Tarl Cabot folgt der Spur der Kurii, jener intelligenten Bestien von den Stahlwelten, und dringt in die unwirtlichen Steppen der Roten Wilden, um sich der Entscheidungsschlacht zu stellen.

Die Kurii haben sich mit den Feinden der Roten Wilden, der Freunde Tarl Cabots, verbündet, und ihre Horden hinterlassen grausame Spuren der Vernichtung, wo immer sie auftauchen.

Im Zuge des Gegenangriffs brechen die Roten Wilden aus den Tiefen der Steppe; vom Himmel stürzen die Heere der Tarnkämpfer herab. Und unter den fügsamen Sklavinnen erhebt sich teuflischer Verrat. Im Kampf auf Leben und Tod ringen Männer um ihr Schicksal, harren schöne Frauen ihrer Überwinder.

John Norman

Die Blutsbrüder Von Gor

1

»Dort ist sie«, sagte Grunt und deutete schräg nach vorn. »Siehst du sie?«

»Ja«, antwortete ich. »Und ich fühle sie.« Deutlich spürte ich das Beben der Erde durch die Pfoten und Beine meiner geschmeidigen, hochmütigen Kaiila.

»Bisher habe ich sie erst einmal gesehen«, bemerkte er.

Ich stellte mich in den Steigbügeln auf, die die Vibrationen weitergaben. Vorhin, als wir noch nicht aufgestiegen waren, hatten wir die Hände flach auf den Boden gelegt und eine erste Vorahnung der Erscheinung wahrgenommen, aus einer Entfernung von etwa zwanzig Pasangs.

»Sie kommen!« hatte Cuwignaka fröhlich gerufen.

»Ich bin ein wenig verwirrt«, äußerte Grunt. »Sie kommt früh, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Cuwignaka, der links von mir im Sattel seiner Kaiila saß.

Wir schrieben den Mond des Takiyuhawi, den Mond, in dessen Verlauf der Tabuk sich paart.

»Sie ist eigentlich erst im Kantasawi fällig.« Dies war der Mond, bei dem die Pflaumen rot werden, im Ödland die heißeste Zeit des Jahres, gegen Ende des Sommers.

»Ich weiß nicht, warum sie so früh kommt«, sagte Cuwignaka.

Unsere Kaiila bewegten sich unruhig hin und her. Das Gras der Anhöhe reichte ihnen bis zu den Knien.

»Vielleicht irren wir uns«, meinte ich. »Vielleicht kommt die Vibration von etwas anderem.«

»Dabei gibt’s keinen Irrtum«, sagte Grunt.

»Nein«, fügte Cuwignaka fröhlich hinzu.

»Könnte es sich um eine andere handeln?« fragte ich.

»Nein«, antwortete Cuwignaka.

»Diese Dinge sind wie Sommer und Winter«, erklärte Grunt, »wie die Mondphasen, wie Tag und Nacht.«

»Warum kommt sie dann aber so früh?« wollte ich wissen.

»War sie jemals früh hier?« wandte sich Grunt an Cuwignaka.

»Solange ich zurückdenken kann, nicht«, antwortete dieser. »In den alten Überlieferungen ist die Rede davon, daß sie einmal zu spät kam, doch an ein frühes Eintreffen erinnere ich mich nicht.«

»Sieht aus, als ob es dort drüben regnet«, bemerkte ich.

»Das ist Staub, der vom Wind bewegt wird«, erklärte Cuwignaka. »Die Hufe lassen ihn aufsteigen.«

»Sie ist da«, sagte Grunt. »Es gibt keinen Zweifel mehr.«

Ich schaute in die Ferne. Es war wie ein Fluß aus Hörnern und Fellen.

»Wie lange ist sie?« fragte ich, denn ich vermochte das Ende nicht zu erkennen.

»Wahrscheinlich etwa fünfzehn Pasangs«, erwiderte Grunt. »Und vier bis fünf Pasangs breit.«

»Es würde fast einen Tag dauern, sie zu umreiten«, stellte Cuwignaka fest.

»Wie viele Tiere machen eine solche Gruppe aus?« fragte ich.

»Wer zählt die Sterne, wer die Grashalme?« fragte Cuwignaka.

»Die Größe«, sagte Grunt, »wird auf zwei bis drei Millionen Tiere geschätzt.«

»Sicher die größte Gruppe ihrer Art im Ödland«, meinte ich.

»Nein«, sagte Grunt. »Es gibt größere. Boswell behauptet, eine Gruppe beobachtet zu haben, die für das Durchschwimmen eines Flusses fünf Tage brauchte.«

»Wie lange würde diese Gruppe dazu brauchen?«

»Zwei bis drei Tage.«

»Ich verstehe«, sagte ich. Der Boswell, von dem er sprach, war mit dem Mann identisch, nach dem der Boswell-Paß in den Thentis-Bergen benannt war. Er war einer der ersten Erforscher des Ödlandes, zu denen auch Diaz, Hogarthe und Bento zählten.

»Ein prächtiger, eindrucksvoller Anblick«, sagte ich. »Reiten wir näher heran!«

»Aber mit Vorsicht«, sagte Cuwignaka. Er stieß einen Freudenschrei aus, hieb seiner Kaiila die Fersen in die Flanke und galoppierte den Hang hinab.

Grunt und ich sahen uns an und grinsten. »Er ist noch ein Kind«, sagte Grunt.

Wir folgten Cuwignaka. Etwa zur Mittagsstunde zügelten wir unsere Tiere neben ihm auf einer anderen Anhöhe. Die Tiere, die unter uns dahinzogen, waren nur noch drei oder vier Pasangs entfernt.

»Es ist die Pte!« rief Cuwignaka fröhlich und schaute zu uns zurück.

»Ja«, sagte Grunt.

Wir konnten die Tiere deutlich riechen. Mein Reittier, eine hochgewachsene schwarze Kaiila mit seidigem Fell, trippelte nervös hin und her. Sie hatte die Nüstern gebläht und die Sturmlider geschlossen, die den großen runden Augen eine gelbliche Färbung verliehen. Die Kaiila, vor einigen Wochen in der Stadt Kailiauk in der Grenzzone erstanden, hatte wohl noch nie solche Tiere gerochen, und auf keinen Fall in solcher Zahl. Staub umwallte uns, und ich mußte blinzeln. Die Nähe solcher Ungeheuer war beeindruckend. Ich wagte mir nicht vorzustellen, wie es wäre, dieser Herde noch näher zu kommen. Will man einzelne Tiere aus der Masse töten, muß man beinahe auf Berührungsnähe heran, damit die Lanze fest genug gestoßen werden kann oder der Pfeil tief genug eindringt.

»Gibt es immer soviel Staub?« fragte ich und mußte ein wenig die Stimme heben, so laut bellten die Ungeheuer und dröhnten die Hufe.

»Nein«, antwortete Cuwignaka ebenso laut. »Im Augenblick ist die Herde in Marsch und grast nicht.«

»Sie ist früh dran«, wiederholte ich.

»Ja«, sagte Grunt. »Das ist interessant. Sie muß mehr als normal in Bewegung gewesen sein.«

»Ich schaue mir die Tiere mal an«, sagte Cuwignaka.

»Sei vorsichtig!« ermahnte Grunt.

Wir schauten zu, wie Cuwignaka seine Kaiila den Hang hinabtrieb. Er würde sich nicht zu dicht an die Tiere heranbegeben, wofür es grundlegende traditionelle Gründe gab.

»Die Tiere gleichen einer Flut«, sagte ich, »einem gewaltigen Erdrutsch; sie sind wie Wind oder Donner: ein Naturereignis.«

»Ja«, sagte Grunt.

Die Bewegung dieser Herde war im Lager der Isbu-Kaiila, der Kleine-Steine-Bande des Kaiila-Stammes, seit gut zehn Tagen auf einer primitiven Karte verfolgt worden, mit eingekerbten Stöcken, deren Markierungen die Tage angaben und deren Position das Vorrücken der Tiere am fraglichen Tag darstellten. Kundschafter der Sleensoldaten, einer Kriegergemeinschaft der Isbu, behielten die Tiere im Auge, seit sie vor gut zwei Wochen Kaiila-Gebiet erreicht hatten. Es war ein Monat, in dem die Sleensoldaten im Lager die Polizeigewalt innehatten mit der Verantwortung für viele verschiedene Dinge: Kundschafterei und Wachestehen, Aufsicht im Lager und das Schlichten kleiner Streitigkeiten. Zu den anderen Pflichten der Sleensoldaten gehörten natürlich die Planung, Organisation und Überwachung der großen Wanasapi, der großen Jagd.

Wenige Ehn später zügelte Cuwignaka seine schweißbedeckte Kaiila neben uns; obwohl er schwitzte, war er bester Laune.

»Herrlich!« rief er.

»Gut«, sagte Grunt, der sich über die Begeisterung des jungen Mannes freute.

Wer diese Dinge nicht genau kennt, wird kaum begreifen, welche Bedeutung der Pte oder Kailiauk für die roten Wilden hat. Sie verehren und lieben dieses Tier, das für sie eine wichtige Rolle spielt; ein großer Teil ihres Lebens kreist darum. Der Kailiauk ist für sie mehr als Fleisch für den Magen und Kleidung für den Rücken; das Tier ist ein Mysterium und eine besondere Wesenheit; es ist überladen mit Medizin, es ist eine Gefahr, es bietet Sport, es ist eine Herausforderung – und eine Herzensfreude, wenn man es frühmorgens jagt, eine Lanze oder einen Bogen in der Hand, eine schnelle, eifrige Kaiila zwischen den Knien.

»Schaut!« sagte Grunt und deutete nach rechts.

In schnellem Galopp näherte sich ein Reiter, ein roter Wilder. Er trug Lendenschurz und Mokassins. Vor der Brust baumelte eine Kette aus Sleenklauen. Er hatte keine Federn im Haar, und weder er noch sein Tier waren bemalt. Er hatte auch keine Lanze und keinen Schild bei sich. Er war nicht in kriegerischer Absicht unterwegs, obwohl an seinem Sattel ein Bogenetui mit Köcher baumelten und an seiner Hüfte eine perlenbesetzte Scheide mit einem Tauschmesser hing.

»Das ist Hci«, sagte Cuwignaka. Es gab eigentlich keine genaue Übersetzung für den Ausdruck ›Hci‹. Am ehesten konnte man ihn noch als Scharte übersetzen, wie sie beispielsweise in der Schneide einer Axt entsteht. Im weiteren Sprachgebrauch bedeutet das Wort ›Kerbe‹, wie man sie mit einer Axt in einen Baum schlägt, oder auch ›Narbe‹. Und aus dieser Bedeutung leitet sich der Name offensichtlich her. Hcis linke Gesichtshälfte war von einer unregelmäßigen, gezackten Narbe entstellt, etwa zwei Zoll lang. Zugezogen hatte er sie sich vor mehreren Jahren, mit siebzehn, bei seinem zweiten Einsatz auf dem Kriegspfad. Ein Gelbmesserkrieger hatte sie ihm im Verlauf eines berittenen Kampfes mit einem langgriffigen Steintomahawk beigebracht. Zuvor ein zugänglicher junger Mann, hatte er auf eigenen Wunsch den Namen Hci erhalten und war mürrisch und grausam geworden. Er hatte sich auf die Kameradschaft und die Rituale und Zeremonien der Sleensoldaten geworfen und schien von nun an keinen anderen Lebensinhalt mehr zu haben als Überfälle und Kampf. Mitglieder der eigenen Gemeinschaft hatten Angst, mit ihm zu reiten, so schnell, so energisch setzte er sich ein, ungeachtet jeder Gefahr. Bei einem Kampf gegen Flieher-Krieger war er einmal von der Kaiila gesprungen und hatte die Lanze durch seine eigene, am Boden schleifende Kampfschärpe getrieben, wie seine Organisation sie zu tragen pflegte. Auf diese Weise hatte er sich praktisch inmitten der angreifenden Flieher bewegungsunfähig gemacht. »Ich gebe diesen Boden nicht preis!« hatte er gebrüllt. Die fliehenden Angehörigen seiner Kampfgemeinschaft hatten sich bei diesem Anblick ein Herz gefaßt und die Flieher angegriffen, obwohl sie zahlenmäßig unterlegen waren. Die Flieher hatten schließlich den Kampfschauplatz verlassen, da ihnen der Preis des Sieges über solche Kämpfer zu hoch erschien. Beim Abrücken hatten sie vor dem jungen Krieger grüßend die Lanzen erhoben. Ein solcher Mut findet im Ödland Anerkennung – sogar durch den Feind.

Hci zügelte seine wiehernde Kaiila in einer Staubwolke vor uns.

Die Entstellung war wirklich sehr auffällig. Der scharfe Canhpi hatte das Jochbein durchschlagen.

»Was machst du hier?« wollte Hci im Dialekt der Kaiila wissen. Nach längerem Zusammensein mit Grunt und Cuwignaka und nach meinem Aufenthalt im Isbu-Lager konnte ich den Gesprächen einigermaßen folgen. In gewissem Maß vermochte ich mich in dieser ausdrucksvollen, zischelnden Sprache selbst schon auszudrücken.

»Wir wollen uns die Pte ansehen«, antwortete Cuwignaka.

Ich blickte an Hci vorbei auf die Tiere, die zwei oder drei Pasangs entfernt vorbeizogen. Der Kailiauk ist ein großes, zottiges, trottendes, dreifach gehörntes Wandertier. Es besitzt vier Mägen und ein Herz mit acht Kammern. Es ist gefährlich und gesellig, hat kleine Augen und ein aufbrausendes Temperament. Männchen erreichen in den Schultern eine Höhe von zwanzig bis fünfundzwanzig Hand und wiegen bis zu viertausend Pfund.

»Du hast kein Recht, hier zu sein«, sagte Hci zornig.

»Wir schaden niemandem«, gab Cuwignaka zurück.

»Niemand wird bis zur großen Jagd einen Pte erlegen«, sagte Hci. »Erst dann geht es los. Die Isbu werden jagen. Die Casmu werden jagen. Ebenso die Isanna und die Napoktan und die Wismahi! Und auch die Kaiila werden erst dann jagen!«

Die Namen kennzeichneten die fünf Banden, aus denen sich der Kaiila-Stamm zusammensetzt; dabei ist die Herkunft dieser Namen nicht immer bekannt. Wahrscheinlich bezogen die Isbu oder Kleine-Steine-Bande und die Casmu oder Sand-Bande ihre Namen von geographischen Besonderheiten, wie sie sich in der Nähe bestimmter Flußlager fanden. Die Wismahi- oder Pfeilspitzen-Bande hatte ihr Winterlager angeblich am Zusammenfluß zweier Wasserläufe errichtet, einer Stelle, die der Spitze eines Pfeils ähnlich sah. Andere behaupten, die Gruppe habe früher in einer feuersteinreichen Gegend gewohnt und einen lebhaften Handel mit den benachbarten Stämmen getrieben. Die Armband-Bande, die Napoktan, tragen kupferne Bänder am linken Handgelenk. Außerhalb des Kaiila-Stammes wird diese Bande oft auch Mazahuhu-Bande genannt, das ist der Staubfuß-Name für ›Armband‹. Unbekannt ist mir, woher der Name für die Isanna kommt, die Kleine-Messer-Bande. Zuweilen leiten sich solche Bezeichnungen – wie ich es auch bei den Napoktan vermutete – von den Besonderheiten bestimmter Anführer her, vielleicht auch von einzigartigen geschichtlichen Ereignissen und vielleicht sogar von Träumen. Träume, insbesondere von wichtigen Ereignissen, werden von den roten Wilden sehr ernst genommen. Geschieht es denn nicht in den Träumen, daß man sogar die eigentliche Medizinwelt betreten darf? Stimmt es nicht, daß man in Träumen an den Feuern der Toten sitzen und mit ihnen sprechen kann? Und ist es nicht so, daß man im Traum sogar die Sprache der Tiere verstehen kann? Und sich plötzlich in fernen Ländern wiederfindet, Monde entfernt, nur um dann in der eigenen Unterkunft wieder zu erwachen, vor der eigenen Feuersglut, im Schutz der eigenen Zeltstangen und Häute ringsum?

»Wir sind hier, um uns die Pte anzusehen«, sagte Cuwignaka, »nicht um zu jagen.«

»Das ist gut für dich«, antwortete Hci ärgerlich, »denn du weißt, welche Strafen auf unerlaubtes Jagen stehen.«

Cuwignaka ließ sich zu einer Antwort nicht herab. Gewiß, die Strafen waren nicht von der Hand zu weisen. Man konnte öffentlich entehrt und sogar verprügelt werden. Man konnte seine Waffen verlieren, ebenso Kleidung und sonstiges Eigentum. Nach Auffassung der roten Wilden geht das Wohl des Ganzen, des Stammes, dem Wohlergehen des einzelnen unbedingt vor. In den Augen der roten Wilden steht das Recht, die Gemeinschaft zu gefährden und zu beschränken, nicht dem Individuum zu.

»Verschwinde!« sagte Hci und schwenkte ärgerlich den Arm.

Cuwignaka erstarrte auf dem Rücken seiner Kaiila.

»Das ist ein Befehl«, sagte Grunt auf Goreanisch zu Cuwignaka. »Und er hat die Macht, ihn durchzusetzen. Er ist ein Sleensoldat, und es gehört zu seinen Aufgaben, den Kailiauk aufzuspüren und zu beschützen. Du darfst nichts Persönliches darin sehen. Er tut als Sleensoldat nur seine Pflicht. An seiner Stelle würdest du sicher ähnlich handeln.«

Cuwignaka nickte.

Wir zogen die Kaiila herum, um uns zu entfernen.

»Frauen, Sklaven und Weiße dürfen nicht zu den Pte reiten, auch nicht um sie nur anzuschauen!« rief Hci hinter uns her.

Cuwignaka wendete aufgebracht seine Kaiila. Ich folgte seinem Beispiel und hielt ihn am Arm fest.

»Ich bin keine Frau!« sagte Cuwignaka.

Hci lachte. »O doch!« rief er. »Du solltest Kriegern zu Gefallen sein!«

»Ich bin keine Frau!«

»Du trägst keinen Lendenschurz«, sagte Hci. »Du bist nicht mit auf den Kriegspfad gekommen.«

»Ich hatte keine Händel mit den Fliegern!«

»Du bist bei den Isbu nicht willkommen. Du trägst das Kleid einer Frau und tust Frauenarbeit. Ich glaube, ich werde dir einen Frauennamen geben, ich werde dich Siptopto nennen.«

Cuwignakas Fäuste ballten sich um die Zügel seiner Kaiila. ›Siptopto‹ ist eine allgemein gebräuchliche Bezeichnung für Perlen.

»Ich bin ein Isbu«, sagte Cuwignaka. »Ich bin ein Isbu-Kaiila!«

Mit festem Griff verhinderte ich, daß Cuwignaka den anderen angriff.

»Man hätte dich angepflockt liegen lassen sollen«, sagte Hci. »Das wäre für die Kaiila besser gewesen.«

Cuwignaka zuckte die Achseln. »Mag sein«, sagte er. »Ich weiß es nicht.«

Cuwignaka trug die Überreste eines weißen Kleides, das aus der Beute eines vernichteten Wagenzuges stammte. Als Sklave hatte er Soldaten gedient, die die Wagen begleiteten. Ursprünglich ein Isbu-Kaiila, hatte er sich zweimal geweigert, gegen die Flieher, Erbfeinde der Kaiila, in den Kampf zu ziehen. Nach dem erstenmal hatte man ihn in Frauenkleider gesteckt, ihn Frauenarbeit tun lassen und ihm den Namen Cuwignaka – ›Frauenkleid‹ – gegeben. Nach seiner zweiten Kampfweigerung war Cuwignaka gefesselt in der Ihanke, in der Grenzzone zwischen dem Ödland und den Ländereien der Bauern und Viehzüchter, an Weiße verkauft worden. In der Grenzzone hatte er die goreanische Sprache erlernt. Später wurde er von Soldaten gekauft und als Dolmetscher ins Ödland mitgenommen, zurück in seine ehemalige Heimat. Nach der Vernichtung des Wagenzuges war er den Siegern in die Hände gefallen. Unerhörte Vergehen wurden ihm zur Last gelegt: Er war ins Ödland zurückgekehrt, er war Sklave des verhaßten Feindes gewesen. Die Folge war, daß man ihn am Boden festpflockte. Er sollte sterben. Eine unzerbrochene Lanze wurde mit der Spitze nach oben neben ihm in den Boden gestoßen – eine Art Respektbezeigung durch Cuwignakas Bruder Canka, Feuerstahl. Canka hatte auch das Kleid aufgehoben, das Hci verächtlich neben ihn auf den Boden geworfen hatte, und es um die Lanze gewickelt. Auf diese Weise hatte Canka die Stelle wie mit einer Fahne auffällig markiert.

Ich war der Ansicht, daß Canka damit die Aufmerksamkeit auf seinen Bruder hatte lenken wollen, damit er befreit würde; vielleicht wollte er auch selbst später zurückkommen, um seinen Bruder loszubinden, obwohl das auch für ihn ein Leben als Geächteter bedeutet hätte. Wie es sich ergab, waren Grunt und ich, die durch das Ödland reisten, auf den Jungen gestoßen und hatten ihn befreit. Kurze Zeit später wurden wir von einer seltsamen Gruppe von Verbündeten gefangengenommen – Angehörige der Sleen, Gelbmesser und Kaiila, die sich im Angedenken an die Große Erinnerung, wie sie genannt wurde, zum Angriff auf den Wagenzug und die Soldaten zusammengetan hatten.

Grunt hatte eine Kette weißer Sklavinnen als Packtiere und Tauschware ins Ödland gebracht. Er hatte außerdem zwei Gefangene gemacht, zwei frühere Feinde, Max und Kyle Hobart, eigentlich Geschenke von Kriegern des Staubfuß-Stammes. Die Sleen nahmen neben den Hobarts zwei seiner Mädchen als Beute, Ginger und Evelyn, ehemalige Tavernenmädchen aus der Ihankenstadt Kailiauk. Vier weitere Mädchen wurden von einem Krieger der Gelben Messer fortgeführt, zwei Amerikanerinnen, Lois und Inez, eine Engländerin namens Priscilla und Corinna, eine kleine dunkelhaarige Französin.

Die Kaiila-Krieger hatten vorwiegend der Kriegergemeinschaft der Kampfgefährten angehört, vergleichbar den Sleensoldaten der Isbu-Kaiila. Sie standen unter dem Befehl Cankas, der Cuwignakas Bruder war. Zu der Gruppe hatte ein weiterer Mann gehört, ein älterer Krieger mit Namen Kahintokapa, Mann-der-vorausgeht, ein Angehöriger der berühmten Kaiila-Reiter. Er gehörte zu den Casmu, der Sand-Bande.

Grunts wertvollstes Gut an der Kette, eine wunderschöne Rothaarige, eine ehemalige Debütantin aus Pennsylvanien mit dem Erdennamen Millicent Aubrey-Welles, wurde von Canka als persönliche Sklavin erwählt. Seine letzte Sklavin durfte Grunt behalten, die dunkelhaarige Schönheit Wasnapohdi oder Pickel, die er gegen drei Beile von Staubfuß-Kriegern eingetauscht hatte. Daraus schloß ich, daß Canka uns im Grunde nichts Böses wollte. So wie ich die Lage heute beurteilte, freute er sich wahrscheinlich, daß wir Cuwignaka befreit hatten. Vielleicht hatte er Wasnapohdi auch bei Grunt gelassen, weil sie den Kaiila-Dialekt fließend beherrschte. Das hatte ihn sicher beeindruckt.

»Sklave«, sagte Hci und musterte mich verächtlich.

Ich begegnete seinem Blick nicht. Natürlich hatte ich Cuwignaka losgebunden. Mein Messer hatte die Fesseln durchtrennt, ein Umstand, den Canka als Blotanhunka, als Führer dieser Kriegergruppe, nicht hatte übersehen können. Unabhängig von seiner eigenen Einstellung in dieser Sache konnte er diese Tat nicht durchgehen lassen. Ein Gefangener der Kaiila war befreit worden. Dafür mußte jemand büßen. Ich hatte diesen Preis bezahlt, indem ich mich in die Sklaverei der roten Krieger begab.

»Weiße Männer!« rief Hci verächtlich und deutete auf mich und Grunt.

»Ja«, sagte Grunt freundlich.

»Wie kommt es«, wandte sich Hci an Cuwignaka, »daß ein Sklave Mokassins trägt und eine Kaiila reitet?«

»Canka hat das erlaubt«, sagte Cuwignaka.

»Steig ab!« forderte mich Hci auf. »Zieh deine Mokassins aus, entledige dich deiner Kleidung.«

»Er ist nicht dein Sklave!« rief Cuwignaka.

»Auch nicht deiner«, erwiderte Hci.

Ich stieg ab, entkleidete mich und zog auch die Mokassins aus, die Canka mir gegeben hatte. So stand ich vor Hcis Kaiila und trug nichts anderes als den perlenbesetzten Lederkragen, der mir vor etwa zwei Wochen umgelegt worden war. Das Muster der Perlen wies mich als Cankas Eigentum aus; in den letzten Tagen hatte ich erfahren müssen, daß dies alles in allem von Vorteil war. Canka war ein angesehener, bedeutender junger Krieger; bei der kürzlichen Aktion im Westen hatte er sogar als Blotanhunka der Kampfgefährten gewirkt. Dies verlieh mir ein gewisses Prestige, zumal mich Canka selbst offenkundig mit Respekt behandelte. Er nannte mich Tantankasa, Roter Bulle, aus Sicht der Kaiila ein ehrenvoller Name. Er gab mir Mokassins und ließ mich bekleidet gehen. Er hatte mir sogar den Gebrauch meiner ehemaligen Kaiila zugestanden. Ich brauchte nicht in seinem Bau zu wohnen, sondern blieb bei Cuwignaka in einem heruntergekommenen Lederzelt. In gewisser Weise konnte ich mich im Dorf frei bewegen.

»Knie nieder!« befahl Hci verächtlich.

Ich gehorchte.

»Neig den Kopf zur Erde!«

»Das ist wirklich nicht nötig«, sagte Cuwignaka.

»Halt den Mund, Siptopto!« sagte Hci. »Sonst befehle ich dir, Männern zu Gefallen zu sein.«

»Ich habe keine Angst vor dir!« rief Cuwignaka.

»Du sprichst kühn für eine Frau«, sagte Hci.

»Ich bin ein Mann«, gab Cuwignaka zurück. »Und was ihn betrifft, da werde ich Canka Bescheid sagen.«

»Ja, sorg dafür!« sagte Hci ärgerlich und wendete seine Kaiila. Der von den Hufen aufwirbelnde Staub stieg mir in Mund und Nase. »Und jetzt verschwindet von hier, zurück ins Lager!« Anscheinend herrschte keine große Sympathie zwischen Hci und Canka. Wahrscheinlich sah Hci in Canka den Verantwortlichen dafür, daß Cuwignaka frei war und sich dem Stamm angeschlossen hatte, was viele Isbu, so auch Hci, ärgerlich und beschämend fanden. Indem er mich erniedrigte, einen Sklaven, den Canka respektvoll behandelte, rächte er sich gewissermaßen an Canka. Canka seinerseits mochte Hci nicht sehr, vor allem wegen dessen Feindseligkeit gegenüber seinem Bruder Cuwignaka. In Cankas Augen war Hcis Verachtung gegenüber Cuwignaka extremer und starrer, als angebracht schien. Cuwignaka lebte und kleidete sich wie eine Frau, er mußte Frauenarbeit tun und durfte keine Kinder zeugen. Was wollte Hci darüber hinaus?

Ich vermutete, daß es um mehr ging als um Hcis Stammesstolz und Sinn für das Angemessene. Canka war ein schnell aufsteigender junger Krieger im Stamm. Schon hatte er als Blotanhunka einer Kriegergruppe gewirkt. Obwohl Hci geschickt und mutig war, hatte er diese Ehre noch nicht empfangen. Dies mochte Hci um so mehr gekränkt haben, als er der Sohn Mahpiyasapas war, des Zivilhäuptlings der Isbu. Einem Mann seiner Position hätte ein solcher Auftrag eher zufallen müssen – statt dessen wurde er ihm verwehrt. Der Grund, warum Hci noch keine Kriegergruppe hatte befehligen dürfen, sah ich nicht darin, daß man ihn bei den Isbu nicht bewunderte oder mochte oder daß seine Fähigkeiten bei der Spurensuche und im Kampf nicht angesehen waren, sondern in dem Umstand, daß man seinem Urteil nicht traute. Die Unbesonnenheit, mit der er auftrat, und seine Mißachtung persönlicher Gefahr sprachen nicht gerade für seine Fähigkeit, als Anführer verantwortungsvoll zu handeln.

Übrigens hatte ich nicht das Gefühl, daß Hcis Feindseligkeit gegenüber Canka mit der hübschen weißhäutigen, rothaarigen Sklavin Winyela zu tun hatte, die Canka als Beute für sich beansprucht hatte, der ehemaligen Millicent Aubrey-Welles, die Grunt für Hcis Vater Mahpiyasapa ins Ödland gebracht hatte. Hci brauchte solche Sklavinnen nicht; er versorgte sich anderweitig. Mahpiyasapa dagegen war sehr erzürnt gewesen, daß Canka seine Kriegsrechte gegenüber dem Mädchen durchgesetzt hatte, obwohl er von ihrer vorgesehenen Bestimmung unterrichtet worden war. Mahpiyasapa war, wie erwähnt, Zivilhäuptling der Isbu.

Bei den roten Wilden gibt es verschiedene Häuptlinge, vor allem den Kriegshäuptling, den Medizinhäuptling und den Zivilhäuptling. Interessanterweise kann man niemals mehr als ein Häuptling gleichzeitig sein. Diese Bestimmung gehört wie der regelmäßige Wechsel der Polizeimacht zwischen Kriegergruppen zu den Sicherungsventilen der Stammesregierung. Ausgleichend wirkten auch andere Dinge wie Traditionen und Gebräuche, die Nähe zwischen Regierenden und Regierten, die vielschichtigen Beziehungen zwischen Familien, die Häuptlingswahlen, die Abhängigkeit von Ratsbeschlüssen bei wichtigen Angelegenheiten und schließlich die Möglichkeit, den Stamm in größeren oder kleineren Zahlen verlassen zu können. Wegen aller dieser Institutionen ist Despotismus bei den roten Wilden nicht zu finden; er ist unpraktisch, und dieser Umstand ist eine viel sicherere Garantie gegen sein Auftreten als jede noch so laute negative Rhetorik.

»Geh!« befahl Hci.

»Gibst du mir diesen Befehl als Hci oder als Sleensoldat?« fragte Cuwignaka ärgerlich.

»Geh!« sagte Hci drohend.

»Ich gehorche dir als Sleensoldat«, sagte Cuwignaka. »Ich werde gehen.«

»Wenn die Jagd beginnt«, sagte Hci zu Cuwignaka, »darfst du nicht daran teilnehmen. Du wirst mit den Frauen Fleisch schneiden.«

»Das ist mir bekannt.«

»Denn du bist eine Frau!« rief Hci spöttisch.

»Nein, ein Mann!«

»Hübsch ist sie ja, nicht wahr?« wandte sich Hci an Grunt.

Dieser antwortete nicht.

»Wenn sie dir nicht zu Gefallen ist«, sagte Hci zu Grunt, »mußt du sie schlagen wie jede andere Frau.« Brüsk zog er sein Reittier herum. Die Kaiila-Pfoten trommelten gegen den Boden, ein Geräusch, das schnell leiser wurde.

»Verfolge ihn nicht!« sagte Grunt zu Cuwignaka.

»Ich bin ein Mann«, sagte Cuwignaka ärgerlich. »Ich muß gegen ihn kämpfen!«

»Nein«, sagte Grunt. »Das wäre nicht klug. Er ist einer der besten Krieger der Isbu.«

»Steh auf, Mitakola!« sagte Cuwignaka zu mir. »Er ist fort.«

Ich erhob mich und wischte mir mit dem rechten Unterarm über das Gesicht. Grunt reichte mir Kleidung und Mokassins, die ich anlegte. Anschließend stieg ich wieder auf meine Kaiila.

»Hast du keine Lust, ihn zu töten?« fragte mich Cuwignaka verbittert.

Ich zuckte die Achseln. »Mit seiner Attacke meinte er nicht mich«, sagte ich, »sondern Canka.«

»Am liebsten würde ich ihn umbringen«, sagte Cuwignaka.

»Nein, das willst du nicht«, widersprach Grunt. »Er gehört den Isbu an, deiner eigenen Bande.«

»Mögen muß ich ihn aber nicht«, sagte Cuwignaka und begann plötzlich zu lachen.

»Das stimmt«, antwortete Grunt lächelnd.

Ich blickte Hci nach, der mir ein von Gefühlen aufgeputschter, verbitterter junger Mann geworden zu sein schien – eine Entwicklung, die vermutlich mit der Narbe ihren Anfang genommen hatte. Seit jener Zeit schien er für kaum etwas anderes zu leben als für das Töten und die Rache – nicht nur gegen Gelbmesser, sondern gegen jeden Feind oder angeblichen Feind des Kaiila-Stammes.

»Verrückt ist er«, sagte Cuwignaka.

»Ich halte ihn für verbittert«, sagte ich.

Hcis Reaktion auf seine Entstellung fand ich interessant. Viele Krieger hätten sich wegen einer solchen Narbe kaum Gedanken gemacht, zumal sie davon nicht wesentlich behindert worden wären. Andere hätten darin ein willkommenes Symbol für ihren Mut gesehen, ein klares Zeichen für ihren Einsatz im Nahkampf. Andere hätte die Narbe als wilde, brutale Steigerung ihres Äußeren empfunden. Nicht aber Hci. Wie so mancher rote Wilde war er ziemlich eitel gewesen, was sogar dazu führt, daß manche junge Männer ihr Haar fetten und zu Zöpfen flechten und im Lager vor Stammesgenossen stolz herumreiten – wobei es ihnen natürlich besonders um die Mädchen geht. Für Hci kam es nicht mehr in Frage, sich, seine Kaiila und seine tadellos gepflegte Ausrüstung im Lager zur Schau zu stellen. Das Canhpi des Gelbmessers hatte mehr getan, als nur Fleisch und Knochen zu treffen; die Klinge hatte irgendwie auch seine Eitelkeit, seinen Stolz getroffen. Er war gutaussehend gewesen und hatte als Sohn des Zivilhäuptlings Mahpiyasapa eine hohe Position im Stamm innegehabt. In einem einzigen blutigen Augenblick war dies alles zerstört worden. Auch sein Umgang mit den Mädchen hatte sich verändert; schon lange kam Hci nicht mehr zu ihren Unterkünften und spielte dort die Liebesflöte. Gleichwohl gab es viele Mädchen, denen seine Narbe nichts ausgemacht hätte, die sie eher reizvoll fanden.

»Beunruhige dich nicht wegen Hci!« sagte Grunt zu Cuwignaka. »Dein Bruder Canka hat schon Schwierigkeiten genug mit Mahpiyasapa.«

»Du hast recht«, sagte Cuwignaka.

Ich dachte an die schlanke rothaarige Winyela, die ehemalige Debütantin aus Pennsylvanien, jetzt Cankas Sklavin. Grunt hatte sie an Mahpiyasapa verkaufen wollen, der sich für rothaarige Frauen interessierte; der Preis war auf fünf Felle des gelben Kailiauk festgesetzt gewesen.

Cuwignaka und Grunt und ich wandten uns schließlich wieder den Pte zu.

»Die Herde scheint kein Ende zu nehmen«, sagte ich.

»Ein prächtiger Anblick!« rief Cuwignaka.

»Ja«, sagte Grunt. »Prächtig!« Grunt, stämmig gebaut, rundlich und muskulös, trug noch immer den breitkrempigen Hut, an den ich mich gut erinnerte; ich hatte ihn überhaupt noch nie ohne diese Kopfbekleidung gesehen.

»Wir müssen reiten«, sagte Cuwignaka. »Wir müssen ins Lager zurück.«

Wieder schaute ich in die Richtung, in der Hci verschwunden war. Den Mann, der ihm die Narbe beibrachte, hatte er getötet.

»Prächtige Tiere!« rief Cuwignaka, wendete seine Kaiila und ritt den flachen Hang hinab, in Richtung Lager.

Grunt und ich verhielten noch einen Augenblick lang auf der Anhöhe und beobachteten das eindrucksvolle Schauspiel in der Ferne.

»Bist du sicher?« fragte ich.

»Ja«, sagte er. »Das ist die Bento-Herde.«

»Sie ist früh dran«, wiederholte ich.

»Ja.«

»Warum?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete er.

Dann trieben auch wir unsere Kaiila an und folgten Cuwignaka zum Lager.

2

Wasnapohdi, auch Pickel genannt, bäumte sich unter mir auf und umklammerte mich keuchend. Hilflos stöhnte sie, und ich spürte ihre Fingernägel an meinem Arm. Sie war den Leidenschaften einer Frau ausgesetzt, die ihre Sklaverei wahrhaft begriffen hat. Ich war froh, daß Grunt, ihr Herr, sie mir überließ. Der kräftige Mann braucht ein Ventil für seine Anspannungen, um nicht krank und neurotisch zu werden.

»Beeil dich mit ihr«, sagte Cuwignaka, der in diesem Augenblick unsere Unterkunft betrat. »Es gibt einiges zu sehen. Die Isanna sind bereits im Lager und bilden lange Reihen! Das mußt du dir anschauen! Auch wird gleich die Medizingruppe losziehen, um den Stamm zu fällen. Viele werden mitgehen. Beeil dich!«

Mit aufgerissenen Augen starrte Pickel mich an und hielt mich krampfhaft fest. Ich vollzog den Akt des Herrn über seine Sklavin, bis sie erschaudernd und schluchzend mit angezogenen Beinen zur Seite rollte. Dann streifte ich meine Tunika über und schob die Füße in die Mokassins. Vom Eingang schaute ich noch einmal in das Zelt. Hier und dort waren die Felle zerschlissen und ließen durch winziger Löcher Licht herein. Helligkeit drang außerdem durch das Rauchloch unter der Dachspitze herein. Später würden wir vielleicht die Seitenwände vier oder fünf Fuß weit hochrollen, was den Bau zu einer Art luftigem Baldachin werden läßt. Im Winter wird das Fellzelt durch einen Streifen Kailiauk-Fell zusätzlich abgedichtet. Ich schaute zum Mädchen zurück, das eine mehrfache Kette mit billigen funkelnden Glaskugeln um den Hals trug.

»Zieh dich an, wenn du willst«, sagte ich, »und komm mit!«

»Die Sklavin ist dankbar für die Berührung des Herrn«, flüsterte sie.

»Beeil dich!« sagte Cuwignaka ungeduldig zu mir. »Es gibt Wichtiges zu tun!«

Wir machten uns auf den Weg.

»Wirf den Reifen, wirf den Reifen, Tatankasa!« rief mir ein kleiner Junge zu.

Ich ergriff den Reifen und schleuderte ihn nach zwei täuschenden Ansätzen plötzlich nach links. Der Junge erfaßte die Bewegung aus den Augenwinkeln, fuhr herum und schoß zielsicher einen kleinen Pfeil durch das dahinfliegende Gebilde.

»Eca! Gut!« rief ich. Die Treffsicherheit des kleinen Teufels erstaunte mich.

»Noch einmal! Noch einmal, Tatankasa!« rief der Bursche. Mit Spielen dieser Art werden Fähigkeiten herangebildet und Reflexe geschult, die für einen erwachsenen Krieger später sehr wichtig sein können.

»Geht nicht«, sagte ich.

»Bitte, Tatankasa!«

»Ich bin Sklave«, sagte ich. »Ich muß Cuwignaka begleiten.«

»Ja«, sagte dieser nachdrücklich.

Ich eilte hinter Cuwignaka her, der sich nun beinahe im Laufschritt zwischen den Fellhütten fortbewegte.

Ein gezähmter Sleen fauchte mich an, und ich machte einen großen Bogen.

»Dort!« rief Cuwignaka. »Siehst du sie?«

»Das sind die Isanna?« fragte ich.

»Ja!«

Die Isanna, die Kleine-Messer-Bande des Kaiila-Stammes, kamen aus den Gebieten um den Ratsfelsen im Norden der nördlichen Gabelung des Kaiila-Flusses, westlich des Schlangen-Flusses, eines Nebenflusses des Nördlichen Kaiila. Die verschiedenen Banden des Kaiila-Stammes verteilen sich im Normalfall etwa so: Zunächst muß man sich vergegenwärtigen, daß es den Kaiila-Fluß gibt, der ungefähr nach Südwesten fließt. An einer Stelle mitten im Gebiet des Kaiila-Stammes gabelt sich dieser Strom in zwei Läufe, die als Nördlicher und Südlicher Kaiila gelten. Der Schlangen-Fluß, beinahe südlich strömend, mündet in den Nördlichen Kaiila. Das Land der Napoktan, der Armband-Bande der Kaiila, erstreckt sich östlich des Schlangen-Flusses und nördlich des Nördlichen Kaiila und des großen Kaiila. Die Wishmahi, die Pfeilspitzen-Bande des Stammes, hält die nördlich gelegenen Territorien innerhalb und ein Stück südlich der Kaiila-Gabelung. Die Isbu bewegen sich in den weiter südlich gelegenen Zonen zwischen dem Nord- und dem Südzweig des Kaiila-Wasserlaufs. Die Ländereien der Sandbande der Kaiila, der Casmu, schließen sich im Westen an die der Isanna an und im Nordwesten an die Gebiete der Isbu, oberhalb des Nördlichen Kaiila-Flusses. Nicht bekannt ist, ob der Fluß seinen Namen von den roten Wilden herleitet, durch dessen Gebiete er strömt, oder ob der Stamm sich nach dem Fluß benannt hat. Nach den Stammesgeschichten, die ich gehört habe, kann ich nur vermuten, daß die ersten Wilden in diesem Gebiet große Herden wilder Kaiila vorfanden. Wahrscheinlich wegen der Wirkung der Medizin nahmen sie dann den Namen Kaiila an.

»Ein großartiger Anblick!« sagte Cuwignaka.

»Ja«, stimmte ich ihm zu.

Die Gruppe der Isanna-Kaiila umfaßt sieben- bis achthundert Menschen, die jetzt aus östlicher Richtung in das Lager einmarschierten, in langen Reihen und prächtig herausgeputzt. Die Casmu, die Wismahi und die Napoktan hatten sich den Isbu zur großen Sommerversammlung bereits angeschlossen. Die Casmu zählten etwa eintausend, die Wismahi, eine der kleineren Banden, fünf- bis sechshundert. Die Isbu stellten mit etwa siebzehnhundert Mitgliedern die größte Gruppe. Die Napoktan, die erst gestern im Lager eingetroffen waren, bildeten die kleinste Bande des Kaiila-Stammes: etwa vierhundert Männer und Frauen. Die Banden unterteilen sich in ihren Territorien oft in einzelne Dörfer oder Lager mit Gruppierungen von selten mehr als zwei- oder dreihundert Individuen, die meistens von einem Unterhäuptling befehligt werden. Manchmal setzt sich ein solches Lager nur aus sieben oder acht Familien zusammen.

»Prächtig! Prächtig!« rief Cuwignaka.

Zu dritt und viert nebeneinander, angeführt vom Zivilhäuptling Watonka, Mann-der-reich-ist, und den dazugehörigen Unterhäuptlingen und Hohenkriegern, zogen die Isanna in das Isbu-Lager ein. In verzierten Behältnissen trugen sie gefiederte Lanzen und Kriegsschilde und Medizinschilde. Sie waren mit Bögen und Köchern behängt. Sie hatten sich bunt bemalt und ihren Feststaat angelegt. Das Haar war mit Federn verziert, von denen jede nach den Überlieferungen der Kaiila eine bestimmte Bedeutung hatte und von Taten und Ehren kündete. Halsbänder und primitive Armbänder funkelten in der Sonne. Hochgewölbte Sättel mit breiten Knäufen schimmerten poliert. Münzen und Perlen hingen an Zügeln. Kampfzeichen und Glückssymbole waren den Tieren auf Flanken und Vorderbeine gemalt worden, in den geflochtenen seidenweichen Mähnen steckten Bänder und Federn. Es nahmen auch Frauen an der barbarischen Prozession teil – in Hemdkleidern und knielangen Hosen, geschmückt mit Perlenketten, Armbändern, bunten Decken und Umhängen, auf dem Rücken von Kaiila sitzend wie rote Krieger.

Etliche Frauen ritten Tiere, an denen Transportgestelle befestigt waren. Andere hatten an ihren Sattelknäufen Wiegen festgezurrt: ein Holzgestell, in dem das Kind mit verschnürten Lederbahnen festgehalten wird. Der Holzrahmen einer solchen Krippe ragte an der Kopfseite in Form zweier Spitzen ein gutes Stück über den Rahmen. Dadurch soll der Kopf des Kindes geschützt werden, sollte die Wiege sich einmal vom Rücken einer galoppierenden Kaiila lösen. In einem solchen Fall bohrt sich eine Windel oft umgekehrt in den Boden. Das Kind, gut festgeschnallt, kommt dabei meist unverletzt davon.

Ältere Kinder reiten oft auf Häuten, die zwischen den Stangen von Transportgestellen gespannt sind. Manchmal werden sie auch von Vater oder Mutter vorn im Sattel mitgenommen. Wenn ein Kind etwa sechs Jahre alt ist und die Familie es sich leisten kann, erhält es meistens seine eigene Kaiila. Die roten Wilden, ganz besonders die Jungen, sind meistens schon mit sieben Jahren erfahrene Reiter. Das sattellose Reiten ist übrigens vor allem beim Kampf und während der Jagd üblich. Beim Tauschhandel und bei Besuchsritten werden interessanterweise Sättel benutzt, vermutlich weil sie sich hübsch verzieren lassen und ein Mittel vorteilhafter Präsentation sind. Auch kann man am Sattelknopf so allerlei befestigen – von Proviant bis hin zu Tauschgütern.

