabilisierung führen, aber es sieht ganz so aus, als hätten wir keine andere Wahl. Verstehen Sie unsere Haltung zu diesem Problem?“

„Das hört sich ja ganz so an, als wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn das Krankenhaus explodiert wäre, um allen Beteiligten eine Menge Ärger zu ersparen“, erwiderte Hewlitt mit einem leichten Zittern in der Stimme, das teilweise von seiner Angst herrührte, das aber auch eine Reaktion auf diesicherlich gut gemeinte, jedoch völlig törichte Vorgehensweise der Krankenhausleitung war. „Jetzt glauben Sie mir doch bitte, daß Sie absolut nichts zu befürchten haben.“

„Tut mir leid, Hewlitt“, antwortete O'Mara erstaunlich gefaßt. „Sollte der Padre den Kommunikator ausgeschaltet haben, dann sagen Sie ihm bitte, daß wir jetzt mit ihm sprechen möchten. Die Diagnostiker Conway und Thornnastor sowie Murchison, Prilicla und Colonel Skempton sind gerade bei mir. Wie Sie vielleicht bereits wissen, ist Lioren früher im Orbit Hospital ein hochangesehener Chefarzt gewesen. Das soll keine Beleidigung für Sie sein, Hewlitt, aber im Augenblick würden wir lieber den Bericht eines ausgebildeten Fachmanns hören.“

Eins von Liorens Augen bewegte sich und betrachtete Hewlitt für einen Moment, dann widmete der Padre seine ganze Aufmerksamkeit wieder den beiden toten Telfis. Hewlitt konnte Liorens gegenwärtigen Kummer und den in ihm aufsteigenden Schmerz fast spüren.

„Lioren kann oder will jetzt weder mit Ihnen noch mit mir sprechen“, sagte Hewlitt. „Aber wir sind dem Telfi und auch uns während der vergangenen Minuten sehr nahe gekommen. Ich weiß genauso gut über die Situation Bescheid wie Lioren und bin gern bereit, darüber zu sprechen.“

„Es sieht dem Padre überhaupt nicht ähnlich, sich so zu verhalten“, beklagte sich der Chefpsychologe, in dessen Stimme Ungeduld und Sorge mitschwangen. „Trotzdem fürchte ich, daß wir uns mit einem blutigen Anfänger zufrieden geben müssen. Also los, dann reden Sie endlich, verflucht noch mal!“

Hewlitt riß sich mit aller Anstrengung noch mehr zusammen und begann: „Der Padre könnte durchaus gekränkt sein, weil Sie uns unterstellt haben, daß wir lügen. Ich bin es auf jeden Fall. Vor allem aber bekümmert ihn der Tod zweier Telfis, die wahrscheinlich nicht gestorben wären, wenn wir vorher das gewußt hätten, was wir jetzt wissen. Doch als die beiden im Sterben lagen, beschloß der Padre, dem Patienten Cherxic Trost zu spenden, dessen Erkrankung sich ebenfalls im Endstadium befand, wenngleich sein Zustand nicht so weit fortgeschritten war wie bei denbeiden anderen. Der Fehler, den der Padre nicht bewußt begangen hat und der bestimmt kein Grund ist, sich Vorwürfe zu machen, war zwar längst nicht so schlimm wie die falsche Entscheidung, die er vor einigen Jahren getroffen hatte. Lioren hat seinen Kummer über die Ereignisse auf Cromsag nierichtig…“

„Lioren hat mit Ihnen über Cromsag gesprochen?“ unterbrach ihn O'Mara. „Normalerweise spricht er nie mit jemandem darüber, nicht einmal mit mir.“

„Er hat nicht mit mir darüber gesprochen“, stellte Hewlitt klar. „Seit die Virenkreatur vor wenigen Minuten vorübergehend von Cherxic zu Lioren und dann zu mir gewechselt ist, weiß ich alles, was der Padre im Gedächtnis gespeichert hat…“