In der prächtigen Prozession bemerkte ich zahlreiche Kinder auf eigenen Kaiila oder auf Transportgestellen; sie waren ebenfalls prächtig aufgemacht, Miniaturausgaben der Erwachsenen. Fröhlich und stolz oder verwundert verfolgten sie die Ereignisse.

»Sie bringen ihre Habe mit«, stellte ich fest. Die Transportgestelle waren schwer beladen mit Bündeln und Zeltfellen und Stangen. Auch die Gestellstangen würden später, wenn alles abgeladen und abgeschirrt war, beim Bau der Unterkünfte Verwendung finden.

»So reisen unsere Völker«, stellte Cuwignaka fest. Nichts wurde zurückgelassen; nur gelegentlich lagerte man Dinge in Verstecken ein.

Neben den Tieren etlicher Krieger gingen unbekleidete weiße Frauen, die perlenbesetzte Halskragen trugen. Sie waren der Besitz ihrer roten Herren.

»Die weißen Frauen dort sind vorwiegend blond«, sagte ich zu Cuwignaka.

»Ja«, erwiderte er. »Sie werden uns vorgeführt.«

Ich nickte. Blondes Haar war im Ödland sehr selten. Die Sklavinnen begriffen sehr wohl, daß sie als Schaustücke für den Reichtum der Isanna galten, wie auch die Silberwimpel in den Kaiilamähnen, die Münzen an den Zügeln, die goldbesetzten Sättel.

»Die anderen Sklavinnen werden bei den Kaiila gehalten, wie eine kleine Herde, bewacht von Knaben.«

Eine Blonde kam an mir vorbei, weinend, halb stolpernd, halb gezerrt. Ihr Alter schätzte ich auf siebzehn. Ihre Fessel endete in der Faust eines roten Wilden, der selbst kaum mehr als achtzehn Jahre alt sein konnte. Er trieb seine Kaiila zu größerer Eile an, vermutlich um einen vorgesehenen Platz in der Prozession zu erreichen; dabei ging er mit seinem hübschen Besitz nicht rücksichtsvoll um. Die Sklavin weinte. Sie schien ihren Kragen noch nicht lange zu tragen. Vielleicht war sie eine Überlebende des Wagenzuges, der vor einigen Tagen überfallen worden war.

»Mahpiyasapa wird jetzt Watonka begrüßen«, sagte Cuwignaka. »Wir wollen uns beeilen, damit wir alles sehen.«

Obwohl ich das nicht unbedingt für eine gute Idee hielt, begleitete ich Cuwignaka. Er war so jung, so überschäumend in seiner Lebensfreude, so froh, wieder bei seinem Volk, den Isbu, zu sein, daß er wohl keinen Gedanken an die Frage verschwendete, ob man ihn bei einem solchen Zusammentreffen überhaupt dabei haben wollte, und sei es nur als Zuschauer.

Mahpiyasapa, Schwarze Wolke, ging Watonka, Mannder-reich-ist, zu Fuß entgegen und hieß ihn im Isbu-Lager willkommen. Nachdem ihm diese Ehre widerfahren war, stieg Watonka ab. Beide Männer umarmten sich. Sie waren von Medizinleuten und Hohenkriegern umgeben. Mahpiyasapa war von seinem Sohn Hci und Angehörigen der Sleensoldaten begleitet. Canka und etliche Kampfgefährten waren ebenfalls zur Stelle. Häuptlinge und Abgesandte der Casmu, Napoktan und Wismahi nahmen an der Feier teil. Unter ihnen bemerkte ich Kahintokapa, Mann-der-vorausgeht, von den Casmu und zwei weitere Mitglieder der berühmten Gelben Kaiila-Reiter.

»Sei gegrüßt, Iwoso«, sagte Cuwignaka. »Wie schön du geworden bist!«

Seine Worte galten einem Mädchen, das am Steigbügel einer Kaiila-Reiterin stand. Sie war mit den Isanna gekommen, neben der Kaiila ihrer Herrin gehend. Sie trug ein ziemlich einfaches Hemdkleid mit knielangen Hosen und Mokassins. In das geflochtene Haar war ein rotes Tuch eingebunden. Glasperlen umspannten ihren Hals. Sie war sehr hübsch. Dasselbe ließ sich von dem Mädchen im Kaiilasattel sagen, womöglich war sie noch lieblicher anzuschauen als das zu Fuß gehende Mädchen. Doch wurde ihre Schönheit durch die Pracht ihrer Aufmachung noch verstärkt: Ihr Kleid aus weichgegerbtem, beinahe weißem Leder wies zahlreiche Fransen und komplizierte Muster aus gelben und roten Perlen auf. Hosen und Mokassins waren entsprechend verziert. Das lange, schimmernde, geflochtene Haar war von einer Silberschnur durchwirkt. Zwei goldene Bänder umschlossen ihr linkes Handgelenk. Sie trug zwei Perlenhalsbänder und ein anderes Band, an dem in regelmäßigen Abständen kleine Röhrchen und Figuren aus Silber und Gold befestigt waren. Auf ihrer Stirn hing eine dünne Silberkette mit kleinen Silbertropfen.

»Du auch, Bloketu«, fügte Cuwignaka hinzu und schaute zu dem berittenen Mädchen auf.

»Sprich nicht mit meiner Zofe«, sagte das Mädchen im Sattel.

»Iwoso ist eine Angehörige des Gelb-Messer-Stammes«, erklärte Cuwignaka. »Sie wurde im Alter von zwölf Jahren gefangengenommen. Bloketu ist Watonkas Tochter.«

»Ich verstehe«, sagte ich. Obwohl Iwoso keinen Kragen trug, hatte ich bereits geschlossen, daß sie nicht zu den Isanna gehörte, sondern allenfalls bei ihnen lebte – dies verrieten mir die Schlichtheit ihres Kleides und die Tatsache, daß sie die Isanna zu Fuß begleitete und dem berittenen Mädchen zu dienen schien.

»Iwoso bekleidet bei den Isanna eine hohe Stellung«, sagte Cuwignaka. »Wie du siehst, trägt sie nicht einmal einen Kragen.«

»Ja«, sagte ich. Der Name Iwoso bedeutete übrigens ›Schmollende Lippen‹, was nun wirklich nicht auf ihre Lippen zutraf. Wahrscheinlich reflektierte dieser Name weniger auf ihr Äußeres als auf eine frühere Stimmung. ›Bloketu‹ der Name des berittenen Mädchens, Tochter des Isanna-Häuptlings Watonka, bedeutete übrigens ›Sommer‹.

»Was haben wir denn hier?« fragte Watonka in diesem Augenblick.

»Ich kenne sie nicht«, sagte Bloketu, ohne sich dazu herabzulassen, Cuwignaka anzuschauen.

»Du erinnerst dich bestimmt an mich«, sagte Cuwignaka. »Wir lernten uns bei den Sommertänzen vor langer Zeit kennen. Ich hieß Petuste und suchte dir Blumen. Wir ritten zusammen Kaiila.«

»Vielleicht erinnert sich meine Zofe an dich«, sagte das Mädchen. ›Petuste‹ das bedeutete ›Feuerscheit‹. Und darin lag eine gewisse Logik, war er doch der Bruder Cankas, ›Feuerstahls‹. Bis zu diesem Augenblick hatte ich Cuwignakas früheren Namen nicht gekannt.

»Erinnerst du dich an sie, Iwoso?« wandte sich die Berittene an das Mädchen neben sich.

»Nein«, antwortete Iwoso.

»Iwoso!« rief Cuwignaka entrüstet.

»Du siehst«, sagte Bloketu aus der Höhe ihres Sattels, »man erinnert sich nicht.«

»Wer ist sie denn?« wollte Watonka wissen.

»Eine Schande der Isbu«, antwortete Mahpiyasapa. Er war noch immer wütend auf Canka, der es richtig gefunden hatte, seine Siegerrechte auszuspielen und der hübschen Winyela seinen Kragen umzulegen.

»Offensichtlich ist sie nichts anderes als eine Isbu-Frau«, sagte ein Mann aus der Gefolgschaft Watonkas.

»Verschwinde!« sagte Canka zornig zu Cuwignaka. »Du beschämst uns.«

»Das ist ihr Bruder«, sagte Hci zu einem Isanna. »Er hat so eine Schwester und durfte doch für die Kampfgefährten als Blotanhunka reiten.«

»Ach?« fragte der Mann.

»Nimm dich in acht, Hci!« sagte Canka warnend.

»Wovor?« fragte dieser zurück. »Sage ich denn nicht die Wahrheit?«

Zornig ballte Canka die Fäuste.

»Was hältst du von einem Mann, der sich eine Frau nimmt, die ins Land gebracht wurde, um an seinen Häuptling verkauft zu werden?« wandte sich Mahpiyasapa an Watonka.

»Ein solcher Mann hätte Strafe verdient«, antwortete der Häuptling. »Anschließend müßte die Frau dem Häuptling überlassen werden.«

»Ich habe nur meine Rechte wahrgenommen«, sagte Canka.

»Gib den Befehl, und ich und die Sleensoldaten bestrafen ihn«, erbot sich Hci. »Laß uns sein Zelt und seine Waffen vernichten. Dann bringen wir dir die Frau nackt und gefesselt.«

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Mahpiyasapa.

»Ich habe meine Rechte nicht überschritten«, sagte Canka.

»Überlaß mir die Frau!« forderte Mahpiyasapa.

»Nein«, antwortete Canka. »Sie gehört mir.«

»Vielleicht nehme ich sie mir«, sagte Mahpiyasapa. »Ich werde darüber nachdenken.«

»Sie gehört mir.«

Mahpiyasapa zuckte die Achseln. »Wenn ich sie haben will, nehme ich sie mir.«

Zornig machte Canka kehrt und verließ die Gruppe.

»Hüte dich vor einem zornigen jungen Mann!« sagte Watonka zu Mahpiyasapa. Hci blickte hinter Canka her.

»Vielleicht kommst du uns mal besuchen, um mit uns zu nähen«, sagte Bloketu hochmütig zu Cuwignaka.

Cuwignaka antwortete nicht.

»Ist sie nicht hübsch, Iwoso?« fragte Bloketu.

»Ja«, sagte Iwoso.

»Ob sie wohl zu den Frauen gehört, die Kriegern zu Gefallen sein muß?« fragte Bloketu.

Cuwignaka musterte sie zornig. Deutlich war zu erkennen, daß er nichts dagegen gehabt hätte, der hochmütigen Bloketu beizubringen, was es bedeutete, Männern zu gefallen.

»Mag sein!« sagte Iwoso lachend.

Auch dies war sehr schmerzlich für Cuwignaka. Er, ein Kaiila-Angehöriger, mochte es nicht, von einem Mädchen verspottet zu werden, das letztlich doch nur Sklavin war.

»Man hat dir befohlen zu verschwinden«, sagte Hci zu Cuwignaka. »Muß eine Schwester ihrem Bruder nicht gehorchen?«

»Er ist mein älterer Bruder«, sagte Cuwignaka. »Deshalb gehe ich jetzt.« Er machte kehrt; ich folgte ihm. Hinter uns klang das Lachen der beiden Mädchen.

»Es ist falsch«, sagte ich, »sich in die Begegnung zwischen Isanna und Isbu zu drängen.«

»Ganz und gar nicht«, widersprach Cuwignaka. »Wie oft findet denn ein solches Treffen statt? Wer möchte das schon verpassen? Außerdem wollte ich die weißen Sklavinnen und Bloketu und Iwoso sehen.«

»Du magst solche Frauen?« fragte ich.

»Ja«, erwiderte Cuwignaka. »Ich würde sie gern in meinem Besitz haben. Ich möchte sie in meinem Zelt nackt vor mir sehen und sie Gehorsam lehren.«

»Und Bloketu und Iwoso?«

»Wenn sie Sklavinnen wären, würde ich ihnen das gleiche Schicksal zugedenken.«

»Iwoso ist doch bereits Sklavin.«

»Ja«, antwortete Cuwignaka, »gewissermaßen schon. In Wahrheit ist sie aber beinahe frei. Sie ist die Zofe eines Mädchens.«

»Das stimmt«, sagte ich. »Iwoso trug nicht einmal einen Halskragen.«

»Wohin gehst du?« fragte ich und mußte mich beeilen, mit Cuwignaka Schritt zu halten.

»Um zuzusehen, wie der Stamm gefällt wird.«

»Wo findet das statt?« Ich wußte nicht, was hier vorging.

»Dieses Jahr ist er nur drei Pasangs vom Lager entfernt.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich.

»Dieses Jahr«, sagte Cuwignaka, »werde ich nach der Jagd am großen Tanzfest teilnehmen. Ich werde allen zeigen, daß ich ein Mann bin.«

»Bei diesem Tanz wird der Stamm benutzt?«

»Natürlich!«

»Sollten wir nicht unsere Kaiila holen?« fragte ich.

»Es ist besser, wenn Leute wie wir zu Fuß gehen«, sagte Cuwignaka.

»Aber andere werden beritten kommen.«

»Ja.«

»Und wer wird das alles sein?«

»Die Isanna sind nun auch hier«, gab Cuwignaka zurück.

»Viele werden kommen, Angehörige der Isbu, der Casmu, der Wismahi, Napoktan und der Isanna.«

»Wer wählt den Stamm aus?«

»Der Medizinhäuptling des Tanzes«, antwortete Cuwignaka. »Dieses Jahr ist es Cancega von den Casmu.«

»Und wer wird den Stamm fällen?« fragte ich. »Häuptlinge?«

»Nein«, erwiderte Cuwignaka lachend. »Wie wenig Ahnung du doch von diesen Dingen hast!«

Ich zuckte die Achseln.

Kurze Zeit später hatten wir das Zeltdorf verlassen und schritten über die Felder. Dabei kamen wir an etlichen Kaiilaherden vorbei. Und an Gruppen zusammengekauerter Sklavinnen. Kleine Jungen, die auf dem Rücken von Kaiila saßen, bewachten diese Sklavinnen, die man nicht hübsch genug gefunden hatte, um sie bei der Parade mitzunehmen.

3

»Wie schön sie ist!« sagte Cuwignaka.

»Ja«, sagte ich.

Die unglaubliche Schönheit der ehemaligen Miß Millicent Aubrey-Welles raubte mir beinahe den Atem. Sie war schlank und lieblich anzuschauen. Sie hatte eine helle Haut und zarte, anrührende Gesichtszüge. Sie war auf das Erlesendste als weiblich zu bezeichnen. Die Sklavenhändler, die sie für den goreanischen Sklavenkragen ausgesucht hatten, verstanden ihr Geschäft. Sie war in die Robe einer Frau der roten Wilden gekleidet – in ein Gewand von barbarischer Pracht. Selbst eine Häuptlingstochter wie Bloketu hätte sie um den strahlenden Schmuck dieses Gewandes beneiden können. Das in der Sonne funkelnde rote Haar war nach der Mode der roten Wilden geflochten. Halsbänder aus Muscheln und Perlen lagen auf dem Oberteil aus weichem Tabukleder; ihre knielangen Hosen zeigten sich prächtig verziert. Die Hände waren ihr zwar auf dem Rücken zusammengebunden, und um den Hals lag das Band, das Cankas Zeichen trug; dies beeinträchtigte ihre Erscheinung aber nicht.

»Cancega«, flüsterte Cuwignaka mir zu.

Ein Mann ritt langsam vorwärts und näherte sich Bäumen, die einige hundert Meter entfernt standen. Solche Baumreihen kennzeichnen im Ödland oft den Lauf von Bächen, die man hier und dort findet. Solche Flüßchen mündeten in diesem Gebiet meistens in den Südlichen Kaiila und führten in der augenblicklichen Jahreszeit natürlich sehr wenig Wasser. Später im Jahr, im Kantasawi-Mond, konnten viele kleine Flüsse sogar ganz austrocknen, und selbst breite Ströme wie der Südliche Kaiila sahen dann mehr wie eine Folge von Pfützen in einem Flußbett aus. Cancega, der kaum mehr als einen Lendenschurz und einen Federschmuck trug, hatte sich am ganzen Körper mit Medizinfarbe beschmiert. In der Hand trug er einen langen gefiederten Medizinstab.

»Die fünf hohen Coups sind bereits errungen«, sagte Cuwignaka.

»Worum handelt es sich dabei?« wollte ich wissen.

»Vor einigen Tagen, sobald die Pte gesichtet waren, wurden junge Männer losgeschickt, mehr als hundert, aus den Banden erwählt; sie sind nach dem Baum geritten.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Es ist ein Rennen«, erklärte Cuwignaka. »Sie stellen sich in einer Reihe auf. Die ersten fünf Männer die Hand, Canhpi, Lanze oder Coupstock gegen den Baum schlagen, erhalten einen hohen Coup zugesprochen.«

»Haben Canka oder Hci an dem Rennen teilgenommen?« fragte ich.

»Nein«, antwortete Cuwignaka. »Beide haben einen solchen Coup schon früher errungen.«

»Die Gruppe setzt sich in Bewegung«, sagte ich.

»Wir werden sie begleiten«, meinte Cuwignaka.

Und so wanderten wir mit der Gruppe dahin; einige ritten auf Kaiilas, andere waren wie wir zu Fuß, und alle folgten dem bemalten Reiter.

»Cancega scheint ein sehr wichtiger Bursche zu sein«, sagte ich.

»Er ist wichtiger, als du ahnst«, erwiderte Cuwignaka. »Jetzt, während des Festes, untersteht ihm das ganze Lager. Wir hören auf ihn. Wir tun, was er sagt.«

»Dann ist er also zur Zeit praktisch der Häuptling aller Kaiila?«

»Ich glaube, ganz so würde ich es nicht ausdrücken«, sagte Cuwignaka ein wenig abwehrend. »Die Zivilhäuptlinge gehorchen ihm zwar, treten ihm aber nicht wirklich ihre Macht ab.«

»Ich sehe den Unterschied«, sagte ich. »Gibt es keine Situation, in der der Kaiila-Stamm nur einen einzigen Häuptling hat?«

»Manchmal wird ein Kriegshäuptling gewählt«, sagte Cuwignaka. »Gewissermaßen ist der dann der Oberhäuptling.«

»Aber ein Kriegshäuptling kann nicht Zivilhäuptling sein.«

»Nein. Wir halten es für besser, diese Dinge immer zu trennen.«

»Das ist interessant«, sagte ich.

»Natürlich kann man Kriegshäuptling und Zivilhäuptling sein«, sagte Cuwignaka, »aber nicht gleichzeitig.«

»Ich verstehe.«

»Manchmal macht sich ein Mann in beiden Ämtern gut«, meinte Cuwignaka. »Trotzdem sind sie sehr verschieden.«

Kurze Zeit später wateten alle anderen durch einen schmalen, flachen Fluß. Die Kiesel auf dem Flußbett waren durch das Wasser deutlich zu sehen.

Auf der anderen Seite des Flusses stiegen Cancega und die meisten Berittenen ab.

Cancega begann langsam und schlurfend zu tanzen. Zwei andere in seiner Nähe, die ebenfalls Federschmuck auf dem Kopf trugen, begannen Rasseln zu schütteln und mitzutanzen. Der Tanz galt offenbar einem großen Baum mit weißer Rinde. »Es ist der Baum!« intonierte Cancega immer wieder und schwenkte tanzend den Medizinstab. Seine Helfer ergänzten den Refrain: »Er ist groß und gerade.« Die Umstehenden fielen ab und zu in den Refrain ein.

Winyela beobachtete die Szene.

In der Baumrinde entdeckte ich die Spuren verschiedener Waffen; dort hatten wahrscheinlich die jungen Krieger vor zwei oder drei Tagen zugeschlagen in ihrem Bemühen, die ersten zu sein und die höchsten Coups zu erringen.

»Es ist der Baum!« rief Cancega plötzlich, stürzte zu dem Baum und hieb mit dem Medizinstab dagegen.

»Er ist lang und gerade!« brüllten seine Sekundanten und die meisten anderen, so auch mein Freund Cuwignaka.

Zwei Männer liefen zu Winyela und lösten ihre Fesseln. Sie wurde nach vorn gestoßen.

Eine einseitige Axt mit langem Griff wurde ihr in die Hand geschoben. Es war eine Arbeitsaxt mit abgestumpfter Rückseite, damit man damit Pflöcke und Keile einschlagen konnte. Das Mädchen hatte schwer daran zu schleppen.

»Du hast hier nichts zu suchen«, sagte ein Mann zu Cuwignaka. »Dies ist kein Ort für freie Frauen.«

»Ich bin ein Mann«, sagte Cuwignaka.

Der Fremde zuckte die Achseln.

Ich sah mich um. Tatsächlich waren keine Frauen anwesend – mit Ausnahme der lieblichen Winyela.

Unter Anleitung Cancegas und anderer begann sie mit der Axt gegen den Baumstamm zu schlagen.

Der Baum war fünfundzwanzig bis dreißig Fuß groß, im Grunde kein großes Gewächs. Der Stamm war schlank und pfahlähnlich und hatte einen Durchmesser von höchstens zehn Zoll. Mit einem solchen Werkzeug hätte ein Mann den Baum innerhalb weniger Augenblicke gefällt. Winyela war kein Mann und auch kein Holzfäller. Sie war nichts anderes als eine hübsche Sklavin. Sie hatte die Hände am Axtgriff zu weit auseinandergenommen und holte nicht genügend aus. Cancega und die anderen zeigten viel Geduld mit ihr, obwohl sie eine Sklavin war. Wenigstens bat sie nicht um eine Ruhepause. Ihre Halsbänder und anderen Schmuckstücke klimperten und schimmerten mit jeder Bewegung. Vermutlich hielt sie zum erstenmal in ihrem Leben ein solches Werkzeug in der Hand. Debütantinnen aus Pennsylvanien greifen selten zur Axt; das gleiche gilt natürlich auch für goreanische Sklavinnen.

Canka ritt auf seiner Kaiila herbei. Anscheinend kam er direkt aus dem Lager. Sie blickte zu ihm auf. Er bedeutete ihr weiterzuarbeiten.

Gleich darauf ertönte ein Knacken, und nach einigen weiteren Axthieben brach der Baum knirschend, neigte sich und stürzte schwer zu Boden. Fünf weitere Schläge wurden geführt, die die letzten Holzstränge durchtrennten, dann lag der Stamm am Boden, gehalten von Ästen und Laub.

Die Männer brummten zustimmend. Man nahm Winyela die Axt ab und schleifte sie zurück.

»Was passiert jetzt?« fragte ich Cuwignaka.

»Paß auf.«

Unter Anleitung von Cancega begannen mehrere Männer den umgestürzten Baum von Rinde und Ästen zu befreien. Zwei Gabeln wurden übriggelassen, die eine etwa achtzehn Fuß, die andere dreiundzwanzig Fuß hoch. Hierbei wurde Rücksicht darauf genommen, daß der Stamm später auf der Tanzfläche in ein etwa acht Fuß tiefes Loch gestellt werden sollte, so daß sich die Astgabeln dann zehn und fünfzehn Fuß über dem Boden befänden.

Der schmale Baumstamm, von Rinde befreit, lag glatt und weiß vor uns.

Ein kleines Tongefäß mit Farbe wurde gebracht. Wieder schob man das Mädchen in den Vordergrund.

Sie war es, die Sklavin, die mit der Farbe verkünden mußte, daß der Pfahl Kaiila sei. Bei solchen großflächigen Anstrichen auf Holz wird ein Pinsel aus kurzgeschnittenem eingedrehten Gras verwendet. Die Farbe war Rot, ein Rot, das wahrscheinlich aus zermahlener Erde oder Ton gewonnen worden war. Vielleicht hatte man auch Felsgestein zerdrückt, das Eisenoxid enthielt. Andere Rottöne lassen sich aus gekochten Wurzeln gewinnen.

Unter Anleitung Cancegas, des Medizinhäuptlings im Sommerlager aller Kaiila-Banden, machte sich Winyela gehorsam daran, die rote Farbe aufzutragen. »Er ist Kaiila!« sangen dabei viele Umstehende. Dreimal vollführte Winyela das Ritual mit dem Pinsel, während der Baumstamm auf Böcken liegend, vor ihr gedreht wurde. »Er ist Kaiila!« riefen die Männer im Singsang.

Die drei roten Farbstreifen schimmerten grell auf dem weißen Stamm. Rote Streifen, eins bis fünf an der Zahl, werden üblicherweise von Kaiilakriegern benutzt, um ihre Waffen zu kennzeichnen, vor allem Lanzen und Pfeile. Diesem Grundzeichen wird das persönliche Muster des einzelnen Kriegers hinzugefügt.

Die Kaiila werden übrigens im Ödland allgemein als ›Halsabschneider-Stamm‹ bezeichnet. Den Farbstreifen wird bei Außenstehenden – aber auch bei Kaiila-Angehörigen – diese Bedeutung gegeben. Ich habe allerdings Kaiila kennengelernt, die eine solche Deutung nicht gelten ließen, sondern meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkten, daß die Kaiila selbst sich selten als ›Halsabschneider‹ sehen und daß das Symbol für einen durchgeschnittenen Hals auf keinen Fall aus mehr als einem Streifen bestehen dürfte. So ist die wahre Herkunft der umschließenden Bänder wohl im Dunkel der Geschichte verloren.

Die Farbe schimmerte hell auf dem Stamm.

Die drei Farbstreifen waren so angebracht, daß sie sich, wenn der Stamm im Lager aufgerichtet wurde, ziemlich am unteren Ende befinden mußten.

»Er ist Kaiila!« riefen die Männer.

Plötzlich schrie das Mädchen auf.

Ich spannte die Muskeln an.

»Misch dich nicht ein!« sagte Cuwignaka.

Die Helfer hatten der Sklavin die Robe vom Leib gerissen, sie streiften ihr die Armreifen ab, entflochten ihr Haar. Nackt kniete sie vor ihren Herren.

»Was geschieht mit ihr?« fragte ich.

»Paß auf!« sagte Cuwignaka.

Cancega stand vor dem Mädchen und deutete auf den Stamm. Rasseln begannen rhythmisch hinter ihr zu klappern. Ermutigend nickte Cancega der Sklavin zu, die nun den Gesten folgte und zögernd zu tanzen begann.

Ich lächelte.

Es schien mir angemessen, daß die Sklavin ihren Körper lasziv vor dem Stamm bewegte.

»Ah«, sagt Cuwignaka.

»Er ist Kaiila!« brüllten die Männer.

Plötzlich schien eine Veränderung mit Winyela vorzugehen. In dem Maß, wie die Rasseln schneller wurden, bewegte sie sich heftiger, erregter.

Ich schaute zu Canka hinüber, der auf dem Rücken seiner Kaiila saß. Er schaute Winyela zu. Seine Augen funkelten. Er wußte, er war ihr Herr.

»Ist sie im Tanzen ausgebildet?« fragte Cuwignaka.

»Meines Wissens nicht«, antwortete ich.

»Jede Frau beherrscht das instinktiv«, sagte Cuwignaka.

Winyela tanzte ihre Unterwerfung vor dem langen Baum und dadurch vor ihren Herren.

Mit dem Tanz führte Winyela natürlich nicht nur ihre persönliche Situation vor, sondern aus Sicht der Kaiila kam im Symbolismus des Tanzes, in der Medizin des Tanzes darüber hinaus zum Ausdruck, daß die Frauen von Feinden nichts anderes sein konnten als Sklavinnen der Kaiila. Zweifellos kannten die Flieher und die Gelb-Messer und die anderen Völker ähnliche Zeremonien, bei denen ein Mann oder eine Frau aus einer anderen Gruppe diese Symbolrolle übernahm. Für mich stimmte der Symbolismus überein mit einem der tiefgreifenden Themen der organischen Natur, dem Thema der Beherrschung und Unterwerfung. Mit dem Tanz, so wie ich ihn sah, brachte Winyela die Herrlichkeit des Lebens und der natürlichen Ordnung zum Ausdruck.

»Er ist Kaiila!« riefen die Männer.

»Kaiila!« brüllte auch Cuwignaka.

Schließlich wurde Winyela zurückgezerrt. Sie atmete schwer von der Anstrengung des Tanzes. Die Männer klatschten sich beifällig auf die Oberschenkel. Die Musik hörte auf. Winyela hob den Kopf, wurde aber plötzlich nicht mehr beachtet. Ihre Kleidung, ihr Schmuck wurde zu einem Bündel zusammengerollt und in der unteren Astgabel des Stammes festgebunden. Zwei lange Gegenstände, an Schnüren befestigt, wurden in der oberen Astgabel festgemacht. Später, wenn der Baum dann auf der Tanzfläche aufgestellt war, würde man die beiden Gegenstände am Pfahl aufhängen. Beide bestanden aus Leder. Der eine war die Darstellung eines Kailiauk. Der andere zeigte den Umriß eines Mannes mit einem übertrieben großen Phallus. Ich mußte an die Medizin des Stammes und an den großen Tanz denken, der darum herum stattfinden sollte. Die Medizin des Stammes und der Tanz hatten offenbar unmittelbar mit der Jagd, mit Fruchtbarkeit und Mannbarkeit zu tun. Für die roten Wilden ist die Medizinwelt etwas sehr Reales.

»Du kannst aufstehen«, sagte Cuwignaka zu Winyela, die sich erstaunt umsah und zu ihrem Herrn Canka eilte, der sie liebevoll vor sich in den Sattel zog.

Unterdessen hatte man Seile an dem Baumstamm festgemacht. Cancega mit seinem Medizinstab trat an die Spitze einer Prozession, in deren Mitte der Stamm, von etlichen Kaiila gezogen, auf den Weg zum Lager gebracht wurde.

4

»Es ist fast soweit! Aufwachen!« rief Cuwignaka und schüttelte mich an der Schulter. »Bald ziehen wir los.«

Ich ließ mich in meiner Robe herumrollen und öffnete die Augen. Ich sah die Zeltstäbe, die über meinem Kopf zusammentrafen, die allesumschließenden Felle. Der Himmel, den ich durch das Rauchloch sehen konnte, war beinahe noch schwarz.

»Beeil dich!« drängte Cuwignaka.

Ich warf die Felle zur Seite und richtete mich auf. Im vagen Licht erblickte ich Cuwignaka, der sein Kleid über den Kopf streifte und aufstand, um es an sich herabzuziehen. Vor einigen Tagen hatte er die Ärmel abgerissen. Wochen zuvor, noch auf dem Schlachtfeld, hatte er es gekürzt und an der linken Seite eingerissen, um sich besser bewegen zu können. Die roten Wilden schlafen im allgemeinen nackt. Auch ich war unbekleidet – bis auf Cankas Kragen. Als Sklave durfte ich ihn nicht abnehmen.

»Wakapapi«, sagte Cuwignaka zu mir, das Kaiila-Wort für Dörrmasse. Ein weiches Etwas wurde mir in die Hand gedrückt. Ich zerkrümelte es. Im Winter können solche Fleischkuchen natürlich steifgefroren sein; man bricht sie in kleinere Stücke, wärmt sie in Hand und Mund auf und ißt sie stückweise. Ich hob die zerbröckelte Dörrmasse an den Mund und aß davon. Die verschiedensten Arten Dörrmasse sind denkbar, je nach Zusätzen von Kräutern, Gewürzen und Gemüse. Ein gebräuchliches Rezept sieht etwa so aus: Kailiaukfleisch wird in kleine Streifen geschnitten, an Stangen in der Sonne getrocknet und dann fast pulverförmig zermahlen. Der Mischung werden dann zerdrückte Früchte beigegeben, im allgemeinen Kirschen. Das Ganze wird mit Kailiaukfett vermengt und dadurch erhärtet, um schließlich in kleine, flache rundliche Kuchen zerschnitten zu werden. Der Fruchtzucker in der Mischung liefert schnelle Energie, während das Fleisch für langfristig wirkende wertvolle Proteine sorgt. Die Masse wird, wie das pure Trockenfleisch, roh oder gekocht gegessen. Es ist durchaus üblich, beides mit auf die Jagd zu nehmen.

»Ich schaue nach den Kaiila«, sagte Cuwignaka, »und schirre das Lastengestell an.«

Ich nickte.

Er wischte sich mit dem Unterarm über den Mund. Er hatte im Halbdunkel dicht neben mir gehockt, nur an seinem weißen Kleid zu erkennen, und ebenfalls vom Dörrfleisch gegessen.

Ich lächelte vor mich hin. Beide Kaiila – das Tier, das ihm von seinem Bruder Canka überlassen worden war, und die schwarze Kaiila, die früher mein Eigentum gewesen war und mir jetzt mit Erlaubnis meines Herren Canka von meinem Freund, dem Händler Grunt, überlassen wurde – waren nur wenige Fuß von der Schwelle der Unterkunft entfernt angebunden. Die beiden Lastengestelle, die wir für diesen Tag vorbereitet hatten, lagen ebenfalls griffbereit. Cuwignaka hatte es eilig.

Ich saß auf den Roben und aß Dörrmasse.

Ich hörte, wie ringsum das Lager zum Leben erwachte. Meine Gedanken wanderten zu Sklavinnen, die ich als freier Mann besessen hatte, Mädchen wie Constance, Arlene, Sandra, Vella und Elicia. Sie alle waren heißblütig und boten in ihren Sklavenkragen einen erregenden Anblick. Unter ihnen war keine, deren Lippen ein Mann nicht gern geküßt hätte. Ich dachte an eine andere Frau, olivenhäutig, grünäugig, schwarzhaarig: Talena, die verstoßene Tochter Marlenus’, des Ubar von Ar. Wie stolz sie gewesen war! Wie heftig sie mich abgelehnt hatte, als sie mich hilflos wähnte! Trotz der räumlichen und zeitlichen Entfernung wallte Zorn in mir auf. Ich fragte mich, wie sie sich als entkleidete, gefesselte Sklavin zu meinen Füßen ausmachen würde.

Auf den Roben sitzend, verzehrte ich die Trockenmasse. Meine Gedanken waren bei Talena. Sie hatte einmal Rask aus Treve gehört. Zweifellos hatte er ihr das Los der Sklaverei beigebracht; doch war ich überzeugt, ich hätte einen besseren Lehrmeister abgegeben. Heute lebte sie frei, doch zurückgezogen und entehrt in der Stadt Ar, im Zentralzylinder, dem womöglich bestverteidigten Turm in jener riesigen Stadt. Ein unmöglicher Gedanke, sie dort herauszuholen! Nein, ich mußte sie mir aus den Kopf schlagen. Ich erinnerte mich an ihre Eitelkeit und Arroganz, an ihren Stolz. Im Zentralzylinder war sie vor den Armfesseln und Schlingen räubernder Tarnreiter sicher. Gewiß kam dort niemand an sie heran. Ich dachte an den Spott, die Verachtung, die sie mir bezeugt hatte.

Eines Tages, so überlegte ich, mochte ich in Ar mein Glück versuchen. Angeblich gibt es dort gutaussehende Frauen. Ich fragte mich, ob sich nicht in meiner eigenen Festung ein Platz für eine solche Frau finden ließe, zum Beispiel in meiner Küche. Natürlich konnte ich sie auch als wertloses Etwas, das mich persönlich nicht im geringsten interessierte, einem der unwürdigsten und geizigsten Tavernenwirte Port Kars überlassen. Dieser Gedanke amüsierte mich.

Ich kaute die letzten Brocken Dörrfleisch.

»Bist du noch nicht fertig?« fragte Cuwignaka, der ins Zelt zurückkehrte. »Bist du noch nicht angezogen?«

»Gleich«, sagte ich.

Ich streckte den Arm aus, nahm meine Tunika und zog sie mir über den Kopf. Dann stand ich auf und zupfte den Stoff zurecht.

Cuwignaka verschwand wieder nach draußen.

Die Dörrmasse hatte mich durstig gemacht.

»Bereitet eure Pfeile vor!« hörte ich einen Ruf außerhalb. »Bereitet eure Pfeile vor! Ebenso die Messer! Wir werden Fleisch erringen! Wir werden Fleisch erringen!« Ein Ausrufer der Sleensoldaten mit Namen Agleskala, Gestreifte Echse, wanderte durch das Dorf.

Ich schob mich zur Seite und tastete nach dem Wasserbeutel. Es war ein Beutel, den ich auf meiner Pack-Kaiila mitgebracht hatte. Daß der Beutel und etliche andere Utensilien und Güter im Zelt lagerten, war Grunt zu verdanken. Verschiedene andere Dinge waren von Canka an Cuwignaka oder andere Mitglieder der Isbu verschenkt worden, im allgemeinen an Kampfgefährten. Das eigentliche Fellzelt war ihm von Akihoka geschenkt worden. Mann-der-geschickt-ist, einem von Cankas besten Freunden. Bei den roten Wilden gehört es zu den guten Sitten, füreinander einzustehen. Unser Haushalt war zwar etwas bescheiden ausgestattet, aber es reichte. Eine Robe kam sogar von Mahpiyasapa, dem Zivilhäuptling der Isbu, der auf diese Weise mit gutem Beispiel vorangegangen war und damit, was aus Cuwignakas Sicht noch wichtiger war, sein Recht auf weitere Stammeszugehörigkeit bekräftigt hatte.

Draußen bewegten sich mehrere Kaiila vorbei. Wahrscheinlich Kundschafter, die mit den Herdenwachen Kontakt aufnehmen wollten.

Ich fragte mich, warum die Kailiauk dieses Jahr so früh kamen.

Langsam blickte ich mich im Fellzelt um, das keinen untypischen Anblick bot. Die Stützstangen waren etwa fünfundzwanzig Fuß lang. Sie bestanden aus Tem-Holz, das gute Trocknungseigenschaften besitzt und daher sehr langlebig ist. Die Rinde wird entfernt, wenn die Stangen zugeschnitten und auf eine zumeist einheitliche Dicke gebracht werden. Ihr Umfang beträgt im allgemeinen zwölf Zoll. Der letzte Meter zum oberen Ende hin wird zugespitzt, um das Zusammenziehen und Festbinden zu erleichtern. Beim Bau der Unterkunft werden drei oder vier Stangen zusammengebunden und aufgerichtet, ein Gebilde, das etwa wie ein Dreifuß aussieht. Die anderen Stangen werden in entsprechendem Abstand dagegengelehnt. Eine lange Lederschnur, vom Boden ausgehend, mehrfach umwunden, verbindet schließlich die primären und sekundären Stangen miteinander. Das Ende dieser Schnur hängt in der Nähe des Eingangs, wo man im Notfall sehr schnell mit dem Abbau beginnen kann. Die Abdeckung des Zelts besteht aus mehreren zusammengenähten Kailiaukfellen. Je nach Größe des Baus und der verfügbaren Felle braucht man etwa neunzehn oder zwanzig Felle. Zwei lange Stangen, leichter als die Stützstangen, werden an dieser Zeltdecke festgemacht. Mit Hilfe dieser leichteren Stangen wird die Decke angebracht; sie hängen schließlich in der Nähe des Eingangs. Sie werden nicht nur dazu benutzt, die Felle an Ort und Stelle zu bringen, zurechtzurücken oder zu entfernen, sondern auch um die Rauchöffnung in der Zeltspitze zu regulieren, was natürlich von Außentemperatur und Windrichtung abhängt. Pflöcke halten die Felle am Boden fest. Im Winter wird noch eine Fell-Innenwand gezogen, im allgemeinen etwa fünf Fuß hoch, im Notfall auch durch eine Art Holzzaun als Schneebremse ergänzt. Im Sommer lassen sich die Zeltwände, wie erwähnt, hochrollen und verwandeln den Bau in eine Art Sonnendach.

Das Äußere der Unterkunft kann der Bewohner nach Belieben bemalen. Dabei werden oft Jagd- und Kampfthemen gewählt. Das Zelt ist also eine sehr persönliche Wohnstatt. Nicht alle Stämme verwenden die gleiche Zahl von Zeltstangen. Die Flieher nehmen zwanzig, die Sleen zweiundzwanzig und die Kaiila vierundzwanzig. Auch ihre Lagerplätze wählen die Stämme nach unterschiedlichen Gesichtspunkten. Die Kaiila sind meistens in der Nähe von Wasser zu finden, doch im Freien, einen oder zwei Pasang vom nächsten Wald entfernt. Sie scheinen die Gefahr eines Überfalls besonders zu fürchten. Die Flieher ziehen es ebenfalls vor, im Freien zu lagern, doch in Waldnähe, wahrscheinlich wegen des Feuerholzes. Die Gelbmesser schlagen ihr Lager oft in dünn bewaldeten Bereichen auf, während Sleen eine dichte Bewaldung oder gar Dickichte vorziehen. Was einem Stamm die gefährliche Möglichkeit eines Überfalls zu eröffnen scheint, ist für den anderen der Inbegriff an Schutz und Sicherheit.

Auch die Mokassins sind bei den Stämmen unterschiedlich gestaltet. Von frischen Spuren kann man oft ablesen, ob hier ein Kaiila- oder Flieher-Mokassin entlanggegangen ist. Bei kriegerischen Einsätzen werden solche Besonderheiten zuweilen ausgenutzt, indem man Mokassins mit feindlichen Mustern trägt. Die beim Zeltbau verwendeten Häute sind natürlich durchscheinend, so daß man sich bei Tageslicht im Innern gut orientieren kann, während man bei Nacht von draußen die Schatten der Bewohner erkennt. Von seinem Feuer erleuchtet, kann das Lederzelt dann einen hübschen Anblick bieten – ein Eindruck, der sich bei einer ganzen Gruppe solcher Unterkünfte natürlich verstärkt.

Übrigens geht es in einem Lager nachts gewöhnlich sehr laut zu. Für einen Gelehrten wäre es nicht die richtige Zuflucht. Daß der rote Wilde schweigsam sei, ist ein Gerücht, das vorwiegend auf Begegnungen in angespannter Situation zurückgeht, bei Konfrontationen mit Fremden, die ihm Unbehagen bereiten, oder bei Tauschgeschäften, bei denen er auf der Hut sein muß. In seinen Dörfern ist der Wilde offen, gut gelaunt und lebhaft. Er liebt es, zu wetten, anderen Streiche zu spielen und Geschichten zu erzählen. Man könnte ihn als den idealen Gast bezeichnen – und den bestmöglichen Gastgeber, gehört es doch zu seinen größten Freuden im Leben, Freunde zu beschenken und zu bewirten.

Ich trank einen großen Schluck aus dem Wasserbeutel, den ich wieder verschloß und an der Zeltwand verstaute. Das Zelt hat einen Durchmesser von etwa fünfzehn Fuß und ist daher ziemlich geräumig. In solchen Zelten haben Familien von fünf bis acht roten Wilden bequem Platz. Gewiß, der größte Teil der Zeit wird im Freien verbracht, außerdem mögen Lebensumstände dem einen, der aus einer bestimmten Kultur kommt, beengt erscheinen, während sie einem anderen mit anderer Herkunft genau richtig und sogar gemütlich erscheinen. Das Aufeinanderleben in Familie und Gemeinschaft, mit all seinen Vor- und Nachteilen, ist typisch für die Existenz des roten Wilden. Ich nahm nicht an, daß er es sich anders wünschte. Gewiß kommt es vor, daß ein Mann gelegentlich die Unterkunft seiner Kriegergemeinschaft aufsucht, wohin ihm Kinder und Frau nicht folgen dürfen. In seinem Klub, wenn man das so bezeichnen kann, findet er dann ein wenig Frieden und Ruhe, die ihm zu Hause fehlen. Außerdem sind die Meditation und das Erstreben von Visionen und Träumen einsame Tätigkeiten. Man kann anzeigen, daß man meditiert, indem man sich einfach eine Decke über den Kopf zieht, selbst wenn dies mitten in einem überflüllten Lager geschieht. Dann wird der Betreffende in Ruhe gelassen. Träumen und Visionen geht man allerdings eher in der Wildnis nach.

»Howo, Tatankasa!« sagte Cuwignaka und schob den Kopf ins Zelt. »Komm, komm, Roter Bulle!«

»Ich komme ja schon«, sagte ich und trat ins Freie. Obwohl es noch völlig dunkel war, vermochte ich Gestalten auszumachen, die sich ringsum bewegten. Cuwignaka hatte die beiden Lastengestelle bereits angeschirrt.

Im Lager herrschte ein aufgeregtes Durcheinander. Ich verschwand zwischen zwei Zelten.

»Wo hast du gesteckt?« fragte Cuwignaka bei meiner Rückkehr.

»Was glaubst du?« fragte ich. »Ich bin dem Ruf der Natur gefolgt!«

Zwei rote Wilde ritten vorbei. Es waren Sleensoldaten. In einem der beiden erkannte ich Hci.

»Wir brechen jeden Moment auf«, sagte Cuwignaka. »Das bezweifle ich«, widersprach ich. Hci zog seine Kaiila herum und ließ sie vor uns halten. Er trug eine lange Lederhose und Mokassins. Um seinen Hals baumelte ein Band aus Sleenklauen, und das Haar war zu Zöpfen geflochten. An der linken Hüfte führte er den noch nicht gespannten Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. Am Gürtel steckte ein Messer in einer perlenbesetzten Scheide. Hcis Kaiila besaß ein Zaumseil, das hinten über den Hals führte; ein Hilfsmittel, das beim Kampf oder auf der Jagd allerdings kaum benutzt wird. Der Reiter lenkt das Tier vorwiegend mit den Knien. Auf diese Weise sind seine Hände frei für den Einsatz des Bogens oder anderer Hilfsmittel. Über dem Hals hängt allerdings ein loses Stück Seil, das seitlich hinter die Kaiila geworfen wird. Sollte der Reiter im Gewirr der Jagd zu Boden müssen, kann er sich vielleicht die Kontrolle über sein Tier zurückholen, indem er das Seil oder einen Steigbügel packt und hastig wieder aufsteigt. Hci ritt übrigens ein ausgezeichnetes Tier, was durch die eingekerbten Ohren angezeigt wurde. Bei erstklassigen Tieren werden beide Ohren gekennzeichnet.

»Denk daran, hübsche Siptopto«, sagte Hci spöttisch zu Cuwignaka, »du darfst nicht mitjagen! Du mußt dich im Hintergrund halten. Deine Aufgabe ist es, mit den anderen Frauen Fleisch zu schneiden.« ›Siptopto‹ war ein beleidigender Spitzname, den Hci manchmal gegenüber Cuwignaka benutzte, ein Name, wie er einer Sklavin gegeben werden konnte. Das Wort bedeutete ›Perlen‹.

»Ich bin keine Frau«, sagte Cuwignaka.

»Du hältst dich beim Jagen im Hintergrund«, sagte Hci. »Du wirst mit den anderen Frauen Fleisch schneiden. Du und dein Sklave.«

Dann drehte Hci seine Kaiila und folgte den anderen Reitern.

»Bereitet eure Pfeile vor!« wurde gerufen. »Bereitet eure Pfeile vor! Schärft eure Messer! Schärft eure Messer! Wir werden Fleisch erringen!« Langsam ritt Agleskala, der Ausrufer der Sleensoldaten, durch das Lager.

Hinter ihm folgten in einer Reihe etliche Jäger aus der Gemeinschaft der Sleensoldaten. Sie waren ähnlich wie Hci gekleidet und ausgerüstet. Zwei Männer aber trugen anstelle von Pfeil und Bogen kurze breite Jagdlanzen.

Hinter den Soldaten, sorgsam darauf bedacht, nicht zu weit nach vorn zu geraten, erschienen die ersten Jäger und passierten uns auf ihren Reittieren.

Einige Meter weiter vorn wartete bereits eine Gruppe von Kaiilareitern, unter ihnen ein älterer Mann, Mitglied der Sleensoldaten. Er richtete das Wort an eine Gruppe von fünf oder sechs jungen Männern, beinahe noch Knaben. Für sie war dies wohl die erste Jagd, die sie nicht nur aus der Ferne verfolgen durften, sondern bei der sie sich auch zwischen die Tiere begeben mußten. Ich schritt aus, bis ich verstehen konnte, was gesprochen wurde. »Denkt daran«, sagte der ältere Mann, »ihr jagt heute nicht für euch. Ihr jagt für andere. Sicher wird es Jäger geben, die heute keine Beute machen. Ihr werdet für sie jagen. Und dann jene in den Lagern, die zu schwach und zu gebrechlich sind. Eure Jagd gilt auch ihnen. Und dann die Kranken und Verwundeten. Für sie alle und viele andere, für Männer, die weniger gut dran sind als ihr, geht ihr heute auf die Jagd. Denkt immer daran, daß dies alles nicht nur für euch geschieht. Man jagt niemals für sich allein. Man jagt für die Kaiila.«

»Howe, howe!« riefen die Jungen.

»Gute Jagd!« sagte er zu ihnen. »Oglu waste! Viel Glück!«

Dann zogen alle die Kaiilas herum, um ihren Platz in der Jagdgruppe einzunehmen.

Die Beute seiner allerersten Jagd schenkt ein Junge an andere weiter. Nur die Zunge des ersten Tieres, das beliebteste Fleisch, steht ihm für seine Tüchtigkeit und seinen Mut zu. Diese Sitte scheint die jungen Leute von Anfang an dazu anregen zu wollen, die gebührende Großzügigkeit und Fairneß des Kriegers zu üben.

Ich kehrte zu Cuwignaka zurück.

»Wir ziehen bald los«, sagte er.

»Ich glaube, du hast recht«, erwiderte ich.

Bei einer solchen Jagd werden die Zelte übrigens nicht abgebrochen. Die Pte, eine Herde dieser Größe, bewegt sich so langsam, daß sie drei oder vier Tage lang in Reichweite sein würde. Natürlich ließe sich das gesamte Lager der roten Wilden schnell auflösen; es dauert weniger als zwanzig Ehn, bis ein solches Lager eingerissen, verpackt und weitergezogen ist. Natürlich hat dies auch mit der Bauweise der Zelte zu tun. Ohne Hilfe vermag eine Frau einen solchen Bau in fünfzehn Ehn zu errichten – und in drei Ehn wieder einzureißen.

»Canka«, sagte Cuwignaka beim Anblick des Bruders, der seine Kaiila vor uns verhielt.

»Sei gegrüßt, mein Bruder!« erwiderte Canka.

»Sei gegrüßt, Bruder!« rief Cuwignaka fröhlich. »Was gedenkst du heute früh zu tun?«

»Ich glaube, ich sehe mir mal die Pte an«, antwortete Canka lächelnd.

»Wo ist Winyela?« erkundigte sich Cuwignaka. »Reitet sie mit? Soll sie uns begleiten? Wir achten auf sie.«

»Sie zieht mit«, antwortete Canka. »Aber ich schicke sie mit Wasnapohdi, der Sklavin des Händlers Wapeton. Wasnapohdi hat die Jagd schon einmal mitgemacht und wird sich nicht zu weit vorwagen. Sie kann Winyela zeigen, wie Fleisch geschnitten wird.«

»Winyela ist eine Weiße«, sagte Cuwignaka. »Sie wird sich beim erstenmal übergeben. Sie wird nicht viel zustande bringen.«

»Wenn sie Fleisch verkommen läßt, wird sie bestraft«, sagte Canka.

»Du hast sie doch noch nie bestraft!« behauptete Cuwignaka.

»Wenn sie Fleisch verkommen läßt, soll sie die Peitsche spüren.«

»Gut«, meinte Cuwignaka.

»Wie ich sehe, kleiner Bruder, willst du auch mitziehen.«

»Natürlich!«

»Komm nicht zu nahe an die Herde heran!«

»Nein, keine Sorge!«

Cankas Warnung machte mich ein wenig nervös. Bisher hatte ich angenommen, daß allein die Jäger sich in Gefahr begaben. Aber natürlich war nicht ausgeschlossen, daß die Herde oder Gruppen von Kailiauk Haken schlugen oder im Kreis liefen, womit sie dann in die Nähe der Transportgestelle und Frauen geraten konnten. In einem solchen Fall mußte man sofort die Haltegurte der Gestelle durchschneiden, aufsteigen und so schnell wie möglich verschwinden. Gewiß, am gefährdetsten waren natürlich die Jäger, die zwischen die dahinlaufenden Ungeheuer reiten und ihren Todesstoß anbringen mußten, wenn sie knapp außerhalb der Reichweite der Dreizack-Hörner waren, beinahe dicht genug heran, um das Tier zu berühren.

»Du und Tatankasa, ihr werdet dort draußen allein sein. Ich kann mich nicht in eurer Nähe aufhalten.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Cuwignaka.

»Nimm dich vor Hci in acht!« sagte Canka warnend.

»Gewiß«, bestätigte Cuwignaka, und mir sträubten sich die Nackenhaare.

»Hast du einen meiner Pfeile gesehen?« fragte Canka. »Einer fehlt.«

»Nein«, antwortete Cuwignaka.

»Ich muß ihn verlegt haben.«

»Ja.«

»Ich muß an meinen Platz«, sagte Canka.

»Ich wünsche dir eine gute Jagd«, sagte Cuwignaka. »Sei vorsichtig! Oglu waste!«

»Oglu waste!« gab Canka zurück und ritt weiter.

Agleskala machte seine dritte und letzte Runde durch das Lager und schrie seine Botschaft hinaus. »Wir werden Fleisch erringen!«

Mehrere Reiter fielen in diese Worte ein.

»Wir werden Fleisch erringen!« rief auch Cuwignaka fröhlich.

Die Reihe der Sleensoldaten, die vor Beginn der Morgendämmerung von keinem Jäger überholt werden durfte, verließ das Lager. Ihr folgten die Jäger aus den Reihen der Isbu, Casmu, Isanna, Wismahi und Napoktan, jeweils in Fünferreihen. Von den Hufen ihrer Kaiila stieg Staub auf. Dann kamen die Frauen mit Kaiila und Transportgestellen, deren schleifende Stangen Spuren in den Staub malten. Dieser Gruppe schloß sich Cuwignaka an, und ich folgte ihm.

5

»Bitte«, sagte Wasnapohdi, »hilf mir!«

Wir halfen ihr dabei, den mächtigen Stier im Gras auf den Bauch zu drehen, indem wir die Beine auswärts zogen. Weibliche Tiere, die leichter waren, wurden im allgemeinen auf der Seite liegend gehäutet und dann gewendet, manchmal mit Hilfe von Kaiila und Seilen, die an den Beinen festgemacht waren.

Wasnapohdi bohrte das Messer in den Nacken und vollführte den ersten Schnitt, von dem aus die Haut allmählich zurückgeschlagen werden sollte, um auf jeder Seite die Schulterteile freizulegen. Danach konnte dann die Haut auf übliche Weise durch die Mitte geschnitten werden.

Die Jäger hatten dem Tier bereits die Leber genommen – eine Delikatesse, die gewöhnlich roh verzehrt wird.

»Wie macht sich Winyela?« fragte ich und schaute auf das Mädchen, das mit gesenktem Kopf abseits im Gras kniete.

»Ihr ist übel«, antwortete Wasnapohdi.

Ich näherte mich dem Mädchen. In ihrer Nähe roch es nicht besonders angenehm.

»Wie geht es dir?« fragte ich.

»Alles in Ordnung«, erwiderte sie. »Nicht mehr lange, dann werde ich weiterhelfen.«

»Du bist eine Frau, Winyela«, sagte Wasnapohdi, die über ihrer Arbeit schwitzte. »Du mußt dies lernen.«

»Ich versuche es gleich noch einmal«, sagte Winyela.

»Dort drüben liegt eine Kuh«, sagte Wasnapohdi, die auf dem Rücken des Tiers kniete und das blutige Messer hob. »Einer von Cankas Pfeilen hat das Tier getötet. Ich lasse sie an dem Tier arbeiten. Sollte sie sich ungeschickt anstellen, kann er sie rücksichtsvoll behandeln, da es sich um sein eigenes Beutestück handelt.«

»Glaubst du, er wird sie rücksichtsvoll behandeln?« fragte ich.

»Nein«, sagte Wasnapohdi und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

»Ich habe keine Angst«, stellte Winyela fest.

»Ach?« machte ich.

»Nein. Was immer ich auch tue, Canka wird mich niemals bestrafen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Er mag mich.«

»Und du ihn?« fragte ich.

»Ich liebe ihn«, sagte sie. »Sehr sogar, mehr als alles andere auf der Welt.«

»Kühne Sklavin!«

»Gleichwohl«, sagte Wasnapohdi ächzend und bewegte das Messer, »solltest du nicht überrascht sein, die Peitsche zu spüren.«

»Das würde mir Canka niemals antun!«

Ich lächelte. Das Mädchen schien noch nicht zu begreifen, was es bedeutete, Sklavin zu sein. Wußte sie nicht, daß sie der absoluten Disziplin unterlag und daß jeder Herr ihr seinen Willen aufzwingen konnte? Die Herrschaft über Sklaven ist keine willkürliche oder unausgegorene Angelegenheit. Sie stellen ein Besitztum dar. Sie dienen. Wenn nicht, werden sie bestraft.

»Vielleicht bin ich zu hübsch, um geschlagen zu werden«, sagte Winyela.

»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, äußerte Wasnapohdi gereizt.

»Jedenfalls glaube ich, daß Canka mich mag«, sagte Winyela.

»Hilf mir lieber, das geschnittene Fleisch auf das Transportgestell zu legen!« sagte Wasnapohdi.

»Muß ich es dazu berühren?«

»Ja.«

»Das möchte ich lieber nicht.«

»Vielleicht wird Canka dich nicht schlagen«, sagte Wasnapohdi, »aber ich versichere dir, ich hätte keine Skrupel in dieser Richtung. Beeil dich! An die Arbeit, sonst besorge ich mir einen Knochen und gerbe dir die Haut.«

»Wasnapohdi kann manchmal ziemlich vulgär sein«, sagte Winyela zu mir und stand auf.

»Gehorchst du endlich?« fragte Wasnapohdi.

»Ja«, sagte Winyela und hob stolz den Kopf.

Und prompt wurde ihr ein zehn Pfund schwerer blutiger Fleischbrocken in die widerstrebenden Hände geschoben.

»Und später«, befahl Wasnapohdi, »wirst du die Kuh dort drüben zerteilen. Ich zeige dir, wie man das macht.«

»Das brauchst du nicht«, sagte Winyela. »Ich habe schon gesehen, wie es geht.«

Und sie wandte sich um und brachte das Fleisch zum Transportgestell. Ich nahm Wasnapohdi einen anderen Brocken ab und folgte ihr.

»Sei kein Dummkopf!« sagte ich zu dem Mädchen, als wir unsere Lasten abluden. »Laß dir von Wasnapohdi helfen. Sie ist deine Freundin.«

»Ich schaffe das allein«, beharrte Winyela. »Und wenn es mir nicht gut gelingt, ist es auch egal.«

»Dessen solltest du dir nicht zu sicher sein.«

»In Cankas Zelt kann ich tun und lassen, was ich will.«

»Vielleicht sollte man dich daran erinnern, daß du Sklavin bist«, sagte ich.

»Das ist absurd! Ich weiß natürlich, daß ich Sklavin bin!«

»Aber weißt du das auch im Herzen, in deinem innersten Feuer?«

Verwirrt sah sie mich an. »Canka wird mich niemals schlagen«, sagte sie und zog ein Stück Leder über das Fleisch, um es vor den Fliegen zu schützen.

Ich sah mich um. Von hier vermochte ich mindestens ein Dutzend erlegte Tiere auszumachen, die wie dunkle Hügel auf der Ebene lagen. Hier und dort waren Frauen am Werk und verstauten Fleisch auf ihren Transportgestellen.

»Cuwignaka und ich müssen weiterarbeiten«, sagte ich.

»Ich wünsche dir auch alles Gute, Sklave«, sagte sie.

»Ich dir auch, Sklavin.« Und ich kehrte zu Cuwignaka zurück.

»Komm, Winyela!« rief Wasnapohdi. »Das Fleisch muß verstaut werden!«

»Ich komme!« antwortete Winyela.

»Ah, was für ein hübsches Mädchen!« rief Bloketu, die Tochter Watonkas, des Häuptlings der Isanna-Kaiila. »Aber warum trägt sie das Kleid einer Weißen?«

»Vielleicht ist sie eine weiße Sklavin?« fragte Iwoso.

»Sei gegrüßt, Bloketu. Und du ebenfalls, Iwoso«, sagte Cuwignaka grinsend.

»Du hast schon viel Fleisch verarbeitet«, stellte Bloketu anerkennend fest.

»Wir waren schon viermal im Dorf«, sagte Cuwignaka.

Ich stellte fest, daß Bloketu und Iwoso davon angemessen beeindruckt waren.

»Wievielmal wart ihr schon im Dorf?«

»Einmal«, sagte Bloketu.

Dies überraschte mich nicht. Im Verlauf des Nachmittags hatten wir so manchen Jäger zurückkommen und mit ihr plaudern sehen. Bloketu war eine Schönheit – und eine Häuptlingstochter.

»Iwoso arbeitet langsam«, sagte Bloketu.

»Gar nicht!« protestierte Iwoso.

»Du bist faul und umständlich, Bloketu«, sagte Cuwignaka. »Das ist doch allgemein bekannt. Du kokettierst doch lieber mit den Jägern herum, als deine Arbeit zu tun.«

»Oh!« rief Bloketu. Iwoso hatte den Kopf gesenkt und lächelte.

»Es genügt eben nicht, nur schön zu sein«, fuhr Cuwignaka fort.

»Wenigstens hältst du mich für schön«, sagte Bloketu ein wenig besänftigt.

»Das genügt aber nicht«, stellte Cuwignaka fest. »Wenn du meine Frau wärst, würdest du hart arbeiten. Und wenn nicht, würdest du das schnell spüren. O ja, ich würde dich tüchtig rannehmen, außerhalb des Zeltes und drinnen noch mehr.«

»Oh!« rief Bloketu zornig. »Aber ich bin die Tochter eines Häuptlings!«

»Du bist eine Frau.«

»Komm, Iwoso, gute Zofe! Wir wollen gehen. Wir brauchen uns das Gerede dieses dummen Mädchens nicht anzuhören.«

»Du würdest eine ausgezeichnete Sklavin abgeben, Bloketu«, sagte Cuwignaka. »Es wäre wahrscheinlich sehr angenehm, dich in einen Sklavenkragen zu stecken.«

Mit funkelnden Augen schaute Iwoso ihn an. Dann senkte sie wieder den Kopf. Ich verstand diese Reaktion nicht.

»Oh, oh!« rief Bloketu, vor Zorn fast sprachlos.

»Halt!« sagte ich zu Cuwignaka. »Hci kommt.«

Durch das hohe Gras ritt der junge Sleensoldat herbei, Sohn Mahpiyasapas, des Isbu-Häuptlings. »Du bist zu dicht an der Herde«, sagte Hci zu Cuwignaka. Ich war ziemlich sicher, daß das nicht stimmte, und ließ mich dabei von den Bodenerschütterungen, von dem aufwirbelnden Staub und der Richtung der Spuren leiten.

»Hci, man hat mich beleidigt«, wandte sich Bloketu an den jungen Mann und deutete auf Cuwignaka. »Bestraf ihn!«

»Sie?« fragte Hci.

»Sie!« berichtigte sich Bloketu und kehrte damit zu der im Stamm vorgeschriebenen Anrede für Cuwignaka zurück.

»Was hat sie denn gesagt?« wollte Hci wissen.

»Daß ich faul und umständlich sei!« rief Bloketu. »Und daß sie mich in ihrem Zelt schon an die Arbeit schicken würde.«

»Ach?« fragte Hci. Sein Blick war auf die hübsche Iwoso gerichtet.

»Sie ist nur meine Zofe«, sagte Bloketu.

»Wo ist ihr Kragen?« wollte Hci wissen.

»Ich habe ihr keinen gegeben.«

»Sie ist kein Kind mehr und sollte den Kragen und die Kleidung einer Sklavin tragen.«

Iwoso senkte ärgerlich den Blick.

»Frau der Gelbmesser«, sagte Hci bitter.

Sie schaute zu ihm empor.

»Ein Krieger der Gelben Messer hat mir dies angetan«, sagte der junge Mann und deutete auf die lange, ausgerissene Narbe an seiner linken Kinnseite.

»Da hat er gut getroffen!« sagte Iwoso nachdrücklich.

»Danach lebte er nicht mehr lange«, erwiderte Hci und wandte sich wieder Bloketu zu.

»Töte sie!« verlangte Bloketu und deutete auf Cuwignaka.

»Ich bin Krieger«, sagte Hci. »Ich mische mich nicht in Frauenstreitigkeiten ein.«

»Oh!« rief Bloketu ärgerlich.

Ich lächelte vor mich hin. Nach meiner Auffassung hatte Hci die Angelegenheit richtig geregelt. Es wäre gewiß unter seiner Würde gewesen, in einer solchen Frage mitzureden. Als Sleensoldat hatte er am Tag der Jagd Wichtigeres zu bedenken als die verletzte Eitelkeit einer Frau.

»Die Herde ist zu nahe«, wiederholte Hci. »Ihr müßt alle von hier verschwinden.«

Wir machten Anstalten, seinem Befehl nachzukommen.

»Getrennt«, forderte Hci.

Wieder begannen sich mir die Nackenhaare zu sträuben.

»Dort«, sagte Hci und wies nach Südwesten, »liegt ein erlegter Stier, dreißig Winter alt, ein Bruchhorn.«

»Der bringt weder gutes Fleisch noch gutes Leder«, sagte Bloketu ratlos.

»Kümmere dich darum, Bloketu!« forderte Hci.

»Ja, Hci«, antwortete sie. Bloketu und Iwoso spornten ihre Kaiila an, die die Lastengestelle hinter sich her schleppten. Ich sah zu, wie das Gras hinter den Stangen wieder hochfederte. Schon in wenigen Minuten würde nur noch ein erfahrener Spurensucher, auf abgebrochene Halme achtend, die Richtung des Abmarschs feststellen können.

»Dort drüben«, sagte Hci zu uns und deutete in ostsüdöstliche Richtung, »befindet sich eine Senke. Darin liegt ein anderer toter Stier, nicht mehr als sechs Winter alt, ein Glatthorn.«

»Jawohl, Hci«, sagte Cuwignaka gehorsam. Ein Glatthorn ist ein junges Kailiaukmännchen. Seine Hörner sind vom Alter und von ausgedehnten Kämpfen noch nicht angebrochen. Die Glätte der Hörner ist übrigens keine reine Naturerscheinung. Die Stiere polieren sie selbst, indem sie sie an Hängen und Bäumen schaben. Manchmal treten sie mit den Vorderhufen Erde von den Oberkanten von Uferhängen und benutzen das freigelegte härtere Material als Politurmittel. Dieses Polieren hat anscheinend den Zweck, die Hörner zu reinigen und zu schärfen – was für die gesamte Kailiaukrasse von Vorteil zu sein scheint: die Schärfe der Hörner erhöht die Wirksamkeit des Trägertiers beim Kampf, während die Sauberkeit nach dem Kampf Infektionen verhindert.

»Wenn ihr angekommen seid«, fuhr Hci fort, »werden eure Kaiila müde sein. Ihr bindet die Transportgestelle los und laßt die Tiere grasen. Macht sie ganz in der Nähe eurer Arbeit fest!«

»Ja«, sagte Cuwignaka ärgerlich.

»Und jetzt geht!« befahl Hci und hob den Arm.

»Jawohl, Hci!« sagte Cuwignaka.

Als der junge Sleensoldat fortritt, schwitzte ich am ganzen Leib. »Was sollte denn das bedeuten?« fragte ich.

»Das Fleisch auf unseren Gestellen«, antwortete Cuwignaka, »soll vernichtet werden.« »Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Wir gehen in die Senke«, sagte Cuwignaka. »Na schön, wie du willst«, lenkte ich ein.

6

Die Abenddämmerung war nahe.

»Dies wird unsere fünfte Fleischladung«, sagte ich.

»O ja«, antwortete Cuwignaka verbittert.

»Moment!« rief ich.

Cuwignaka hob ebenfalls den Kopf. Wir befanden uns in einer langen, ziemlich flachen Senke, deren Hänge an der Stelle, wo wir den Glatthorn bearbeiteten, ziemlich steil aufragten, links etwa zwanzig Fuß, rechts sogar dreißig Fuß hoch.

Ich spürte ein Beben in der Erde unter unseren Füßen.

»Sie kommen«, sagte Cuwignaka. Hastig beugte er sich zu den Lederfesseln nieder, die zwischen den Vorderbeinen unserer Kaiila gespannt waren, um ihnen eine Flucht unmöglich zu machen, und nahm den Tieren das gewundene Leder ab. Wir hatten die Kaiila bereits von den beiden Transportgestellen befreit.

»Wie viele sind es?« fragte ich.

»Zweihundert, vielleicht dreihundert«, sagte Cuwignaka und stieg leichtfüßig auf den Rücken seiner Kaiila.

Deutlich konnten wir es hören. Es wehte durch die Senke herbei: das dumpfe Dröhnen, verstärkt durch den schmalen Lehm- und Felskorridor, in dem wir uns befanden.

»Steig auf!« rief Cuwignaka. »Beeil dich!«

Ich blickte auf das Fleisch. Beinahe im gleichen Augenblick erschien an der nächsten Biegung des Einschnittes ein Kailiaukbulle, dahinstürmend, mit der Schulter gegen die Schluchtwand prallend, beinahe ausgleitend auf dem weichen Boden, die roten Augen weit aufgerissen, etwa zweitausendfünfhundert Pfund schwer.

Ich sprang zur Seite, und das Ungeheuer galoppierte an mir vorbei. Ich hätte es beinahe berühren können. Meine Kaiila schrie auf und versuchte mit wirbelnden Hufen die Seite der Senke zu ersteigen, ehe ich sie herumziehen konnte, sich aufbäumend, abgleitend, stürzend und zur Seite rollend.

Ein zweiter bellender Kailiauk stürmte vorbei.

Ich ergriff die Zügel meiner Kaiila. Die Senke war voller Staub. Der Boden bebte unter unseren Füßen. Das Dröhnen wurde zu einem ohrenbetäubenden Donnern, das zwischen den Erdwällen widerhallte und überall zu sein schien. Cuwignakas Kaiila schrie und stieg auf die Hinterhand. Zum Glück behielt er das Tier im Griff. Als meine Kaiila wieder auf die Beine kam, stieg ich auf und drückte es zur Seite, fort von den herbeigaloppierenden Pte. So flohen Cuwignaka und ich nur wenige Meter vor der Tierhorde, die wie ein einziger zorniger Angreifer mit gesenkten Hörnern durch die Senke flutete.

Etwa hundert Meter von der Senke entfernt, standen wir im Gras. Ich hatte meiner Kaiila beruhigend die Hand an den Hals gelegt. Sie zitterte noch immer. Die Masse der in Panik geratenen Kailiauk, die durch die Senke gestürmt waren, befanden sich schon gut einen Pasang entfernt. Hier und dort liefen noch einzelne Tiere herum, von denen einige bereits wieder langsamer wurden, stehenblieben und zu grasen begannen.

»Wir wollen in die Senke zurückkehren«, sagte Cuwignaka und stieg auf.

Ich folgte seinem Beispiel. Im Schritt führten wir unsere Kaiila in den engen Einschnitt. Der Boden war aufgewühlt von den Hufen. Zahlreiche Abdrücke waren sechs oder sieben Zoll tief.

»Vermutlich waren die Tiere am anderen Ende der Senke isoliert worden«, sagte Cuwignaka. »Dann holte man den Bullen heraus und jagte ihn die Senke entlang, damit er dort erlegt werden konnte, wo wir ihn fanden.«

»Ist das wirklich anzunehmen?« fragte ich.

»Ich bin davon überzeugt«, erwiderte Cuwignaka. »Manchmal suchen Tiere in einer solchen Senke Schutz oder beginnen beim Erreichen der Vertiefung im Kreis zu gehen, um eine Zeitlang zu verweilen, vielleicht bis zum Morgen.«

»Es war eine Falle«, meinte ich.

»Nicht genau«, sagte Cuwignaka. »Wir erhielten den Befehl, die Kaiila abzuschirren. Man forderte uns auf, sie ganz in der Nähe anzubinden.«

Ich nickte.

»Uns sollte also nichts geschehen«, fuhr Cuwignaka fort.

Langsam durchritten wir den Einschnitt.

»Das Fleisch ist fort«, sagte Cuwignaka gleich darauf. »Zerrissen, zertrampelt, verstreut.«

Hier und dort sah ich Fleischbrocken, die in den Boden gedrückt worden waren.

»Einen Teil könnten wir retten«, sagte ich. »Wir müssen ihn nur einsammeln und später im Lager waschen.«

»Das wollen wir den Fliegen überlassen«, sagte Cuwignaka.

»Die Transportgestelle sind ebenfalls vernichtet«, stellte ich fest.

»Ja.«

Die Stangen waren zerborsten und zersplittert, die Querstreben zertreten, die Häute eingerissen. Überall lagen Schnurstücke und Zügelteile herum.

Ich sah mir den aufgewühlten Boden der Senke an, das halb in den Sand getrampelte Fleisch, die Überreste der Transportgestelle. Der tote Stier war mehrere Fuß weit mitgezerrt und betrampelt worden und lag plattgedrückt und halb vergraben im Schmutz. Schon ein einziger Kailiauk vermag eine geradezu beängstigende Kraft und Schnelligkeit zu entwickeln. Die Gewalt, die eine Herde aufbringt, übersteigt mein Vorstellungsvermögen.

Cuwignaka stieg ab und begann die Lederschnüre und Geschirreste der zerstörten Transportgestelle einzusammeln, die sich noch verwerten ließen.

»Ich helfe dir«, sagte ich, stieg ab und folgte seinem Beispiel. Unsere Kaiila bewegten sich kaum und blieben bei uns.

»Der Kopf ist noch da«, sagte Cuwignaka und deutete auf den Schädel des Tiers, das wir ausgenommen hatten.

»Ja.«

»Wenn wir hier fertig sind, bringen wir ihn aus der Senke. Nach oben auf die Ebene.«

»Schön«, sagte ich. »Da kommt jemand.«

Wir blickten nach rechts, wo sich die Senke seitlich fortkrümmte. Langsam, im Schritt kam ein Kaiilareiter in Sicht.

»Hci«, sagte Cuwignaka.

Hci zügelte sein Tier einige Meter vor uns. Bis auf die Reithose und die Mokassins war er nackt. Um den Hals trug er die Kette mit Sleenkrallen. Quer über die Oberschenkel hatte er seinen Bogen gelegt, an seiner linken Hüfte hing der Köcher. Seine Pfeile, die man aus den toten Tieren gezogen hatte, nachdem sie den Besitzer identifiziert hatten, waren sicher schon wieder vom Blut gereinigt. Nur die Federspitzen wiesen oft noch Blutspuren auf.

»How, Cuwignaka!« sagte Hci.

»How, Hci!« antwortete Cuwignaka.

Hci sah sich in der Senke um. »Ihr habt das Fleisch verloren«, sagte er.

»Ja«, erwiderte Cuwignaka.

»Das ist nicht gut. Außerdem sind eure Transportgestelle zerstört worden.«

»Ja.«

»Ich habe euch gleich gesagt, daß ihr zu dicht an der Herde gearbeitet habt«, sagte Hci. »Ich hatte euch befohlen, diesen Ort zu verlassen.«

Cuwignaka war zornig, antwortete aber nicht. Wir wußten, daß Hcis Äußerungen bis zu diesem Punkt durch Bloketu und Iwoso bestätigt werden konnten.

»Aber ihr habt nicht auf mich gehört«, fuhr Hci fort. »Vielmehr habt ihr aktiven Ungehorsam gegenüber einem Jagdaufseher geübt.«

»Warum hast du das getan?« fragte Cuwignaka.

»Jetzt habt ihr Fleisch verloren.«

»Du hast es vernichtet«, sagte Cuwignaka. »Du hast das Fleisch vernichtet.«

Hci saß gelassen auf dem Rücken seiner Kaiila. »Dafür könnte ich euch beide umbringen«, sagte er. »Aber ich sehe davon ab.«

Hci sprach sicher die Wahrheit. Wir hatten ein Messer bei uns, ein Schnittmesser. Hci war beritten und verfügte über seinen Bogen.

Langsam ritt Hci auf uns zu und hielt seine Kaiila erst wieder an, als er dicht bei uns war. Er deutete auf den Kailiaukkopf. »Der muß aus der Senke geholt werden«, sagte er.

»Ja«, sagte Cuwignaka.

Ohne Eile ritt Hci sodann an uns vorbei, die Senke empor; die Hufe seiner Kaiila schlugen einige Steine los.

Wir beendeten unsere Arbeit und fügten die zerrissenen Zügelleinen und Schnüre zu Rollen zusammen, die wir uns über die Schulter warfen.

»Ich muß die Isbu verlassen«, sagte Cuwignaka.

»Warum?«

»Ich bin eine Schande für meinen Bruder«, sagte Cuwignaka.

»Der Kopf dürfte schwer sein«, sagte ich. »Wenn wir ihn aus der Senke holen wollen, sollten wir gleich damit beginnen.«

»Ja.« Und gemeinsam schleppten wir den Kopf zur Steppe empor und setzten ihn etwa fünfzig Meter vom Beginn der Senke ab.

»Warum tun wir das?« fragte ich.

»Der Kailiauk ist ein edles Tier«, erwiderte Cuwignaka. »Die Sonne soll über ihm scheinen.«

»Das ist sehr interessant«, sagte ich.

»Was?«

»Na, die Sache mit dem Kopf. Anscheinend war es dir wie Hci sehr wichtig, den Kopf aus der Schlucht zu holen, damit er in der Sonne liege.«

»Natürlich.«

»Begreifst du nicht? Damit ist doch bewiesen, daß ihr beide Kaiila seid, du nicht weniger als er. Ihr gehört beide den Isbu an.«

»Aber ich bin eine Schande für sie.«

»Wieso?«

»Ich habe Fleisch eingebüßt«, sagte Cuwignaka.

»Du hast kein Fleisch eingebüßt«, sagte ich. »Das war Hcis Schuld.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Cuwignaka lächelnd. »Aber niemand wird mir glauben.«

»Hci ist im Lager bestens bekannt«, sagte ich. »Du wärst sicher überrascht, wie viele Kaiilakrieger eher dir glauben würden als ihm.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Cuwignaka lächelnd.

»Mach dir keine Sorgen!« sagte ich. »Vielmehr solltest du stolz sein.«

»Wieso?«

»Immerhin hast du vier Ladungen Fleisch ins Dorf transportiert. Ich glaube nicht, daß ein anderer soviel geschafft hat.«

»Ganz nett, nicht wahr?«

»Großartig!«

»Männer sind immerhin stärker als Frauen«, sagte Cuwignaka. »Sie können besser Fleisch schneiden.«

»Aber die Männer werden für die Jagd benötigt«, sagte ich.

»Ja«, stimmte mir Cuwignaka zu.

»Und du bist ein Mann.«

»Ja, ich bin ein Mann.«

»Dann sollten wir jetzt die Kaiila holen«, sagte ich. »Es wird Zeit, ins Dorf zurückzukehren.«

»Vier Ladungen, das ist ganz nett, nicht wahr?«

»Großartig!« versicherte ich ihm.

»Ich bin bereit, ins Lager zurückzukehren«, sagte Cuwignaka.

»Gut.«

7

»Er hat mich geschlagen!« jammerte Winyela und eilte zu mir. »Er hat mich geschlagen!«

»Du bist in der Gegenwart eines freien Mannes!« tadelte ich sie und deutete auf Cuwignaka. Sofort ließ sie sich auf die Knie fallen und bat Cuwignaka um Verzeihung.

Das rote Haar trug sie wie meistens offen. Bis auf Cankas Kragen war sie nackt.

»Ja«, sagte ich lächelnd. »Wie man sieht, bist du bestraft worden.«

»Das ist aber gar nicht lustig«, sagte sie. »Ich dachte, du magst mich.«

»Du lebst noch«, stellte ich fest.

Sie blickte mich zornig an. Ich lächelte. Anscheinend hatte die ehemalige Miß Millicent Aubrey-Welles zum erstenmal zu spüren bekommen, was es bedeutet, den Zorn ihres Herrn zu erwecken. Dabei kam ihr die körperliche Züchtigung beinahe ebenso schlimm vor wie die Schande in den Augen anderer.

»Du scheinst darüber entrüstet zu sein«, sagte ich.

»Und ob«, sagte sie.

»Würdest du diese Erfahrung gern wiederholen?«

»Nein!« rief sie erschaudernd.

»Dann scheint die Lektion ja ganz lehrreich gewesen zu sein. Warum wurdest du geschlagen?«

»Weil ich draußen auf der Prärie nicht gut Fleisch geschnitten habe«, erklärte sie.

»Wasnapohdi hatte dich gewarnt«, sagte ich. »Aber du wolltest dir von ihr nicht helfen lassen.«

Zornig wand sich Winyela hin und her. »Ich bin beschämt«, sagte sie, »und würde mich am liebsten verstecken. Bitte laß mich in dein Zelt eintreten.«

Ich überlegte. »Na, schön«, sagte ich dann.

Sie bedankte sich flüsternd und kroch ins Innere. Cuwignaka blieb im Freien. Er hatte drei Häute am Boden festgepflockt und kratzte sie mit einem Messer ab. Überall waren ähnliche Arbeiten im Gange, dazwischen standen Gestelle mit schweren Streifen Kailiaukfleisch, ein gewohnter Anblick im Sommerlager. Das Fleisch bleibt zwei oder drei Tage lang in der Sonne liegen, was genügt, um es haltbar zu machen. Zum Schutz vor der Nachtluft wird es abends hereingeholt.

In meinem Bau lag Winyela schluchzend auf den Roben.

»Reg dich nicht auf!« sagte ich. »Du bist doch nur eine Sklavin.«

»Wir stehen im Besitz unserer Herren«, flüsterte sie. »Aber ich dachte wirklich, Canka würde mich nicht schlagen.«

»Warum nicht?«

»Ich hatte geglaubt, er mag mich.«

»Das dürfte stimmen«, sagte ich. »Er hat dich ohnehin bisher mit großer Nachsicht behandelt, was ich für einen Fehler halte. Du wirst feststellen müssen, daß es mit seinem Großmut aus ist. Wenn ich mich nicht sehr irre, wird sich das Leben für dich in seinem Zelt sehr verändern.«

»Verändern?«

»Die Disziplin, der du ab sofort unterworfen sein wirst«, sagte ich, »wird dir vermutlich wenig Zweifel über dein Sklavendasein lassen. Sie wird hart und genau sein. Weichst du vom schmalen Grat der Vollkommenheit ab, mußt du mit einer Strafe rechnen. Kurz, du wirst genau das erhalten, was Frauen wie du sich ersehnen und brauchen.«

Zornig senkte sie den Kopf.

»Was empfindest du gegenüber Canka?« wollte ich wissen.

»Ich hasse ihn«, sagte sie. »Gleichzeitig habe ich Angst, daß er mich nicht mehr mag.«

»Wieso?«

»Er war so abweisend zu mir.«

»Wahrscheinlich war er zornig auf dich.«

»Meinst du, er wird mich weggeben?«

»Ich weiß es nicht.«

Schluchzend senkte sie den Kopf.

»Weiß Canka, daß du hier bist?« fragte ich.

»Ja. Ich erhielt sogar den Befehl, mich bei dir zu melden.«

»Nicht bei Cuwignaka?«

»Nein.«

»Bei mir persönlich?«

»Ja, Herr.«

»Weißt du, was es bedeutet, wenn eine Sklavin nackt und in Fesseln zu einem Mann geschickt wird?«

»Ich kenne mich mit goreanischen Gebräuchen nicht aus.«

»Kannst du dir den Symbolismus nicht denken? Sehr interessant.«

»Wieso?«

»Du bist eine schöne Sklavin«, sagte ich, »die Sklavin eines hohen Kriegers, der bei den Kampfgefährten sogar schon als Blotanhunka gedient hat.«

Sie warf den Kopf in den Nacken.

»Angeblich bist du sogar fünf Felle des gelben Kailiauk wert«, fuhr ich fort. »Das sollte Grunt für dich von Mahpiyasapa erhalten.«

Sie wandte den Kopf ab.

»Warum bist du dann hierher geschickt worden, zu einem Mann, der wie du nur Sklave ist?«

»Ich soll bestraft werden«, sagte sie. »Ich habe meine Befehle. Ich soll dir für den Nachmittag in jeder Beziehung zu deiner Zufriedenheit dienen – als Sklavin.«

»Damit wärst du die Sklavin eines Sklaven!« stellte ich fest.

»Ja«, sagte sie zornig. »Und nun fang an mit der Bestrafung!«

»Ich kann mir nicht denken, daß Canka dich wirklich in meinen Armen sehen will«, sagte ich. »Außerdem finde ich, daß du schon gestraft genug bist.«

Erstaunt sah sie mich an.

»Leg dich hier auf die Felle«, sagte ich. »Ruh dich aus. Später bringe ich dich dann zu Cankas Zelt zurück.«

»Willst du mich nicht?« fragte sie.

»Dich sehen heißt, dich zu begehren«, sagte ich.

»Du kannst mich haben.«

»Du liebst Canka, du gehörst ihm.«

Daraufhin deckte ich sie mit einem kleinen Fell zu.

»Es ist aber gar nicht kalt«, sagte sie lächelnd.

»Ich bin ein Mann«, bemerkte ich. »Laß mich nicht schwach werden.« Und ich verließ das Zelt.

Draußen gerbte Cuwignaka noch immer seine Kailiaukhäute.

»Wo ist Winyela?« wollte er wissen.

»Drinnen. Sie schläft.«

»Sie hatte sicher einen schweren Tag.«

»Bestimmt.« Ich lachte.

»Wie war sie?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe sie schlafen lassen.«

»Aber sie sollte sich doch bei dir melden! Was hast du dagegen, daß Canka sie dir kurzzeitig zum Geschenk macht?«

»Nichts!« sagte ich lachend. »Ich meine nur, daß sie für heute schon genug gestraft ist.«

»Das zu entscheiden, dürfte aber Cankas Sache sein, nicht die deine.«

»Sicher hast du recht. Er ist ihr Herr.«

»Und du hast sie schlafen lassen! Wie rücksichtsvoll du bist!«

»Mag sein«, sagte ich. Es war lange her, seit mich jemand rücksichtsvoll genannt hatte.

Ich schaute mich um.

»Da hinten sind Bloketu und Iwoso«, sagte ich. »Sie scheinen uns besuchen zu wollen.«

»Natürlich«, sagte Cuwignaka und unterbrach die Arbeit an seiner Kailiaukhaut nicht.

»Wie kommt es, daß Bloketu dich so haßt?« fragte ich.

»Keine Ahnung«, antwortete Cuwignaka. »Wir waren früher einmal befreundet.«

»Sie kommen näher.«

Cuwignaka beugte sich noch tiefer über seine Arbeit. Seine Bewegungen hatten etwas Zorniges.

Natürlich geschieht es sehr oft, daß Frauen sich über ein Stammesmitglied in Cuwignakas Lage lustig machten. Bloketu schien darin allerdings ein besonders bösartiges Vergnügen zu haben.

»Gestern abend habe ich von Bloketu geträumt«, sagte Cuwignaka.

»Ach?«

»Ja, im Traum steckte ich sie in meinen Kragen und besaß sie und hatte mein Vergnügen mit ihr.«

»Ein guter Traum«, bemerkte ich.

»Ja.«

»Ach, Iwoso!« sagte Bloketu und blieb neben uns stehen. »Hier haben wir ja das hübsche Mädchen, das wir schon draußen auf der Prärie sahen, du weißt schon, das Mädchen in dem Kleid einer Weißen.«

»Ich erinnere mich«, sagte Iwoso.

»Sie hatte soviel Fleisch geschnitten! Die Stangen ihres Transportgestells bogen sich durch!«

»Ja«, sagte Iwoso und blickte hinter sich, als erwartete sie, dort jemanden zu sehen.

»Aber dann war sie ein böses Mädchen«, fuhr Bloketu fort. »Sie war ungehorsam gegenüber einem Sleensoldaten und verlor das ganze Fleisch.«

Iwoso lachte.

»Wie heißt sie doch gleich? Cuwignaka, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Iwoso.

»Ah, Cuwignaka«, sagte Bloketu, »du kannst dich wirklich glücklich schätzen, nicht die Frau eines Kaiila-Kriegers zu sein. Von ihm hättest du sicher eine schmerzhafte Strafe empfangen.«

»Er ist wieder da«, flüsterte Iwoso ihrer Herrin zu und schaute erneut nach hinten.

»Ach?« Zornig drehte sich Bloketu um.

Hci ritt auf dem Rücken seiner Kaiila herbei; er trug das Haar geflochten und ohne Federschmuck. Stumm schaute er auf die beiden Mädchen hinab.

»Folgst du uns durch das Lager?« fragte Bloketu.

»Es geht das Gerücht, daß wir mit den Gelbmessern vielleicht bald Frieden haben«, sagte Hci.

»Das Gerücht kenne ich«, erwiderte Bloketu.

»Die Gelbmesser sind unsere Feinde.« Hcis Blick fiel auf Iwoso.

»Wenn du Iwoso den Hof machen willst«, sagte Bloketu, »kannst du heute abend zum Bau kommen und dich hinsetzen und die Liebesflöte spielen. Dann entscheide ich, ob ich meiner Zofe gestatte, den Bau zu verlassen.«

»Du hast sie noch immer nicht wie eine Sklavin ausstaffiert.«

»Es ist wirklich überflüssig, Iwoso mit heraushängender Zunge zu folgen«, sagte Bloketu.

»Nicht deshalb folge ich ihr«, erwiderte Hci. »Wenn ich sie wollte, würde ich zu deinem Zelt kommen. Ich würde eine Kaiila für sie bieten und gleich eine Fessel mitbringen.«

»So redet man nicht, auch nicht als Sleensoldat!« rief Bloketu.

»Heute früh«, sagte Hci, »seid ihr beide mit Watonka aus dem Lager der Isanna geritten.«

»Er hat uns bespitzelt!« rief Iwoso.

»Ihr traft euch mit anderen Reitern«, fuhr Hci fort. »Ich habe die Spuren gefunden. Was habt ihr getan?«

»Nichts«, sagte Bloketu.

»Was waren das für andere Reiter?«

»Du bist doch ein erfahrener Spurenleser«, entgegnete das Mädchen. »Sag’s uns! Gewiß hast du im Staub nach Mokassinabdrücken gesucht.«

»Niemand ist abgestiegen«, sagte Hci.

»Es waren Isanna-Jäger«, behauptete Bloketu.

»Heute früh haben keine Jagdgruppen der Isanna das Lager verlassen«, widersprach Hci.

»Oh«, erwiderte Bloketu.

»Das hatte Watonka persönlich angeordnet«, fuhr Hci fort.

»Es waren Wismahi«, sagte Bloketu.

»Nein, Krieger der Gelben Messer. Drei Kämpfer«, widersprach Hci.

»Das kannst du unmöglich wissen!« rief Bloketu unwirsch.

»Und genau zu einem solchen Anlaß würdest du die Gelbmesser-Sklavin mitnehmen«, sagte Hci und schaute auf Iwoso. »Um mit diesen Leuten sprechen zu können.«

»Sklave!« rief Iwoso aufgebracht.

»Ja, Sklave!« sagte Hci.

Bloketu schaute sich um. »Sprich nicht so laut!« sagte sie. »Du hast recht, Hci. Es waren Gelbmesser. Und Iwoso hat uns sehr geholfen. Sie kann mit ihnen sprechen, während wir nur die Zeichensprache beherrschen. Die Krieger der Gelben Messer haben sich mit Watonka in Verbindung gesetzt. Sie wollen mit den Kaiila Frieden schließen.«

»Das ist ja wunderbar!« sagte Cuwignaka.

»Kümmere dich um deine Arbeit, Mädchen«, sagte Hci zu Cuwignaka, »sonst teile ich dich zum Nähen ein.«

Zornig setzte sich Cuwignaka auf die Fersen.

»Dir ist das wahrscheinlich nicht bekannt, Hci«, sagte Bloketu, »aber Mahpiyasapa und die anderen Häuptlinge wissen Bescheid. Wegen dieser Angelegenheit wird eine Ratsversammlung stattfinden.«

»Die Gelbmesser sind unsere Feinde!« sagte Hci. »Mit denen gibt es niemals Frieden. Waren es wirklich die Gelbmesser, die sich zuerst bei Watonka meldeten?«

»Ja«, antwortete das Mädchen.