Er mußte seinen Bericht unterbrechen, denn es hörte sich so an, als ob sechs Stimmen gleichzeitig versuchten, sechs verschiedene Fragen auf einmal zu stellen. Hilfesuchend blickte er in Richtung des Padre, aber dessen Augen ruhten immer noch auf den toten Telfis, und er wußte, daß Lioren mit den Gedanken in der Vergangenheit bei dem schrecklichen Ereignis war, als ein Planet aufgrund einer einzigen, versehentlich getroffenen Fehlentscheidung beinahe entvölkert worden wäre. Sein Mitgefühl für den Tarlaner ließ Hewlitts Stimme rauher klingen, als es ihm lieb war.

„Wenn Sie nicht aufhören, alle auf einmal Fragen zu stellen, kann ich nicht eine einzige davon beantworten. Und jetzt seien Sie bitte ruhig und hören mir zu.“

Hewlitt war überrascht, wie schnell die Stimmen verstummten, bis ihm klar wurde, daß O'Mara ihnen dasselbe mitgeteilt hatte, wenngleich in einer viel weniger höflichen Ausdrucksweise.

„Ja, die Virenkreatur ist tatsächlich kurz wieder in meinen Körper und vor allem in mein Gehirn eingedrungen. Und zu Ihrer anderen Frage: Dieser Vorgang hat mich nicht zum Telepathen gemacht. Die Wirkung entspricht eher der Erfahrung mit den Schulungsbändern, woran sich Lioren als ehemaliger Chefarzt noch recht gut erinnern kann. Allerdings verläuft dieserVorgang sanfter und ohne die psychologische Desorientierung, die durch die plötzliche Vermittlung des Wissens und der Persönlichkeit eines völlig fremden Bandurhebers ausgelöst werden kann. Bei uns handelte es sich aber nicht um einen mechanisch verlaufenden Wissenstransfer, sondern um die Übertragung von Erinnerungen durch ein denkendes, empfindsames Wesen. Da es sich uns gegenüber verpflichtet fühlte, wollte es uns keine seelischen Qualen bereiten… “

„Warten Sie!“ fiel ihm O'Mara ins Wort, und seine Stimme klang äußerst mißtrauisch, als er fortfuhr: „Wollen Sie etwa damit sagen, daß die Ihnen vermittelten Erinnerungen zuvor verändert oder sogar korrigiert worden sind?“

„Im Laufe der Zeit haben sie sich natürlich etwas abgeschwächt, sind aber nie verfälscht worden“, antwortete Hewlitt. „Sie haben doch mit der Behandlung telepathischer Spezies Erfahrungen gesammelt und müßten eigentlich wissen, daß es für diese Wesen unmöglich ist, gedanklich zu lügen. Ich weiß alles, was diese Virenkreatur im Sinn hat – die übrigens keinen Namen trägt, weil sie von ihrer Art anscheinend das einzige Exemplar ist -, und das schließt auch ihre zukünftigen Absichten mit ein, die sie als telepathisches Wesen weder verbergen noch verfälschen kann.“

„Fahren Sie fort“, forderte ihn O'Mara ungeduldig auf.

„Während des Besuchs der Virenkreatur in meinem Gehirn gelangten sämtliche Erinnerungen der vorherigen Wirte in mein Bewußtsein. Am stärksten waren die von Lioren, Cherxic und den ganzen Teilwesen der Telfigestalt, unter denen sich die Virenkreatur frei bewegen konnte. Wenn Sie mal darüber nachdenken, dann hat eine organisierte und intelligente Virenansammlung sehr viel mit einem Gestaltwesen gemein. Aber erst die telfische Kontakttelepathie ermöglichte es dieser Kreatur zum allerersten Mal, eine perfekte Kommunikation mit anderen intelligenten Wesen herzustellen. Ohne genau zu wissen, wieso oder weshalb, ist das genau die Befähigung, nach der sie sich ein ganzes Leben lang gesehnt hat. Dazu war es besonders wichtig, daß sie sich dem auf direkter Strahlenumwandlung basierenden Metabolismus und den lebensfeindlichen Umweltbedingungender VTXMs anzupassen lernte, zusammen mit dem Versprechen der Telfis einer langfristigen Zusammenarbeit, was der Virenkreatur zukünftig einen anderen und sehr viel riskanteren Wechsel von Wirtskörpern ermöglichen wird. Aus diesem Grund führten die Telfis mit der Virenkreatur anfängliche Untersuchungen und Experimente durch, die auch die Ursache für die Probleme mit der Energieversorgung waren. Das hatte zwar für das Krankenhaus besorgniserregende Folgen, stellte aber zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Bedrohung dar.