»Ich kann mir das kaum vorstellen.«

»Warum?«

»Ich kenne den Stamm der Gelben Messer«, sagte Hci, und seine Hand berührte unwillkürlich die lange Narbe an der linken Wange. »Ich habe sie kennengelernt, Lanze gegen Lanze, Knüppel gegen Knüppel, Messer gegen Messer.«

»Im Leben gibt es mehr als das Sammeln von Coups«, sagte Bloketu.

»Da magst du recht haben«, entgegnete Hci und betrachtete Iwoso, die hastig den Kopf senkte. Sie war sehr hübsch. Sie war im Alter von zwölf Jahren von Gelbmessern erbeutet worden und inzwischen alt genug, daß sich Männer für sie interessieren konnten.

»Sei unbesorgt, Hci!« sagte Bloketu lachend. »Es waren nur drei, außerdem haben wir jetzt die Zeit der großen Tänze.«

Während der Sommerfeste, während der Zeit der großen Tänze ruhen gewöhnlich alle Kriege und kämpferischen Auseinandersetzungen auf der Prärie. Es ist eine Zeit des Waffenstillstandes und des Friedens. Der feiernde Stamm enthält sich während dieser Zeit aller kriegerischen Aktivitäten. Entsprechend halten sich verfeindete Gruppen an diese Ruheperiode, vielleicht aufgrund der darin zum Ausdruck kommenden Vereinbarung, daß auch ihre Festzeiten geachtet werden. Für die roten Wilden stellen die Feiern während des Sommers, wann immer sie bei den verschiedenen Stämmen anfallen, im Laufe des Jahres die einzigen Perioden dar, in denen sie politisch und territorial geschützt sind. Ein alles in allem sehr fröhlicher Zeitabschnitt. Es ist ein angenehmes Gefühl, sich in dieser Zeit sicher zu wissen. Schon mehr als eine Kriegergruppe, die beim Vorstoß auf feindliches Land tanzende Gegner vorfand, zog sich höflich zurück. Solche Dinge sind nicht ohne Vorbild. Im alten Griechenland galten gewisse Spiele, zum Beispiel die Olympischen Spiele, als Waffenstillstandsperiode, in der die Auseinandersetzungen zwischen den Städten ruhten. Mannschaften und Zuschauer der verfeindeten poleis konnten dann ungestört zwischen den Stadien reisen. Bei den roten Wilden sprachen zwei weitere Gründe gegen ein aggressives Verhalten in dieser Zeit. Erstens minderte die Größe solcher Zusammenkünfte, die Massierung des Gegners die Nützlichkeit einer Attacke. Sich als einzelne Bande gegen eine ganze Nation zu wenden, war nicht ratsam. Zweitens gilt es als schlechte Medizin, während einer Festlichkeit zu kämpfen.

»Man kann Gelbmessern nicht trauen!« sagte Hci.

»Es ist schon in Ordnung, Hci«, sagte Bloketu. »Wenn du willst, kannst du deinen Vater Mahpiyasapa fragen.«

Hci zuckte ärgerlich die Schultern.

»Wegen dieser Frage wird eine Ratsversammlung zusammentreten«, fuhr Bloketu fort.

Mir erschien das alles durchaus plausibel. Wenn die Gelbmesser einen Frieden anstrebten und sich deswegen mit Watonka in Verbindung gesetzt hatten – oder er sich mit ihnen –, dann war diese Zeit die beste dafür, die Zeit der Tänze und Feiern. Die ideale Gelegenheit für solche Vorstöße und Anfragen und Verhandlungen.

Iwoso hob den Kopf. Hci hatte den Blick noch nicht von ihr abgewendet. Eine solche Musterung wäre natürlich bei einer freien Frau nicht schicklich gewesen.

»Oh!« lachte Bloketu frei heraus, als versuche sie das Thema zu wechseln. »Anscheinend hast du uns doch nicht nachspioniert, Hci. Du hast nur so getan! Du bist ein raffinierter junger Bursche! Du suchtest einen Vorwand, Iwoso zu folgen!«

»Nein!«, sagte Hci, dem solcher Spott ganz und gar nicht behagte.

»Ich weiß, daß du Iwoso attraktiv findest«, ließ Bloketu nicht locker. »Ich bemerke doch deine Blicke.«

»Sie ist eine Gelbmesser-Sklavin, weiter nichts«, sagte er.

»Sie lebt seit ihrem zwölften Lebensjahr bei den Kaiila«, sagte Bloketu. »Sie ist genauso sehr Kaiila wie Gelbmesser.«

»Nein«, widersprach der junge Mann. »Sie ist eine Gelbmesser. Das steckt in ihrem Blut.«

»Iwoso«, wandte sich Bloketu an ihre Zofe, »vielleicht gestatte ich Hci, um dich zu werben.«

»Nein, bitte nicht!« rief Iwoso, die Hci ehrlich zu fürchten schien. Ich sollte erst später begreifen, was es mit dieser Empfindung auf sich hatte.

»Ich werde die Entscheidung treffen«, sagte Bloketu, »ob du ihn erhören wirst oder nicht.«

»Nein, bitte!« flehte Iwoso.

»Willst du mir widersprechen, Zofe?«

»Nein.«

»Eigentlich müßte sie mit gesenktem Kopf auf dem Boden knien«, sagte Hci.

»Ihr Männer wollt doch nichts anderes, als uns alle zu euren hilflosen Sklavinnen zu machen«, sagte Bloketu zornig.

Ich bemerkte den Blick, der Bloketu von Cuwignaka zugeworfen wurde, und sagte mir, daß er sie in seiner Vorstellung wohl entkleide. Wahrscheinlich versuchte er sich klarzumachen, wie sie als Sklavin aussehen würde.

»Möchtest du Iwoso haben?« fragte Bloketu zornig.

Hci, direkt angesprochen, zuckte die Achseln. »Sie ist eine Gelbmesser«, sagte er. »Als Sklavin käme sie vielleicht in Frage, ich weiß nicht.«

»Wenn du sie haben willst, mußt du sie richtig umwerben.«

»Ich umwerbe keine Gelbmesserfrau«, sagte Hci. »Die bringe ich um oder stecke sie in meinen Kragen.« Mit diesen Worten spornte er seine Kaiila an und galoppierte davon.

»Was für ein arroganter junger Mann!« sagte Bloketu.

»Bitte laß nicht zu, daß er mich umwirbt«, flehte Iwoso.

»Ich werde tun, was mir gefällt«, antwortete Bloketu.

»Ja, Bloketu«, sagte Iwoso.

»Du hast Angst vor ihm, nicht wahr?«

»Ja. Ich hätte schreckliche Angst, zu ihm in sein Zelt ziehen zu müssen.«

»Interessant.«

»Du bist frei, die Tochter eines Häuptlings«, sagte Iwoso. »Deshalb verstehst du meine Angst nicht. Ich bin eigentlich nur eine Sklavin.«

»Ich werde tun, was mir beliebt!«

»Bitte zwinge mich nicht, seinem Begehren nachzugeben!«

»Mach mich nicht wütend, Zofe!« fauchte Bloketu, »sonst schicke ich dich vielleicht für die Nacht zu ihm! Bedenke, daß du noch nicht wichtig bist.«

Iwoso antwortete nicht. Bloketus letzte Formulierung verstand ich nicht. Wieso war Iwoso noch nicht wichtig? Ich schloß daraus, daß etwas geschehen könnte, das Iwoso zu einer wichtigen Person machen würde. Sobald dieses Ereignis eingetreten war, brauchte sie sich vermutlich wegen Hci oder anderer Kaiila-Krieger keine Sorgen mehr zu machen.

»Warum sollte Iwoso einmal wichtig werden?« fragte Cuwignaka in diesem Augenblick und arbeitete weiter an der Tierhaut, die vor ihm gespannt war. Die Frage erschien mir angemessen. Auch wenn sie als Zofe einer Häuptlingstochter arbeitete, war Iwoso im Grunde nur eine Sklavin.

»Es ist nicht wichtig«, sagte Bloketu.

»Es hat mit den Gelbmessern zu tun, nicht wahr?« fragte Cuwignaka.

»Vielleicht«, antwortete Bloketu lächelnd. Sie mußte sehr eitel sein, eine Eigenschaft, die Cuwignaka erkannt zu haben schien.

»Wenn Iwoso Bedeutung erlangen soll«, fuhr Cuwignaka fort, »wirst du sicher in entsprechendem Maße noch bedeutender werden.«

»Mag sein.«

»Und wenn du eine wichtige Position bekleidest«, sagte Cuwignaka verwirrt, »dann würde dein Vater Watonka sicher in eine noch wichtigere Stellung aufsteigen?«

»Vielleicht.«

»Aber was kann man Bedeutsameres sein als Häuptling der Isanna?« fragte Cuwignaka ratlos.

»Darf ich etwas sagen, Herrin?« fragte Iwoso.

»Ja.«

»Wenn man es schafft, Frieden zwischen unseren Völkern zu stiften, den Kaiila und den Gelbmessern«, sagte sie, »dann würde man doch vom Prestige her eine sehr wichtige Stellung innehaben.«

»Stimmt«, sagte Cuwignaka.

»Eine solche Tat«, fuhr Iwoso fort, »wäre mit dem Erringen von hundert Coups vergleichbar, mit der Rolle eines Oberhäuptlings der Kaiila.«

»Das stimmt in der Tat«, sagte Cuwignaka und lehnte sich neben der angepflockten Tierhaut zurück.

Bloketu schien erleichtert zu sein. Vage machte ich mir klar, daß Iwoso eine sehr kluge junge Frau zu sein schien.

»Und ich habe die Hoffnung«, fuhr die Zofe fort, »in dieser Angelegenheit ein wenig helfen zu können, bei diesem Friedensschluß zwischen unseren Völkern.«

»Deine Motive sind edel, Mädchen«, sagte Cuwignaka. »Ich hoffe, du hast Erfolg.«

»Danke«, antwortete Iwoso.

Das ganze Gespräch erfüllte mich mit Unbehagen, aber ich vermochte nicht genau zu sagen, was mir daran seltsam vorkam.

Cuwignaka griff nach seinem Gerbmesser und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.

»Wir wollen zu den Zelten der Isanna zurückkehren, Herrin«, sagte Iwoso drängend. Bisher hatte ich nicht oft gehört, daß sie Bloketu als Herrin anredete. Sie schien es eilig zu haben, uns zu verlassen.

»Waren wir nicht hergekommen, um dieses hübsche Mädchen zu besuchen?« fragte Bloketu. »Dabei wurden wir von Hci gestört.« Anscheinend hatte sie ihre Überlegenheit gegenüber Cuwignaka noch nicht genug ausgekostet. Ich wußte nicht, warum sie ihn so sehr haßte.

»Vertrödelt mit mir nicht eure Zeit«, sagte Cuwignaka, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen.

»Du scheinst sehr fleißig zu sein – was machst du da, hübsches Mädchen?« fragte Bloketu.

»Ich gerbe Leder«, antwortete Cuwignaka. »Eine Arbeit, die eigentlich dir anstünde!«

»Freches Mädchen!« rief Bloketu.

»Ich lasse mich nicht gern verspotten.«

»Du bist sehr berühmt«, verkündete die Häuptlingstochter. »Alle Kaiila kennen dich. Ebenso die Staubfuß-Krieger, mit denen wir Handel treiben.«

Cuwignaka brummte gereizt vor sich hin. Natürlich hatte sich seine Geschichte im Ödland herumgesprochen. Zum Beispiel treiben die Staubfüße Handel mit mehreren fremden Stämmen, die wiederum mit anderen Ödland-Bewohnern in Berührung kommen. So sind die Staubfüße und die Flieher zwar ebenso verfeindet wie Kaiila und Flieher, doch handeln die Staubfüße mit den Sleen, die ihrerseits mit Gelbmessern und Fliehern Geschäfte machen. Auf diesen Wegen konnte sich Cuwignakas Geschichte auch bei feindlichen Stämmen herumgesprochen haben.

»Was man vermutlich aber nicht weiß«, fuhr Bloketu fort, »ist, wie hübsch und fleißig du bist.«

»Hübschheit allein genügt nicht, auch wenn du anscheinend recht gut zurechtkommst«, erwiderte Cuwignaka.

»Wir wollen gehen, Herrin«, sagte Iwoso.

»Halt den Mund!« fauchte Bloketu. »Cuwignaka, was meinst du damit!«

»Bei den Kaiila ist allgemein bekannt«, sagte Cuwignaka, lehnte sich zurück und schaute das Mädchen an, »daß du zu kaum etwas taugst.«

»Oh?« rief Bloketu. Offenbar war sie erschrocken, plötzlich dem herausfordernden, offenen Blick des knienden Mannes ausgesetzt zu sein.

»O ja.«

»Den meisten Männern scheint das aber nichts auszumachen«, nahm Bloketu ihren Hochmut zusammen.

»Das liegt daran, daß du die Tochter eines Häuptlings bist.«

»Nein, weil ich schön bin!«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Viele Männer.«

»Da muß es dunkel gewesen sein.«

»Nein!«

»Man sagt dir so etwas, weil du Watonkas Tochter bist, weil die Männer sich eine Kaiila vom Häuptling erhoffen.«

»Nein!«

Cuwignaka zuckte die Achseln, und ich mußte lächeln. Sehr schnell hatte er das Ruder herumgerissen und das Mädchen in die Defensive getrieben. Schon bei einem so einfachen Wortwechsel war er ihr geistig überlegen.

»Alle sagen, daß ich schön bin!« rief Bloketu ärgerlich.

»Hab’ ich es dir jemals gesagt?«

»Indirekt schon. Draußen auf der Prärie hast du gesagt, es genüge nicht, nur schön zu sein.«

»Ach? Na, das mag schon sein. Bei den Kaiila, wo es viel zu tun gibt, genügt es bestimmt nicht, einfach nur schön zu sein.«

»Und damit gibst du zu, daß ich schön bin!« sagte sie triumphierend.

»Habe ich gesagt, ich spräche von dir?«

»Nein!«

»Vielleicht meinte ich dich also gar nicht.«

»Oh!« rief das Mädchen außer sich.

»Aber man sollte mal darüber nachdenken.«

»Findest du mich schön?«

»Vielleicht.«

»Vielleicht?«

Cuwignaka stand auf. Er trat vor Bloketu hin und schaute auf sie nieder; immerhin war er einen Kopf größer als sie. »Ja, Bloketu«, sagte er, »du bist schön.«

»Jetzt sagst du die Wahrheit!« rief sie.

»Ich werde dir noch andere Wahrheiten sagen. Du bist schön als freie Frau, doch als Sklavin, deinem Herrn ergeben, wärst du noch tausendmal schöner!«

»Ich bin die Tochter eines Häuptlings!«

»Nur gut, daß du dem Stamm der Kaiila angehörst«, sagte Cuwignaka. »Sonst könnte ich nämlich Lust bekommen, auf den Kriegspfad zu gehen und dich als nackte Beute zu entführen.«

»Oh!«

»Ich begehre dich, Bloketu«, sagte Cuwignaka. »Mich verlangt nach dir mit einer Sehnsucht, wie sie ein Mann gegenüber einer Frau nicht stärker empfinden kann.«

Das Mädchen machte kehrt und floh entsetzt. Sie hatte sich nicht träumen lassen, zum Ziel solcher Leidenschaften werden zu können.

Hastig folgte ihr die Zofe Iwoso.

Cuwignaka blickte hinter den beiden Mädchen her. »Hübsch sind sie, nicht wahr?« fragte er.

»Ja.«

»Ob sie wohl gute Sklavinnen abgäben?«

»Ich glaube schon.«

»Wen hältst du für die schönere, Iwoso oder Bloketu?«

»Bloketu«, antwortete ich.

»Ich auch.«

»Teile eures Gesprächs haben mich beunruhigt«, sagte ich. »Besonders die Bemerkung, daß Watonka noch mehr Bedeutung gewinnen könnte.«

Cuwignaka grinste. »Ich fürchte, in dieser Sache haben Bloketu und Iwoso nicht gerade offen gesprochen.«

»Inwiefern?«

»Anscheinend wollten sie uns glauben machen, Watonkas Erhöhung wäre weitgehend eine Sache des Prestiges.«

»Wäre das denn nicht so?« wollte ich wissen.

»Prestige ist natürlich auch im Spiel«, sagte Cuwignaka lächelnd, »aber zweifellos würden auch viele Geschenke vergeben, und dabei würde so manche Kaiila den Besitzer wechseln.«

»Ich verstehe!«

»Watonka ist längst der reichste aller Kaiila-Krieger. Würde es ihm gelingen, diesen Frieden einzufädeln, was wir doch alle hoffen, wird er zweifellos viele Kaiila zum Geschenk erhalten, vielleicht tausend Tiere, Geschenke der Gelbmesser und Kaiila.«

»Aha!«

»Über seinen Herden wird sich der Himmel von Fliehern verdunkeln«, sagte Cuwignaka.

Ich lächelte. Die Position großer Kaiila-Herden wird zuweilen von Schwärmen kreisender Flieher-Vögel angezeigt, die sich von den aus dem Gras aufgescheuchten Insekten ernähren.

»So wäre Bloketu als Tochter eines solchen Mannes eine sehr wichtige Person. Und selbst Iwoso, immerhin nur Sklavin, würde von mehreren Stämmen gefeiert werden, ist sie doch Zofe in einem reichen Haushalt.«

Ich lachte. »Angesichts solcher Profite ist verständlich, warum Bloketu und Iwoso diesen Aspekt der Angelegenheit nicht erwähnen wollten.«

»Zumal die Angelegenheit noch in der Schwebe zu sein scheint.«

»Glaubst du, daß es zwischen den Gelbmessern und den Kaiila zum Friedensschluß kommt?« fragte ich.

»Ich weiß nicht«, sagte Cuwignaka. »Zumindest hoffe ich es.«

»Dort, eine hübsche Sklavin«, sagte ich.

Das blonde Mädchen, das uns passierte, warf mir einen verächtlichen Blick zu.

»Sie ist mit den Isanna ins Lager gekommen«, sagte Cuwignaka.

»Ja«, sagte ich. Das Mädchen hatte beim Einzug in das Lager zu den Beuteschaustücken der Isanna gehört. Schon damals hatte sie mir einen sehr hochmütigen Eindruck gemacht.

Ich blickte der blonden Sklavin nach, die zwischen den Zelten verschwand. Sie bewegte sich auf eine interessante Weise.

»Du hättest jetzt gern ein Mädchen«, sagte Cuwignaka lächelnd.

Ich antwortete nicht.

»Im Zelt schläft Winyela«, sagte Cuwignaka. »Warum weckst du sie nicht doch? Sie ist nur eine Sklavin. Außerdem wurde sie dir zur Bestrafung geschickt.«

»Nein«, sagte ich.

»Man sollte eine Sklavin nicht zu weich behandeln.«

»Ich weiß.«

»Es ist Cankas Wille, daß du sie dir zu Willen machst.«

»Meinst du?«

»Natürlich! Er ist ein roter Wilder. Das darf dich nicht verwirren.«

Ich zuckte die Achseln.

»Er wird wollen, daß sie, wenn sie zu ihm ins Zelt zurückkehrt, eine bessere Sklavin ist als vorher.«

»Mag sein«, sagte ich.

»Mach sie wach, zeig ihr ihre Pflicht, laß ihr keinen Zweifel, daß Männer ihre Herren sind.«

»Ich glaube, ich lasse sie schlafen«, sagte ich lächelnd.

»Wie du willst«, meinte Cuwignaka.

»Für einen Tag hat sie genug gelitten. Aber«, fügte ich hinzu, »ich werde Grunt besuchen.«

»Und nach Wasnapohdi Ausschau halten!« rief Cuwignaka lachend.

»Vielleicht.«

»Arme Wasnapohdi!«

8

»Tut mir leid«, sagte Grunt, »aber Wasnapohdi ist nicht hier. Sie pflückt gerade Beeren. Ich weiß nicht, wann sie zurück sein wird. Anschließend soll sie anderen Frauen helfen.«

»Oh«, sagte ich.

»Hätte ich gewußt, daß du sie haben willst, hätte ich sie hierbehalten.«

»Schon gut«, sagte ich.

Wir unterhielten uns in Grunts Zelt, das ihm von seinem Freund Mahpiyasapa dem Zivilhäuptling der Isbu-Kaiila, zur Verfügung gestellt worden war.

»Ich habe vorhin mit Cuwignaka gesprochen«, sagte ich. »Er sagte mir, daß du ihm irgendwie sorgenvoll vorgekommen wärst.«

»Ach?«

»Ja.« Grunt trug seinen gewohnten breitkrempigen Hut. Für mich war interessant zu beobachten, daß er ihn sogar im Innern des Zeltes nicht abnahm. Ich hatte ihn noch nie ohne Hut gesehen.

»Stimmt etwas nicht?« fragte ich.

»Ich glaube nicht.«

»Was ist denn los?«

»Hast du die Gerüchte gehört?« fragte er. »Über die Gelbmesser? Daß sie sogar eine Delegation ins Lager schicken wollen?«

»Ich habe heute früh Gerüchte gehört, wonach möglicherweise ein Friedensvertrag mit dem Gelbmesser-Stamm geschlossen wird. Daß die Dinge schon bis zur Entsendung einer Abordnung gediehen sind, wußte ich allerdings nicht.«

»Es stimmt aber.«

»Dann sind die Verhandlungen ja viel weiter, als ich angenommen hatte. Es besteht wirklich die Chance, Frieden zu schließen!«

»Mir gefällt das alles nicht«, sagte Grunt.

»Warum nicht? Du müßtest die Aussicht auf Frieden doch begrüßen.«

»Ich traue den Gelbmessern nicht.«

»Warum?«

»Ich habe nie gute Beziehungen zu diesem Stamm gehabt«, erwiderte er.

Ich lächelte. Grunt unterteilte die Stämme der roten Wilden in jene, mit denen er enge Kontakte pflegte, und jene, zu denen er keine gute Verbindung hatte. Gut bekannt war er mit den Staubfüßen, den Kaiila und den Fliehern. Nicht so gut stand es um seine Verbindung zu den Gelbmessern. Grunt zog seinen Hut ein Stück nach vorn, eine interessante Geste, die er offenbar ganz gedankenlos vollführte.

»Sind sie wirklich soviel schlimmer als die Kaiila, die Kailiauk oder die Flieher?« fragte ich.

»Vermutlich nicht.«

»Wenn es zum Friedensschluß kommt, bieten sich dann vielleicht sogar neue Möglichkeiten für den Handel.«

»Darum sollen sich andere kümmern«, sagte Grunt gereizt.

»Du scheinst für die Gelbmesser nicht viel übrig zu haben.«

»Nein.«

»Hassen sie dich?«

»Ich nehme es nicht an.«

»Du scheinst sie nicht zu mögen.«

»Ja, wirklich?«

»Warum?«

»Egal, das ist nicht wichtig.«

Ich stand auf. »Wir haben bald Abend«, sagte ich. »Es wird Zeit, Winyela zu wecken und sie in Cankas Zelt zurückzubringen.«

»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte Grunt.

»Ich dir auch«, erwiderte ich und empfahl mich.

9

Sanft legte ich dem Mädchen die Hand auf die schmale weiche Schulter unter der Felldecke. Vorsichtig schüttelte ich sie.

»Nein«, sagte sie. »Nein. Ich muß bestimmt noch nicht ins Büro.«

»Aufwachen«, sagte ich.

Sie öffnete die Augen und nahm ihre Umgebung wahr. Dann begann sie leise zu lachen. »Ich erwache nackt auf einer fernen Welt, den Sklavenkragen eines Mannes tragend«, sagte sie. »Nein, ich muß bestimmt nicht ins Büro.«

»Nein«, sagte ich.

Sie ließ sich auf den Bauch rollen und streckte sich unter der Lederdecke. Ihr Körper bewegte sich auf das Verlockendste.

»Die verdeckte Sklaverei deiner früheren Heimat hast du überwunden«, bemerkte ich. »Dein Sklaventum kann sich hier offener ausleben.«

»Ja«, erwiderte sie.

Ich hob die Decke ein Stück an. Das Mädchen hatte eine ausgezeichnete Figur.

Einen Augenblick lang lauschte ich den Geräuschen des Lagers, das sich auf allen Seiten erstreckte. Irgendwo schrie ein Mädchen, vermutlich eine weiße Sklavin.

Ich betrachtete Winyela, die vor mir lag. Ich begann zu schwitzen und zog mit verkrampften Griff die Decke wieder hoch. Ich mußte mich beherrschen.

Sie drehte sich zur Seite und stemmte sich auf den Ellenbogen hoch, eine Bewegung, die die Decke bis zur Hüfte herunterrutschen ließ. »Vielen Dank, daß du mich hast schlafen lassen«, sagte sie. »Das war sehr nett von dir.«

»Dafür schuldest du mir keinen Dank.«

»Trotzdem möchte ich mich bedanken.« Sie hob die Lippen den meinen entgegen, doch ich faßte sie an den Oberarmen und hielt sie von mir fort. »Was ist?« fragte sie.

»Der Kuß einer Sklavin kann zum Prolog für ihre Vergewaltigung werden«, sagte ich.

»Oh«, entgegnete sie lächelnd. »Ich liebe es, Eigentum von Männern zu sein. Ich finde darin Erregung und Erfüllung.«

»Du scheinst nicht mehr viel Ähnlichkeit zu haben mit Miß Millicent Aubrey-Welles, der Debütantin aus Pennsylvanien«, sagte ich.

»Die war doch ahnungslos! Das beste, was der im Leben widerfahren konnte, war die Versklavung auf Gor.«

»In der Tat scheinst du mir Talente zu offenbaren, die die schlichte Millicent nicht besaß.«

»Ja«, erwiderte sie. »Ich verfüge nun über die Macht einer Sklavin.« Damit hatte sie recht.

»Wir müssen bald zu Cankas Zelt aufbrechen«, sagte ich.

»Aber du hast mich noch nicht bestraft.«

»Nein.«

»Canka hatte mir eine Strafe zugedacht.«

»Ich weiß nicht, ob er das wirklich so gemeint hat.«

»Natürlich. Er ist ein roter Sklavenherr.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte ich und mußte daran denken, daß Cuwignaka und Grunt derselben Ansicht gewesen waren.

»Trotzdem hast du nicht die Absicht, mich zu bestrafen? Canka wollte, daß du mich besitzt. Findest du mich nicht attraktiv? Besitze ich nicht wenigstens den geringen Charme einer Sklavin?«

»Du bist attraktiv und schön«, erwiderte ich. »Doch letztlich liegt die Macht bei jenen, die dich besitzen.«

Ich schnipste mit den Fingern, ein Kommando, dem sie sofort nachkam, indem sie aufsprang.

»Siehst du, hübsche Winyela, in letzter Konsequenz zählt mein Wille und nicht deine ›Macht‹.«

Langsam hob sie den Kopf. »Ganz machtlos bin ich nicht«, sagte sie lächelnd.

»Was meinst du?«

»Ich werde dir zeigen, wie die Sklavin den Mann verführen kann.«

Plötzlich legte sie mir die wohlgeformten nackten Arme um den Hals und drückte ihre Lippen auf die meinen. »Ai!« schrie ich erzürnt auf. Doch ich brachte es nicht fertig, sie fortzustoßen. Sie war eine Sklavin. Es ist nicht leicht, eine Sklavin aus seinen Armen zu entlassen. Endlich löste ich mich von ihr. Ihr Kuß, der Kuß einer Sklavin, brannte auf meinen Lippen. Ich war wütend. Der Kuß, zu kurz, köstlich schmeckend, hatte mich erbeben lassen. Er war wie eine Chemikalie, ein Katalysatormittel, das mir plötzlich eingegeben worden war. Reaktionen und Umwandlungen, umwälzend, zwingend, unwiderstehbar, gewalttätig, schienen in mir vorzugehen. Und wieder hielt sie mir die Lippen hin. »Koste noch einmal den Mund einer Sklavin, Herr«, sagte sie und schmiegte sich in meine Arme. Plötzlich schien es nur noch sie und das Dröhnen meines Blutes zu geben. Im nächsten Moment hielt ich sie in den Armen. »Siehst du meinen Kragen?« fragte sie lachend.

»Ja.«

»Gefällt dir, wie sich die Sklavin anfühlt, Herr?« Wieder legte sie mir die Arme um den Hals, wieder trafen sich unsere Lippen. Ich war außer mir vor Zorn und schleuderte sie zur Seite.

»Dirne! Tier! Sklavin!« schrie ich.

»Ja, Herr!« rief sie lachend. »Ich glaube nicht, daß du mir jetzt noch widerstehen kannst.«

Mein Zorn verrauchte, und ich kniete neben ihr und hob sie in eine halb sitzende Position.

»Es wird eine große Entehrung für mich sein«, sagte sie, »eine schlimme Strafe, von dir genommen zu werden. Denn auch du bist nur Sklave.«

»Zweifellos«, sagte ich.

»Nach den Anweisungen meines Herrn Canka«, sagte sie, »soll ich mich dir rückhaltlos hingeben, als Sklavin.«

»Ja.«

»Aber auch ohne den Befehl könnte ich wohl nichts anderes tun, als mich dir hilflos zu ergeben, denn ich habe deine Hände schon gespürt, ich weiß, daß du mich dazu bringen kannst, dir meine sklavische Hilflosigkeit hinauszuschreien. Ich bin bereit zu meiner Strafe.«

»Schön«, sagte ich.

Schlaff lag sie in meinen Armen. »Das war eine herrliche Strafe, Herr«, sagte sie.

Ich schwieg. Es hatte mir großes Vergnügen bereitet, dieses Mädchen zu strafen. Es ist sehr angenehm, eine Frau in eine sich windende, hilflose Sklavin zu verwandeln.

»Ich gehöre dir für den Nachmittag«, fügte sie hinzu. »Es ist noch früh.«

Das stimmte sicher nicht. Aber immerhin waren die Kochfeuer für das Abendessen noch nicht angezündet worden.

»Herr«, sagte sie.

»Ja.«

»Bestrafe mich noch einmal.«

»Bittest du mich darum?«

»Ja, ich erbitte meine Strafe.«

»Ich liebe meinen Herrn Canka«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Ich möchte ihm in allem gefallen.«

»Das sei dir auch geraten.«

»Da hast du recht. Aber seltsam ist es doch.«

»Was?«

»Ich bin Cankas Sklavin«, erklärte sie. »Doch liebe ich ihn so sehr, daß ich seine Sklavin sein wollte, selbst wenn ich es noch nicht wäre.«

»Interessant.«

»Liebe«, sagte sie, »legt jeder Frau Fesseln an, und je mehr sie liebt, desto unterworfener ist sie.«

»Mag sein«, erwiderte ich.

»Aber wenn das stimmt«, sagte sie, »müßte daraus folgern, daß keine Frau, die nicht Sklavin ist, wirklich lieben kann.«

»Ich finde, man muß daraus schließen, daß jede Frau, die wirklich und wahrhaftig liebt, mit einer Sklavin gleichzusetzen ist.«

»Dann stell dir nur vor«, hauchte sie, »welche Liebe eine echte Sklavin, eine Frau, die im Eigentum ihres Herrn steht, empfinden kann. Wie hilflos sie seiner Zuneigung zu ihm ausgeliefert wäre!«

»Besitz und Unterwerfung der Frau – das ist ein natürlicher Nährboden für die Liebe.«

»Unbedingt«, sagte sie.

»Und dem Zwang der Ketten folgt oft der Zwang der Liebe.«

»Ich rieche Kochfeuer«, sagte sie zufrieden und machte Anstalten, sich aufzurichten, doch ich drückte sie grob wieder auf das Lager. »Herr?« fragte sie.

»Du scheinst begierig, in das Zelt deines Herrn zurückzukehren«, stellte ich fest.

»Ja, Herr.«

»Aber bis ich dich freigebe, mußt du mir als Sklavin dienen, nicht wahr?«

»Ja, Herr.«

»Nun denn, ich werde dich gleich freigeben. Aber erst wenn ich mit dir fertig bin, stehst du auf und folgst mir gehorsam zur Unterkunft deines Herrn.«

»Ja, Herr«, sagte sie. »Ohhh. Ohhh!«

Ich lächelte vor mich hin. Das kleine Biest hatte mich hereingelegt. Nun wollte ich süße Rache an ihr nehmen.

»Ohh!« rief sie. »Ohh! Ohhhh!«

Ja, überlegte ich, meine Rache war durchaus angemessen.

10

Wir standen vor Cankas Zelt.

Er trat ins Freie.

Sofort fiel Winyela, eine bestrafte Sklavin, auf ihre Knie.

»Sie hatte mein Mißfallen erregt«, sagte Canka zu mir.

»Das weiß sie«, gab ich zurück.

Canka zog das Mädchen hoch. »Sie scheint nicht sonderlich gestraft zu sein«, bemerkte er.

»Ich glaube, die Disziplinierung, der sie unterworfen wurde, wird sich als ausreichend erweisen«, sagte ich. »Wenn nicht, läßt sich die Strafe immer noch verdoppeln oder verdreifachen.«

Ich schaute auf das Mädchen nieder. Ich war sicher, sie hatte ihre Lektion gelernt. Intelligente Frauen begreifen ihre Sklavinnenlektion sehr viel schneller als dumme Frauen.

»Ich hoffe, daß sie ihren Fehler nicht wiederholt«, sagte Canka und bedeutete seiner Sklavin, ihm ins Zelt zu folgen.

»Canka ist sehr zufrieden«, sagte Cuwignaka, der soeben ins Zelt trat. Es war der Tag nach Winyelas Bestrafung.

»Das freut mich zu hören«, antwortete ich. Ich mochte Canka und hatte guten Grund, ebenfalls zufrieden zu sein, war ich doch genau genommen sein Sklave.

»Er kleidet sie in weiches Tabukleder«, berichtete Cuwignaka, »kremig-weiß und durchgegerbt. Außerdem hat er ihr Glasperlen und Mokassins geschenkt und ihr die Haare geflochten. Für die Zeit des Festes hat er ihr das Gesicht angemalt.«

»Großartig!«

»Nie habe ich Canka so glücklich gesehen«, bemerkte Cuwignaka. »Und erst Winyela! Sie ist frohgemut, verführerisch, bei bester Laune.«

»Ausgezeichnet.« Der Gedanke, an ihrer Umwandlung mitgewirkt zu haben, stimmte mich froh. Genau genommen hatte ich nichts anderes getan, als die beiden als Herrn und Sklavin endgültig zusammenzuführen.

»Auch ich spüre das Bedürfnis nach einer Sklavin«, sagte Cuwignaka.

»Grunt wäre sicher froh, dir Wasnapohdi zu überlassen.«

»Das stimmt schon, aber ich dachte eher an meine eigene Sklavin.«

»Wahrscheinlich könntest du billig eine von den Isanna erstehen«, sagte ich. »In ihren Mädchenherden gibt es so manches hübsche Ding.«

»Ich dachte eher an eine rote Sklavin.«

»Dazu mußt du dich auf den Kriegspfad begeben, um ein Mädchen zu erobern und sie an der Seite deiner Kaiila nach Hause zu holen.«

»Ich bin zweimal nicht auf den Kriegspfad gegangen«, erwiderte Cuwignaka, »weil ich mit den Fliehern keinen Händel hatte. Nun wäre es sicher ziemlich heuchlerisch von mir, aus egoistischen Motiven, nur wegen eines Mädchens, doch noch auf den Kriegspfad zu gehen und dem Feind Rache und Vernichtung zuzuteilen.«

»Vielleicht hast du recht.«

»Ich dachte auch weniger an irgendeine rothäutige Sklavin, als vielmehr an eine bestimmte.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Nun ja, mein Freund, den Gedanken an Bloketu solltest du dir aus dem Kopf schlagen. Sie kannst du nicht erbeuten. Sie ist eine Kaiila, außerdem die Tochter eines Häuptlings.«

»Ich weiß«, sagte Cuwignaka lächelnd. Eine solche Frau, mochte sie auch noch so hochmütig und frech sein, konnte für einen Kaiila keine Beute sein. Vor den Kaiila war sie sicher.

»Was hast du da?« fragte ich. Cuwignaka hielt einen länglichen Gegenstand in der Hand, der in ein Stück Leder eingebunden war.

»Ich hab’s nicht vergessen«, sagte er lachend. »Ich bringe dir diesen Gegenstand von Canka.«

»Was ist das?«

»Du darfst sie bis zum Ende der Feiern behalten. Schau!«

Und er wickelte den Gegenstand aus.

»Ah!« sagte ich.

»Canka hat sich über deine Arbeit mit Winyela sehr gefreut.«

»Das sieht man.«

Cuwignaka hielt mir eine schwere, geschmeidige, perlenbesetzte Kaiilapeitsche hin. Vor allem anderen war sie ein Symbol, das mir Zutritt verschaffte zu allen Sklavinnen der Kaiila, die nicht in privaten Zelten gehalten wurden.

»Ein sehr großzügiges Geschenk«, sagte ich.

»Er mag dich«, sagte Cuwignaka. »Außerdem wollte er dich sowieso nie versklaven. Nur mußte er es tun, wollte er nicht Gefahr laufen, daß du wegen meiner Befreiung angegriffen würdest. In Wirklichkeit wartet er wohl nur den geeigneten Augenblick ab, dich freizulassen. Als ehemaliger Blotanhunka muß er dabei natürlich Rücksichten nehmen.«

»Er ist sehr großzügig«, sagte ich.

»Ich glaube, er wird dir während der Feiern und der anschließenden Beschenkerei die Freiheit geben«, sagte Cuwignaka lächelnd. »Jedenfalls schiene mir das der ideale Moment zu sein. Auf jeden Fall kannst du dich bei den Kaiila ab sofort ziemlich sicher fühlen, auch ohne Kragen. Man hat sich an dich gewöhnt, außerdem ist allgemein bekannt, daß du mein Freund bist.«

»Das ist nun wirklich eine angenehme Nachricht«, sagte ich. Schon zu lange hatte ich meine eigentliche Mission im Ödland vernachlässigt, den Versuch, mit dem Kurii-Kriegsgeneral Zarendargar, auch Halb-Ohr genannt, Kontakt aufzunehmen. Ich mußte ihn warnen vor dem Exekutionskommando, das unter Kogs und Sardaks Kommando – der letztere ein Blut, ein hoher Offizier der Kurii – nach ihm suchte: Die Gruppe war zwar bei dem Überfall auf den Wagenzug sehr dezimiert worden, doch hatten viele zu allem entschlossene Kämpfer überlebt. Meine einzige Spur zu Zarendargar war eine Bilderhaut, die im Augenblick von Grunt verwahrt wurde. Dieses Leder zeigte unter anderem die Darstellung eines Schildes mit Zarendargars Bild. Der Eigentümer dieses Schildes konnte mich hoffentlich auch zu Zarendargar führen.

»Außerdem«, fuhr Cuwignaka fort, »halte ich es für möglich, daß Canka nach dem Fest dir eine Frau schenken wird, die dir aushelfen und dich in den Fellen warmhalten soll.«

»Er muß mit Winyela wirklich zufrieden sein«, sagte ich lächelnd.

»Und ob! Ich sollte hinzufügen, auch wenn ich nicht weiß, ob dies angebracht ist, daß die beiden sehr verliebt sind.«

»Trotzdem muß er sie als Sklavin halten!«

»Sei unbesorgt«, sagte Cuwignaka. »Canka wird dafür sorgen.«

Ich war froh. Der Rotschopf von der Erde würde unter der eisernen Disziplin ihres Sklavinnendaseins auf das Schönste erblühen.

»Wie gut es uns doch allen geht!« sagte Cuwignaka. »Heute soll im Lager eine Abordnung der Gelbmesser eintreffen. Wir schreiben die Zeit der Tänze und Feiern. Canka ist glücklich. Du bist vielleicht bald frei, und ich, Cuwignaka, Frauenkleid, betrete morgen das große Tanzzelt.«

In der Mitte des Lagers war aus Gezweig eine große Tanzhalle errichtet worden. Die etwa vierzig Fuß hohen Mauern, auf Pfählen und Plattformen errichtet, umschlossen eine gesäuberte, festgetretene Tanzfläche, die einen Durchmesser von fünfzig Fuß hatte. In der Mitte dieses Raums stand der Pfahl, der aus dem kürzlich von Winyela gefällten Baum gestaltet worden war. In die Erde versenkt, von zusätzlichen schweren Stämmen abgestützt, erreichte dieser Pfahl eine Höhe von etwa zweiundzwanzig Fuß. Zwei Astgabeln waren dem Stamm gelassen worden, die eine etwa zehn Fuß, die andere fünfzehn Fuß über dem Boden. In der unteren Astgabel befanden sich, zusammengerollt, der Schmuck und die Kleidung, die Winyela getragen hatte. An der oberen Gabel baumelten zwei Lederfiguren: eine Kailiaukdarstellung und die Nachbildung eines Mannes mit einem übertrieben großen Phallus. Diese Bilder hatten offenbar mit dem Symbolismus und der Medizin des Tanzens zu tun. Dieser Tanz ist für die roten Wilden etwas Heiliges. Er stellt eine rätselhafte Medizin dar, weshalb ich auch keine vereinfachte Deutung versuchen will. Jedenfalls hat dieser Tanz im weitesten Sinne mit Dingen wie Glück, Jagd und Männlichkeit zu tun.

»Ich freue mich für dich, Cuwignaka«, sagte ich.

»Jahrelang habe ich darauf gewartet, das Tanzzelt zu betreten«, sagte er. »Der Augenblick wird einer der größten meines Lebens sein.«

»Ich freue mich für dich«, wiederholte ich.

11

»Führt sie vor, die rothaarige Sklavin!« forderte Mahpiyasapa, Häuptling der Isbu-Kaiila, der vor Cankas Zelt stand.

Furchtlos blickte Canka ihn an. »Winyela!« rief er.

Angstvoll kam das Mädchen aus dem Zelt und kniete neben dem Eingang nieder.

»Sie ist es«, sagte einer der Männer, die Mahpiyasapa begleiteten.

»Sie hat am Pfahl getanzt«, sagte ein anderer.

»Ich möchte die Frau haben«, sagte Mahpiyasapa zu Canka und deutete auf Winyela.

»Du bekommst sie nicht«, antwortete Canka.

»Sprich, Wopeton«, sagte Mahpiyasapa zu Grunt, den er mitgebracht hatte.

»Mein Freund Canka«, begann Grunt. »Die Frau wurde für Mahpiyasapa ins Ödland gebracht. Er hat letztes Jahr eine solche Frau bei mir bestellt. Für ihn erstand ich sie in Kailiauk an der Ihanke, und für ihn brachte ich sie mit nach Osten. Es war ein alter Handel, schon letztes Jahr besiegelt. Er ist dein Häuptling. Gib ihm die Frau.«

»Nein«, beharrte Canka.

»Ich sollte fünf Felle des gelben Kailiauk für sie erhalten«, fuhr Grant fort. »Andererseits möchte ich keinen Unfrieden stiften zwischen zwei großen Kriegern der Isbu. Gib sie an Mahpiyasapa. Ich verzichte auf die Felle.«

»Er bekommt die Frau nicht«, sagte Canka. »Nach dem Recht der Gefangennahme gehört sie mir. Mahpiyasapa, mein Häuptling, weiß dies sehr wohl. Mahpiyasapa, mein Häuptling, ist ein Kaiila. Er wird sich über die Gebräuche dieses Stammes nicht hinwegsetzen.«

»Es soll einen ehrlichen Frieden zwischen den Kaiila und den Gelbmessern geben«, sagte Mahpiyasapa. »Watonka hat alles arrangiert. Schon wohnen Zivilhäuptlinge der Gelbmesser in seinem Zelt.«

»Was hat das mit mir zu tun?« fragte Canka.

»Du hast dich nicht richtig verhalten«, sagte Mahpiyasapa. »Die Frau gehört eigentlich mir. Als Häuptling könnte ich sie in mein Zelt entführen. Doch als Häuptling werde ich das nicht tun. Ich möchte dich nicht erzürnen.«

»Ich kaufe dir zwei andere Frauen und schenke sie dir«, sagte Canka.

»Ich möchte aber die hier haben«, sagte Mahpiyasapa und deutete auf Winyela.

»Die gehört mir.«

»Ich will sie haben.«

»Sie gehört mir, nach dem Recht der Gefangennahme!«

Mahpiyasapa schwieg. Er war zornig.

»Es tut mir leid, Häuptling«, sagte Canka, »wenn ich mich nicht richtig verhalte. Ich bedaure, wenn ich mich auf eine Weise benehme, die mir nicht ansteht. Würde es sich um eine andere Frau handeln, hätte ich wohl keinen Moment gezögert, sie gefesselt in dein Zelt zu führen. Diese Frau aber erweckte mein Begehren vom ersten Moment, da ich sie sah.«

»Ich will sie nicht für mich«, sagte Mahpiyasapa, »sondern für die Gelbmesser. Ich und meine Begleiter sind im Lager unterwegs und stellen Geschenke für die Abgesandten der Gelbmesser zusammen: Kaiila, Sättel, Decken, Roben, Stoffe und Frauen.«

»Ich gebe dir eine Kaiila«, sagte Canka.

»Sie ist wunderschön, und ihr Teint und ihr Haar sind in unserem Land sehr selten«, fuhr Mahpiyasapa fort. »Sie würde ein vorzügliches Geschenk abgeben.«

»Sie steht weder dir noch den Gelbmessern zur Verfügung«, beharrte Canka auf seinem Standpunkt.

»Ihre Brüste sind zu klein«, stellte Mahpiyasapa fest.

»Ich behalte sie«, sagte Canka. »Sie gehört mir. Ich will sie besitzen.«

Als Mahpiyasapa die Bemerkung über ihre Brüste machte, faßte Winyela unwillkürlich danach. Ich selbst fand ihre Brüste wohlgerundet und im rechten Einklang mit ihren sonstigen Proportionen. Mahpiyasapa schien jedoch dem üblichen Geschmack der Wilden zu frönen, die schwerbrüstige Frauen vorzogen.

»Ist dies dein letztes Wort?« fragte Mahpiyasapa.