Leider verfüge ich nicht über das technische Vokabular, aber es scheint ganz so, als ob die Virenkreatur über einen Körperbau verfügte, der es ihr ermöglicht, sie in ein Reaktorgehäuse einzuschleusen und dort auf subatomarer Ebene ein erhebliches Maß an Kontrolle auszuüben.“

Hewlitt hielt für einen Moment inne und begab sich dann wieder auf vertrauteres Terrain. „Mir wurden auch Morredeths Gedanken übertragen und merkwürdigerweise ebenso die Gefühle der Kreatur, die sie einst empfunden hatte, als sie mich als kleines Kind zum ersten Mal zu ihrem Wirtskörper machte. Glauben Sie mir, das Ganze ist eine ziemlich verrückte Erfahrung. Außerdem habe ich alles über ihre gemeinsam mit Lonvellin verbrachte Zeit erfahren und über noch sehr viel weiter zurückliegende Perioden, die sie mit einer ganzen Reihe nicht intelligenter Wirte verbracht hat und die so weit zurückreichen, daß sie sich selbst nicht mehr daran erinnern kann.

Diese Virenkreatur ist alt, sehr alt sogar …“

Wie Hewlitt weiter ausführte, war nichts darüber bekannt, durch welche umweltbedingten Einflüsse die Virenkreatur eine Intelligenz entwickeln konnte oder ob jemals andere Exemplare ihrer Gattung existiert hatten, so daß es sich bei der Entstehung dieses Wesens durchaus um einen genetischen Unfall gehandelt haben könnte und somit in seiner Art einzigartig war. Am Anfang waren die Wirte der Virenkreatur sehr klein gewesen, doch anstatt sie durch die unkontrollierte Ausbreitung von Viren zu infizieren und zu töten, wie es bei normalen Krankheitserregern der Fall wäre, versuchte sie, ihr eigenes langfristiges Überleben sicherzustellen,indem sie den optimalen physischen Zustand ihrer Wirtskörper so lange wie möglich aufrechterhielt. Sobald ein Wirtskörper trotz ihrer Bemühungen zu alt oder von einem größeren Raubtier getötet wurde, wechselte sie den Wirt, wobei im zweiten Fall das Raubtier automatisch zu ihrer neuen Heimat wurde.

Es mußten bereits etliche Jahrhunderte vergangen sein, ehe der hochintelligente und extrem langlebige Lonvellin den Heimatplaneten der Virenkreatur besuchte. Da dieser aufgrund der allgemein bekannten Annahme, daß fremdweltlerische Krankheitserreger einem nichts anhaben konnten, es für unnötig hielt, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wurde er von diesem höchst ungewöhnlichen und einzigartigen Parasiten heimgesucht.

Instinktiv erkannte die Virenkreatur, daß sie einen Organismus gefunden hatte, den sie sehr lange am Leben erhalten konnte, doch war der neue Wirtskörper derart groß und fremd, daß sie große Anpassungsschwierigkeiten mit der neuen Umgebung hatte. Lonvellin hingegen, der während seines langen Lebens viele lästige und unangenehme Krankheiten gehabt haben mußte, dürfte die Gegenwart und die Fähigkeiten seines Leibarztes von der Tatsache abgeleitet haben, daß seine früheren Gebrechen plötzlich nicht mehr auftraten. Doch damals konnte die Virenkreatur weder mit ihrem Wirt kommunizieren, noch war sie sich der Gründe bewußt, weshalb gewisse metabolische Prozesse in dem riesigen und komplizierten Körper stattfanden. Alles, was sie damals tun konnte, war, den physiologischen Zustand ihres Wirtskörpers im selben Zustand aufrechtzuerhalten, wie sie ihn vorgefunden hatte.

Die Virenkreatur beging auch Fehler.

Einer davon brachte Lonvellin sogar ins Orbit Hospital; nämlich ihr stures Festhalten an abgestorbenen Körperzellen, die normalerweise abgestoßen und durch nachwachsende ersetzt worden wären. Ein weiterer war, sich vom damaligen Chefarzt Conway aus dem Wirtskörper herauslocken zu lassen, wodurch sie sich als separates Wesen offenbarte. Zu diesem Zeitpunkt ihrer rasch fortschreitenden evolutionären Entwicklung war die Virenkreatur zwar intelligent, stellte sich aber nicht unbedingt gescheit an.Nachdem sie von Lonvellin als Leibarzt beansprucht worden war, reiste sie mit ihm nach Etla, wo sie nur knapp der Detonation einer Atombombe entging, durch die ihr Wirt umkam. Durch die Folgen dieser Explosion wäre die Virenkreatur fast selbst gestorben, doch führten sie bei ihr statt dessen zu organischen Mutationen, die sie dazu befähigten, sich später sogar dem Wirtskörper eines strahlenverwertenden Telfi anzupassen.

Sie rettete Hewlitt als Kind gleich zweimal das Leben; einmal nach dessen Obstvergiftung und dem normalerweise tödlichen Sturz vom Baum und ein zweites Mal nach dem folgenden Flugzeugabsturz. Dennoch beging sie immer noch dieselben Fehler wie früher, wie zum Beispiel den Blutkreislauf durch einen Herzstillstand kurzfristig zum Stehen zu bringen, damit sie die Wirkung eines verabreichten Medikaments schneller zunichte machen konnte, was letztendlich zur Einlieferung des erwachsenen Hewlitt ins Orbit Hospital führte. Allerdings war sie lernfähig und wurde sich zunehmend ihrer eigenen wie auch der Gefühle und Gedanken ihres Wirtskörpers bewußt. Zwar begann dieser Prozeß bereits mit Lonvellin, doch stellte sich der Zwischenfall mit der verwundeten Katze als sehr viel wichtiger heraus, als man bislang vermutet hatte, denn zum ersten Mal war die Virenkreatur durch psychologische Faktoren dazu gebracht worden, die Wirtskörper zu wechseln, insbesondere durch den emotionalen Druck, der durch ein um seine sterbende Katze trauerndes Kind auf sie ausgeübt worden war.

„… dieser Wechsel war nur vorübergehend, weil es nicht im Interesse der Virenkreatur sein konnte, von einem langlebigen in einen kleinen und kurzlebigeren Wirtskörper umzuziehen“, fuhr Hewlitt fort. „Damals wurde sie in erster Linie von ihrer Neugierde und der damit einhergehenden Freude am Experimentieren getrieben, aber auch von dem unbändigem Willen, bis in eine unbestimmte Zukunft hinein zu überleben. Doch standen ihr eine lange Zeit nur Terrestrier wie ich zur Verfügung, und die Funktionsweise des menschlichen Körpers hatte sie noch nicht ganz verstanden. Nach meiner Ankunft hier im Orbit Hospital wurde sie immer neugieriger, nahm ihre Umgebung bewußter wahr und sehnte sich nach denneuen Erfahrungen, die sie an einem solchen Ort machen konnte, zumal es hier von höchst interessanten und langlebigen und somit potentiellen Wirtskörpern nur so wimmelt. Als sie meine Besorgnis und mein Mitleid für Patientin Morredeth spürte und ich mehr oder weniger unfreiwillig – vielleicht wurde ich aber auch unterbewußt von der Virenkreatur dazu gedrängt – die Stelle, wo Morredeths Fell beschädigt war, mit den Händen berührte, okkupierte sie zum ersten Mal einen kelgianischen Körper. Später siedelte sie zum Padre und schließlich zu Cherxic über und suchte dann abwechselnd die überlebenden Teilwesen der Gesamtgestalt des Telfi-Schiffs auf, wo die letzte und einschneidendste Anpassung stattfand, auch wenn es sich dabei nach ihrer eigenen Überzeugung noch längst nicht um das Ende ihres Entwicklungsprozesses handelt. Von den telepathischen und auf verschiedene Aufgaben spezialisierten Teilwesen der Telfigestalt lernte sie, mit ihren wechselnden Wirtskörpern von Verstand zu Verstand zu kommunizieren und die Grundlage der telfischen Strahlenverwertung sozusagen bis ins letzte atomare Elementarteilchen zu verstehen und zu beherrschen. Die von den Telfis angeregten Experimente mit dem Energieversorgungssystem des Orbit Hospitals waren Bestandteil dieses Lernprozesses.