»Ja.«

Daraufhin wandte sich Mahpiyasapa um und marschierte, gefolgt von seinen Begleitern, davon.

Canka machte ebenfalls kehrt und schaute auf Winyela nieder, die am Eingang seines Zeltes kniete. Sie senkte den Kopf.

»Vielleicht solltest du mich ausliefern, Herr«, sagte sie. »Meine Brüste sind womöglich zu klein.«

»Red keinen Unsinn!« sagte Canka barsch. »Sie sind vollkommen. Geh kochen!«

»Ja, Herr!« rief sie fröhlich.

»Hast du keine Angst, daß es deswegen Ärger gibt?« Cuwignaka und ich hatten in der Nähe gestanden und das Gespräch zwischen Canka und Mahpiyasapa mitangehört. Wir waren zum Abendessen in Cankas Zelt eingeladen.

»Ich nehme es nicht an«, sagte Canka. »Aber machen wir uns deswegen keine Sorgen. Diese Tage dienen der Freude.«

»Morgen werde ich das Tanzzelt betreten«, sagte Cuwignaka.

»Ich habe im Lager einen lebhaften Austausch von Geschenken beobachtet«, bemerkte ich.

»Es ist eine Zeit des Glücks und des Gebens«, sagte Cuwignaka. »Sogar die Kailiauk kamen dieses Jahr sehr früh.«

»Das stimmt«, sagte ich. Noch immer wußte ich nicht, warum der Zug der Kailiauk so früh gekommen war. Noch immer rätselte ich daran herum.

»Hattest du Freude an seiner perlenbesetzten Peitsche?« fragte Canka.

»O ja«, sagte ich, »sehr sogar.« Meine Gedanken galten der blonden Sklavin, die ich mir aus einer Sklavinnenherde herausgesucht hatte: die Sklavin, die mir in diesem Lager schon zweimal voller Hochmut begegnet war. Ich hatte sie gelehrt, was Unterwerfung unter einen Herrn bedeutete. Es war ein sehr vergnüglicher Nachmittag gewesen.

»Du darfst die Peitsche bis nach dem Fest behalten«, sagte Canka.

»Vielen Dank.«

»Keine Ursache.«

»Ist das wirklich dieselbe Sklavin?« hatte einer der Sklavenbewacher mich gefragt, als ich die Blonde zurückbrachte.

»Ja«, hatte ich geantwortet.

»Sieht so aus, als hättest du eine Versklavte hier fortgeführt und brächtest uns nun eine Frau, die voll und ganz Sklavin geworden ist.«

Lächelnd hatte das Mädchen neben uns gekniet.

»Wie war sie?« hatte einer der jungen Wächter gefragt.

»Lasziv und willig«, sagte ich, »hilflos, leidenschaftlich, gefühlvoll.«

»Ausgezeichnet«, sagte einer der Männer.

»Vielen Dank!« rief ich und wandte mich ab.

Das blonde Mädchen winkte einmal kurz und warf mir auf goreanische Art einen Handkuß zu. Ich erwiderte den Kuß. Dann machte ich mich auf den Rückweg ins Dorf. Ich war mit Cuwignaka am Zelt Cankas verabredet. Es sollte zum Abendessen gekochtes Fleisch geben.

»Das war gut«, sagte ich.

»Danke, Herr«, erwiderte Winyela.

»Verdirb mir meine Sklavin nicht«, mahnte Canka.

»Entschuldigung.«

Das Essen war wirklich gut gewesen, weit mehr als nur gekochtes Fleisch, vielmehr eine mit Gemüse und Gewürzen fein abgestimmte Mischung. Einige Zutaten, das wußte ich, hatte sich Winyela bei Grunt erbettelt.

»Hat meinem Herrn das Essen geschmeckt?« fragte Winyela.

»Mag sein«, sagte Canka. »Vielleicht war es wirklich nicht schlecht.«

»Herr«, flüsterte Winyela mit feuchten Augen. Er starrte sie intensiv an.

»Es war reichlich Gemüse beim Fleisch«, sagte ich zu Cuwignaka und tat, als merke ich nichts von der Spannung zwischen Canka und Winyela.

»Ja«, erwiderte Cuwignaka, »vorwiegend von den Feldern der Waniyanpi.«

»Das hatte ich mir schon gedacht«, gab ich zurück. Bei den Waniyanpi handelte es sich im wesentlichen um landwirtschaftlich tätige Sklaven. Sie zogen Getreide und Gemüse und verrichteten für ihre roten Herren allerlei Arbeiten.

»Wurden Männer in die Anlagen hinausgeschickt, um das Gemüse zu holen?« fragte ich.

»Die Waniyanpi haben ihre Waren selbst geliefert«, antwortete Cuwignaka. »Wie sie es oft tun, wenn das große Lager zusammengetreten ist.«

»Ah, verstehe«, sagte ich. Während der wichtigen Festlichkeiten, die vorwiegend mit der Ankunft der Kailiauk zusammenhängen, waren die Positionen der großen Lager der einzelnen Stämme bekannt, was die Möglichkeit eröffnete, Lebensmittel direkt zu liefern. Während der übrigen Zeit waren die meisten Stämme zersplittert und lebten in Lagern, die immer wieder verlegt und neu aufgebaut wurden.

»Sind im Moment Waniyanpi im Lager?« fragte ich.

»Ja«, antwortete Cuwignaka, »aber sie werden bald wieder aufbrechen.«

»Wie bald?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich habe einmal Waniyanpi kennengelernt«, sagte ich. »Sie kamen von einem Ort, den sie ›Garten Elf‹ nannten. Ich würde zu gern wissen, ob die Waniyanpi, die gerade im Lager sind, von dort stammen.«

»Durchaus möglich«, sagte Cuwignaka. »Warum?«

»Ich dachte mir, es könnte ganz interessant sein, meine Bekanntschaft mit ihnen zu erneuern«, sagte ich. »Außerdem würde mich das Schicksal einer bestimmten Waniyanpi interessieren, der ehemaligen Lady Mira aus Venna, die von ihren roten Herren dorthin verbannt wurde.«

»Ich erinnere mich gut an sie«, sagte Cuwignaka verbittert. »Ich verbrachte viele Tage an ihren Wagen gefesselt.«

»Sicher tut sie dir jetzt leid«, sagte ich.

»Sie war eine stolze und arrogante Frau«, widersprach Cuwignaka. »Sie tut mir nicht leid. Meinetwegen kann sie in den Gehegen der Waniyanpi verkommen, arbeitsam, unerfüllt.«

»Du bist grausam.«

»Ich bin ein Kaiila«, sagte Cuwignaka achselzuckend.

»Vielleicht würdest du ihr Großmut zeigen, wenn sie sich vor dich hinwürfe und um Gnade bäte?«

»Vielleicht – wenn ich annehmen könnte, daß sie nun bereit wäre, eine Frau zu sein, daß sie ihre Lektion begriffen hätte.«

»Ah«, sagte ich, »da scheint doch ein Hang zur Großzügigkeit in dir zu schlummern.«

»Natürlich!« sagte Cuwignaka grinsend. »Schließlich bin ich ein Kaiila.« Und deutete auf Canka und Winyela. Die Sklavin lag in den Armen ihres Herrn und schluchzte vor Wonne.

Lächelnd verließen Cuwignaka und ich das Zelt.

»Wo sind die Waniyanpi?« fragte ich.

»Am unteren Ende des Lagers, ganz weit draußen. Willst du sie besuchen?«

»Vielleicht.«

»Ich komme lieber nicht mit«, sagte Cuwignaka. »Mir behagt die Gesellschaft von Waniyanpi nicht.«

»Wie du willst.«

»Wir treffen uns später hier vor Cankas Zelt«, sagte Cuwignaka.

»Warum das?« fragte ich. Canka und Winyela wollten vielleicht lieber allein bleiben.

»Ich habe von Akihoka gehört, der mit einem der Sleensoldaten befreundet ist, daß Hci heute abend etwas im Schilde führt«, sagte Cuwignaka grinsend.

»Was denn?«

»Genaues weiß ich nicht, aber ich glaube etwas zu ahnen. Und ich weiß auch, wie man ihm die Suppe versalzen kann.«

»Wovon redest du eigentlich?«

»Es hat mit den Geschenken zu tun«, sagte Cuwignaka.

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Wir treffen uns später wieder hier«, sagte Cuwignaka. »Einverstanden«, sagte ich.

»Ich gehöre ganz dir«, hörten wir Winyela im Zelt schluchzen. »Nur dir!«

Lächelnd trennte ich mich von Cuwignaka.

12

»Oho!« rief Hci. »In guter Absicht begrüße ich dich. Die Zeit der Festlichkeiten ist herangerückt, da wollen wir unser Verhältnis festigen!«

»Sei gegrüßt«, antwortete Canka, der vor seinem Zelt stand.

Hci wurde von zwei Sleensoldaten begleitet. Einer hielt einen dicken Zügel, an dem zwanzig Kaiila befestigt waren.

»Zum Zeichen der Zuneigung, die ich in meinem Herzen für dich empfinde«, sagte Hci, »schenke ich dir zwanzig Kaiila.« Er gab dem Burschen mit dem Zügel ein Zeichen.

»Nicht!« rief Canka.

»Sie gehören dir!« verkündete Hci und machte eine ausholende Gebärde.

»Ich habe keine zwanzig Kaiila«, sagte Canka. »Ich bin kein Häuptlingssohn.«

»Du brauchst mir keine Kaiila zurückzuschenken«, sagte Hci besorgt. »Wie du weißt, erleidest du keinen Ehrverlust, wenn du mir ein Gegengeschenk von vergleichbarem Wert machst.«

»Aber was sollte ich besitzen, das einen solchen Wert hat?« fragte Canka ärgerlich. Offenkundig wollte ihn der andere beim Schenken, bei der Zurschaustellung von Großzügigkeit in den Schatten stellen. Genau genommen hätte Hci dem anderen nicht Geschenke anbieten dürfen, denen Canka nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnte. Eine solche Gabe konnte den Empfänger beschämen.

»Sie«, sagte Hci und deutete auf Winyela, die am Zelteingang stand. »Ich nehme sie!«

Winyela erbleichte.

»Nein!« rief Canka. »Sie gebe ich nicht auf! Sie gehört mir!«

»Ich habe dir ein Geschenk gemacht, das einen großen Wert besitzt«, sagte Hci und tat verwirrt. »Und du willst mir keine Gegengabe machen?«

»Sie bekommst du nicht!« sagte Canka.

»Na schön, mein Freund«, bemerkte Hci und schaute seine Begleiter an. Dann blickte er auf die Zuschauer, die sich inzwischen eingefunden hatten, und lächelte breit. »Die Kaiila, die ich dir übergeben habe, gehören dennoch dir. Ich bedaure meine Großzügigkeit nicht. Ich bedaure nur, daß du in dieser Sache so kleingeistig reagierst.«

Einer der Sleensoldaten, die Hci begleiteten, schlug sich vor Vergnügen auf den Schenkel. Einige Umstehende begannen ebenfalls zu lachen. Die Gruppe der roten Wilden wurde immer größer; die Nachricht von Hcis Besuch bei Canka schien sich im Lager schnell herumzusprechen.

»Ich habe Canka zwanzig Kaiila geschenkt!« rief Hci in die Menge. »Als Gegenleistung gönnt er mir nicht einmal eine einzige weibliche Kaiila.« Und er deutete auf Winyela.

Die Zuschauer lachten.

»Nimm deine Kaiila zurück!« sagte Canka barsch.

»Wie sollte ich das tun?« fragte Hci. »Ich habe sie dir bereits geschenkt.«

»Ich gebe sie dir dennoch zurück!« sagte Canka zornig.

»Na schön«, gab Hci lächelnd nach. Der Sleensoldat faßte die Zügel fester.

»Hci ist sehr klug«, raunte mir Cuwignaka zu. »Er weiß genau, daß Canka Winyela nicht herausrücken will. Seine Zuneigung zu ihr ist längst überall im Lager bekannt. Trotzdem setzte er seinen Plan erst in die Tat um, nachdem Canka sich geweigert hatte, das Mädchen seinem Vater Mahpiyasapa als Geschenk für die Gelbmesser zu überlassen. Wenn Canka sie nicht Mahpiyasapa gab, würde er sie auch nicht Hci als Gegengeschenk überlassen.«

»Dann hat Hci also nicht damit gerechnet Winyela zu bekommen«, sagte ich.

»Natürlich nicht!« sagte Cuwignaka. »Ich meine fast, daß er sie überhaupt nicht haben will. Sie ist zwar hübsch, aber hübsche Mädchen gibt es im Lager jede Menge. Die Isanna allein besitzen mehr als zweihundert. Außerdem mag er zwar der Sohn eines Häuptlings sein, doch ist er noch sehr jung. Er würde für eine solche Frau keine zwanzig Kaiila zahlen wollen. Für einen jungen Mann wie ihn wäre das ein geradezu verrückter Preis. Schließlich ist sie nur eine weiße Sklavin, allenfalls vier oder fünf Kaiila wert. Die meisten weißen Sklavinnen werden für ein Fell oder weniger verkauft. Außerdem hat Hci seit seiner Verletzung die Gesellschaft von Frauen weitgehend gemieden, auch von Sklavinnen. Hci liegt mehr daran, Flieher und Gelbmesser zu töten, als Sklavinnen zu zähmen.«

»Folglich riskiert er gar nichts«, sagte ich.

»Und gewinnt sehr viel, indem er nämlich Canka an den Pranger stellt«, sagte Cuwignaka. »Er ist ein schlauer Bursche. Ich mag ihn irgendwie.«

»Es tut mir sehr leid, mein Freund Canka«, sagte Hci grinsend, »daß du in dieser Sache einen Ehrverlust erlitten hast. Ich hoffe, du wirst mir verzeihen. In gewisser Weise ist es natürlich mein Fehler. Ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, dir zum Friedensschluß kein großes Geschenk zu machen. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß dir der Edelmut und die Großzügigkeit des Kaiila-Kriegers abgehen. Nur gut, daß du nur den Kampfgefährten angehörst. Im Kreis der Sleensoldaten wäre ein Mann wie du niemals willkommen.«

Ich spannte die Muskeln an, denn ich fürchtete schon, Canka würde sein Messer ziehen und sich auf Hci stürzen. Hci selbst war sichtlich auf diese Möglichkeit vorbereitet und hätte den Angriff sicher begrüßt. Er hatte leicht die Knie gebeugt, und seine Hand schwebte in der Nähe des Messergriffs. Nur zu gern wäre Hci bereit gewesen, seine Differenzen mit Canka der Zufälligkeit des Messerkampfes zu überlassen.

»Hoho!« prustete Cuwignaka plötzlich los und schlug sich auf die Oberschenkel. »Hci begreift gar nicht, wie lustig das alles ist!«

Die beiden jungen Männer starrten Cuwignaka an, als habe er den Verstand verloren.

»Ein guter Witz, Canka«, sagte Cuwignaka. »Du hast ihn richtig getäuscht. Einen Moment lang habe auch ich mich täuschen lassen!«

»Wovon redest du?« fragte Canka.

»Hast du wirklich angenommen, Hci«, sagte Cuwignaka lachend, »daß mein Bruder Canka, der als Blotanhunka gedient hat und der den Kampfgefährten angehört und nicht lediglich den Sleensoldaten, für eine bloße Sklavin keine zwanzig Kaiila annehmen würde?«

»Ich gebe das Mädchen niemals auf«, sagte Canka.

»Dürfte ich mal mit meinem Bruder sprechen?« fragte Cuwignaka.

»Aber ja doch«, erwiderte Hci und wandte sich an die Menge. »Hier haben wir die hübsche Siptopto, Cankas Schwester. Warum sollte eine Schwester sich nicht mit ihrem Bruder beraten dürfen? Ist es nicht das Privileg einer Schwester, mit ihrem Bruder zu sprechen?«

»Cinto!« riefen etliche Stimmen. »Aber ja doch!«

»Danke!« rief Cuwignaka.

Dann baute er sich zwischen den beiden Wilden auf; er wandte Hci den Rücken zu und legte Canka brüderlich die Hände auf die Schultern, ein Vorgehen, das auch gleichzeitig dafür sorgte, daß Canka sich nicht von der Stelle rühren konnte. Leise sprach er auf Canka ein und trat schließlich zurück. »Ich meine, der Scherz ist nun weit genug getrieben worden«, sagte er ziemlich laut.

»Du hast recht, Cuwignaka«, sagte Canka. »Verzeih mir, Hci, ich wollte dich wirklich nicht unnötig zum Besten halten.«

Hci musterte ihn verwirrt.

»Sie gehört dir«, sagte Canka und deutete auf Winyela. Das Mädchen verzog entsetzt das Gesicht. Ich fürchtete schon, sie würde das Bewußtsein verlieren.

»Sie gehört mir?« fragte Hci.

»Selbstverständlich«, sagte Canka. »Nimm sie dir, führe sie fort.« Entschlossen nahm er dem Sleensoldaten den Kaiilazügel aus der Hand.

»Mir?« fragte Hci.

»Ja«, entgegnete Canka. »Du sagtest doch, du wolltest sie. Nun nimm sie.«

»Aber das sind zwanzig Kaiila!« sagte Hci.

»Die Bedingungen für den Tausch wurden von dir festgesetzt«, sagte Canka. »Ich finde sie zwar seltsam, doch ich akzeptiere sie. Nimm das Mädchen.«

»Bitte, Herr!« flehte Winyela und warf sich vor Canka zu Boden. »Gib mich nicht fort! Ich liebe dich doch! Ich liebe dich!«

»Schweig, Sklavin!« sagte Canka streng.

Winyela senkte den Kopf und schluchzte so heftig, daß sie am ganzen Körper bebte.

Wie betäubt stand Hci vor uns.

»Was gedenkst du mit ihr zu tun?« fragte Canka freundlich.

Offenkundig hatte Hci nicht damit gerechnet, das Mädchen zu bekommen; Cuwignaka behielt recht. Er hatte sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, was er mit ihr anfangen sollte.

»Mein Vater wollte sie haben«, sagte Hci. »Ich werde sie ihm für die Gelbmesser schenken.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Canka aufgeschlossen.

»Hci«, rief ein Mann lachend, »hat für eine weiße Sklavin zwanzig Kaiila gegeben!«

»Ich glaube nicht, daß ich ihm auch weiterhin meine Tauschgeschäfte überlasse«, sagte ein zweiter.

»Es ist sogar doppelt witzig!« meldete sich ein dritter. »Hci wurde dazu gebracht anzunehmen, daß Canka auf den Handel nicht eingehen wolle, dann führte Canka ihn hinters Licht und schloß ein Geschäft ab, das sehr zu seinem Vorteil war!«

»Wenn ich beim Austausch von Geschenken nur auch so gut abschneiden könnte!« rief eine Stimme.

Gelächter breitete sich aus.

»Komm, Mädchen«, sagte Hci zornig zu Winyela. Offenbar wollte er schleunigst diesen Ort verlassen, an dem er, Hci, Sohn eines Häuptlings, plötzlich in die Hinterhand geraten war und als Dummkopf hingestellt wurde. Eine unangenehme Wende, die seiner Eitelkeit so gar nicht schmeichelte.

»Geh mit ihm«, sagte Canka zu Winyela.

Schwankend richtete sie sich auf.

Hci machte kehrt. Er hatte noch keine zwei Schritte gemacht, als Canka hinter ihm herrief: »Einen Moment noch, Freund Hci!«

Ärgerlich drehte sich der junge Krieger um. Er hatte die Hand auf den Messergriff gelegt.

»Wir haben die Zeit der Friedensschlüsse«, sagte Canka. »Die Zeit des Feierns und Tanzens. Die Zeit für Geschenke und Freundschaftsbekundungen.«

Aufgebracht starrte Hci ihn an.

»Ich schenke dir zwanzig Kaiila!« sagte Canka und hob den Zügel. »Sie gehören dir!«

»Ich habe nichts von vergleichbarem Wert, das ich dir schenken könnte!« brüllte Hci zornig.

»Ich nehme sie«, sagte Canka und deutete auf Winyela. »Nein!« sagte Hci nachdrücklich. »Ich weiß nun, daß du sie haben willst. Aber ich behalte sie.«

»Tu das!« sagte Canka lachend. »Aber dann wird überall an den Feuerstellen herumerzählt werden, wie Hci seine Ehre verlor, wie er sich vom Austausch von Geschenken ausschloß, wie er damit bewies, daß er ein engstirniger, geiziger Mann ist und den Edelmut und die Großzügigkeit des Kaiila-Kriegers vermissen läßt!«

»Ich bin Kaiila-Krieger!« brüllte Hci außer sich. »Ich bin nicht engstirnig und geizig! Hci ist großzügig! Hci ist edel! Hci ist ein großzügiger, edler Krieger! Hci ist ein Krieger der Kaiila! Hci verliert nichts von seiner Ehre!«

»Ach?« fragte Canka.

»Sie gehört dir!« sagte Hci.

»Und die Kaiila dir«, sagte Canka lächelnd und reichte den Leitzügel für die zwanzig Reittiere einem der Sleensoldaten in Hcis Begleitung.

Winyela sank vor Canka in die Knie. Ich fürchtete, sie würde das Bewußtsein verlieren.

Hci musterte Canka mit zornigem Blick. Seine Hand öffnete und schloß sich über dem Messer.

»Ich glaube, Canka liegt wirklich an der Frau«, sagte ein Mann.

»Ich auch«, antwortete ein anderer.

»Interessant«, sagte eine Stimme.

»Nun ist der Scherz ein dreifacher«, sagte einer der Männer. »Canka tat, als wolle er nicht tauschen, dann tauschte er doch und legte Hci damit herein; da er aber letztlich die Frau behalten wollte, übertölpelte er Hci ein zweitesmal und zwang ihn gegen seine Ehre, sie zurückzugeben.«

Ich lächelte. Für mich stand nach diesem lebhaften Gespräch fest, daß die Ehre eher Cuwignaka als Canka gebührte.

Seine Schläue, so wollte mir scheinen, stand hinter Cankas Sieg und hatte ein Blutvergießen verhindert. Canka, davon war ich überzeugt, machte sich in diesem Punkt keine Illusionen.

»Eine gute Geschichte«, sagte ein Mann, »die im Laufe der Jahre oft erzählt werden wird.«

»Und es ist keine Eigengeschichte«, antwortete sein Nachbar. »Wir alle können sie erzählen.«

»Ja«, sagte der erste. Viele Geschichten, die bei den roten Wilden erzählt werden, stehen im Eigentum einzelner, und können nur von einem bestimmten Mann erzählt werden. Wollte man die Geschichte hören, müßte man sich an ihren Eigentümer wenden. Es ist ein Privileg, eine Geschichte zu besitzen. Sie kann einen zu einer wichtigen Person machen. Manchmal werden solche Geschichten an bestimmten Tagen erzählt, und viele Leute kommen zum Zuhören. Manche Menschen besitzen kaum etwas anderes als ihre Geschichte, doch eine gute Geschichte zu besitzen macht einen Mann in den Augen der roten Wilden reich.

Geschichten lassen sich auch wie jeder andere Besitz verschenken oder verkaufen. Dies geschieht aber selten, denn die roten Wilden stellen sich ungern vor, daß eine Geschichte einen Preis hat; für sie ist sie zu kostbar zum Verkaufen. Wie alle kostbaren oder unschätzbaren Dinge behält man sie oder verschenkt sie höchstens, wenn einem in einer Hochstimmung danach zumute ist. Manchmal vererbt ein Mann seine Geschichte; so leben gewisse Geschichten seit Generationen in Familien fort; manchmal gibt er sie an jemanden weiter, der sie liebt und von dem er annimmt, daß er sie gut erzählen kann.

»Morgen«, rief Hci zornig und deutete auf Canka, »wird sich mein Vater die Frau nehmen. Morgen mittag wird er sie dir abnehmen, für die Gelbmesser!« Wutschnaubend drehte er sich um und verschwand zwischen den Zelten. Die beiden Sleensoldaten folgten ihm; einer führte die Kaiila hinter sich her.

»Meinst du, er wird das tun?« fragte ich Canka.

»Nein«, antwortete Canka. »Mahpiyasapa ist zwar böse auf mich, doch er ist ein guter Häuptling. Er kennt die Sitten der Kaiila. Niemals würde er mir die Frau gegen meinen Willen nehmen.«

Canka hockte sich neben Winyela nieder, zog sie in eine kniende Stellung hoch und preßte sie an sich.

»Hab keine Angst«, sagte er beruhigend.

»Du hast mich verschenkt«, flüsterte sie.

»Doch nur vorübergehend«, erwiderte er, »und nur weil ich wußte, wie ein Kaiilakrieger denkt. Es bestand keine Gefahr, daß ich dich verlieren würde.«

»Du hast mich verschenkt«, sagte sie matt.

»Es ist alles vorbei. Ich werde es nicht wieder tun.«

»Magst du mich nicht?«

»O doch, sehr sogar.«

»Dann schicke mich niemals von dir fort.«

»Ich werde dich niemals gehen lassen«, sagte er. »Ich liebe dich.«

Erstaunt blickte sie zu ihm auf und drückte sich dann zitternd und schluchzend in seine Arme. »Ich liebe dich auch, mein Herr!«

Canka ließ sie eine Zeitlang weinen. Dann hob er sie hoch und trug sie vorsichtig in sein Zelt.

»Ich fand, daß Canka ziemlich geschickt mit Hci umgesprungen ist«, sagte Cuwignaka.

»Ich finde, Cuwignaka ist mit Hci recht geschickt umgesprungen«, sagte ich. »Und Canka weiß das – und Hci vermutlich auch, leider.«

»Hci ist ein schlauer Bursche«, meinte Cuwignaka. »Es war an der Zeit, daß er mal seine eigene Arznei zu schmecken bekam.«

»Wer solche Medizin austeilt, bekommt sie selten gern selbst verschrieben.«

»Ich glaube, nun habe ich einen befriedigenden Ausgleich gefunden für Hcis Trick in der Senke und den Verlust des Fleisches«, sagte Cuwignaka leise lachend.

»Meinst du, es wird deswegen noch Ärger geben?«

»Nein«, sagte Cuwignaka. »Hci ist wütend, aber er kann nichts tun. Nach den Gebräuchen unseres Stammes ist er hilflos.«

»Aber was ist, wenn er sich über die Sitten und Gebräuche hinwegsetzt?« fragte ich.

»Das wird er nicht tun. In letzter Konsequenz ist Hci ein hundertprozentiger Kaiila. Er ist ehrenvoll.«

»Er drohte Canka, Mahpiyasapa würde ihm Winyela morgen wegnehmen«, sagte ich. »Er kann auf keinen Fall bestimmt wissen, daß das geschehen wird – eher ist diese Aussage sogar falsch. Auf ähnliche Weise scheint er mir in der Angelegenheit mit dem Fleisch gelogen zu haben.«

»Das stimmt schon«, sagte Cuwignaka nachdenklich. »Er hätte das wirklich nicht tun dürfen.«

»Nein.«

»Das ist nicht recht.«

»Außerdem hängen Dinge wie Zivilisation und Freundschaft und Verständigung von gegenseitigem Vertrauen ab«, meinte ich.

»Außerdem könnte ein solches Verhalten gefährlich sein«, sagte Cuwignaka.

»Inwiefern?« wollte ich wissen.

»Der eigene Schild könnte einen verraten.«

Ich betrachtete den jungen Mann.

»Ja«, sagte Cuwignaka. »Es ist eine allgemein bekannte Tatsache. Wenn man lügt, kann sich der eigene Schild weigern, den Kämpfer zu verteidigen.«

»Außerhalb des Ödlands verhalten sich Schilde aber nicht so«, sagte ich lächelnd.

»Wie ich sehe, bist du skeptisch«, sagte Cuwignaka. »Nun ja, ich kann es dir ganz genau sagen, mein Freund. Ich spreche von den Schilden der Völker des Ödlands. Dabei handelt es sich nicht um gewöhnliche Schilde. Unsere Schilde werden mit Hilfe von Zaubersprüchen gefertigt. Diese Kriegsmedizinen sind wichtig in Aufbau und Entwurf. Es handelt sich bei ihnen nicht einfach nur um Kriegsgerät, nicht nur um Gegenstände aus Metall oder Leder. Sie sind heilig. Sie sind kostbar. Sie sind Freunde und Verbündete. Gewiß hast du sie schon auf Stativen hinter Zelten gesehen, wo sie der Sonne ausgesetzt wurden?«

»Ja«, mußte ich zugeben.

»Sie sollen die Kraft der Sonne in sich aufsaugen.«

»Ich verstehe.«

»Bei einem normalen Schild würde man das nicht machen, oder?«

»Im allgemeinen nicht«, sagte ich.

»Also sind es keine normalen Schilde«, folgerte Cuwignaka.

»Im Kampf sind einige Krieger sicher erfolgreicher als andere«, bemerkte ich.

»Selbstverständlich. Wahrscheinlich ist ihre Kriegsmedizin stärker.«

»Aha.«

»Kehren wir in unser Zelt zurück«, sagte Cuwignaka.

»Du sprichst goreanisch«, sagte ich. »Du hast bei Weißen gelebt.«

»Ja?« fragte Cuwignaka.

»Glaubst du wirklich an diese Dinge?«

»Welche Dinge?«

»Na, an die Sache mit den Schilden.«

»Natürlich!«

»Komm, bleib ernst!«

»Ich weiß nicht«, sagte Cuwignaka lächelnd. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

»Glauben alle deine Stammesgenossen daran?«

»Ich würde sagen, die meisten.«

»Was ist mit Kriegern wie Canka und Hci? Glauben sie daran?«

»Natürlich!«

»Gehen wir in unser Zelt«, sagte ich.

»Ja«, stimmte mir Cuwignaka zu. »Ich muß mich ausruhen. Morgen muß ich tanzen. Morgen wird ein herrlicher Tag!«

13

»Herr! Herr!« rief das blonde Mädchen entzückt und hielt mich an der Hand fest.

Lächelnd zog sie mich hinter ein Zelt. Bis auf den perlenbesetzten Sklavenkragen war sie nackt. Es war der Morgen des Tages, an dem der große Tanz stattfinden sollte. Hinter dem Zelt kniete sie nieder. »Ich bin ja so glücklich, Herr!« sagte sie. »So glücklich!«

Es war das Mädchen, das mir zweimal im Lager begegnet war und das ich sodann mit Hilfe der perlenbesetzten Sklavenpeitsche, die mir Macht über Herdensklavinnen verlieh, an einem langen Nachmittag in die wahre Bedeutung der Sklaverei eingeführt hatte.

»Du bist doch nicht etwa fortgelaufen?« fragte ich besorgt.

»Nein«, antwortete sie lachend. »Man hat mich aus der Herde genommen. Ich habe einen neuen Herrn! Mein alter Herr hat mich verschenkt. Er meinte wohl eine eiskalte, unnahbare Sklavin loszuwerden, doch kaum lag ich auf den Fellen meines neuen Herrn, begann ich ihm auf das Unterwürfigste zu dienen. Er war entzückt. Ich glaube, er ist sehr erfreut über mich, er sagte jedenfalls, ich wäre ein prächtiges Geschenk. Er hat meinem alten Herrn sogar noch eine Kaiila zusätzlich geschenkt. Mein alter Herr regte sich sehr auf, weil er mich weggegeben hatte. Doch nun kann er nichts mehr daran ändern. Ich gehöre jetzt meinem neuen Herrn!«

»Wundervoll!« sagte ich.

»Ich habe nun auch einen Namen!«

»Ja?«

»Oiputake«, sagte sie.

»Das bedeutet ja ›Kuß‹!« rief ich.

»Ja«, lächelte sie. »Und manchmal weiß ich nicht, ob mein Herr mich nur ruft oder mir befiehlt, ihn zu erfreuen.«

»Als Sklavin dürftest du kein Risiko eingehen.«

Sie lachte. »Wenn ich die geringsten Zweifel habe, küsse ich ihn.«

Ich hatte dieses Mädchen wirklich durchgreifend verändert. Ihr neuer Herr würde viel Vergnügen mit ihr haben. Von einer frigiden freien Frau hatte sie sich in eine vielversprechende Sklavin verwandelt.

»Die Dinge stehen wirklich gut für die Kaiila«, sagte ich. »Dein Herr hat eine wunderschöne weiße Sklavin erstanden. Mein Herr und Freund Canka, Angehöriger der Isbu-Bande, hat seine Sklavin, die er liebt, behalten können, ein Mädchen namens Winyela, und mein Freund Cuwignaka wird nach jahrelangem Warten heute endlich das Zelt des großen Tanzes betreten.« Ich lächelte vor mich hin.

»Das freut mich für ihn«, sagte Oiputake.

»Es gibt überreichlich Fleisch im Lager«, fuhr ich fort, »und wir feiern Feste und Tänze. Wir besuchen uns gegenseitig und geben Geschenke.«

»Auch ich war so ein Geschenk«, sagte sie lächelnd.

»Zum Kummer deines alten Herrn. Und was noch schöner ist, scheint es in Kürze Frieden zwischen den Kaiila und den Gelbmessern zu geben. Die Zivilhäuptlinge der Gelbmesser sind bereits bei uns im Lager.«

»Das sind keine Zivilhäuptlinge«, sagte sie.

»Was?«

»Ich habe die Gelbmesser-Häuptlinge im Dorf gesehen«, sagte die Sklavin. »Ich sah sie vor Tagen ins Lager kommen, als ich noch bei den anderen Mädchen bewacht wurde. Und gestern nacht sah ich sie bei einem späten Essen, als man mich in das Zelt meines Herrn brachte. Und ich sah sie heute früh im Isanna-Lager, dicht beim Zelt von Watonka. Es sind keine Zivilhäuptlinge.«

»Du irrst.«

»Ich war eine Zeitlang Sklavin bei den Gelbmessern«, sagte Oiputake. »Ich weiß Bescheid.«

»Es sind nicht Zivilhäuptlinge?« fragte ich.

»Die Zivilhäuptlinge der Gelbmesser habe ich einmal bei einer Ratsversammlung beobachtet«, erwiderte sie. »Und zwar ist das erst Wochen her. Kurze Zeit später wurde ich bei einem Überfall von Isanna-Kriegern erbeutet.«

»Die Zeit für eine Ratsversammlung scheint mir zu früh gewesen zu sein.«

»Es hat aber eine stattgefunden.«

»Waren die Pte schon eingetroffen?« fragte ich. Normalerweise hängt eine solche Ratsversammlung mit dem Eintreffen der Pte und der Vereinigung aller Gelbmesser-Banden zur großen Jagd zusammen. Die Pte erreichten die Gebiete der Kaiila normalerweise vor denen der Gelbmesser.

»Nein«, erwiderte sie.

»Das ist interessant«, sagte ich. »Weißt du, worum es bei der Ratsversammlung ging?«

»Nein.«

»Vor einigen Wochen«, sagte ich, »fand ein Überfall auf einen großen Wagenzug und eine Söldnerhorde statt. Weißt du davon?«

»Ja«, sagte sie. »Man brachte Gefangene ins Lager der Gelben Messer.«

»Fand die Ratsversammlung vor oder nach diesem Überfall statt?«

»Mehrere Tage danach.«

»Das ist ebenfalls interessant«, bemerkte ich. »Bist du sicher, daß du nicht weißt, worüber beraten werden sollte?«

»Ganz sicher, Herr«, erwiderte sie. »Niemand lehrte mich den Gelbmesser-Dialekt. Ich kenne nur wenige Worte. Bei den Gelbmessern wurde ich auch nur für die einfachsten Arbeiten eingesetzt, angeleitet durch Schläge und Peitschenhiebe. Für die Krieger war ich eine Art Kaiila, ein zweibeiniges Lastentier.«

»Natürlich«, sagte ich.

»Bei dieser Ratsversammlung«, fuhr das Mädchen fort, »sah ich die Zivilhäuptlinge der Gelbmesser. Und es waren nicht die Männer, die jetzt bei uns im Lager sind.«

»Du mußt dich irren«, sagte ich.

»Nein, Herr.«

»Hast du diese Männer schon im Lager der Gelbmesser gesehen?«

»Ja, Herr.«

»Es sind Zivilhäuptlinge.«

»Nein, Herr!«

»Weißt du, was sie sind?«

»Ja, Herr.«

»Was?«

»Kriegshäuptlinge.«

14

»Canka!« rief ich. »Wo ist Canka?«

Der junge Krieger war nicht in seinem Zelt. Ganz in der Nähe hockte im Schneidersitz eine Gestalt auf dem Boden, die Robe halb über das Gesicht gezogen, und wiegte den Oberkörper hin und her.

»Akihoka!« rief ich. »Wo ist Canka?«

»Auf der Jagd«, antwortete Akihoka.

»Wann ist er zurück?«

»Er dürfte nicht wiederkommen!« rief Akihoka klagend und wiegte sich hin und her. »Er war mein Freund!« jammerte er. »Er war mein Freund.«

»Ich verstehe das alles nicht. Was ist passiert?«

»Du bist heute nicht der erste, der ihn sucht«, erwiderte Akihoka, weit vorgebeugt, unter der Robe kaum zu erkennen.

»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Ich habe Informationen. Ich muß ihn sprechen. Vielleicht bedeuten sie ja nichts, vielleicht aber sehr viel!«

»Sleensoldaten wollten ihn abholen!« klagte Akihoka. »Aber er war nicht hier. Er war auf der Jagd.«

»Warum sollten Sleensoldaten Canka abholen wollen?« fragte ich erschrocken.

»Er hat versucht, Mahpiyasapa zu töten«, jammerte Akihoka.

»Das ist lächerlich!«

»Sie haben den Pfeil, der auf Mahpiyasapa abgeschossen wurde«, fuhr Akihoka fort und setzte die kummervolle Bewegung fort. »Es ist ein Pfeil Cankas. Außerdem hat Hci Canka vom Tatort fliehen sehen.«

»Canka würde niemals auf Mahpiyasapa schießen«, sagte ich. »Mahpiyasapa ist sein Häuptling.«

»Angeblich hatte er Angst, Mahpiyasapa würde ihm die rothaarige Frau wegnehmen.«

»Mahpiyasapa würde das niemals gegen seinen Willen tun«, sagte ich. »Und Canka weiß das.«

»Hci behauptete gestern abend das Gegenteil«, meinte Akihoka.

»Hci hat im Zorn gesprochen.«

»Hci sah ihn vom Tatort fliehen«, sagte Akihoka bekümmert.

»Hast du nicht gesagt, Canka wäre auf die Jagd gegangen?«

»Es wird behauptet, er habe auf Mahpiyasapa geschossen und wäre dann jagen gegangen.«

»Absurd!« rief ich. »Niemand schießt auf seinen Häuptling einen Pfeil ab und reitet dann auf die Jagd.«

»Der Pfeil gehört Canka«, sagte Akihoka, und seine Stimme klang schrill vor Sorge. »Hci sah ihn wegrennen.«

»Wer hat ihn noch gesehen?« wollte ich wissen.

»Niemand.«

»Erscheint dir das wahrscheinlich – in einem überfüllten Lager?«

»Es war Cankas Pfeil. Man hat seinen Pfeil. Und Hci sah ihn fliehen.«

»Hci lügt!«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Er hat auf seinen Schild geschworen.«

»Es muß Hci selbst gewesen sein, der den Pfeil abschoß«, meinte ich.

»Mahpiyasapa ist Hcis Vater«, gab Akihoka zu bedenken. »Hci würde ihn niemals töten wollen!«

»Das nehme ich auch nicht an«, sagte ich. »Ich glaube, Hcis Absicht läuft darauf hinaus, lediglich den Eindruck zu erwecken, auf seinen Vater sei ein Anschlag verübt worden.«

»Das würde Hci niemals tun.«

»Warum nicht?«

»Hci ist ein Kaiila«, sagte Akihoka. »Schande! Schande!« jammerte er los. »Schande für Canka. Schande für die Kampfgefährten. Ich trauere um Canka. Er war mein Freund. Er war mein Freund.«

»Hci«, sagte ich entschlossen, »hat Canka nicht vom Tatort fliehen sehen.« Mir fiel ein, daß sich Canka am ersten Morgen der großen Jagd bei Cuwignaka erkundigt hatte, ob er einen seiner Pfeile gesehen habe. Schon damals schien Hci also seinen Plan in der Brust bewegt zu haben. Bei der offenen Lebensart der roten Wilden, die nichts verstecken oder verschließen und für die Diebstahl etwas Undenkbares und höchst Überraschendes ist, wäre es sicher keine Schwierigkeit, sich einen Pfeil zu beschaffen.

»Hci kann seine Aussagen beschwören.«

»Ein Meineid!«

»Er schwört auf seinen Schild.«

»Dann leistet Hci auf seinen Schild einen Meineid.«

Akihoka erstarrte. Er zog die Robe vom Kopf, legte sich den Stoff um die Schultern. »Du bist ein Weißer«, sagte er. »Du bist nur ein Sklave. Du weißt nichts von diesen Dingen.«

»In deinem Herzen weißt du so gut wie ich«, entgegnete ich, »daß Canka niemals den Versuch machen würde, Mahpiyasapa zu töten. Ich bin sicher, im Grunde seines Herzens ist Mahpiyasapa derselben Überzeugung.«

»Aber Hci hat auf seinen Schild geschworen!«

»Dann war das ein Meineid!«

»Aber wie wäre das möglich?« fragte Akihoka verwirrt.

»Zweifellos spielt Hcis Eitelkeit eine Rolle – und sein Haß auf Canka.«

Der andere schaute zu Boden. Als Kaiila-Krieger waren solche Dinge für ihn kaum vorstellbar, mochten sie auch noch so plausibel klingen. Es war, als wären seine Überzeugungen, sein Vertrauen in gewisse wesentliche Dinge in ihren Grundfesten erschüttert.

»Bei der Liebe, die du für Canka empfindest«, sagte ich, »mußt du ihm nachreiten. Triff dich mit ihm. Finde ihn. Sag ihm, was geschehen ist. Ich versichere dir, er weiß davon nichts. Zu der Anklage ist es bestimmt auch nur gekommen, weil er das Lager verlassen hatte.«

Akihoka hob den Blick.

»Du mußt ihn vor den Sleensoldaten finden«, beharrte ich. »Vielleicht hängt sein Leben davon ab. Kläre ihn über die Ereignisse auf. Dann muß er entscheiden, was geschehen soll.«

»Er wird zurückkehren«, sagte Akihoka.

»Dann soll er in vollem Bewußtsein der Ereignisse zurückkommen. Nun reite schon los!«

»Ich weiß, wo er jagen würde.«

»Beeil dich!«

Akihoka warf seine Robe zu Boden. »Ich reite.«

»Wo ist Winyela?« fragte ich.

»Keine Ahnung.«

»Ist sie von Sleensoldaten abgeholt und womöglich in Mahpiyasapas Zelt gebracht worden?«

»Nein.«

»Siehst du?« sagte ich. »Selbst in dieser Situation läßt Mahpiyasapa das Mädchen nicht zu sich bringen. Selbst unter diesen Umständen betrachtet er sie noch als Cankas Eigentum. Er weiß bestimmt, daß Hci lügt.«

Akihoka machte kehrt und eilte zwischen den Zelten davon. Er würde die Leine seiner Kaiila lockern und mit einem Satz auf den Rücken des Tiers springen. Kurze Zeit später würde er sich außerhalb des Lagers befinden.

Ich schaute in die Richtung, in die Akihoka gelaufen war; ich konnte ihn schon nicht mehr sehen.

Eine kühle Brise umspielte mich. Mahpiyasapa tat mir leid. Es mußte für einen Vater schrecklich sein zu erkennen, daß sein geliebter Sohn gegen die Ehrenvorstellungen des Stammes verstoßen hat.

Dann fielen mir die Informationen ein, die ich eben erst von der hübschen blonden Sklavin Oiputake erhalten hatte. Ich steckte hübsch in der Klemme. Natürlich hatte ich gehofft, Canka einweihen zu können. Dies schien mir nicht nur deswegen angemessen, weil er genau genommen mein Herr war, sondern weil er zugleich bei den Kampfgefährten eine hohe Position bekleidete. Er hätte die Situation beurteilen, die Information abschätzen können. Noch lieber wäre ich zuerst zu Cuwignaka gegangen, weil ich ihn am besten kannte und Hochachtung empfand vor seinem Durchblick und seinem Urteilsvermögen, aber dieses Vorgehen kam nicht in Frage, weil er gerade mit den anderen jungen Männern im großen Zelt tanzte. So wußte ich nun nicht, was ich tun sollte. Natürlich konnte ich vor irgendeinem Passanten niederknien und ihm das Erfahrene mitteilen, aber ich hatte Angst, als Dummkopf abgewiesen zu werden, der sinnloses Zeug faselte. Wer würde auf einen Sklaven hören, der seine Weisheit zudem noch von einer anderen Sklavin bezogen hatte? Wenn sie sich nun irrte – was dann?

Grunt! dachte ich. Grunt! Er weiß bestimmt, was zu tun ist. Außerdem ist er mit Mahpiyasapa eng befreundet. Mahpiyasapa wird ihn anhören. Ich mußte Grunt finden!

15

»Wo ist Grunt?« rief ich.

Erschrocken hob Wasnapohdi den Kopf. Sie kniete in dem Zelt, das Mahpiyasapa seinem Freund Grunt zur Verfügung gestellt hatte.

»Er ist nicht hier«, antwortete sie.

»Wo steckt er?«

»Ich weiß es nicht!« rief sie und schien verängstigt zu sein. »Hast du schon gehört, was Canka getan haben soll?«

»Ja, aber ich glaube es nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte sie. »So etwas ist unmöglich.«

»Warum bist du allein im Zelt? Warum arbeitest du nicht?«

»Ich verstecke mich.«

»Du brauchst keine Angst zu haben. Cankas Probleme haben mit dir nichts zu tun.«

»Nicht deswegen habe ich Angst.«

»Hast du eine Ahnung, wo Grunt sein könnte?«

»Vielleicht bei Mahpiyasapa. Er hat das Zelt verlassen, nachdem er von Cankas angeblichem Anschlag erfahren hatte.«

»Das ist ein guter Gedanke!« rief ich. »Ich gehe zu Mahpiyasapas Zelt!« Als ich mich schon zum Gehen wandte, fuhr ich noch einmal zu dem Mädchen herum. »Warum versteckst du dich?«

»Ich habe ihn gesehen!« flüsterte sie.