Jetzt hat die Virenkreatur alles, was sie für die Zukunft benötigt. Einzelne Telfis werden sterben, wenngleich jetzt längst nicht mehr so häufig wie früher, da sie nun über einen sehr mobilen Arzt verfügen, aber die Telfigestalt wird immer wieder Teilwesen ersetzen müssen oder sich erweitern und so für einen ständigen Informationsfluß und Erfahrungsaustausch sorgen. Somit hat die Virenkreatur ihre perfekte Wirtskörperspezies gefunden. Mit dem Willen zur Zusammenarbeit und dem Strahlenabsorptionsmechanismus der Telfigestalt als Starthilfe wird sie an Größe, Intelligenz und Energie zunehmen und sich fortwährend weiterentwickeln, bis sie in der Lage ist, Sonnen zu besiedeln, selbst auf die Gefahr hin, sich dabei selbst umzubringen. Das Orbit Hospital wird mit der Virenkreatur nie wieder Probleme haben.“

Hewlitt konnte in seinem Kopfhörer bis auf einige ungläubige Zischlautenichts hören, bis sich schließlich eine Stimme zu Wort meldete, die so leise und emotionsgeladen klang, daß sie nicht zu identifizieren war.

„Also beabsichtigt die Virenkreatur, die Sterne zu infizieren und zu besiedeln. Ich bezweifle nicht, daß sie meint, was sie sagt, schließlich wissen wir ja bereits, daß man mit dem Verstand nicht lügen kann. Das könnte das Ende eines ungehinderten Kontakts zwischen den verschiedenen Spezies einläuten und letztendlich zum Zusammenbruch der Föderation führen. Vielleicht bedeutet es sogar das Ende allen intelligenten Lebens, weil die Mitgliedswelten von unkontrollierbaren speziesübergreifenden Seuchen heimgesucht werden, wenn wir nicht sofort etwas dagegen unternehmen. Es tut uns schrecklich leid, Hewlitt, aber dazu gehört auch, daß wir Lioren, Morredeth, die telfische Schiffsbesatzung, Sie selbst und sogar das Haustier aus Ihrer Kindheit von allen zukünftigen Kontakten mit anderen Wesen für den Rest ihres Lebens isolieren müssen.“

„Das werden Sie nicht, verdammt noch mal!“ wehrte sich Hewlitt aufgebracht. „Warum hören Sie mir eigentlich nicht zu, wenn ich was sage? Warum glauben Sie mir nicht einfach? Padre, könnten Sie das diesen Ignoranten vielleicht bitte erklären?“

Während die Stimme aus O'Maras Büro zu hören gewesen war, hatte Lioren die telfischen Särge geschlossen und seine Aufmerksamkeit dem Gespräch zugewandt. Hewlitt hatte das Gefühl, daß sich die emotionale Aufgewühltheit des Padre wieder gelegt oder zumindest normalisiert hatte.