»Canka?« fragte ich überrascht.

»Nein. Waiyeyeca, Mann-der-viel-findet, meinen früheren Herrn!«

»Du hast schon im Besitz mehrerer Herren gestanden«, sagte ich.

»Ich habe dir von ihm erzählt, als wir uns kennenlernten, kurz nachdem mich mein Herr Grunt am Tauschpunkt erstanden hatte.«

»Der Junge?« fragte ich.

»Ja.«

»Ich erinnere mich.« Vor langer Zeit, an einer Handelsstelle der Staubfüße, hatte Grunt Wasnapohdi gegen drei gute Äxte eingetauscht. Bei unseren anschließenden Gesprächen hatte sie mir einen Teil ihrer Geschichte erzählt. Sie war in einem Waniyanpi-Lager der Kailiauk geboren und später von einem Kaiila-Krieger gekauft worden – im Alter von acht Jahren. Der Mann hatte sie mit nach Hause genommen und seinem zehnjährigen Sohn als Sklavin überlassen. So hatte sie es früh gelernt, Männern zu dienen und sie zu beruhigen. Als Kinder waren die beiden aber noch eher Spielgefährten gewesen, ehe sie ihre wahre Beziehung zueinander entdeckten.

Wasnapohdi senkte zitternd den Kopf.

Der junge Herr und seine Sklavin hatten sich damals wohl sehr geliebt. Seine Zuneigung zu dem Mädchen, die nur eine Sklavin war, hatte ihm von seinesgleichen viel Spott eingetragen – und in diesem Punkt sind rote Krieger sehr empfindlich. So hatte er sie schließlich, vermutlich gegen das eigene Gefühl, verkauft, wonach sie mehrere Herren gehabt hatte. Schließlich war sie, wie erwähnt, von Grunt gekauft worden.

»Er heißt Waiyeyeca?« fragte ich.

»Ja.«

»Aus welcher Bande?«

»Napoktan, die Armbandbande.«

»Aha.« Das Gebiet dieser Krieger liegt ungefähr nordwestlich des Kaiila-Flusses, im Norden seiner nördlichen Abzweigung, allerdings östlich des Schlangenflusses. Napoktankrieger tragen im allgemeinen zwei Kupferbänder am linken Unterarm.

»Hat er dich gesehen?« wollte ich wissen.

»Nein.«

»Liebst du ihn noch immer?«

»Ich weiß es nicht. Schließlich ist das alles lange her, viele Jahre. Er hat mich verkauft!«

»Und warum versteckst du dich?«

»Ich habe Angst, daß er mich sieht. Er hat mich verkauft, obwohl ich ihn liebte! Ich möchte diese alten Wunden nicht wieder aufreißen!«

»Unsinn!« sagte ich. »Du suchst nur nach einem Vorwand, deine Arbeit liegenzulassen. Was hatte Grunt dir aufgetragen?«

»Ich sollte seine Waren säubern«, antwortete sie.

»Im Zelt oder draußen?«

»Wahrscheinlich draußen, damit ich besser sehe, was ich tue.«

»Dann geh nach draußen und befolge den Befehl!«

Ich stand auf und eilte weiter. Ich wollte Grunt finden, um ihn nach der Bedeutung der von Oiputake erhaltenen Informationen über die Identität der Gelbmesser zu befragen.

»Tatankasa!« rief ein kleiner Junge. »Wirf mir den Ring! Wirf mir den Ring!«

»Hast du den Händler Wopeton gesehen?« fragte ich.

»Nein. Aber wirf mir den Ring!«

»Verzeih mir, kleiner Herr«, sagte ich. »Aber ich habe Dringendes zu tun.«

»Na schön.«

Im Eilschritt näherte ich mich dem Zelt Mahpiyasapas.

»Halt!« rief ein junger Mann.

Ich blieb stehen und sank vor dem Rufer auf die Knie. Es war der leitende Bewacher der Sklavinnen, aus deren Mitte ich mir das blonde Mädchen herausgesucht hatte – bevollmächtigt durch die perlenbesetzte Peitsche.

»Sei gegrüßt«, sagte er.

»Sei gegrüßt, Herr.«

»Die blonde Sklavin, die du dir nahmst«, sagte er, »ist nicht mehr bei der Herde. Sie wurde verschenkt, und ihr neuer Herr ist angeblich sehr zufrieden mit ihr. Anscheinend dient sie ihm jetzt als wertvolle Sklavin in seinem kleinen Zelt.«

»Das ist eine gute Nachricht, Herr«, sagte ich.

»Diesen Aufstieg hat sie bestimmt dir zu verdanken«, sagte der junge Mann. »Du hast das Eis in ihrem Bauch schmelzen lassen. Du hast sie zu einer Frau gemacht, die die Männer braucht.«

»Danke, Herr.«

»Sie hat den Namen Oiputake erhalten.«

»Ja, Herr«, sagte ich und fügte plötzlich hinzu: »Herr?«

»Ja?«

»Warum bist du im Lager – ich meine, warum ausgerechnet um diese Tageszeit?«

»Die Mädchen sind ins Lager geholt worden«, sagte er, »an den Rand der Siedlung.«

»Und die Wächter und Tierherden?«

»Wurden ebenfalls ins Lager geholt.«

»Warum?«

»Watonka hat das alles angeordnet«, antwortete der junge Mann.

»Somit ist die Westgrenze des Lagers unbewacht«, sagte ich. Die Isanna waren für die Sicherheit des Außenbezirks verantwortlich.

»Keine Sorge«, sagte der Junge, »wir haben die Zeit der Feste.«

»Hast du den Händler Wopeton gesehen?« fragte ich.

»Nein.«

»Darf ich gehen?«

»Aber ja doch«, sagte der junge Mann verwirrt.

Ich sprang auf und setzte meinen eiligen Weg zu Mahpiyasapas Zelt fort. Dabei kam ich bis auf hundert Meter an das große Tanzzelt heran, das aus hoch aufragenden Astmauern bestand. Drinnen befand sich der Stamm, drinnen tanzten die jungen Krieger, angemalt und herausgeputzt.

»Mahpiyasapa ist nicht hier«, sagte die Frau, die in der Nähe seines Zeltes kniete – eine seiner Ehefrauen. Ihre knochigen Finger umklammerten ein Gerbmesser. Sie schärfte das Gerät auf einem Stein. Das Messer wies sechs Punkte auf, die anzeigten, das es schon sechs Jahre in Gebrauch war. Zwei Finger waren am ersten Gelenk abgeschnitten: sie hatte zwei Söhne verloren.

»Weißt du, wo er ist?« fragte ich.

»Nein.«

»Danke, Herrin.« Ich stand auf und trat zurück. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte, an wen ich mich noch wenden konnte.

»Warum sollte er nicht im Rat sein?« fragte sie, ohne den Kopf zu heben.

»Natürlich!« rief ich. »Sei bedankt, Herrin!«

»Es wird dir nichts nützen«, meinte sie. »Du kannst ihn nicht sprechen, wenn er dort ist. Das ist nicht gestattet.«

»Eigentlich suche ich ja Wopeton. Könnte der auch im Rat sein?«

»Möglich ist es«, sagte sie achselzuckend, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben.

»Vielen Dank, Herrin, du bist sehr freundlich zu mir gewesen.«

»Wenn er im Rat ist, wirst du ihn ebensowenig sprechen können.«

Ich wandte mich ab und eilte weiter. Sie hatte mir sehr weitergeholfen. Stets daran denkend, daß dies der Tag des großen Tanzes war – vermutlich wegen Cuwignakas großer Vorfreude darauf – und daß die von Oiputake erhaltenen Informationen wirklich Schlimmes verhießen, hatte ich völlig vergessen, daß heute auch der Friedensrat stattfinden sollte, ein Tag, der zumindest ansatzweise die Ratifikation eines Friedensvertrages zwischen den Gelbmessern und den Kaiila bringen sollte. Mit schnellen Schritten näherte ich mich dem Ratszelt. Ich wußte nicht, ob ich Mahpiyasapa aus dem Rat würde rufen können, oder ob dies überhaupt ratsam war, doch ich war zuversichtlich, daß ich irgendwie an Grunt herankommen könnte, wenn er sich dort befand.

Grob stießen mich die beiden Krieger zurück. »Knie nieder!« fauchte einer.

Hastig gehorchte ich. Blanker Messerstahl funkelte.

»Verzeiht, ihr Herren«, sagte ich. »Ich muß unbedingt Wopeton sprechen.«

»Er ist nicht drinnen«, sagte ein Krieger.

»Dann gebt bitte weiter, daß ich dringend mit Mahpiyasapa sprechen muß!«

»Mahpiyasapa ist ebenfalls nicht im Bau«, sagte der Krieger.

»Keiner der beiden?«

»Nein.«

»Verzeiht, ihr Herren.«

»Vielleicht kommen sie später noch«, meinte einer der Wächter. »Die Ratsversammlung hat noch nicht begonnen.«

»Ja, ihr Herren«, sagte ich. »Vielen Dank, ihr Herren.« Auf den Knien kroch ich ein Stück zurück und behielt dabei die Messer im Auge. Dann stand ich auf und entfernte mich rückwärtsgehend. Die Wächter steckten die Messer fort und kehrten an ihren Posten vor dem Eingang des großen Zeltes zurück. Mit verschränkten Armen standen sie da. Die Stützstangen des Baus waren etwa fünfzig Fuß lang und von über hundert Kailiaukhäuten bedeckt.

Ich sah mich um. Wieder wußte ich nicht, was ich tun sollte. Am besten wartete ich wohl ab, bis Grunt oder Mahpiyasapa auftauchte. Ich hätte angenommen, daß sie sich längst im Inneren des Ratszeltes befanden. Die Versammlung mußte bald beginnen.

»Sklave«, sagte ein Mann, der einige Meter entfernt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden hockte.

Ich folgte seinem Winken, und er deutete auf eine Stelle neben sich. Ich kam der Aufforderung nach und kniete mich nieder. Er schliff einen Stein, der ein Hammerkopf werden sollte. Dabei wird eine angefeuchtete Lederschnur immer wieder geduldig über die harte Fläche gezogen. Ich schaute dem Mann bei der Arbeit zu. »Heute«, sagte er, »wird der Rat auf die Stimme Mahpiyasapas verzichten müssen.«

»Warum wird der Rat auf seine Stimme verzichten müssen?«

»Heute«, sagte der Mann und zog die Lederschnur über den Stein, »ist Mahpiyasapa in Trauer. Er hat das Dorf verlassen, um sich zu reinigen.«

»Warum sollte er in Trauer sein?« wollte ich wissen. Die Auskunft, daß er nicht im Lager sei, behagte mir ganz und gar nicht.

»Ich glaube, es hat damit zu tun, daß Canka ihn umbringen wollte«, antwortete der Mann und beobachtete das Hin und Her des Lederbandes.

»Oh«, sagte ich. Ich kannte diesen Mann nicht und sah daher keine Veranlassung, ihm meinen Verdacht über die wahren Ereignisse um den fehlenden Pfeil zu eröffnen.

»Du bist doch Cankas Sklave, nicht wahr?« fragte der Mann.

»Ja.«

»Und du wurdest nicht gefangengenommen oder getötet.«

»Nein.«

»Interessant«, sagte er und tauchte die Schnur in Wasser und anschließend in Sand.

Ich war überzeugt, daß Mahpiyasapas Kummer von Hcis verräterischem Verhalten herrührte und nicht von einem angeblichen Verrat Cankas. Ähnliche Gedanken, das ahnte ich, bewegten den Mann, der seine Worte an mich richtete. Er war kein Dummkopf. In seiner Beschämung und Trauer war Mahpiyasapa nicht in die Ratsversammlung gegangen. Vielleicht hatte er das Gefühl, seinen Genossen nicht gegenübertreten zu können. In der Enge eines Schwitzzeltes, mit Fasten und Dampf und heißen Steinen, würde er versuchen, die Ereignisse zu verarbeiten. Anschließend mochte er einen einsamen Ort aufsuchen, um einen Traum oder eine Vision zu empfangen, die ihm den weiteren Weg aufzeigte.

»Herr«, sagte ich.

»Ja?«

»Ist dir bekannt, ob Wopeton Mahpiyasapa begleitet hat?«

»Das nehme ich an«, antwortete der Mann, der vermutlich schon mehr als zwei Tage an seinem Stein arbeitete: Ich sah die Anfänge der Kerbe an der Oberfläche entstehen.

»Vielen Dank, Herr«, sagte ich.

»Und das ist ebenfalls interessant«, sagte der Mann.

»Ja, Herr.« Die Steine, die für ein Schwitzzelt bestimmt sind, werden in einem außerhalb befindlichen Feuer angeheizt und auf Stöcken ins Innere getragen, wo sie, mit Wasser übergossen, Dampf und Hitze erzeugen. Kühlt sich ein Stein wieder ab, wird er neu aufgeheizt. Dieser Teil der Arbeit wird im allgemeinen nicht von dem oder den Insassen des Zeltes verrichtet, sondern von einem Helfer. Ich war ziemlich sicher, daß Grunt seinem Freund Mahpiyasapa entsprechend aushalf, der in seiner Schande und Betrübtheit Mitglieder seines Stammes nicht um sich haben wollte.

Ich rutschte ein Stück auf den Knien rückwärts, stand auf und wandte mich von dem Mann ab, der geduldig an seinem Stein arbeitete. Einen letzten Blick warf ich auf das riesige Ratszelt. Die beiden Wächter standen noch immer vor dem Eingang. Verschiedene Männer gingen zwischen ihnen hindurch und betraten den Bau. Bei einer solchen Versammlung wurden natürlich nicht nur die Zivilhäuptlinge der verschiedenen Kaiila-Banden erwartet, sondern auch ihre führenden Männer, die Räte der einzelnen Gruppierungen sowie hochangesehene Krieger und andere weise Berater. Versammlungen dieser Art standen allen Stammesangehörigen offen, die schon etwas geleistet hatten. So würde sich in jenem Zelt an diesem Nachmittag die Elite der Kaiila-Nation versammeln, gewissermaßen die Aristokratie. Wie absurd erschienen mir angesichts dieser Entwicklung meine Verdächtigungen und Ängste! Wo so zahlreiche kluge Männer zusammentraten, konnte gewiß nichts schiefgehen. Wer war ich schon, ein ignoranter Sklave aus dem Stamm, mich in die Angelegenheiten dieser Persönlichkeiten zu mischen? Oiputake mußte sich geirrt haben! Die Gelbmesser, die sich im Lager aufhielten, konnten unmöglich Kriegshäuptlinge sein. Das ergäbe keinen Sinn!

Ich entfernte mich aus der Nähe des Ratszeltes.

»Wo ist Watonka?« hörte ich einen Mann fragen.

»Er ist noch nicht eingetroffen«, antwortete jemand.

»Macht er Medizin für die Versammlung?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er wartet darauf, daß der Schatten schrumpft«, meinte ein Dritter. »Dann erst kommt er zur Versammlung.«

Ohne recht zu wissen, warum, machte ich mich auf den Weg zu den Isanna-Zelten.

Mit verschränkten Armen standen die drei Männer in der Nähe Watonkas, der sich auf eine kleine Anhöhe unweit der Isanna-Zelte begeben hatte. Ich war sicher, daß es sich um Gelbmesser handelte. Nicht daß sie sich auf den ersten Blick von den Kaiila-Kriegern unterschieden. Vielmehr schienen sie im Gesamteindruck anders zu sein, zweifellos das Zusammenwirken zahlreicher kleiner Einzelheiten – vielleicht die Anordnung der Perlenbestickung ihrer Kleidung, die Art und Weise, wie gewisse Ornamente geschnitzt waren, die Einkerbung ihrer Ärmel, die Art der Beinbefransung, die Bindung der Federn im Haar, Schnitt und Stil der Mokassins. Dieser Männer waren keine Kaiila. Sie waren Fremde. Starr und ausdruckslos standen sie da. Watonka schaute in südöstlicher Richtung zum Himmel empor. Zu seinen Füßen steckte ein dünner Stock im Boden. Ringsum waren zwei Kreise in den Staub gezeichnet, ein kleiner und ein großer. Am Morgen, wenn die Sonne hoch genug stand, um einen Schatten zu werfen, reichte dieser Schatten vermutlich bis zum Außenkreis. Zur Mittagszeit würde die Sonne ihren kürzesten Schatten werfen, der dann innerhalb des Innenkreises enden mußte. Begann sich der Schatten wieder auszudehnen, hatte die Sonne ihren höchsten Punkt überschritten. Ich schaute zur Sonne empor und dann auf den Stock und seinen Schatten. Meiner Schätzung nach war es noch eine halbe Ahn bis zur Mittagszeit.

Im deutlichen Gegensatz zu den drei Kriegern, die ich für Gelbmesser hielt, war Watonka nervös. Er schaute auf die Krieger und dann wieder in den Himmel. Es war ein heller, klarer Tag. Unweit der Männer standen auch Bloketu und Iwoso. Bloketu schien sich ebenfalls unbehaglich zu fühlen. Dagegen machte Iwoso wie die drei fremden Krieger einen gelassenen Eindruck. Diese sechs Gestalten – wie auch etliche andere Isanna-Krieger, die in der Nähe warteten, hatten sich mit gelben Schärpen geschmückt, die von der linken Schulter zur rechten Hüfte führten. Vermutlich sollten diese gelben Tücher sie als Mitglied der Friedensgruppe identifizieren und schützen. Die gelben Streifen mochten darüber hinaus eine Medizinwirkung haben, wie sie möglicherweise einem Beteiligten im Traum eingefallen war.

Ich wußte nicht, ob man Bloketu zur Ratsversammlung zulassen würde. Normalerweise haben Frauen an solchen Orten keinen Zutritt. Die roten Wilden hören sich zwar oft aufmerksam an, was ihre freien Frauen zu sagen haben, und begegnen ihnen ehren- und respektvoll, doch verzichten sie auf kein Quantum ihrer Oberherrschaft. Sie allein treffen alle Entscheidungen. Sie sind die Männer. Die Frauen gehorchen. Von Iwoso dagegen nahm ich an, daß sie im Ratszelt unentbehrlich sein würde. Wahrscheinlich war sie im Lager die einzige Person, die die Gelbmesser- und Kaiila-Sprachen fließend beherrschte. Interessanterweise trug sie ein dünnes, geschmeidiges Seil zusammengerollt an der Hüfte. Nach der Sonne und dem Schatten des Stocks zu urteilen, hätten sich Watonka und seine Begleiter längst auf den Weg zum Ratszelt machen müssen. Soweit ich wußte, sollte der Rat zur Mittagszeit zusammentreten. Mir fiel außerdem auf, daß die Art und Weise, wie die Männer ihre gelben Schärpen gebunden hatten, ihnen die größte Bewegungsfreiheit des Waffenarms gewährte, sollten sie Rechtshänder sein.

»Bloketu«, sagte ich und trat vor das Mädchen hin.

»Herrin!« forderte sie.

»Herrin.«

»Warum kniest du nicht nieder?«

Ich fiel auf die Knie. »Ich möchte bitte mit dir sprechen«, sagte ich.

»Es war dein Herr Canka«, sagte sie tadelnd, »der heute früh Mahpiyasapa umbringen wollte.«

»Kann ich dich mal sprechen?«

»Ja.«

»Allein.«

Iwoso warf mir einen scharfen Blick zu.

»Du kannst vor meiner Zofe sprechen«, sagte Bloketu. »Warum auch nicht? Warum sollte sich ein Sklave nicht vor einer anderen Sklavin äußern können?«

»Verzeih mir, Herrin«, sagte ich. »Vielleicht bin ich ein Dummkopf und ein Narr.«

»Das erscheint mir nicht unwahrscheinlich.«

»Aber ich habe Grund zu der Annahme, daß die drei Männer bei deinem Vater, die Gelbmesser, nicht das sind, was sie zu sein vorgeben.«

»Was meinst du?«

»Ich glaube, sie sind nicht Zivilhäuptlinge der Gelbmesser, sondern möglicherweise Kriegshäuptlinge.«

»Lügnerischer Sklave!« fauchte Iwoso, stürzte sich auf mich und schlug zu. Sofort schmeckte ich Blut in meinem Mundwinkel.

»Was geht hier vor?« fragte Watonka und blickte uns an.

»Dieser Sklave ist ein amüsanter Dummkopf«, sagte Bloketu lachend. »Er meint, unsere Gäste wären nicht Zivilhäuptlinge der Gelbmesser, die bald unsere Freunde sein werden, sondern Kriegshäuptlinge.«

Die Worte wurden den Gelbmessern von Iwoso übersetzt. Ihre Mienen blieben unbeweglich.

»Das ist absurd!« rief Watonka und sah sich hastig um. »Ich verbürge mich persönlich für diese Männer.«

»Du kannst unmöglich solche Informationen haben«, sagte Bloketu zu mir.

»Im Lager gibt es eine Sklavin«, sagte ich, »ein blondes Mädchen, das früher im Eigentum von Gelbmessern stand. Sie hat die Männer erkannt. Von ihr habe ich meine Informationen.«

»Sie muß sich offenkundig irren«, sagte Bloketu. Unser Gespräch wurde den Gelbmessern von Iwoso übersetzt.

»Lügenhaften Sklaven kann die Zunge herausgeschnitten werden«, sagte Watonka ärgerlich und zog seine Klinge.

In diesem Augenblick legte einer der Gelbmesser Watonka eine Hand auf den Arm. Er sagte etwas, und seine Worte wurden uns allen von Iwoso übersetzt.

»Tu dem Sklaven nichts«, sagte er. »Dies ist für uns alle eine Zeit des Glücks und des Friedens.«

Erstaunt hob ich den Kopf. Der Mann mußte wirklich ein Friedenshäuptling sein.

»Laß ihn gehen«, sagte der Gelbmesser.

»Verschwinde!« sagte Watonka aufgebracht.

»Ja, Herr«, sagte ich und stand auf.

»Schlagt ihn!« befahl Watonka zwei Isanna-Kriegern.

Diese gingen an die Arbeit und hämmerten mit den Schäften ihrer Lanzen auf mich ein. Ich hob die Hände an den Kopf und brach in die Knie. Schmerzhafte Schläge trafen mich an Schultern und Körper.

»Laßt ihn gehen«, sagte der Gelbmesser.

»Geh!« rief Watonka.

Ich mühte mich hoch und stolperte mit blutendem Gesicht und schmerzendem Leib fort. Hinter mir brandete Gelächter auf. Man hatte mich tüchtig durchgeprügelt. Anscheinend waren mir dabei keine Knochen gebrochen worden. Dafür mußte meine Haut bald schwarz und blau sein. Beinahe verlor ich das Bewußtsein, nahm mich aber zusammen und torkelte weiter. Ich hatte getan, was ich konnte: Ich hatte Oiputakes Information einem Manne überbracht, der im Kaiilastamm einen hohen Posten bekleidete, Watonka, dem Zivilhäuptling der Isanna. Es wollte mir scheinen, ich hätte nicht mehr erreichen können, außer vielleicht mit Mahpiyasapa zu sprechen. Plötzlich wallte irrationaler Zorn auf Mahpiyasapa und Grunt in mir auf, wie auch auf Canka und sogar meinen Freund Cuwignaka. Sie alle hatte ich nicht erreichen können. In meinem elenden Zustand wollte mir fast scheinen, als wären sie gewissermaßen für die Prügel verantwortlich, die ich bezogen hatte. Schließlich verbannte ich diesen törichten Gedanken aus meinem Kopf und machte mich auf den Rückweg zu dem Zelt, das ich mit Cuwignaka teilte.

Ich schätzte die Zeit auf etwa eine Viertel-Ahn vor der Mittagsstunde.

16

»Cuwignaka!« rief ich erstaunt, als ich unser Zelt betrat.

Er saß im Schneidersitz im Zwielicht unseres Baus und hatte den Kopf gesenkt und das Gesicht in den Händen geborgen. Bei meinem Eintreten schaute er auf. »Man hat mich nicht tanzen lassen«, sagte er. »Cancega persönlich, der Medizinhäuptling aller Kaiila, verweigerte mir den Zutritt zum Tanzzelt.«

»Du hast sicher schon von dem angeblichen Angriff Cankas auf Mahpiyasapa gehört?« fragte ich.

»Ja«, sagte er verbittert. »Hci hat gesiegt. Hci hat mir alles abgewonnen.«

»Es tut mir leid, mein Freund«, sagte ich. In meinem Mitgefühl für Cuwignaka vergaß ich meine Wunden und meinen Schmerz. Ich wußte, daß Cuwignaka seit Jahren davon träumte, das Zelt des großen Tanzes zu betreten und dort die Männlichkeit zu beweisen, die seine Artgenossen ihm äußerlich verweigerten. Und dort, in der Einsamkeit und im Schmerz des Tanzes, gedachte er womöglich auch die Wahrheit dieser geheimen und bedeutsamen Angelegenheit zu erfahren.

»Tatankasa«, sagte Cuwignaka plötzlich. »Was ist los?«

»Nichts.«

»Du bist verletzt«, stellte er besorgt fest.

»Ach, es ist nichts.«

Cuwignaka kroch zu mir herüber und legte mir die Hand an die Schläfe. »Deine Haut ist aufgeplatzt«, sagte er.

Ich zuckte unter der Berührung zusammen. »Man hat mich geschlagen«, sagte ich.

Cuwignaka begab sich in den Außenbereich des Zelts und holte ein Tuch. Damit wischte er mir das Blut aus dem Gesicht.

»Wer hat das getan?« fragte er.

»Zwei Männer, Krieger der Isanna, auf Watonkas Befehl.«

»Was hattest du angestellt?«

»Es war töricht von mir«, sagte ich. Im Augenblick seiner großen Enttäuschung sollte sich Cuwignaka nicht mit meinen Dummheiten abgeben müssen.

»Sag’s mir«, forderte er mich auf. Ich nahm ihm das Tuch ab, faltete es zusammen und drückte es gegen meine Wunde, um die Blutung zum Stillstand zu bringen.

»Daß du nicht tanzen durftest, tut mir leid«, sagte ich. »Denn ich weiß, wie sehr du dir gewünscht hattest, das Zelt zu betreten.«

»Warum hat man dich verprügelt, mein Freund?« fragte er.

»Heute früh«, antwortete ich, »sprach ich mit einer blonden Sklavin, mit der ich mich einmal vergnügt hatte. Eine Frau aus der hohen Stadt Ar, war sie von Staubfüßen erbeutet und versklavt worden. Später gab man sie an Sleen weiter, die sie den Gelbmessern verkauften. Zu den Isanna kam sie als Beutestück eines Überfalls. Aufgrund ihrer Erlebnisse bei den Gelbmessern konnte sie mir mitteilen, daß die drei Gelbmesser, die sich hier bei uns im Lager aufhalten, nicht Zivilhäuptlinge sind, wie behauptet wird, sondern Kriegshäuptlinge.«

»Da irrt sie sich offensichtlich«, sagte Cuwignaka.

»Offensichtlich«, antwortete ich und veränderte meine Position. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper.

»Du hast dies Watonka gesagt?« fragte Cuwignaka.

»Lieber hätte ich es jemand anders mitgeteilt«, meinte ich bedauernd, »und genau genommen habe ich auch zu Bloketu gesprochen. Aber Watonka war dabei.«

»Zu dumm, wegen einer solchen Sache verprügelt zu werden«, sagte Cuwignaka.

»Da bin ich deiner Meinung«, sagte ich lächelnd und nahm das Tuch vom Kopf. Die Wunde klebte zuerst fest, löste sich dann aber vom Gewebe, ohne daß sie wieder zu bluten begann. »Ich glaube nicht, daß Watonka uns beachtet hätte, wenn sich nicht Iwoso auf mich gestürzt und mich geschlagen und als lügnerischer Sklave bezeichnet hätte.«

»Diese Reaktion kommt mir etwas übertrieben vor«, sagte Cuwignaka. »Was geht sie das überhaupt an?«

»Watonka war ebenfalls sehr zornig«, sagte ich. »Ich hatte schon Sorge, er würde mich mit seinem Messer angreifen. Einer der Gelbmesser, einer der Zivilhäuptlinge, verwendete sich für mich. Ich wurde nur verprügelt.«

»Das scheint mir für einen Gelbmesser sehr rücksichtsvoll gehandelt«, stellte Cuwignaka fest.

»Er meinte, es wäre eine Zeit des Glücks und des Friedens.«

»Offenkundig ist er Zivilhäuptling«, sagte Cuwignaka.

»Ja.«

»Oder tut nur so.«

»Mir tut alles weh.«

»Er wollte kein Blutvergießen«, stellte Cuwignaka fest.

»Sieht so aus.«

»Warum wohl?«

»Dafür kann es viele Gründe geben«, sagte ich.

»Vielleicht dachte er, es wäre nicht angebracht, so kurz vor dem Beginn eines Friedensrates noch Blut zu vergießen«, sagte Cuwignaka.

»Vielleicht.«

»Außerdem wäre eine solche Tat aufgefallen. Die Leute könnten zum Beispiel fragen, warum sie begangen wurde, was das alles sollte.«

Ich zuckte die Achseln. »Möglich.«

»Warum haben sich Watonka und Iwoso so sehr aufgeregt?« fragte er.

»Keine Ahnung«, sagte ich.

»Wie hat Bloketu reagiert?«

»Ich glaube nicht, daß sie mir übel wollte.«

»Dieses Ereignis fand vor dem Eingang des Ratszeltes statt?« fragte Cuwignaka.

»Nein, zwischen den Zelten der Isanna.«

»Aber der Vorfall hat sich doch eben erst ereignet, nicht wahr?« wollte Cuwignaka wissen.

»Ja, vor kurzem erst.«

»Watonka und die anderen waren auf dem Weg zum Ratszelt?«

»Nein«, sagte ich. »Sie schienen zwischen den Zelten zu warten.«

»Das ist sehr interessant«, stellte Cuwignaka bedächtig fest. »Man hätte doch annehmen können, daß sie um die Zeit schon auf dem Weg zum Rat wären, wenn nicht schon innerhalb des Ratszeltes.«

»Mag sein.« Ich wußte nicht, worauf Cuwignaka hinauswollte.

»Die führenden Männer des Kaiila-Stammes müßten sich derzeit im Innern des Ratszeltes befinden«, sagte Cuwignaka. »Warum nicht auch Watonka?«

»Mahpiyasapa ist ebenfalls nicht dort«, sagte ich. »Er ist irgendwohin verschwunden.«

»Das dürfte einen anderen Grund haben«, meinte Cuwignaka.

»Ich nehme es auch an.«

»Um die Zeit, die für den Beginn der Ratsversammlung vorgesehen war«, sagte Cuwignaka, »scheint es Watonka nicht eilig zu haben, sich in das Ratszelt zu begeben.«

»Sieht so aus.«

»Im Zelt haben sich alle führenden Persönlichkeiten der Kaiila versammelt, nicht aber Watonka und die Gelbmesser.«

»Nein.«

»Sag mir, Freund Tatankasa«, fuhr Cuwignaka fort, »kommt dir am Lager heute nicht etwas ungewöhnlich vor? Gibt es etwas, das sich auffällig vom Normalen unterscheidet?«

»Die Mädchenhorden sind ins Lager gebracht worden«, sagte ich. »Ich begegnete einem der Burschen, die normalerweise draußen Wache stehen. Von ihm erfuhr ich, daß alle Herden und Wächter der Isanna zurückgerufen worden sind.«

»Auf wessen Befehl?«

»Watonkas Befehl.«

»Warum?«

»Keine Ahnung«, räumte ich ein. »Vermutlich weil wir Tage des Friedens und des Tanzens feiern. Weil es keine Gefahren geben kann. In einer solchen Zeit greift kein Stamm den anderen an.«

»Das stimmt«, sagte Cuwignaka langsam, »so ist es seit hundert Wintern gewesen.«

»Als ich zuerst von alledem erfuhr, machte ich mir gewisse Gedanken«, sagte ich, »aber anscheinend bist du der Meinung, daß man sich keine Sorgen machen muß.«

»Das Lager ist im Westen ungeschützt«, stellte Cuwignaka fest.

»Ja.«

»Warum hat Watonka dies angeordnet?«

»Wir haben Tage des Friedens«, sagte ich.

»Außerdem würde vermutlich selbst eine größere Kriegergruppe davor zurückschrecken, ein Lager dieses Umfangs anzugreifen.«

»Ja.«

»Als du Watonka und die Gelbmesser sahst«, fragte Cuwignaka, »was haben sie da gemacht? Überleg dir die Antwort genau.«

»Nichts«, sagte ich.

»Denk nach!«

»Also, die Gelbmesser warteten in der Nähe einer kleinen Erhöhung zwischen den Isanna-Zelten. Auf dieser kleinen Erhöhung stand Watonka. Dicht neben ihm steckte ein Ast im Boden, umgeben von zwei Kreisen. Ich nehme an, mit Hilfe dieses Stocks wurde die Zeit gemessen. Etwa zur Mittagszeit, so schätze ich, müßte sich der Schatten des Stocks innerhalb des inneren Kreises befinden.«

»Interessant«, sagte Cuwignaka.

»Ja«, bestätigte ich. »Warum messen sie die Zeit nicht einfach nach der Position der Sonne?«

»Der Stock gibt genauere Auskunft«, sagte Cuwignaka. »Außerdem kann man den Schatten genau beobachten, während die Sonne zu sehr blendet.«

»Die Ratsversammlung soll zur Mittagsstunde beginnen«, sagte ich. »Zweifellos war man an einer genaueren Zeitbestimmung interessiert, als sie sich durch eine einfache Sonnenbeobachtung ergibt.«

»Warum?« wollte Cuwignaka wissen.

»Ich weiß es nicht.« Dabei kam mir die Frage meines Freundes durchaus vernünftig vor. Den roten Wilden kommt es sonst auf genaue Zeit nicht an.

»Ist dir außerdem noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen?« fragte Cuwignaka.

»Das eine oder andere«, sagte ich.

»Was denn?«

»Watonka schien sich für den Himmel zu interessieren.«

»Den Himmel?«

»Ja.«

»Hat er den gesamten Himmel beobachtet?«

»Nein, er schien sich nur für eine Richtung zu interessieren.«

»Welche Richtung?« fragte Cuwignaka besorgt.

»Den Südosten.«

»Ich habe plötzlich Angst, Tatankasa«, sagte mein Freund. »Große Angst.«

»Wovor denn?«

»Die Pte sind aus dem Südosten gekommen«, sagte Cuwignaka.

»Ja?«

»Sie kamen dieses Jahr früh. Sehr früh. Sie hätten nicht so früh bei uns sein dürfen.«

»Das stimmt«, antwortete ich. Mit dieser Frage hatten wir uns schon beschäftigt. Aber erst jetzt schien sie für Cuwignaka eine größere Bedeutung zu erlangen.

»Du scheinst besorgt zu sein«, stellte ich fest. Cuwignakas Angst stimmte mich unbehaglich.

»Es kann nicht sein!« sagte Cuwignaka entschlossen.

»Was?« fragte ich.

»War an Watonka und den Gelbmessern sonst noch etwas Ungewöhnliches zu bemerken?« fragte Cuwignaka.

»Er und die gesamte Gruppe, so auch Bloketu und Iwoso, trugen gelbe Tücher oder Schärpen um die Oberkörper.«

»Warum denn das?«

»Vermutlich zur Identifizierung.«

»Durch wen?« fragte Cuwignaka. »Im Lager sind alle bestens bekannt.«

Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken. »Ich weiß es nicht.«

»Erinnerst du dich, Tatankasa, an unser Gespräch mit Bloketu und Iwoso vor unserem Zelt?« fragte Cuwignaka. »Es ist jetzt einige Tage her, und ich gerbte gerade eine Kailiaukhaut.«

»Ja.«

»Anscheinend sollte Iwoso eine größere Bedeutung erlangen als bisher. Daraus schlossen wir, daß auch Watonka und sogar Bloketu anschließend von größerer Wichtigkeit sein würden.«

»Ja.«

»Aber was gibt es Wichtigeres in meinem Volk als den Posten des Zivilhäuptlings einer reichen Bande?« fragte Cuwignaka.

»Es sei denn, man würde Oberhäuptling aller Banden«, sagte ich. »Häuptling über das Ganze.«

»Aber bei den Kaiila gibt es keine Ersten Häuptlinge, keine Oberhäuptlinge«, sagte Cuwignaka. »So wird bei uns nicht regiert.«

»Vielleicht sind mit dem Friedensschluß, den er arrangiert hat, für Watonka Prestige und Reichtümer zu gewinnen«, sagte ich und dachte an unsere bisherigen Spekulationen über diese Frage.

»Watonka besitzt längst ein Vermögen an Frauen und Kaiila«, widersprach Cuwignaka. »Es gibt nur eines, das er bei unserem Volk nicht erringen kann.«

»Und das wäre?«

»Macht.«

»Was willst du damit sagen?« fragte ich besorgt. »Nun bekomme ich auch schon Angst!«

»Welche Zeit haben wir?«

»Es müßte Mittag sein«, sagte ich.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren!« rief Cuwignaka und sprang auf.

»Was ist denn los?«

»Das Lager wird angegriffen«, sagte Cuwignaka. »Im Westen sind die Posten zurückgezogen worden. Die Pte kamen früh! Watonka schaut zum Himmel hoch, nach Südosten!«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich.

»Warum sind die Pte früh gekommen?« wollte Cuwignaka wissen.

»Keine Ahnung.«

»Sie wurden von einem neuen Volk gejagt, getrieben«, antwortete mein Freund. »Irgend etwas befindet sich hinter ihnen. Eine neue Macht ist in unser Land eingetreten.«

»Aber Watonka schaute zum Himmel!«

»Das erschreckt mich ja so«, entgegnete er. »Das Ganze erinnert mich an die alten Geschichten, die vor langer Zeit von Reisenden erzählt wurden, von Kriegern, die weiter herumgekommen waren als andere.«

»Was können wir tun?«

»Wir müssen das Lager alarmieren«, sagte Cuwignaka.

»Selbst wenn du recht hast«, sagte ich, »selbst wenn das Lager in Gefahr wäre, selbst wenn wir jeden Augenblick mit einem Angriff rechnen müßten, würde uns doch niemand glauben. Du trägst ein Frauenkleid. Ich bin Sklave. Man wird uns nur verspotten!«

»Man wird uns nicht verspotten«, sagte Cuwignaka. »Es gibt einen, der uns zuhören wird.«

»Wen meinst du?«

»Hci!« sagte Cuwignaka zornig.

Mit diesen Worten eilte er aus dem Zelt. Ich stand auf und hastete hinter ihm her. Draußen angekommen, schaute er verzweifelt zum Himmel auf, in südöstlicher Richtung, und lief zwischen den Zelten davon. Ich schaute ebenfalls in die Lüfte. Aber dort oben war nichts zu sehen.

17

»Schaut doch!« rief Hci lachend, der mit einigen Freunden vor dem Zelt der Sleensoldaten saß. »Da kommen die hübsche Schwester Cankas und Cankas Sklave Tatankasa.«

»Hör mich an, Hci!« sagte Cuwignaka drängend. »Bitte!«

»Kniet nieder!« forderte Hci uns auf.

Wir gehorchten.

»Sie wollte in die Tanzhalle!« rief Hci lachend und deutete auf Cuwignaka. »Dabei stand ihr das gar nicht zu!«

Die jungen Männer, die im Kreis vor dem Zelt saßen, fielen in sein Lachen ein.

»Ich muß dich sprechen«, sagte Cuwignaka.

»Ich habe zu tun«, antwortete Hci, und wieder wurden seine Worte mit einem Lachen quittiert.

»Ich muß dich sprechen!« wiederholte Cuwignaka.

»Es ist völlig sinnlos, mich um Nachsicht für deinen törichten Bruder Canka zu bitten, der heute früh meinen Vater Mahpiyasapa umbringen wollte!« sagte Hci.

»Das Lager ist in Gefahr!« rief Cuwignaka.

»Was?«

»Die Gelbmesser, die Watonka ins Lager aufgenommen hat, sind keine Zivilhäuptlinge«, sagte Cuwignaka. »Eine blonde Sklavin, die zuvor im Besitz von Gelbmessern stand, hat sie als Kriegshäuptlinge erkannt!«

»Das ist absurd!« sagte Hci.

»Von der Westflanke des Lagers sind sämtliche Wächter abgezogen worden«, fuhr Cuwignaka fort. »Watonka hat die Ratsversammlung ebensowenig aufgesucht wie die Gelbmesser. Die Pte sind zu früh gekommen. Watonka schaute zum Himmel empor, in südöstlicher Richtung!«

»Zum Himmel empor?« fragte ein Mann aus dem Kreis.

»Das ist ja wie in den alten Geschichten«, bemerkte ein anderer.

»Alles nur Lügen«, behauptete Hci. »Ein Trick! Du willst mich lächerlich machen!«

»Die Wächter sind wirklich aus dem Westen abgezogen worden«, sagte ein Mann. »Das ist mir bekannt.«

»Und die Pte waren wirklich früh bei uns«, meinte ein anderer. »Das wissen wir alle.«

»Wer behauptet, Watonka sei nicht im Ratszelt?« fragte Hci.

»Kurz vor der Mittagsstunde«, antwortete ich, »sah ich ihn noch mit den Gelbmessern im Lager der Isanna. Ich glaube nicht, daß er überhaupt die Absicht hat, das Ratszelt aufzusuchen. Ich habe gesehen, wie er in den Himmel geschaut hat, in südöstlicher Richtung.«

»Aber die anderen waren schon im Ratszelt?« fragte Hci.

»Die meisten«, sagte ich. »Ich nehme es an.«

»Die führenden Männer unseres Volkes, jedenfalls die meisten, halten sich zur Zeit im Ratszelt auf«, sagte Cuwignaka. »Sie sind an einem Ort versammelt. Du begreifst gewiß, was das bedeuten könnte?«

»Das ist doch alles nur ein Trick von dir!« sagte Hci.

»Nein!« widersprach Cuwignaka.

»Wenn deine Behauptungen zutreffen«, sagte Hci, »wäre Watonka ja ein Verräter. Er würde die Kaiila verraten.«

»Ich bin überzeugt, daß es so ist«, sagte Cuwignaka.

»Unmöglich!«

»Um seiner persönlichen Ziele willen«, sagte Cuwignaka ernst, »greift so mancher gute Mann zuweilen zu falschen Mitteln. Erscheint dir das nicht glaubhaft, Hci?«

Hci senkte ärgerlich den Kopf.

»Kannst du dir so etwas vorstellen, Hci?« fragte Cuwignaka.

Der andere schaute ihn zornig an. »Ja«, sagte er.

»Dann unternimm etwas«, forderte Cuwignaka. »Die Sleensoldaten haben im Lager die Polizeigewalt. Tu etwas!«

»Das ist ein Trick!« sagte Hci.

»Die Mittagsstunde ist vorbei«, stellte Cuwignaka fest. »Wir haben nicht viel Zeit.«

»Ein Trick!«

»Ich schwöre dir, daß ich dich nicht hereinlegen will«, sagte Cuwignaka. »Besäße ich einen Schild, würde ich darauf schwören.«

Hci blickte den anderen erstaunt an.

»Das ist ein sehr heiliger Schwur«, bemerkte einer der Sleensoldaten und zog fröstelnd die Schultern hoch.

»Würdest du wirklich auf einen Schild schwören?« fragte Hci.

»Ja«, sagte Cuwignaka. »Und wenn man schwört, muß einem doch geglaubt werden, oder?«

»Ja«, antwortete Hci, »einem solchen Schwur sollte man glauben.«

»Niemand würde einen falschen Schild-Eid leisten«, sagte ein Mann.

Hci erbebte.

»Liegen dir die Gelbmesser so sehr am Herzen?« fragte Cuwignaka. »Hast du sie noch nie bekämpft?«

Hci bedachte den anderen mit einem stechenden Blick. Unwillkürlich zuckte seine Hand an die weißliche Narbe in seinem Gesicht, die Spur, die ein Canhpi vor Jahren hinterlassen hatte.

»Wahrscheinlich kennst du die Gelbmesser so gut wie jeder andere im Lager«, fuhr Cuwignaka fort. »Glaubst du wirklich, daß sie auf Frieden aus sind?«

»Nein.«

»Dann unternimm etwas!«

»Würdest du wirklich auf deinen Schild schwören?«

»Ja.«

Hci stand auf. »Agleskala«, sagte er, »geh zum Ratszelt. Wenn Watonka nicht dort ist, berufst du dich auf die Macht der Sleensoldaten und räumst das Ratszelt.«

»Und was hast du vor?« fragte Cuwignaka.

»Ich werde die Kriegspfeife blasen«, sagte er, »und den Kampfstab holen.«

Zwischen den Zelten links von uns gellte Geschrei auf.

Die Sonne schien sich plötzlich zu verdunkeln, obwohl es keine Wolken gab. Der ganze Himmel schien von einem Strom schrecklicher Gestalten ausgelöscht. Es war, als habe sich plötzlich ein Unwetter materialisiert und breche über das Lager herein. Über unseren Köpfen grollten und dröhnten tausend Donnerschläge.

»Zu spät!« rief ich.

»Die Kinyanpi!« rief jemand. »Die Fliegenden. Die Kinyanpi!«

18

Einer der Sleensoldaten, der sich eben erheben wollte, wurde herumgerissen; ein Pfeil war ihm durch die Brust gedrungen, und die Spitze ragte an seiner linken Hüfte hervor.

Verzweifelt schaute Hci himmelwärts.

Der Tarn landete, und seine Krallen packten Agleskala. Der Aufprall mußte ihm sofort das Rückgrat gebrochen haben. Hci und ich bewegten uns stolpernd rückwärts, von den Flügelschlägen zur Seite gedrückt. In dem aufwallenden Staub vermochten wir kaum etwas zu erkennen. Der Tarnkämpfer, der lediglich einen Lendenschurz trug und seinen Körper mit purpurner und gelber Farbe grell angemalt hatte, stach mit einer langen Tarnlanze nach uns. Die Bewegung erreichte uns aber nicht mehr, da der Tarn sich bereits wieder in die Lüfte schwang. Hci und ich lagen im Dreck und schauten empor. In hundert Fuß Höhe wurde Agleskalas Körper losgelassen.