„Ich hätte das keinen Deut besser erklären können“, meinte der Padre. „Erzählen Sie weiter, Hewlitt, aber beeilen Sie sich. Oje! Da kommen schon zwei G-Schlitten und… eine bewaffnete Eskorte!“

Hewlitt atmete tief durch und versuchte, sich möglichst kurz und einfach auszudrücken, als er sagte: „O'Mara! Sie irren sich alle, und das in zweifacher Hinsicht. Keiner der Wirtskörper der Virenkreatur ist infiziert oder hat irgendwelche Samen, Eier oder Embryos eingepflanzt bekommen. So funktioniert das nicht. Das Wesen ist eine intelligente, organisierte Virenansammlung, ein einzigartiges und sehr egoistisches Individuum, das niemals die Abtrennung eines Teils von sich freiwillig zulassen würde, weildadurch die Leistungsfähigkeit und Intelligenz des Gesamtwesens verringert werden würden. Meine Probleme während und nach meiner Pubertät wurden durch den Umstand verursacht, daß die Virenkreatur zwar die Notwendigkeit des Absonderns von Körperausscheidungen verstehen konnte, doch die Ausstoßung von gesundem, lebendem Material wie Samenflüssigkeit völlig fremd für sie war, weil sie sich damals einfach nicht vorstellen konnte, daß sich irgendein Wesen fortpflanzen wollte, anstatt allein weiterzuleben. Sie hat noch immer Probleme damit, die Vorstellung zu akzeptieren, daß wir zum Überleben der eigenen Art zig Millionen Samen opfern.

Auf Etla, auf der Erde und hier im Orbit Hospital bestand also nie das Risiko einer zusätzlichen Infektion. Falls sich die Pläne der Virenkreatur verwirklichen lassen, dann ist sie vielleicht in ferner Zukunft in der Lage, sich zu teilen, aber bis dahin ist es noch ein sehr weiter Weg, und selbst dann würde das für uns keine Gefahr bedeuten. Zur Zeit kann sie nur einen Wirtskörper gleichzeitig bewohnen, und diesen hinterläßt sie nicht im erkrankten Zustand, sondern stattet ihn bis zu seinem Lebensende mit einem hohen Maß an körperlicher Gesundheit aus, die alle ehemaligen Wirtskörper wie eine organische Signatur sofort erkennen können.

Dies tut sie aus Dankbarkeit für das Wissen und die Erfahrungen, die ihr vom Wirt vermittelt wurden. Sie bezeichnet sich selbst als eine Art Untermieter, der seine Miete bezahlen muß.“

Die mit geöffnetem Kuppeldach bereitstehenden Quarantäne- G- Schlitten wurde von zwei wuchtigen hudlarischen Ärztinnen und acht bewaffneten Angehörigen des Monitorkorps begleitet, die nach terrestrischen Maßstäben sehr kräftig gebaut waren. Die Gesichtsausdrücke der Anwesenden verrieten eine Mischung aus Verlegenheit und Entschlußkraft, und Hewlitt beeilte sich noch mehr als zuvor.

„Glauben Sie mir, weder die Föderation noch deren Bürger haben von der Virenkreatur irgend etwas zu befürchten. Aus den zuvor genannten Gründen ist sie, mit Ausnahme der Telfis, an keiner Spezies der Föderation mehr interessiert, da sie für ihre Verhältnisse viel zu kurzlebig sind. Auchwenn die Vollendung dieses Projekt etliche unserer Lebensspannen benötigen wird, ist ihr unumstößliches Ziel, einen Stern nach dem anderen zu besiedeln, und sie will mit der telfischen Heimatsonne beginnen, da diese nach astronomischen Maßstäben immer älter und kranker wird. Auch wenn die Möglichkeit besteht, daß sie sich bei diesem Versuch selbst vernichtet, so will sie dieses Risiko auf jeden Fall eingehen. Eine Sonne zu bewohnen, der sie Intelligenz und Stabilität vermitteln und deren sämtliche inneren Vorgänge sie steuern kann, ist das erklärte Endziel der Virenkreatur.