»Waffen! Holt Waffen!« rief Hci.

Dicht neben uns traf ein Pfeil auf und versank beinahe bis zu den Federn im weichen Boden.

Ich roch Rauch. Geschrei gellte ringsum.

»Kaiila!« rief Hci. »Holt die Kaiila!«

»Lauft!« rief ein Mann. »Wir haben keine Zeit, Kriegsmedizin zu machen!«

»Bewaffnet euch!« brüllte Hci. »Holt Kaiila! Versammelt euch am Ratszelt! Kämpft!«

»Flieht!« schrie ein Mann.

»Flieht!« fiel ein anderer in das Geschrei ein.

»Aufpassen!« mahnte ich.

Ein Tarnreiter, der sich flach über den Rücken seines tieffliegenden Vogels gebeugt hatte, senkte die Lanze in unsere Richtung. Ich packte Hci, zerrte ihn zu Boden und sah die gefiederte Lanze wie einen langen, verwischten Schatten über uns dahinrasen. Und schon gewann der Vogel wieder an Höhe.

»Tarnkämpfer können das Lager nicht einnehmen«, sagte ich. Hier und dort brannten Zelte. Frauen kreischten.

Die Männer, die bei uns gewesen waren, hatten sich in alle Winde verlaufen.

»Faß mich nicht an!« fauchte Hci barsch.

Ich löste meine Hände von ihm.

»Die Leute werden nach Westen fliehen«, sagte Cuwignaka.

»Das dürfen sie nicht!« rief ich.

Wir sahen einen Kaiilareiter auf uns zugaloppieren. Plötzlich verlor er die Balance und fiel vom Rücken seines Tiers. Sich überschlagend, rollte er durch den Staub. Wir liefen zu ihm, und ich nahm ihn in die Arme. Sein Rücken war blutig. »Sie sind im Lager!« keuchte er.

»Wer?«

»Gelbmesser!« hauchte der Mann. »Hunderte von Gelbmessern. Zwischen den Zelten!«

»Sie sind aus dem Westen gekommen«, sagte Cuwignaka grimmig.

»Watonka muß sterben«, sagte Hci.

Ich legte den Körper des Mannes nieder. Er war tot. Eine Frau mit einem Kind im Arm floh an uns vorbei.

Hci stand auf und begab sich in das Zelt der Sleensoldaten. Ich schaute zum Himmel auf. Dieser Teil des Lagers wurde nicht mehr direkt angegriffen. Das Interesse der Tarnreiter, davon war ich überzeugt, würde dem Ratszelt und der näheren Umgebung gelten. Allein wegen seiner Größe war das Zelt nicht zu verfehlen, außerdem hatten die Angreifer von Watonka und seinen Verbündeten zweifellos genaue Beschreibungen erhalten. Kein Wunder, daß er wenig Lust gehabt hatte, dieses Zelt zu betreten.

»Ich gehe zu Grunts Bau«, sagte ich. »Meine Waffen liegen dort. Er hat sie für mich aufbewahrt. Außerdem finde ich dort Wasnapohdi. Sie braucht vielleicht Hilfe.«

»In meinem Zelt liegt eine Lanze«, sagte Cuwignaka.

»Wir holen sie unterwegs«, sagte ich. Es war die Lanze, die vor einigen Wochen mit dem Schaft nach unten neben dem angepflockten Cuwignaka im Boden gesteckt hatte. Anschließend war er von mir befreit worden.

Wir sahen zwei Männer vorbeilaufen.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte ich.

19

»Nimm die Lanze!« schrie ich.

Erstaunt waren wir herumgefahren, wenige Meter von unserem Zelt entfernt, aus dem Cuwignaka soeben die Lanze geholt hatte.

Vorgebeugt und mit gesenkter Lanze galoppierte der Gelbmesserkrieger auf uns zu, und die trommelnden Hufe seiner Kaiila ließen den Staub aufwirbeln.

Cuwignaka duckte sich zur Seite und hob dabei die Arme; seine Fäuste führten die eigene Lanze. Holz erschauderte, als die beiden Waffen, Cuwignakas auf der Innenseite, sich gegeneinander drehten. Die gegnerische Lanzenspitze fuhr zwischen Cuwignakas Arm und Hals hindurch. Cuwignakas Lanze riß den Angreifer vom Rücken seiner Kaiila, die herrenlos weiterlief.

»Er ist tot«, sagte Cuwignaka und blickte zu Boden.

»Zieh deine Lanze heraus«, sagte ich.

Mein Freund stellte dem Mann den Fuß auf die Brust und zerrte die Lanzenspitze frei.

»In einer solchen Situation«, sagte ich, »ist es sicherer, von außen zuzustechen, und die andere Lanze wegzudrücken, um dann darüber hinweg anzugreifen.«

»Er ist tot«, wiederholte Cuwignaka.

»Hätte er die Lanze weiter rechts ausschwingen lassen«, sagte ich, »hättest du dich genau in ihre Bahn bewegt.«

»Ich habe ihn umgebracht«, sagte Cuwignaka.

»Schade, daß wir die Kaiila nicht halten konnten«, stellte ich fest.

»Er ist tot«, sagte Cuwignaka.

»Hör doch, was ich dir sage!«

»Ja, Tatankasa«, sagte Cuwignaka.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte ich. »Wir sind gleich bei Grunts Zelt.«

»Alles in Ordnung?« fragte ich Wasnapohdi beim Eintritt in Grunts Zelt.

»Ja«, sagte das Mädchen, das angstvoll zwischen einigen Ballen kniete. »Was ist los?«

»Watonka hat das Lager verraten«, sagte ich. »Es wird von Tarnkämpfern und Gelbmessern angegriffen. Ist Grunt inzwischen zurückgekehrt?«

»Nein, Cuwignaka, bist du verletzt?«

»Nein«, antwortete er zitternd. »Das Blut stammt nicht von mir.«

»Wo sind meine Waffen?« fragte ich Wasnaphohdi.

»Ich habe einen Mann getötet«, murmelte Cuwignaka.

»Hier«, sagte Wasnapohdi, holte ein Bündel von der Außenwand des Zeltes und öffnete es. Darin lagen mein Gürtel mit Schwertscheide und Messerhülle; außerdem erblickte ich den kleinen Bogen, den ich vor langer Zeit in Kailiauk erworben hatte, samt seinem Köcher mit zwanzig Pfeilen.

»Tatankasa«, sagte Cuwignaka.

»Ja?« fragte ich und griff nach dem Waffengurt. Seit ich Cankas Sklavenkragen trug, hatte ich ihn nicht mehr umgehabt.

»Bewaffne dich nicht«, sagte Cuwignaka. »Als Sklave wirst du vielleicht verschont.«

Ich schnallte den Gürtel um. Ich zog das Kurzschwert ein Stück aus der Scheide und ließ es wieder hineinfallen. Ich testete das Messer: Die Scheide saß fest, aber die Klinge ließ sich mühelos ziehen. Dann beugte ich den Bogen und spannte ihn. Den Köcher warf ich mir über die Schulter. Zwei Pfeile nahm ich mit dem Bogen in die Hand, einen dritten setzte ich auf die Bogensehne.

Ich schaute Cuwignaka an.

»Das Lager ist groß und bevölkert. So ohne weiteres läßt es sich nicht erobern, auch nicht mit einem Überraschungsangriff. Es wird Widerstand geben.«

Cuwignaka schüttelte wie benommen den Kopf. »Ich kann nicht kämpfen«, sagte er. »Das konnte ich nie.«

»Komm, Wasnapohdi«, sagte ich zu dem Mädchen. »Wir wollen versuchen, andere zu finden. Vielleicht kann ich dich zu Grunt bringen.«

Sie stand auf.

»Wenn nötig«, sagte ich zu ihr, »wirfst du dich vor Gelbmessern auf die Knie. Vielleicht geben sie sich damit zufrieden, dich zu versklaven.«

»Ja, Herr«, sagte sie.

Am Zeltausgang wandte ich mich noch einmal zu Cuwignaka um.

»Ich habe einen Mann getötet«, sagte dieser erschaudernd. »Das könnte ich niemals wieder tun. Es ist zu schrecklich.«

»Der erste Gegner ist der schwerste«, sagte ich.

»Ich kann nicht kämpfen«, behauptete er.

»Wenn du hierbleibst, mußt du bereit sein, dich wehrlos zu ergeben oder mit den Unschuldigen zu sterben.«

»Respektierst du mich, Tatankasa?« fragte er.

»Ja«, erwiderte ich. »Der Tod wird dich aber nicht respektieren. Der hat vor niemandem Respekt. Vor gar nichts.«

»Bin ich ein Feigling?«

»Nein.«

»Irre ich mich?«

»Ja.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin völlig durcheinander.«

»Ich wünsche dir alles Gute, Mitakola, mein Freund«, sagte ich. »Komm, Wasnapohdi.«

Ich schaute mich kurz draußen um und verließ das Zelt. Wasnapohdi folgte mir. Wir bahnten uns unseren Weg zwischen Zelten hindurch, von denen etliche brannten. Gefüllte Fleischgestelle waren umgestoßen worden. Zum Trocknen aufgespannte Felle hatte man eingerissen und zertrampelt. Einmal wandte ich mich kurz um. Hinter mir war Cuwignaka aufgetaucht, der noch immer sehr mitgenommen wirkte. Er umklammerte seine Lanze mit beiden Händen. »Ich komme mit«, sagte er. Dann setzten wir unseren Weg fort.

»Zurück!« flüsterte ich. »Runter!«

Wir traten zurück und suchten hinter einem Zelt Schutz. Elf Reiter trabten vorüber.

»Gelbmesser«, sagte ich.

Etliche Krieger hatten blutige Skalps am Gürtel hängen.

»Wenn du nicht kämpfst«, fragte ich Cuwignaka, »wer soll dann die Schwachen und Unschuldigen beschützen?«

»Ich kann nicht kämpfen«, sagte er. »Ich kann nicht anders, es geht einfach nicht.«

»Wohin wollen wir, Herr?« fragte Wasnapohdi.

»Wir nähern uns dem Ratszelt.«

»Dort liegt sicher das Zentrum des Angriffs«, sagte Cuwignaka.

»Wir haben keine Kaiila für die Flucht«, gab ich zurück. »Wenn sich überhaupt Widerstand herausbildet, dann logischerweise dort, besonders wenn es sich um organisierten Widerstand handelt. Das Ratszelt ist der Mittelpunkt des Lagers. Man kommt leicht dorthin – und kann von dort auch ohne weiteres einen Ausfall machen.«

»Da hast du recht«, meinte Cuwignaka.

»Dann komm«, sagte ich.

»Vorsichtig!« mahnte ich flüsternd. »Ganz still jetzt. Da vorn scheint ein Sammelpunkt zu sein.«

»Wie schrecklich wir Mädchen doch behandelt werden!« japste Wasnapohdi. »Wie Holzstücke werden wir aneinandergefesselt.«

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da wurde eine weiße nackte Sklavin zu den anderen Gefangenen gestoßen. Ihr Häscher, ein Gelbmesser, stieg von seiner Kaiila, löste seinen kleinen Lederbeutel von seinem Gürtel, tauchte einen Finger hinein und drehte ihn. Dann legte er den Sack fort. Sein Finger war schwarz gefärbt. Er hielt das Mädchen mit der linken Hand an der Schulter fest und zeichnete ein Mal auf ihre linke Brust. Einen Augenblick lang betrachtete er sein Werk, wischte dann seinen Finger ab und verstaute den Beutel. Das schluchzende Mädchen schaute ebenfalls auf das Zeichen – das Symbol ihres neuen Herrn. Gleich darauf war der Krieger wieder auf seine Kaiila gestiegen und davongaloppiert.

»Einige gefangene Frauen sind rothäutig«, sagte ich zu Cuwignaka, »zweifellos ehemalige freie Frauen der Kaiila.«

»Frauen sind dazu geboren, den Männern zu dienen«, sagte Cuwignaka.

»Schau sie dir an«, sagte ich zu Wasnapohdi. »Da sind all die Frauen, nackt und gefesselt, reine Beutestücke.«

»Ja, Herr.«

»Sicher bemitleidest du sie sehr.«

»Ja, Herr.«

»Gleichwohl erregt dich ihr Anblick. Möchtest du an ihrer Stelle sein?«

»Nein, Herr«, antwortete sie. »Ich bin ja bereits mit Sklavenherren zusammen.«

»Ich bin kein solcher Herr«, sagte Cuwignaka.

»Ist er einer?« fragte ich Wasnapohdi. Sie war eine Frau. Sie mochte meine Frage beantworten können.

»In ihm steckt etwas, das zu einem wahren Sklavenherrn gehört«, sagte Wasnapohdi. »Ich spüre es deutlich.«

»Ich trage ein Frauenkleid«, wandte Cuwignaka ein. »Und weigere mich zu kämpfen.«

»In dir steckt etwas, das dich zum Herrn über Sklaven und Gegner machen könnte«, sagte Wasnapohdi.

»Absurd!«

»Du allein mußt darüber entscheiden«, sagte sie.

»Wir wollen weiter«, schaltete ich mich ein. »Wir müssen in das Zentrum des Lagers.«

»Das Tanzzelt«, sagte ich.

Rechts von uns erhob sich das große runde Bauwerk aus Zweigen und Holz. Es umschloß eine festgetretene Tanzfläche von etwa fünfzig Fuß Durchmesser. Stämme und Zweige bildeten die Decke. In der Mitte, durch ein in das Gezweig gerissenes Loch deutlich zu erkennen, erhob sich der schmale, borkenlose, zweifach gegabelte Stamm, den Winyela vor einigen Tagen gefällt hatte. Der Stamm war offenbar mit Messern und Äxten traktiert worden. Auf allen Seiten zeigten sich die Wände eingerissen; möglicherweise waren die Gelbmesser durch diese Öffnungen eingedrungen. Drinnen zeigten sich hier und dort Blutflecke im Staub; Spuren wiesen darauf hin, daß Körper aus dem Zelt gezerrt worden waren.

»So wie ich die Dinge sehe, war dieser Ort für dein Volk etwas Heiliges«, sagte ich. »Er ist entehrt worden.«

»Ich kann trotzdem nicht kämpfen«, sagte Cuwignaka kopfschüttelnd.

»Schau nicht hin«, sagte ich warnend zu Cuwignaka. »Es wird dich erschüttern.«

»Tatankasa!« sagte er.

»Ich habe ihn gesehen«, sagte ich. »Komm weiter.«

Aber schon kniete Cuwignaka zwischen den Toten nieder und wiegte den kleinen Körper in den Armen.

»Gehen wir!« sagte ich.

»Er war noch ein Kind«, sagte er klagend.

Wasnapohdi wandte den Blick ab. Ihr schien übel zu sein. Es war kein hübscher Anblick.

»Wir haben ihn gekannt«, sagte Cuwignaka.

»Dort liegt die Mutter«, sagte ich.

»Wir kannten ihn!« wiederholte mein Freund.

»Ja«, sagte ich beruhigend. Ein kleiner Junge der Kaiila: Cuwignaka und ich hatten ihn gut gekannt. Oft hatten wir für ihn den Reifen geworfen, den er mit seinen kurzen Pfeilen sicher durchschossen hatte.

»Er ist tot«, sagte Cuwignaka.

»Ja«, sagte ich.

»Warum hat man ihm das angetan?« fragte Cuwignaka und wiegte die kleine Leiche in den Armen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. In gewisser Weise konnte ich die Kampfriten der roten Wilden verstehen, soweit sie sich zwischen erwachsenen Kriegern abspielten. Sie gaben einer gewissen Erleichterung Ausdruck, sie waren Zeichen des Lebens, des Sieges, des Triumphs. Nicht verstand ich, daß oft Frauen und Kinder davon betroffen waren.

»Er war doch noch ein Kind«, sagte Cuwignaka verzweifelt. »Warum haben sie das getan?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich ratlos.

»Gelbmesser haben dies getan!« sagte er.

»Vielleicht auch jene Krieger, die man Kinyanpi nennt«, wandte ich ein. »Ich weiß es nicht.«

»Feinde haben dies getan«, sagte Cuwignaka.

»Ja.«

Langsam legte Cuwignaka den toten Jungen hin. Dann schaute er mich an. »Lehre mich zu töten«, sagte er.

20

»Runter!« flüsterte ich.

Wir lagen hinter dem Zelt. Fünf Gelbmesser passierten uns in schnellem Trab auf den Rücken ihrer Kaiila. Als der letzte vorbei war, trat ich hervor und schoß meinen Pfeil ab.

»Es wird eine Weile dauern, bis sie merken, daß sie nur noch zu viert sind«, sagte ich. »Aber bald brauchen wir Kaiila.«

»Wir werden sie bekommen«, sagte Cuwignaka.

»Oh!« rief die Frau, eine von zwei Sklavinnen, die gefesselt am Boden hockten.

Der Gelbmesser, der sie bewachte, fuhr herum, doch zu spät: Cuwignakas Lanze traf ihn in die Brust.

Die Frau begann zu schreien. Cuwignaka befreite seine Lanze und brachte sie mit einem energischen Schlag an die Schläfe zum Schweigen. Ihr Lärmen hätte andere Gelbmesser herbeirufen können.

»Hier finden wir auch keine Kaiila«, sagte ich und wußte nicht recht, warum Cuwignaka überhaupt Halt gemacht hatte.

»Dies war ein Sammelpunkt oder sollte einer werden«, sagte Cuwignaka und deutete auf die beiden Frauen.

»Du meinst, Mädchen sollen an dieser Stelle deponiert oder von hier abgeholt werden?«

»Ja«, antwortete Cuwignaka. »Und aus der Art der Fesselung, die nicht darauf hindeutet, daß die Mädchen bald fortgeführt werden sollen, ist zu schließen, daß weitere Gefangene hierhergebracht werden.«

»Ich verstehe«, sagte ich. Wir durften also damit rechnen, daß Männer auf Kaiila kommen würden, um weitere Frauen zu bringen, und konnten uns entsprechend in den Hinterhalt legen.

»Wir sollten ein Stück entfernt in Deckung gehen«, sagte ich, »denn die Ankommenden halten vielleicht nach dem Wächter Ausschau.«

»Wir werden Spuren suchen«, sagte Cuwignaka. »Ich glaube nicht, daß das schwierig sein wird.«

»Interessant, daß wir hier einen Wächter vorfanden«, sagte ich. »Der andere Sammelpunkt war unbewacht.«

»Das scheint mir darauf hinzudeuten«, sagte Cuwignaka, »daß wir dem Zentrum des Kaiila-Widerstandes langsam näherkommen.«

»Noch etwa fünf Ahn bis Dunkelwerden«, stellte ich fest.

»Bis dahin, so hoffe ich, haben wir Kaiila und können uns dem Widerstand anschließen«, sagte Cuwignaka.

Ich nickte. Eine Flucht aus dem Lager, womöglich noch mit Flüchtlingen, hatte nach Einbruch der Dunkelheit die größten Chancen.

»Du kannst dich aufrichten«, sagte Cuwignaka zu dem Mädchen, das er eben zum Schweigen gebracht hatte. »Das sieht natürlicher aus.«

»Ja, Herr«, flüsterte sie und kam seinem Befehl nach.

Cuwignaka sah mich verwirrt an und begann zu lächeln. Ganz selbstverständlich hatte ihn das Mädchen als »Herrn« angesprochen.

Die beiden Mädchen hockten nebeneinander und wagten nicht den Blick zu heben.

»Ich finde, wir sollten unseren Freund verschwinden lassen«, schlug ich vor und deutete auf den Gelbmesser.

Cuwignaka, der dem Toten bereits den Skalp genommen hatte, nickte. Es war wirklich nicht ratsam, den Mann hier liegen zu haben, wenn andere Gelbmesser sich der Sammelstelle näherten.

Gleich darauf kehrte Cuwignaka mit leeren Händen zurück.

Kritisch musterte er die Frau, die zu Anfang geschrien hatte und dafür gestraft worden war.

»Verzeih mir, Herr«, flüsterte sie.

»Du bist gefesselt, damit deine Gelbmesser-Herren ihren Spaß mit dir haben können«, sagte Cuwignaka verächtlich und betrachtete ihre wohlgeformte Gestalt.

»Warum sollten Gelbmesser die ersten sein?« fragte ich.

Cuwignaka blickte mich an.

»Hast du schon jemals eine Frau besessen?« fragte ich.

»Nein.«

»Nimm sie«, sagte ich, »ich passe solange auf.«

»Herr, Herr!« schluchzte das Mädchen, und Cuwignaka schien unwillig zu sein, sie aus seinen Armen zu entlassen.

»Ich wußte nicht, daß es solche Freuden gibt«, sagte er schließlich, als er zu mir und Wasnapohdi zurückkehrte. »Was für Gefühle! Was für ein Triumph!«

»Es wird Zeit, daß wir uns Kaiila besorgen«, mahnte ich.

»Wir sollten Spuren suchen«, sagte er.

Aus einiger Entfernung schauten wir noch einmal auf die beiden gefesselten Mädchen am Sammelpunkt zurück.

»Ich hatte keine Ahnung, daß es solche Freuden gibt«, sagte Cuwignaka.

»Sie können so lange oder so kurz, so oberflächlich oder so aufwühlend sein wie du willst«, sagte ich. »Aber vielleicht hättest du die Sklavin doch nicht nehmen sollen«, fügte ich hinzu.

»Warum nicht?«

»Vielleicht hat sie dich für andere Frauen verdorben«, sagte ich.

21

Die drei gefesselten Mädchen schrien auf.

Der Gelbmesser, der hinter ihnen ritt, glitt vom Rücken seiner Kaiila; ein Pfeil hatte ihn in die Brust getroffen.

Der zweite Gelbmesser senkte seine Lanze in die Angriffsstellung, stieß einen Wutschrei aus und spornte seine Kaiila an. Das Tier stürmte auf Cuwignaka los.

»Halte dich auf der Außenseite seiner Lanze!« brüllte ich. Cuwignaka besaß keinen Schild. Er mußte den Angriff mit der eigenen Lanze ablenken. Mit Schild hätte er den Gegner von innen angreifen können, die Lanze nach links drückend, mit der eigenen Waffe die geöffnete Mitte suchend. Ich setzte einen neuen Pfeil aus der Hand auf die Bogensehne; im Kampf werden gewöhnlich einige Pfeile in der Hand oder im Mund in Bereitschaft gehalten, denn im Zweifel kann der Weg vom Köcher zum Bogen zu lang werden.

Cuwignaka stieß die angreifende Lanze mit seiner Speerspitze zur Seite. Der Angreifer war so schnell gekommen, daß er seine Waffe nicht wieder freibekam. Die Kaiila stoppte in einer Staubwolke, ging auf die Hinterhand nieder und fuhr herum. Ich hob den Bogen – und senkte ihn wieder. Ein genauer Schuß war nicht möglich. Beim zweiten Durchlauf wich Cuwignaka nach rechts aus. Sein Gegner reagierte mit einem Wutschrei, denn er kam mit seiner Lanze nicht über den Hals seiner Kaiila herum. Cuwignakas aufwärts gerichteter Stoß dagegen wurde mühelos von dem Schild des Gelbmessers abgewehrt – einem dicken Schutz aus undurchdringlichem Kailiauk-Nackenleder, durch Erhitzen und Kaltschrumpfen über den Rahmen gespannt.

Wieder senkte ich fluchend meine Waffe und wechselte die Position.

Ein zweitesmal fuhr die Kaiila trampelnd und schnaubend herum und ließ explosionsartig den Staub aufsteigen.

Der Reiter hob die Lanze über den Hals des Tiers, vor den Schild an seinem linken Arm. In dieser Position, den Gegner auf der linken Seite attackierend, bewegt sich der Reiter im Schutz seines Schildes – ein wohl mehr als angemessener Ausgleich für den eingeschränkten Bewegungsradius für die Lanze zwischen Schild und Kaiilahals. Die Kaiila war gut trainiert; ihr linkes Ohr wies eine Kerbe auf. Zweifellos würde sie sich so bewegen, daß Cuwignaka auf der linken Seite ihres Reiters blieb, auch wenn sie dazu ihren Angriffsweg ändern mußte.

Ich versuchte auf die rechte Seite des Reiters zu gelangen. Doch schon hatte er seine Attacke begonnen. Ich hörte die beiden Lanzenschäfte gegeneinanderscharren – Cuwignaka drückte die angreifende Spitze zur Seite, dann hörte ich ein kurzes schlagendes Geräusch und sah, wie Cuwignaka von der Seite der Kaiila einen Hieb empfing und rückwärts torkelnd zu Boden ging, getroffen von dem vorüberhuschenden Schild, gedrückt vom Gewicht der Kaiila und ihres Reiters. Cuwignakas Lanze fiel zu Boden. Bei einer ausgebildeten Kaiila, die sich stets so stellt, daß die Lanze ihres Reiters am besten ins Spiel kommt, ist gegen solche Manöver kaum ein Kraut gewachsen. Gelangt man dicht genug an den Gegner heran, um wirksam zu kämpfen, bringt das im allgemeinen auch die Gefahr eines solchen Schildschlages mit sich. Der Hieb war kräftig genug geführt worden, daß ich im ersten Moment fürchtete, Cuwignaka sei das Genick gebrochen worden. Der Reiter ließ seine Kaiila herumwirbeln, nach rechts, so daß sein Schild zwischen ihm und meinem Pfeil blieb. Cuwignaka hatte sich auf den Knie hochgestemmt und schüttelte den Kopf. Seine Waffe lag ein Dutzend Schritte entfernt. Der Reiter senkte die Lanze, um sein Opfer zu erledigen.

»Runter!« brüllte ich.

Cuwignaka warf sich förmlich unter die Hufe der Kaiila und die herabstoßende Lanze, die nun im Staub landete. Die Kaiila verhielt beinahe über Cuwignaka und drehte sich immer wieder mit gesenkter Lanze. In seiner Verzweiflung griff Cuwignaka danach und ließ sich von der Waffe, die unter dem Arm des Gelbmesser-Kriegers steckte, aufwärts ziehen und halb durch den Sand schleifen. Der Reiter stieß einen Wutschrei aus. Cuwignaka ließ seine Lanze nicht los. Er war an der Schläfe getroffen, Blut lief ihm in das linke Auge. Ich war nur noch wenige Fuß vom Reiter entfernt. Dieser hatte sich zur Seite gebeugt und versuchte die Kontrolle über seine Lanze zurückzugewinnen. Cuwignaka befand sich zwischen ihm und meiner Waffe. Der Reiter, der von meiner Anwesenheit wußte, zog die Kaiila herum und brachte von neuem seinen Schild zwischen uns. Gleichzeitig zerrte er ruckhaft an der Lanze, die Cuwignakas Handflächen aufriß und frisches Blut hervortreten ließ. Dann ließ er die Lanze nach unten gegen die Kaiilaflanke schwingen, und Cuwignaka verlor das Gleichgewicht und rollte unter die Hufe des Reittiers. Mit einem Triumphschrei schwenkte der Gelbmesser die Lanze und trieb seine Kaiila an, um einen neuen Angriff zu beginnen. Ich senkte meinen Bogen. Cuwignaka war aufgesprungen und sprintete hinter dem Reiter her. Ich lächelte. Wenn der Gelbmesser seine Taktik nicht änderte, mochte Cuwignakas Verzweiflungstat sogar gelingen. Der Gelbmesser ließ seine Kaiila halten, auf die Hinterhand hochsteigen, die Vorderhufe durch die Luft wirbelnd – und beinahe gleichzeitig sprang Cuwignaka von hinten auf den Rücken des Tiers und landete hinter dem Gelbmesser. Die beiden Männer stürzten zusammen in den Staub. Gleich darauf erhob sich Cuwignaka mit blutigem Messer.

»Ich hole die Kaiila«, sagte ich.

22

»Schaut«, sagte Cuwignaka und deutete nach vorn.

Ein Kaiilareiter näherte sich mit senkrecht gestellter Lanze, an der etliche Federn wehten.

Wir hatten die beiden Kaiila erstiegen, die wir von den Gelbmessern erbeuten konnten. Es war ein angenehmes Gefühl, die Tiere zwischen den Beinen zu spüren. Ich hatte meinen Bogen in die Bogenhülle des von mir getöteten Gelbmesser-Kriegers gesteckt und seine Pfeile in meinen Köcher übernommen. Außerdem hatte ich mir seine Lanze und seinen Schild angeeignet. Cuwignaka hatte seine Lanze an sich genommen und sich darüber hinaus mit einen Schild versehen. Wasnapohdi lief an der linken Flanke meiner Kaiila.

»Ein Kaiila-Krieger«, sagte ich.

»Es ist Hci!« rief Cuwignaka.

Mahpiyasapas Sohn zügelte sein Reittier vor uns. »Zwei Gelbmesser ritten eben in diese Richtung«, sagte er.

»Sie sind nicht weitergekommen«, sagte Cuwignaka.

Hci betrachtete die beiden Toten, die in ziemlicher Entfernung voneinander lagen. »Wer hat sie getötet?« fragte er.

»Du bist allein«, sagte Cuwignaka. »Hattest du die Absicht, die beiden Gelbmesser allein anzugreifen?«

»Ja.«

»Du bist ein mutiger Mann«, sagte Cuwignaka.

»Wie kommt es, daß ihr Kaiila besitzt?« fragte Hci. »Ihre Bemalung und das Geschirr deuten darauf hin, daß sie Gelbmessern gehören.«

»Diese Gelbmesser brauchten sie nicht mehr«, erwiderte Cuwignaka.

»Wie kommt es, daß ein Sklave Waffen trägt?« fragte Hci und musterte mich.

»Ich habe es ihm erlaubt«, antwortete Cuwignaka.

»Wer hat diese Gelbmesser getötet?« fragte Hci.

»Bist du enttäuscht, daß nicht du es warst?« wollte Cuwignaka wissen.

»Nein«, antwortete der junge Krieger. »Es ist egal. Ich habe heute schon viele Coups errungen.«

In diesem Augenblick schien mir, als bewege sich Hcis Schild aus eigenem Antrieb, als besäße er eigenes Leben. Er schien ihn festhalten und dicht an sich pressen zu müssen. Nie zuvor hatte ich so etwas gesehen.

»Wer hat die beiden getötet?« fragte Hci.

»Zwei, die sich auf die Lauer gelegt hatten«, gab Cuwignaka Auskunft. Auch er hatte die Eigenart von Hcis Schild bemerkt. Es sah so aus, als müsse Hci sämtliche Kräfte seines Arms aufbieten, um den Schild in der Gewalt zu behalten. Im nächsten Moment zeigte sich der Schild wieder beruhigt, ganz normal, offenkundig nichts anderes als ein Ledergegenstand, bemalt mit Mustern, verziert mit Federn.

»Isbu?« fragte Hci.

»Der eine war ein Isbu«, antwortete Cuwignaka, »der andere nicht.«

»Kanntest du ihre Namen?«

»Ja.«

»Wer waren sie?«

»›Cuwignaka‹ und ›Tatankasa‹«, antwortete Cuwignaka.

»Es ist ein schlimmer und blutiger Tag für die Kaiila«, sagte Hci. »Spiel hier nicht den Überschlauen.«

»Verzeih mir«, sagte Cuwignaka.

»Du hast dich sogar dazu verstiegen, dir Skalps an den Gürtel zu heften«, bemerkte Hci. »Woher hast du sie?«

»Ich nahm sie einigen Burschen ab, die so herumlagen«, antwortete Cuwignaka gelassen.

»Vergiß nicht, daß du eine Frau bist und nichts weiter – und du Sklave«, sagte Hci und blickte uns nacheinander an.

»Ich bin keine Frau«, sagte Cuwignaka ruhig.

»Ihr besitzt nun Kaiila«, fuhr Hci fort. »Das ist gut. Das gibt euch die Chance zu fliehen.«

»Ist das Lager denn schon verloren?« wollte Cuwignaka wissen.

»Nein, wir halten es«, antwortete Hci.

»Dann werden wir auch nicht fliehen«, sagte Cuwignaka.

»Die beiden, die die Gelbmesser töteten – sind sie geflohen?« wollte Hci wissen.

»Ebensowenig wie wir«, sagte Cuwignaka.

»Solltet ihr wieder mit ihnen in Berührung kommen«, sagte Hci, »sagt ihnen, daß sich unsere Streitkräfte in der Nähe des Ratszeltes sammeln sollen.«

Ich hatte schon vermutet, daß sich der Widerstand in jener Gegend formieren würde. Es war der Mittelpunkt des Lagers und lag überdies ein wenig erhöht.

»Ich verstehe«, sagte Cuwignaka.

»Richtest du aus, was ich dir gesagt habe?«

»Du kannst davon ausgehen, daß deine Nachricht schon ausgerichtet ist«, sagte Cuwignaka.

»Gut«, sagte Hci. Dann wendete er seine Kaiila, hielt sie dann aber noch einmal an. »Mahpiyasapa ist zurückgekehrt«, sagte er. »Er und Kahintokapa von den Gelben Kaiilareitern leiten unsere Abwehr. Sorgen macht uns nur die mögliche Rückkehr der Kinyanpi, der Fliegenden.«

»Darf ich etwas sagen?« fragte ich.

»Ja«, sagte Hci.

»Gegen die Fliegenden kann man sich zur Wehr setzen«, führte ich aus. »Watonka und seine Begleiter trugen gelbe Tücher oder Schärpen, um von den Kinyanpi erkannt zu werden. Deine Krieger könnten sich dieses Tricks bedienen. Dann wissen die Kinyanpi nicht mehr, auf wen sie schießen sollen, besonders im Kampfgetümmel. Außerdem solltest du dir überlegen, Bogenschützen in die Anflugbereiche zu entsenden; damit lassen sich die eigenen Reiter schützen. Geschärfte Pflöcke können Tarnangriffe verhindern. Seile, die man zwischen Zelten spannt, behindern Tiefflug-Attacken und versuchte Landungen. Tücher und andere Tarnflächen, selbst wenn man sie nur hier und dort spannt, bilden Verstecke und tarnen, was sich darunter befindet, besonders aus großen Höhen; andere solche Konstruktionen lenken Bogenschützen aus der Luft ab, die kein sicheres Ziel mehr finden.«

»Hast du solche Maßnahmen als wirkungsvoll erlebt?« fragte Hci.

»Ja«, antwortete ich.

»Ich spreche mit Mahpiyasapa«, sagte Hci.

»Grunt ist mein Freund«, fuhr ich fort. »Ist er mit Mahpiyasapa ins Lager zurückgekehrt?«

»Ja, er ist bei uns.«

»Gut.«

»Hci«, sagte Cuwignaka.

»Ja?« fragte Hci.

»Was ist mit Watonka?« erkundigte sich Cuwignaka. »Kämpft er auf Seiten der Gelbmesser?«

»Ich hatte die Absicht, ihn zu töten«, sagte Hci. »Deswegen ritt ich ins Lager der Isanna. Ich fand ihn dort. Er war bereits tot, ebenso wie etliche andere. Ich glaube, sie wurden von den Gelbmessern umgebracht, die man ins Lager gelassen hatte. Sie waren nicht an Pfeilschüssen gestorben, sondern an Messerwunden. Außerdem waren die Gelbmesser verschwunden. Vermutlich geschah es, als der Angriff der Kinyanpi begann. Da brauchte man ihn nicht mehr.«

»Und Bloketu?« fragte Cuwignaka.

»Die Verräterin?«

»Ja, Bloketu, die Verräterin!«

»Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist«, sagte Hci.

»Du hast sie nicht unter den Toten gefunden?«

»Nein.«

»Dann müssen die Gelbmesser sie mitgenommen haben.«

»Mag sein«, sagte Hci.

Ich glaube ziemlich sicher zu wissen, was aus der hübschen verratenen Verräterin geworden war. Ich erinnerte mich an das aufgerollte dünne Seil, das ihre Zofe Iwoso an der Hüfte getragen hatte. Wegen ihrer Teilnahme an dem Überfall war Iwoso bei den Gelbmessern jetzt sicher eine wichtige Frau – eine hochstehende Dame, der natürlich eine Zofe zustand.

»Da du nur eine Frau und Sklavin bist«, sagte Hci, »würde ich dir raten zu fliehen, zumal du jetzt eine Kaiila besitzt.«

»Vielen Dank für deinen fürsorglichen Rat«, sagte Cuwignaka. Und wirklich – ich konnte mir vorstellen, daß Hci auf seine Art höflich und rücksichtsvoll gegen uns sein wollte. In seiner Vorstellung war Cuwignaka eben vorwiegend eine Frau – während ich für ihn natürlicherweise ein Versklavter war. Cuwignaka verstand seine Bemerkung also richtig als hilfreichen Rat für uns beide. Wir schienen hier einen neuen Hci vor uns zu haben, der weitaus weniger eitel und arrogant war als der alte.

»Wenn du dich andererseits in die Gegend des Ratszelts begeben möchtest, um dich dort zu den Frauen und Kindern zu kauern, kannst du das gern tun«, fuhr der junge Krieger fort. »Im Augenblick ist der Weg zum Ratszelt noch frei.«

»Vielen Dank«, sagte Cuwignaka.

»Aber bald wird es dort zu Kämpfen kommen.«

»Verstanden«, sagte Cuwignaka.

Hci wendete seine Kaiila und ritt davon.

»Hast du vorhin die Bewegung seines Schildes bemerkt?« fragte Cuwignaka.

»Ja«, antwortete ich, »und ich habe so etwas nie gesehen. Es ist unheimlich.«

»Ich habe Angst«, sagte Cuwignaka.

Ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. Aber ich nahm mich zusammen. Der Himmel war strahlend hell. Flauschige weiße Wolken bewegten sich über uns. Es war ein guter Tag für das Kämpfen.

»Reiten wir zum Ratszelt oder fliehen wir?« fragte ich.

»Diese Frage werden wir entscheiden, wie es sich für einen Angehörigen meines Volkes geziemt«, antwortete Cuwignaka. »Siehst du den einsamen Flieger am Himmel?«

»Ja«, sagte ich.

»Sollte er nach Norden oder Westen fliegen«, sagte er, »reiten wir zum Ratszelt.«

»Und wenn er sich nach Süden oder Osten wendet?«

»Dann reiten wir zum Ratszelt«, sagte Cuwignaka.

»Der Vogel fliegt nach Norden«, bemerkte ich.

»Dann ist die Sache ja entschieden. Zum Ratszelt!«

»Ich hoffe, daß es dazu kommen würde«, sagte ich.

»Ich auch«, sagte Cuwignaka.

»Ein sehr schlauer Flieger.«

Wir rückten unsere Waffen zurecht.

»Reiten wir«, sagte ich.

»Was ist mit denen?« fragte Cuwignaka und deutete mit seiner Lanze auf die drei Sklavinnen, die von den Gelbmessern bewacht worden waren.

»Wir lassen sie hier zurück«, sagte ich zu Cuwignaka. »Es sind ja nur Sklavinnen.«

»Das bin ich auch, Herr«, warf Wasnapohdi ein und schaute zu mir auf.

»Du darfst uns begleiten«, sagte ich.

»Danke, Herr.«

23

»Gut gemacht!« rief ich Cuwignaka zu.

Beim Aufprall von Schild und Lanze hatte seine Kaiila den Halt verloren, war herumgefahren und hatte sich auf die Hinterhand niedergesetzt. Cuwignaka geriet nicht aus dem Gleichgewicht, sondern konnte sich halten. Während sich sein Tier wieder aufrappelte, hatte er einen vorbeigaloppierenden Gelbmesser unterhalb des Schildes getroffen. Der Schwung des Angreifers hatte Cuwignaka zur Seite herumgezogen, doch wieder ließ er sich nicht vom Kaiilarücken drücken. Aus der gleichen Bewegung heraus war der Gelbmesser wieder von der Lanzenspitze geglitten und gleich darauf in den Sand gestürzt.

Ich schaute mich um.

Rechts von mir kämpften Hci und Cuwignaka beinahe Seite an Seite.

Ich schlug eine heranzuckende Gelbmesser-Lanze zur Seite, deren Spitze eine Furche durch meinen Lederschild zog. Zwischen den Kaiila waren auch Männer zu Fuß in Zweikämpfe verwickelt, Gelbmesser und Kaiila. Mein Angreifer zog seine Kaiila im gleichen Moment herum, wie ich mein Tier in die neue Richtung brachte. Lanzen prallten gegen Schilde, und wieder waren wir auseinander. Schrille Schreie gellten durch die Luft. Die roten Wilden sind es nicht gewöhnt, ihre Kämpfe in würdigem Schweigen zu absolvieren. Ihr Geschrei hat natürlich auch einen Zweck. Es soll das Aggressionsgefühl steigern und Emotionen ablassen. Auch hilft der Lärm vielleicht dabei, den Gegner einzuschüchtern und zu behindern, indem er nämlich die eigene Seite schrecklicher und unbesiegbarer erscheinen läßt, als sie wirklich ist. Ein solcher Kriegslaut, wird er überraschend ausgestoßen, kann einen Gegner schon vorübergehend erstarren lassen, was dann zu einem kurzen Angriffsvorteil führt. Ähnliche Erscheinungen gibt es auch in der Tierwelt, beispielsweise bei Larls, die ihre Opfer auf diese Weise erschrecken.

»Vorsicht!« rief ich.

Eine Kaiila drehte sich und empfing den Canhpi-Schlag eines Gelbmessers auf dem Schild.

Ich riß mein Bein hoch, das blutüberströmt war. Mit dem Speerschaft hieb ich nach rechts. Ein zu Fuß kämpfender Gelbmesser torkelte rückwärts, wurde von den Vorderhufen einer anderen Gelbmesser-Kaiila getroffen und ging zu Boden.

Plötzlich saß meine Lanze zwischen meinem Tier und dem eines anderen Kriegers fest, ein Kaiila-Kämpfer. Es dauerte einen Augenblick, ehe ich sie wieder freibekam.

Ich sah, wie Cuwignaka einen gegen Hci geführten Angriff abwehrte, indem er seinen Schild hob und praktisch gewaltsam zwischen Hci und den Angreifer ritt. Hci war unterdessen damit beschäftigt, einen Angreifer zu seiner Rechten fortzustoßen.

Viel zu spüren war von dem Schnitt an meinem Bein nicht, doch ich beschaute ihn mir genau, um seine Tiefe zu beurteilen. Man muß in solchen Dingen objektiv handeln und für einen festen Verband sorgen, sollte regelmäßig Blut fließen. Schon so mancher Kämpfer ist an einer Wunde verblutet, die er in der Hitze des Kampfes empfing und kaum spürte. Meine Wunde aber schien ganz flach zu sein und nur aus sich selbst zu bluten. Sie war also nicht gefährlich. An der betroffenen Stelle gab es auch keine großen Adern.

So spornte ich meine Kaiila erneut an und ritt in den Kampf. Meine Lanze traf einen unberittenen Gelbmesser. Links und rechts von mir prallten andere Kämpfer aufeinander.

Eine weiße Sklavin hastete entsetzt über das Schlachtfeld. Sie war wunderschön. Ich wunderte mich, was sie hier zu suchen hatte. Ein junger Kaiilakrieger hatte die Lanze in die linke Hand genommen und beugte sich zur Seite, um ihr ins Haar zu greifen.

»Nein!« rief ich. »Nein!«

Der junge Krieger hob erschrocken den Kopf.

Mit gesenkter Lanze stürmte ein bemalter Gelbmesser auf ihn zu.

Verzweifelt zog ich meine Kaiila herum und traf den Angreifer in die Seite. Dichtauf folgten, wie befürchtet, seine Flankenschützer, die ihm die Zeit verschaffen sollten, seine Lanze wieder freizubekommen. Da meine eigene Lanze festsaß, sprang das Kurzschwert aus Port Kar aus seiner Scheide. Den Lanzenstoß des Mannes zu meiner Linken wehrte ich mit dem Schild ab und veränderte die Schubrichtung. Der andere Bursche, der sich links vom führenden Krieger gehalten hatte, drehte seine Kaiila in meine Richtung. Ich wendete und fing seine Lanzenspitze ebenfalls mit dem Schild ab. Als er erneut angreifen wollte, schlug ich ihm das Ende der Lanze mit einem Schwerthieb ab. Klingen, die so etwas schaffen, sind im Ödland weitgehend unbekannt. Mit einem erstaunten Ausruf zog der Mann seine Kaiila zurück und ergriff die Flucht. Ich hieb nach dem Mann, der mich von links bedrängte, und fetzte ihm eine große Kerbe in seinen Schild. Er riß die Augen auf und zog sich ebenfalls zurück.

Solche Klingen kommen natürlich vorwiegend bei der Infanterie zum Einsatz. In Länge und Gewicht sind sie auf ein Optimum ausgerichtet. Sie sind schwer genug, um eine säbelartige Schlagkraft zu ermöglichen, und leicht genug, um mit der Schnelligkeit eines Floretts geführt zu werden. Ihre Länge reicht aus, um an einen dolchbewaffneten Gegner heranzukommen, und ihre Kürze und Wendigkeit machte es möglich, die Abwehr längerer, schwerer Waffen zu überwinden. Sie eignen sich allerdings weniger für den Gebrauch vom Rücken einer Kaiila oder eines Tarn. Daß auf Gor nicht häufiger Säbel verwendet werden, liegt meiner Meinung nach an der Neigung vieler Krieger, sich ausschließlich auf ihre Lanze zu verlassen. Der Krummsäbel der Tahari, für einen Kaiilareiter eine sehr nützliche Waffe, bildet dabei eine interessante Ausnahme.

Hier und dorten steckten Lanzen im Boden.

Ich ritt zu einer dieser Waffen, steckte mein Schwert fort und zog die lange Waffe heraus. Es war eine Gelbmesser-Waffe.

Ich wandte mich auf der Kaiila um und erblickte das Mädchen, das zwischen Männern und Tieren hindurchgelaufen war. Stocksteif stand sie wenige Meter von mir entfernt und zitterte am ganzen Leib. Ich ritt zu ihr hinüber.

»Verstehst du goreanisch?« fragte ich.