Ein intelligenter Stern wäre das langlebigste Wesen, das man sich vorstellen kann“, beendete Hewlitt seine Ausführungen.

Jetzt waren die Diagnostiker Conway, Prilicla und Thornnastor an der Reihe, ein Gespräch miteinander zu führen, während die beiden Hudlarerinnen und die Monitoreskorte darauf warteten, welche Entscheidung man für das weitere Vorgehen treffen würde. Eine ganze Weile schienen der Padre und Hewlitt in Vergessenheit geraten zu sein, während der Krisenstab in O'Maras Büro diskutierte, ob man Lonvellins Reisen vor seiner damaligen Einlieferung ins Orbit Hospital zurückverfolgen könnte, um so den Herkunftsplaneten der Virenkreatur ausfindig zu machen. Sollte man dort die Vorfahren dieses Wesen entdecken – vermutlich nicht intelligente Virenstämme -, müßte man diese untersuchen und sie mit Hilfe von Zellkultivierung zu vermehren versuchen. Natürlich wäre für solch ein Forschungsprojekt die Mitarbeit ehemaliger Wirte der Virenkreatur von unschätzbarem Wert. Alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen müßten getroffen werden, und es gäbe eine Menge Probleme zu bewältigen, doch sollte man erfolgreich sein, ließe sich absehen, daß die Bürger der galaktischen Föderation in ferner Zukunft lediglich mit einem Virus infiziert werden müßten, um ansonsten völlig frei von Krankheiten zu sein. Für die ärztliche Zunft bliebe dann nichts weiteres zu tun, als die Behandlung von Unfallopfern und die Versorgung chirurgischer Notfälle zu gewährleisten. Wie nicht anders zu erwarten war, blieb es dem Chefpsychologen vorbehalten, ungeduldig das Schlußwort zu ergreifen.„Genug jetzt, werte Kollegen! Ihre zukünftigen Probleme werden wir in den nächsten Minuten auch nicht klären können, zumal sie auf rein hypothetischen Überlegungen basieren. Und Sie, Padre Lioren und Hewlitt, können sich erst mal entspannen. Wir haben entschieden, daß es kein Sicherheitsproblem mehr darstellt, wenn Morredeth auf Kelgia landet und die Telfigestalt mit ihrem neuen Freund auf ihren Heimatplaneten zurückkehrt. Die bewaffnete Eskorte kann abtreten, aber sie beide werden sich sofort auf den Weg machen, und zwar nicht, um auf der Isolierstation der Pathologie zu landen, sondern um sich hier im Büro einigen noch ungeklärten Fragen zu stellen… “

Hewlitt gab einen leisen, unübersetzbaren Laut von sich, den nur der Padre hören konnte, und Lioren flüsterte ihm zu: „Machen Sie sich keine Sorgen, mein Freund. Das Büro des Majors ist mit einem Essensspender ausgestattet, und wenn man uns nicht erlaubt, etwas zu essen, dann werden wir auch nicht reden.“

„… und mit einem von einer Hudlarerin gelenkten G-Schlitten werden Sie noch eher hier sein, als wenn Sie zu Fuß gehen“, fuhr O'Mara fort. „Gibt es sonst noch irgendwas, was Sie mir vorher sagen müssen?“

Hewlitt war sich nicht sicher, ob das, was ihm durch den Kopf ging, die Folge von Erschöpfung, unbändigem Hunger oder purer Erleichterung war. Jedenfalls lachte er nur und antwortete: „Mich plagt noch ein kleines psychologisches Problem: Aus mir scheint ein ehemaliger Hypochonder geworden zu sein, dem absolut nichts fehlt und der trotzdem unbedingt in einem Krankenhaus bleiben möchte. Ich habe einfach keine Lust mehr, terrestrische Schafe zu hüten.“