»Ja, Herr.«

»Bist du eine Sklavin bei den Gelbmessern?«

»Ja.«

»Ein Irrtum! Du bist jetzt Kaiila-Sklavin.«

»Ja, Herr«, sagte sie erschaudernd.

In diesem Augenblick ritt der junge Mann herbei, den ich beschützt hatte.

»Ich glaube, du kennst diese Frau«, sagte ich zu ihm.

»Ja«, sagte er. »Wir sind uns kürzlich begegnet.«

»Wie heißt du?«

»Cotanka«, antwortete er, »aus der Bande der Wismahi.«

Streng blickte ich auf das Mädchen nieder. »Wenn ich dir den Befehl dazu gebe, machst du kehrt und läufst hinter die Linien der Kaiila. Dort wirst du einen Weißen antreffen, der einen breitkrempigen Hut trägt. Er heißt Grunt. Du wirst dich vor ihm hinwerfen und ihm sagen, daß du die Sklavin Cotankas von den Wismahi bist.«

Sie nickte mit weit aufgerissenen Augen.

»Nun geh, Sklavin«, sagte ich.

»Ja, Herr!« rief sie und lief stolpernd davon.

»Ich glaube, sie wird eine ganz ordentliche Sklavin abgeben«, sagte ich zu dem jungen Mann.

»Ich glaube auch«, erwiderte er.

Damit kehrten wir ins Kampfgetümmel zurück.

24

»Sie kommen! Sie kommen!« riefen Stimmen. »Die Kinyanpi kommen!«

Am Nachmittag waren schon mehrmals die Kampfpfeifen erklungen, die aus den Flügelknochen der krallenfüßigen Herlits geschnitzt werden, mehrmals hatten sich die gefiederten Kampfstäbe gehoben und gesenkt und damit ihre Signale an die Kampfteilnehmer weitergegeben, nicht nur an die Kaiila, sondern auch an die Gelbmesser. Ich kannte die Bedeutung der Signale im einzelnen nicht, ebensowenig kannte sich Cuwignaka aus, dem die Ausbildung für die wendige Kampftaktik seines Volkes fehlte. Hci dagegen – und viele andere – fühlte sich damit ausgesprochen heimisch, so wie jeder goreanische Soldat die Bedeutung bestimmter Standartenbewegungen und Trompetensignale und Tarntrommelwirbel zu deuten weiß. Wir folgten dem Beispiel der anderen. Bisher hatte Mahpiyasapa, der seine Befehle durch Pfeifen und Kampfstäbe übermitteln ließ, seinen mutigen Kämpfern kein einzigesmal gestattet, die zurückweichenden Gelbmesser zu verfolgen. Dies war eine kluge Maßnahme, denn soweit ich ausmachen konnte, waren uns die Gegner zahlenmäßig hoch überlegen. Gewiß, von Zeit zu Zeit hatten sich frische Gelbmesser in den Kampf gestürzt. Andere waren auf nahegelegenen Hügeln aufgetaucht. Der vorgetäuschte Rückzug, der die Verfolger aus ihren Positionen lockt, ist eine beliebte Taktik der roten Wilden. Außerdem wollten wir das Lager halten, in dem sich Frauen und Kinder aufhielten – und das Fleisch, das die Kaiila durch den bevorstehenden Winter bringen sollte.

»Sie kommen!« gellten Rufe. »Die Kinyanpi!«

»Vielleicht sind das kleinere Vögel, die schon viel dichter heran sind«, sagte ein Mann.

Kampfpfeifen schrillten.

»Es sind die Kinyanpi!« sagte ein Mann.

»Wir wollen aufsteigen«, sagte Cuwignaka und schluckte ein Stück Dörrmasse.

Ich wischte in aller Ruhe die Flanken meiner Kaiila ab.

Ringsum bestiegen Krieger ihre Tiere, die zum großen Teil bis zum Bauch mit Staub bedeckt waren. Das Haar am Unterkinn vieler Kaiila war steif von getrocknetem Blut, das auf die heftige Bewegung der Zügel zurückzuführen war. Vielfach klebte auch Blut an den geflochtenen Lederriemen.

Ich hörte Männer in meiner Nähe. Einige zählten sich selbst noch einmal ihre Coups auf. Einige gingen ihre Medizinhelfer um Beistand an. Andere sangen ihre Kriegsmedizin. Dann gab es Kämpfer, die auf ihre Schilde und Waffen einsprachen und ihnen mitteilten, was sie von ihnen erwarteten. Viele sangen ihre Todeslieder. »Auch wenn ich sterbe, wird die Sonne weiter am Himmel stehen. Auch wenn ich sterbe, wird das Gras wachsen. Obwohl ich sterbe, wird der Kailiauk kommen, sobald das Gras am höchsten steht.«

Ich machte den Zügel wieder an der Unterlippe meiner Kaiila fest. Dann stieg ich auf, Schild und Lanze im Arm.

»Glaubst du, wir haben eine Chance gegen die Kinyanpi?« fragte Cuwignaka.

»Ich nehme es an«, antwortete ich. »Kahintokapa hat alles gut vorbereitet.« In der Deckung von Zelten und Roben lagen an der Westseite des Lagers zahlreiche Bogenschützen auf der Lauer – zwischen den Kinyanpi und unserer Hauptstreitmacht. Wenn die Kinyanpi ihre Angriffstaktik beibehielten, würden sie bei diesem Anflug ganz überraschend auf einen Pfeilhagel stoßen, der aus nächster Nähe abgeschossen wurde. Sollten sie dann immer noch nicht abdrehen, würden sie anschließend gegen die Seile prallen, die zwischen einigen Zelten aufgespannt worden waren. Sie hatten denselben Zweck wie die frei schwingenden, beinahe unsichtbaren Tarndrähte, die zuweilen in den großen Städten hingen, Drähte, die einem Vogel die Flügel abreißen können oder einem Reiter Kopf oder Arm. Außerdem ließen sich angespitzte Pfähle, auf kürzeren, quer übereinander liegenden Stangen ruhend, an ihrem Fuße ein Pfeilschütze, in die Bahn des Angriffs richten. Damit hofften wir nicht nur Krallenattacken verhindern zu können, sondern auch Zweikämpfe auf engstem Raum, wie ihn die roten Wilden lieben.

Wir gingen davon aus, daß die Kinyanpi aus der Entfernung weitaus weniger wirksam kämpfen konnten. Aus einer Höhe von fünfzig oder hundert Fuß schoß sich nicht so leicht durch das Netzwerk aus Seilen und Tüchern, das nun zwischen etlichen Zelten hing. Solche Vorsorge verwirrte hoffentlich die schnell fliegenden Bogenschützen. War ein Ziel doch erkannt, blieb im allgemeinen nicht mehr genug Zeit für den Schuß. Der am Boden wartende Bogenschütze, der Verteidiger, hat festen Grund unter den Füßen und kann, weil er den Öffnungen im Tarnnetz so nahe ist, den Anflug des Gegners gut verfolgen und gezielt schießen. So gesehen befindet er sich gewissermaßen hinter einem Fenster.

»Glaubst du, die Gelbmesser werden ihren Angriff mit den Kinyanpi abstimmen?« fragte ein Mann.

»Logisch wäre es«, antwortete ich.

»Ich glaube eher, sie haben vom Kämpfen im Moment die Nase voll«, sagte Cuwignaka. »Ich glaube, sie werden abwarten, wieviel Arbeit die Kinyanpi ihnen abnehmen können.«

»Mag sein«, sagte ich.

»Ich sehe sie«, meldete Cuwignaka und ließ seine Kaiila im Kreis gehen. »Die Reiter sind deutlich auszumachen. Sie nähern sich auf dem bekannten Weg.«

»Ich glaube, dies ist das letztemal, daß die Kinyanpi ein Kaiila-Lager so unvorsichtig angreifen werden«, meinte ich.

Daraufhin wandten wir uns den Gelbmessern zu, die etwa dreihundert Meter entfernt warteten. Die Kämpfer auf beiden Seiten bildeten lange Linien, die auf unserer Seite zwei und drei Mann tief waren. Zwischen den Reitern hielten wir eine Lanzenlänge Abstand, womit wir die Treffsicherheit der Kinyanpi zu verringern hofften. Die Kaiila bewegten sich unruhig unter uns. Unter dem Netz aus Seilen und Tüchern warteten wir geduldig ab. Ich vernahm Kriegsgesang.

Plötzlich ertönte der entsetzliche Schrei eines aufgespießten Tarn.

»Schilde über die Köpfe!« brüllte ich.

Ein Tarn, etwa zwanzig Fuß über uns, schlug dröhnend durch die Luft, dichtauf gefolgt von einem zweiten Reittier.

Andere Tarns wechselten plötzlich die Richtung oder begannen wieder zu steigen.

Unsere Kaiila drehten sich unruhig und stampften nervös auf.

»Behaltet die Gelbmesser im Auge!« rief ich Cuwignaka zu.

»Sie rühren sich nicht von der Stelle«, antwortete er. »Sie halten die Position.«

In diesem Moment verfing sich ein Tarn an den Seilen. Kreischend riß er sich los und zerrte Leder und Stoffetzen mit. Sein Reiter, von Pfeilen durchbohrt, die Knie unter dem Sattelgurt festgeklemmt, schwankte leblos auf seinem Rücken. Zwei weitere Vögel saßen in den Netzen fest, der eine mit gebrochenem Hals, der andere mit halb abgerissenem Flügel. Die Reiter hatten ihr Unglück nicht überlebt. Der Tarn mit dem verletzten Flügel schnappte mit dem Schnabel nach seinen Angreifern und wurde mit Lanzen erledigt. Ein dritter Tarnreiter stürzte vom Rücken seines Tieres ab, als dieses im Flug gegen ein Hindernis prallte. Getroffen von Pfeilen, flogen andere Tarns ziellos herum. Mit einem schnellen Blick nach Westen überzeugte ich mich, daß die Gelbmesser noch immer nicht vorrückten.

»Wie viele waren es?« fragte ich Cuwignaka.

»Vierzig, fünfzig?« gab dieser zurück. »Keine Ahnung. Jedenfalls nicht so viele wie beim ersten Angriff.«

Natürlich wußte ich auch nicht, wie viele Tarn beim ersten Überraschungsangriff teilgenommen hatten; ich schätzte ihre Zahl auf etwa zweihundert, die sich noch irgendwo in der Nähe befinden mußten. Cuwignakas Schätzung hinsichtlich der jetzigen Angreiferzahl deckte sich mit meinem Eindruck. Die Mehrzahl der Kinyanpi wurde offenbar aus irgendeinem Grund zurückgehalten. Dies verwirrte mich. Vielleicht handelte es sich auch nur um einen Versuchsangriff, der der Gegenseite über unsere Verteidigung Aufschluß geben sollte. Wenn das der Fall war, so überlegte ich grimmig, hatten die Tarnreiter einiges zu vermelden.

»Was meinst du, warum haben so wenige angegriffen?« fragte ich Cuwignaka.

»Keine Ahnung«, antwortete er. »Wenn eine kleine Zahl von Kämpfern in den Kampf geht, ist der Ruhm größer.«

Ich lächelte vor mich hin. Vielleicht hatte Cuwignaka recht. Während ich mich mit militärischer Mathematik und Motivation abgegeben hatte, war mir vielleicht die Mentalität des Gegners aus dem Blickfeld geraten, die im Falle der roten Krieger auf jeden Fall von Exzentrizität geprägt war, zumindest von einer ungenügend eingeweihten oder fremden Perspektive. Wenn dem Feind Ruhm wichtiger ist als ein normales militärisches Ziel, das man in Kosten und Kämpferverlusten errechnen konnte, dann sollte man die eigene Einstellung in bezug auf diesen Gegner entsprechend umstellen.

»Aber so läuft unser Denken normalerweise nicht«, sagte Cuwignaka. »Das Überleben ist uns wichtiger als der Ruhm.«

»Warum haben dann nur so wenige an dem Angriff teilgenommen?«

»Ich weiß es nicht.«

Ich war gereizt. Meine kunstvoll aufgebaute Erklärung war in sich zusammengebrochen. Nun begriff ich ebenso wenig wie Cuwignaka, was es mit dem jüngsten Angriff auf sich hatte.

»Schau!« rief er.

»Ich seh’s«, gab ich zurück.

Ein einzelner Tarnkämpfer bewegte sich hoch am Himmel auf die Gelbmesser zu und landete hinter ihren Reihen.

»Nun koordinieren sie bestimmt ihre Aktionen«, sagte Cuwignaka.

»Ich nehme es an«, sagte ich.

25

»Siehst du?« fragte Cuwignaka.

Ich nickte. Vor den Reihen der Gelbmesser, die etwa dreihundert Meter entfernt waren, ritten Reiter mit gefiederten Lanzen auf und ab.

Der Nachmittag ging seinem Ende zu.

»Sie bereiten sich auf einen Angriff vor«, sagte Cuwignaka. »Sie ermahnen die Krieger, Mut zu beweisen.«

»Ja«, antwortete ich. Unterdessen hatte ich meine Position zwischen den Kaiila wieder eingenommen. Zuvor war ich noch einmal zu unseren rückwärtigen Positionen geritten, um zum Abschluß die Aufstellung der Bogenschützen, die Positionierung der Spitzpfähle und die Haltbarkeit der Tarnnetze zu überprüfen. Alles war in Ordnung gewesen. Wäre ich nicht selbst geritten, hätte ich meine Vorschläge Cuwignaka vorgetragen, der sie seinerseits an Hci weitergegeben hätte. Von ihm wären sie an Mahpiyasapa oder Kahintokapa, Mann-dervorausgeht, weitergeleitet worden, der diesen Abschnitt unserer Stellungen befehligte. Kahintokapa aus der Casmu-Bande war Mitglied der angesehenen Gelben Kaiilareiter. Dieses umständliche Vorgehen erschien mir und Cuwignaka angebracht zu sein, vorausgesetzt die Zeit lief uns nicht davon. Weder Mahpiyasapa noch Kahintokapa hätten gern direkte Ratschläge zweier Burschen angenommen, die im Lager so unbedeutend waren wie wir. Andererseits hatte sich Hci als ungemein ehrlich erwiesen, was uns doch überraschte: er hatte seinem Vater und Kahintokapa klargemacht, von wem die Empfehlungen für die Erstverteidigung gegen die Kinyanpi stammten. Daß er meinen Rat überhaupt ernst genommen und danach gehandelt hatte, ihn gegenüber Kahintokapa und Mahpiyasapa sogar als den meinen ausgegeben hatte, war für mich und Cuwignaka überraschend gewesen. Keiner von uns hatte dies von Hci erwartet, der für uns der Inbegriff von Arroganz und Eitelkeit war. Zu unserer Überraschung hatten die Krieger bei unserer Ankunft auch ihre Reihen geöffnet und uns einen vollen Platz in ihrer Mitte zugestanden. Wir waren nicht geflohen. Wir wollten nicht bei den Frauen und Kindern warten. Wir waren mit Schilden und Lanzen zu ihnen gekommen. Daraufhin öffneten sie uns ihre Reihen, damit wir bei ihnen Position beziehen konnten: der eine ein Stammesangehöriger in Frauenkleidung, der andere ein Sklave.

»Ich glaube, sie werden bald kommen«, sagte Cuwignaka.

»Ja«, gab ich zurück.

Hinter unseren Reihen war mir Kahintokapa begegnet. Er hatte mir zum Gruß die flache Hand hingestreckt. Ich hatte die Geste erwidert. Es war beinahe, als wäre ich gar nicht Sklave in diesem Stamm. Er trug seinen Schild in einer Hülle. Vor dem Kampf würde er ihn natürlich wieder herausziehen.

»Wahrscheinlich warten sie auf die Kinyanpi«, meinte Cuwignaka.

»Vermutlich.«

Auf dem Rückritt zur Kampffront hatte ich bei Grunt Station gemacht. Er befand sich unweit der Frauen und Kinder. Zusammen mit einigen Frauen versorgte er Verwundete. Wasnapohdi war bei ihm. Daß wir den Kinyanpi-Angriff abwehren konnten, hatte ihn beflügelt. »Wir können das Lager halten, davon bin ich überzeugt!« hatte er gesagt.

»Ich nehme es an«, hatte ich geantwortet.

»Die Gelbmesser sind ziemlich erfolgreich gewesen«, antwortete er. »Sie haben zahlreiche Kaiila, reichlich andere Beute und Frauen erbeutet. Allerdings haben sie die Überraschung nicht mehr auf ihrer Seite. Ich kenne solche Männer. Sie werden sich bald zurückziehen. Die Beschaffung weiterer Beute wäre nun zu teuer für sie.«

»Noch haben sie sich nicht zurückgezogen«, sagte ich.

»Das verstehe ich nicht«, antwortete er.

»Ich auch nicht«, hatte ich erwidert. Es wollte mir seltsam erscheinen, daß die Gelbmesser nicht abgerückt waren, nachdem sie die Schwierigkeit der Lagereinnahme hatten einsehen müssen. Bei roten Wilden hätte man mit einer solchen Reaktion rechnen müssen.

»Sie verharren kampfbereit?« hatte Grunt gefragt.

»Ja«, hatte ich geantwortet.

»Interessant«, so lautete sein Kommentar.

Als ich mich von Grunt abwandte, war ich noch hundert Meter weiter geritten, um mir die Überreste des Ratszeltes anzusehen. Außer den Verstrebungen war kaum etwas übriggeblieben. Dieser Bau war das Hauptziel des ersten Kinyanpi-Angriffs gewesen. Wie man mir berichtet hatte, waren Hunderte von Pfeilen durch die Lederhäute des Bauwerks gedrungen. Es war zum Schauplatz eines Massakers geworden. Kein Wunder, daß Watonka nicht begierig gewesen war, an der Ratsversammlung teilzunehmen. Ein großes Glück, daß sich Mahpiyasapa und Grunt zur Zeit des Angriffs nicht im Lager aufgehalten hatten. Innerhalb weniger Ehn war die Oberschicht des Kaiila-Stammes, mitsamt ihrer Lebensund Führungserfahrung praktisch ausgelöscht worden. Einer der wenigen überlebenden war Kahintokapa, der sich einen Ausweg durch die Häute gesucht hatte und geflohen war. Gleichzeitig mit dem Luftangriff war eine Sonderabteilung der Gelbmesser mit Stoßrichtung Ratszelt in das Lager eingedrungen, und der Tod der Verwundeten und das Abbrennen des Ratszeltes ging auf ihr Konto. Eine ähnliche Gruppe war gegen die Tanzhalle vorgegangen. Anschließend hatten sich die Sonderabteilungen zurückgezogen. Kurze Zeit später war unter Führung Mahpiyasapas und Kahintokapas der erste Widerstand aufgeflackert. Ich schaute in den geschwärzten Kreis, der von kahlen Schäften gesäumt war. Dort drinnen lagen noch immer Tote, im Boden steckten noch zahllose Pfeile. Für die Kaiila war dies in der Tat ein düsterer, blutiger Tag.

Ganz allgemein gesprochen stimmten mich mehrere Details des Angriffs nachdenklich. Da war zunächst die Allianz, die Zusammenarbeit zwischen Gelbmessern und Kinyanpi, die nicht von Natur aus Verbündete waren. Es wollte mir ungewöhnlich erscheinen, daß die beiden Gruppierungen bei diesem Feldzug ihre Maßnahmen so vorzüglich koordiniert hatten. Eine Zusammenarbeit zwischen fremden Stammesgruppen gab es sonst nur in der gemeinsamen Abwehr weißhäutiger Eindringlinge in das Ödland. Eine andere Besonderheit des Angriffs lag in der Art und Weise seiner Leitung. Sie folgte nicht den normalen, ziemlich eingeengten Schmalspurmethoden, wie sie bei Konflikten zwischen roten Wilden üblich waren. Zum Beispiel der betrügerische Friedensvorstoß, der die Anführer eines ganzen Stammes auf kleinem Raum zusammenführen sollte, um sie mit schrecklichem Ausgang angreifen zu können – so etwas wäre der Intelligenz roter Wilder durchaus zuzutrauen, doch schien es mir nicht zur gewohnten Einstellung zu militärischen Dingen zu passen. Auf jeden Fall war diese Art der Kriegsführung für das Ödland ein wenig überraschend. Sie schien wenig zu tun zu haben mit den hier gepflegten Traditionen von Ehre und Coup-Zählen. Schließlich erschien es mir unvorstellbar, daß der Angriff gegen ein anderes Volk zur Zeit der großen Feste eingeleitet worden war. Dies kommt im Ödland einer Blasphemie gleich, einem Sakrileg. Ich konnte mir kaum vorstellen, daß die Gelbmesser, die selbst zu den roten Wilden gehörten, sich so etwas hatten ausdenken können. Auch dies schien mir ein Fingerzeig auf eine neue Überführung zu sein, auf die Annahme neuer Taktiken im Ödland. Ich mußte zugeben, daß der Gesamtplan, besonders in Zusammenarbeit mit Watonka, der später seinen Verbündeten überflüssig erschienen war, bestens funktioniert hatte. Daran führte kein Weg vorbei.

Wieder schaute ich auf die Leichen und die Pfeile zwischen den Überresten des Ratszeltes.

Ich war mit dem Anblick alles andere als zufrieden. Endlich wendete ich meine Kaiila.

Anschließend war ich langsam reitend in die vorderen Reihen zurückgekehrt. Auf meinem kurzen Ritt war ich an mehreren Kaiila vorbeigekommen, die unter den Tarnstoffen festgebunden worden waren. Es waren bei weitem nicht genug Reittiere für alle. Ich passierte umfangreiche Fleischvorräte, die die Frauen von Gestellen genommen und unter den Tarnnetzen auf Tüchern gestapelt hatten. Dieses Fleisch war für die Kaiila von größter Bedeutung. Allein vom Fleisch hing es ab, ob der Stamm den Winter gut überstand oder viele Opfer beklagen mußte. Auf meinem Ritt kam ich auch an vielen Sklavinnen vorbei. Unter ihnen, ungefesselt, hatte ich Oiputake entdeckt, an die ich mich gut erinnerte. Sie hatte ich zuvor in einer Sklavinnengruppe erwählt und mit der Bedeutung ihres Daseins bekannt gemacht. Sie hatte uns auf die Tatsache gebracht, daß die im Lager befindlichen Gelbmesser nicht Zivilhäuptlinge, sondern Kriegshäuptlinge waren.

»Herr!« hatte sie gerufen und mir die Arme entgegengestreckt.

»Schweig, Sklavin!« hatte ich gerufen und war weitergeritten. Ich hatte im Augenblick keine Lust, mit ihr zu sprechen. Dafür hielt ich meine Kaiila kurz neben einem blonden Mädchen, das zitternd zu mir aufblickte.

»Wer bist du?« fragte ich.

»Ich bin eine namenlose Sklavin Cotankas von den Wismahi«, sagte sie.

Sie war die Sklavin, die von Gelbmessern als Lockmädchen in das Kampfgetümmel geschickt worden war. Cotanka hatte Glück gehabt. Er war mit dem Leben davongekommen und besaß nun dieses Mädchen. Ich nahm nicht an, daß sie ein leichtes Leben bei ihm haben würde.

Inzwischen ritten keine Gelbmesser mehr vor den Reihen ihrer Stammesgenossen hin und her, das Schütteln der Kampfstäbe hatte aufgehört, ebenso wie der Gesang.

Die Kaiila des Gegners waren zu uns herumgedreht worden.

»Haltet eure Lanzen bereit! Haltet eure Messer bereit!« rief Mahpiyasapa im Singsang und ritt vor unserer Kampflinie entlang. »Ich wünsche euch scharfe Augen. Ich wünsche euch einen schnellen Arm! Ich wünsche euch eine starke Medizin!«

»Bald kommen sie«, sagte Cuwignaka.

»Ja«, stimmte ich ihm zu.

»Worauf warten sie noch?« fragte ein Mann.

»Auf die Kinyanpi«, antwortete jemand.

Ich blickte zu Hci hinüber und bemerkte seinen Schild, der sich wie aus eigenem Antrieb zu bewegen schien, bis er ihn wieder beruhigt hatte. Mir kribbelte es im Nacken, und ich bekam eine Gänsehaut.

Die Bewegung des Schilds war auch von Mahpiyasapa bemerkt worden, der zu Hci ritt.

»Was ist mit deinem Schild?« fragte er.

»Nichts.«

»Bleib zurück«, forderte Mahpiyasapa den anderen auf. »Kämpfe nicht.« Dann ritt er weiter.

Hci aber verließ seinen Posten nicht.

»Vielleicht kommen die Kinyanpi ja gar nicht«, sagte ein Mann.

»Die Kinyanpi!« tönte es in diesem Augenblick von hinten, ein Ruf, der von Mann zu Mann weitergegeben wurde.

Ich schaute mich um.

»Die Kinyanpi«, sagte Cuwignaka, der sich ebenfalls orientierte.

»Ja«, sagte ich. Die Fliegenden kamen in zwei Gruppen – zwei dunkle Flecken, der eine aus dem Osten, der andere aus Südosten.

Wir richteten die Blicke auf Mahpiyasapa, der uns das Angriffssignal geben mußte.

Mahpiyasapa, der vor uns ritt, hob und senkte seine Lanze.

Wir glaubten ziemlich sicher zu wissen, wie die Taktik der Kinyanpi diesmal aussehen würde. Sie würden den früheren Fehler eines direkten, tiefen Angriffs nicht wiederholen. Entweder würden sie auf Höhe bleiben und uns mit Pfeilen überschütten, oder die Attacke der Gelbmesser unterstützen. Da wir uns vor einfachen Distanzschüssen ziemlich gut mit unseren Schilden schützen konnten, lag auf der Hand, daß unsere Feinde gemeinsam handeln würden. Wenn wir uns der Gelbmesser erwehrten, konnten wir uns nicht gleichzeitig vor dem Beschuß aus der Luft in acht nehmen. Und wenn wir uns nach oben abschirmten, indem wir die Schilde hoben, lieferten wir uns der Attacke der Gelbmesser aus. Der Gegner vermutete, daß wir seinen Angriff unter den Tarnbespannungen abwarteten. Dies erschwerte den Angriff aus der Luft, überließ den Gelbmessern aber den Schwung der Attacke.

Kaum hatte Mahpiyasapa seine Lanze gesenkt, legten wir alle gelbe Schärpen an. Mit diesem Zeichen hatten sich Watonka, Bloketu, Iwoso und andere als Personen identifiziert, die von den Kinyanpi nicht beschossen werden durften.

Wieder hob und senkte Mahpiyasapa seine Lanze und deutete auf den Feind.

Wie ein einziges Lebewesen stürmte unsere breite Kampflinie auf den Feind zu – Kaiila wieherten, Männer brüllten, Lanzen wurden gesenkt.

Eine volle Ehn, ehe sich der Himmel von den dahinhuschenden Kinyanpi verdunkelte, trafen wir auf den Gegner, der verblüfft durcheinanderwimmelte, dessen Kaiila auf die Hinterhand stiegen.

Der Kampf war kurz; dauerte nur etwa vier oder fünf Ehn, dann galoppierten die Gelbmesser heulend und schreiend davon und überließen uns das Schlachtfeld. Im Salut an Cuwignaka hob ich meine blutige Lanze. Die Kinyanpi hatten sich ebenfalls zurückgezogen. Kaum ein Dutzend Pfeile waren zwischen uns niedergegangen. Und getroffen waren ausschließlich Gelbmesser. Welche Verwirrung mußte die Kinyanpi ergriffen haben angesichts der Vielzahl gelber Signale tief unter ihnen! Gewiß hätten sie sich sagen können, daß die meisten von Kaiila getragen wurden, doch im Flug, in schneller Bewegung, ihrer Ziele ungewiß, hatten sie ihre Pfeile weitgehend zurückbehalten.

»Die kommen nicht zurück!« rief ein Mann lachend.

»Seht, das Signal Mahpiyasapas!« sagte ein anderer. »Kehren wir zu unseren Zelten zurück.«

Wir wendeten unsere Kaiila und ritten langsam und zufrieden, müde, doch still-siegesfroh, zu unserem Lager.

»Seht doch!« rief ein Mann, als wir unsere Ausgangsposition erreicht hatten, und deutete nach hinten.

»Das glaube ich einfach nicht!« rief ein zweiter.

Wir schauten zurück, wo sich in drei- oder vierhundert Metern Entfernung auf einer Anhöhe Reihen von Gelbmessern zeigten.

»Sie haben sich neu formiert«, sagte ich. Die Situation war nicht anders zu deuten, doch hatte ich damit nicht gerechnet. Hier äußerte sich eine Disziplin, wie ich sie von erregten roten Wilden nicht erwartet hatte, und auf keinen Fall so schnell.

»Ich dachte, sie wären fort«, sagte ein Mann.

»Ich auch!« rief ein zweiter.

»Sie müssen doch längst genug Frauen und Kaiila haben«, meinte ein dritter. »Eigentlich hätten sie längst verschwinden müssen.«

»Was immer sie jetzt noch erringen könnten, käme sie teuer zu stehen.«

»Und doch sind sie da«, sagte ein Kämpfer.

»Das sieht den Gelbmessern gar nicht ähnlich«, äußerte ein Kaiilakrieger neben ihm.

»O nein!« bestätigte ein anderer.

Auch ich wunderte mich über die Rückkehr der Gelbmesser auf das Schlachtfeld.

Die Dämmerung hatte begonnen – auch das verwirrte mich. Rote Wilde vermeiden es im allgemeinen, bei Dunkelheit zu kämpfen. Nachts kann man seine Erfahrungen kaum in die Tat umsetzen, außerdem bringt das Fehlen von Uniformen die Gefahr, daß man Freund und Feind verwechselt. Manche Wilden meiden den Nachtkampf auch aus Medizingründen. In diesem Zusammenhang gibt es viele Theorien; ich möchte an dieser Stelle nur zwei erwähnen. Die eine besagt, daß ein bei Nacht Getöteter Probleme haben kann, seinen Weg durch die Schwärze in die Medizinwelt zu finden. Und eine andere basiert auf der Befürchtung, daß ein bei Nacht Gefallener das Portal der Medizinwelt womöglich verschlossen vorfindet. Diese und ähnliche Überzeugungen führen natürlich dazu, daß Auseinandersetzungen selten bei Nacht ausgetragen werden.

»Warum verschwinden sie nicht?« fragte ein Mann.

»Bald ist es dunkel«, fügte sein Freund hinzu.

»Sie müssen eine starke Medizin haben«, meinte eine Stimme.

»Vielleicht«, antwortete jemand angstvoll.

Wieder bemerkte ich, daß Hci Mühe mit seinem Schild hatte, den er gewaltsam an sich drücken mußte.

»Worauf warten sie noch?« gellte die Frage.

»Ihre Reihen öffnen sich!« beobachtete jemand.

»Es kommt etwas hindurch.«

»Ein Sleen«, vermutete ein Mann.

»Nein«, sagte ein zweiter.

»Das Wesen bewegt sich auf allen vieren.«

»Es muß ein Sleen sein.«

»Dazu ist es zu groß.«

»Aii!« rief ein Mann. »Er richtet sich auf! Es geht auf zwei Beinen!«

»Ein Wesen aus der Medizinwelt!« rief ein Mann.

»Es ist der Medizinhelfer der Gelbmesser!« schrie ein anderer.

Beinahe im gleichen Augenblick waren hinter uns bestürzte Rufe zu hören. »Reiter! Reiter!«

Wir rissen unsere Kaiila herum. Im hinteren Teil des Lagers gab es Geschrei; das Getrappel und Wiehern zahlreicher Kaiila war zu hören. In vollem Galopp stießen Reiter in mehreren Reihen gegen das Lager vor, mit wehenden Wimpeln und gesenkten Lanzen.

»Weiße!« rief ein Mann in meiner Nähe.

Ich sah, wie eine Frau niedergeritten wurde und ein Mann einer Lanze der geordnet vorpreschenden Angreifer zum Opfer fiel.

»Weiße!« wurde der Ruf wiederholt.

»Wendet!« befahl Mahpiyasapa. »Kämpft! Verteidigt das Lager!«

Unsere Kampfformation fuhr herum, und Mahpiyasapas Männer galoppierten schrill schreiend unter der Bespannung und zwischen den Zelten hindurch, um sich dem neuen Feind zu stellen. Ich hielt meine Stellung.

Bei den weißen Angreifern handelte es sich zweifellos um die Kämpfer Alfreds, des Söldnerhauptmanns aus Port Olni. Mit etwa tausend Mann war er in das Ödland eingedrungen; in seinem Treck hatte er siebzehn Kurii mitgeführt, ein Hinrichtungskommando von den Stahlwelten, das es auf Zarendargar, auch Halb-Ohr genannt, abgesehen hatte, einen Kriegsgeneral der Kurii, ehemals Befehlshaber über den Versorgungskomplex in der goreanischen Arktis, ein Stützpunkt, der für die vorgesehene Kur-Invasion Gors umgerüstet wurde. Dieser Komplex war vernichtet worden. Es gab Beweise für eine Flucht Zarendargars in das Ödland. Im Norden hatten sich Zarendargar und ich einmal als Soldaten gegenübergesessen und gemeinsam Paga getrunken. Meine Reise in das Ödland hatte das Ziel, ihn vor der Gefahr zu warnen, in der er schwebte. Dabei war ich in die Sklaverei der Kaiilakrieger geraten. Ein Wagenzug mit Siedlern, mit dem sich Alfred zusammengetan hatte, war angegriffen worden. Dem nachfolgenden Massaker war Alfred mit dreibis vierhundert berittenen Söldnern in Richtung Südosten entkommen, indem er den größten Teil der ihm Anvertrauten im Stich ließ. Aus dem Südosten, daran mußte ich nun denken, waren die Kailiauk dieses Jahr zu früh eingetroffen. Aus dem Südosten waren auch die Kinyanpi herangeflogen.

Bisher hatte ich vermutet, daß Alfred und seine Leute in die Zivilisation zurückgekehrt waren. Nun aber mußte ich erkennen, daß ich mich geirrt hatte. Irgendwie hatten sie sich mit den Kinyanpi verbündet und waren durch sie und aufgrund eines besonderen Umstands, den ich zu kennen glaubte, mit den Gelbmessern in Berührung gekommen und hatten sie zur Mitarbeit verpflichten können. Urplötzlich taten sich höchst unangenehme Perspektiven auf. Die überraschende Disziplin der Gelbmesser sah ich nun in einem ganz anderen Licht. Ebenso die anscheinend vorhandene Bereitschaft, in der Abenddämmerung zu kämpfen. Erklärlich wurde auch plötzlich ein für das Ödland so untypisches Verhalten wie der betrügerische Friedensvorstoß, das Vorschieben einer Ratsversammlung, die alle führenden Persönlichkeiten der Gelbmesser zusammenführen sollte, und wie das unglaubliche Sakrileg eines Angriffs auf ein Volk, das gerade seine jährlichen Riten abhielt. Diese Dinge deuteten nicht auf Kräfte aus dem Ödland hin, sondern auf Drahtzieher, die hier fremd waren, auf Lenker, die ganz anders dachten. Selbst eine so winzige Tatsache, wie der zuvor erfolgte kleinere Angriff der Kinyanpi wurde mir nun in seiner Bedeutung klar. Es mußte sich wirklich um einen Versuchsballon gehandelt haben, der unsere Abwehr auf die Probe stellte, ehe die in Reserve gehaltene Hauptstreitmacht vorgeschickt wurde. Auch das hierin zum Ausdruck kommende Führungsdenken deutete mir eher auf die Städte hin, auf weiße Soldaten – und nicht auf rote Wilde.

Verzweifelt schaute ich zu den Gelbmessern zurück. Wie erwartet, hatten sie ihren Vorstoß begonnen. Ihre gefiederten Lanzen senkten sich in die Angriffsstellung. Die Kaiila rückten vor und wurden immer schneller. Wenn sie das Lager der Kaiila erreichten, würden sie sich, ohne erschöpft zu sein, im vollen Galopp bewegen. In diesem Moment wogte die Kette der Gelbmesser an dem Geschöpf vorbei, das vorhin aus ihren Reihen hervorgetreten war. Es stand im Gras, umgeben von Kriegern. Es war etwa acht Fuß groß. Es hob die zottigen Arme. Es war ein Kur. Wir würden uns an zwei Fronten wehren müssen.

Hinter mir wurde bereits gekämpft. Ich fuhr herum. Soldaten hackten auf unsere Tarnnetze ein.

»Kinyanpi!« rief jemand. »Sie kommen schon wieder!«

»Das ist das Ende«, dachte ich. »Die Kurii haben gesiegt.« Die Kurii, verbündet mit den Gelbmessern, unterstützt von den Fliegenden, den Kinyanpi, konnten nun systematisch das Ödland erforschen und brauchten bei ihrer Suche nach Zarendargar keine Behinderung mehr zu fürchten – und wenn ihnen ein ganzes Volk, der Kaiila-Stamm, im Weg stand, was machte es, wenn die ganze Nation vernichtet wurde?

Ich hörte das Kriegsgeschrei der Gelbmesser lauter werden.

Dann wendete ich meine Kaiila und ritt in den hinteren Teil des Lagers.

26

Von den Vorderhufen meiner Kaiila zur Seite getrieben, schrie eine Sklavin auf. Ein anderes Mädchen blickte angstvoll zu mir auf.

»Lauft!« schrie eine freie Frau und schnitt den Sklavinnen ihre Fesseln auf. »Bringt euch in Sicherheit!«

Ich schob meine Kaiila durch das Gedränge.

Seitlich von mir entdeckte ich Oiputake.

»Wo ist Cotanka?« rief ein Mädchen. »Ich bin Cotankas Sklavin! Wo ist er?« Es war die Sklavin, die ich mitten im Kampfgetümmel gefangen hatte.

Schräg links vor mir war ein großer Teil der Tarnbespannung heruntergerissen worden. Sklavinnen knieten dort.

Auf einen Blick war zu erkennen, daß wir bei diesem Kampf keine Chance hatten.

Die dicke Saite einer Armbrust sirrte. Ein Kaiilakrieger fiel rückwärts von seinem Tier.

»Flieht!« rief ein Mann im Vorbeireiten. »Flieht!«

Ich sah mich um. Die Gelbmesser mußten sich zunächst durch das Durcheinander der Sklaven drängen.

»Gelbmesser kommen!« rief ich und deutete nach hinten. »Gelbmesser im Westen!«

Mahpiyasapa sah sich hastig um. Dann wehrte er einen Lanzenangriff ab.

Ein dunkler Schatten raste vorüber. Mit erhobenem Schild wehrte ich den von oben herbeisirrenden Pfeil ab.

Ein Kind lief vorbei.

»Bildet Kampflinien!« rief Mahpiyasapa. »Nach Osten! Nach Westen! Frauen und Kinder zwischen die Linien!«

Hci erledigte mit geschicktem Stoß einen Söldner, der von seiner Kaiila fiel.

Das Kriegsgeschrei der Gelbmesser klang uns in den Ohren. Unsere Streitmacht war in kleine Gruppen zerfallen, unsere Front zeigte sich aufgelöst. Der Kampf wurde zu einem blutigen Gemetzel.

Ich sah Cuwignaka, der seine Kaiila verloren hatte, im Staub rollen. Ich drehte mein Tier gegen die Schulter eines reiterlosen Tiers und drückte es in Cuwignakas Richtung. Cuwignaka hatte sich bereits wieder aufgerichtet; er blutete am Kopf. Ein Gelbmesser, ein Bodenkämpfer, lief mit erhobenem Messer auf ihn zu. Die beiden Männer begannen zu kämpfen. Schließlich torkelte der Gelbmesser mit blutiger Kehle rückwärts. Cuwignaka stand mit erhobener Waffe im Staub. Ich verlor ihn aus den Augen, als zwei Krieger zwischen uns hindurchgaloppierten. Im nächsten Moment packte ich den Zügel der reiterlosen Kaiila und zerrte das schnaubende und wiehernde Tier auf Cuwignaka zu. Mein Freund zog einem gefallenen Gelbmesser die Lanze aus dem Leib und sprang behende auf den Rücken des Tiers, das ich ihm gebracht hatte.

Mahpiyasapa schaltete einen Gelbmesser mit seiner Lanze aus. »Schilde nach oben!« brüllte ich. Ein Pfeilhagel prasselte zwischen uns nieder. Riesige Flügel schmetterten über unseren Köpfen durch die Luft, der Luftzug zerrte an unserer Kleidung und ließ überall wirbelnde Staubwolken aufsteigen.

»Ich bin hier!« rief Cuwignaka.

»Ich werde Grunt finden!« rief ich durch die Staubnebel. Links von mir liefen zwei Frauen ziellos durch das Gewirr.

Ich schmetterte eine Lanze zur Seite und ließ meine Kaiila zu der Stelle traben, wo Grunt sich um die Verwundeten gekümmert hatte.

Es war ein schrecklicher Anblick. Der Boden war übersät mit Verwundeten und Toten. Ich begann mich zu fragen, ob es Überlebende geben würde. Zahlreiche Zelte waren umgerissen und verbrannt worden.

»Aii!« schrillte ein Schrei. Ich hob den Schild, aber der Gelbmesser, der angstvoll die Augen aufgerissen hatte, galoppierte an mir vorüber, ohne mich zu beachten; seine Zöpfe flatterten hinter ihm durch die Luft.

»Etwas muß da drüben sein!« sagte Cuwignaka, der sich eine halbe Kaiilalänge hinter mir befand, und deutete nach vorn.

Wir trieben unsere Tiere eine kleine Anhöhe hinauf und wieder ein Stück hinab. Auch hier lagen Verwundete.

»Grunt lebt!« sagte ich.

Grunt, umgeben von Verwundeten und Toten, stand auf einer kleinen Erhebung.

»Fort!« brüllte Grunt und schwenkte abwehrend die Arme. Seine Gesten galten zwei berittenen Gelbmessern, die ihn anstarrten. »Fort!«

Das Gemetzel schienen nur Grunt und Wasnapohdi überlebt zu haben; die Sklavin kniete mit gesenktem Kopf halb hinter ihm, mit beiden Händen eine Kaiilaleine haltend.

Die beiden Gelbmesser machten plötzlich kehrt und ergriffen die Flucht.

Ich mußte ein Gefühl der Übelkeit bekämpfen.

Meine Gedanken wanderten in die Vergangenheit: Vor langer Zeit, noch ehe ich die Stadt Kailiauk in der Nähe der Ihanke, der Grenzzone, erreicht hatte, war ich mit einem jungen Mann, einem Tharlarion-Gespannführer, ins Gespräch gekommen. Ich hatte ihn gefragt, wieso Grunt als einziger Weißer so tief in das Ödland vordringen dürfte. »Vielleicht meinen die Wilden, sie hätten von ihm nichts mehr zu gewinnen«, hatte der junge Mann lachend erwidert und hatte auf meine verständnislose Frage geantwortet: »Das wirst du noch verstehen.« Doch erst in diesem Moment ging mir auf, was er gemeint hatte.

»Du siehst, warum er noch lebt«, sagte Cuwignaka. »Entscheidend ist dabei der Glaube dieser Menschen an die Medizinwelt.«

»Anzunehmen«, sagte ich.

Langsam ritt ich den Rest des Hangs hinab, auf die kleine Erhebung zu, auf der Grunt und Wasnapohdi standen. Bei seiner Einreise in das Ödland hatte Grunt neben vielen anderen Tauschwaren eine Kette Sklavinnen mitgeführt. Obwohl es sich um hübsche Mädchen handelte, hatte er meines Wissens niemals näheren Kontakt zu ihnen gesucht. Dagegen hatte er mich mehr als einmal aufgefordert, meine Erleichterung bei ihnen zu suchen, und dafür kaum mehr erwartet, als daß ich sie als Sklavinnen behandelte und in gewisser Weise auf ihre künftigen Aufgaben vorbereitete. Zu diesen Mädchen hatte die ehemalige Miß Millicent Aubrey-Welles, eine Debütantin aus Pennsylvanien gehört, die jetzige Winyela, Cankas Sklavin bei den Isbu-Kaiila. Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, daß wir eines Tages im Eigentum desselben Mannes stehen könnten. In diesem Augenblick sah ich ein wenig klarer, warum Grunt sich dieser Dinge nicht selbst angenommen hatte.

»Sei gegrüßt«, sagte Grunt zu mir.

»Sei gegrüßt«, erwiderte ich.

»Jetzt siehst du mich, wie ich bin«, meinte Grunt. »Versuch nicht deinen Ekel zu verbergen.«

Ich zuckte die Achseln.

»Ihm ist es bereits widerfahren«, sagte Cuwignaka. »Es ist, als könne man nicht mehr getötet werden oder wäre, als Toter, ins Reich der Lebenden zurückgekehrt. Er ist wie ein Wesen aus der Medizinwelt.«

»Ja«, sagte ich.

»Gelegentlich erweist sich mein Zustand als nützlich«, sagte Grunt.

Es geschah zum erstenmal, daß ich Grunt ohne den vertrauten breitkrempigen Hut vor mir sah.

»Es war vor fünf Jahren«, sagte er. »Gelbmesser taten mir das an. Ich war bewußtlos geschlagen worden. Sie hielten mich für tot. Ich erwachte später und überlebte.«

»Ich habe von solchen Fällen gehört«, sagte ich.

»Scheußlich sieht es aus«, meinte er.

»Ein Teil der Haut ist nachgewachsen«, stellte ich fest. An anderen war nur Narbengewebe auszumachen, hier und dort lag auch der Knochen frei.

»Mir wurde noch mehr angetan«, sagte Grunt verbittert.

»Ein Glück für dich, daß du nicht verblutet bist«, sagte ich.

»Ach wirklich?« fragte Grunt zurück.

»Ja.«

»Vielleicht hast du recht.«

»Ist dein wahrer Zustand vielen bekannt?« wollte ich wissen.

»Du wußtest es nicht«, erwiderte Grunt. »Es ist aber nicht allgemein unbekannt.«

»Ich verstehe.«

»Wasnapohdi hatte keine Ahnung«, fuhr er fort. »Als sie es zum erstenmal sah, übergab sie sich ins Gras.«

»Sie ist nur Sklavin«, sagte ich.

»Wunderst du dich jetzt noch«, fragte er, »warum Grunt immer wieder in das Ödland strebt, warum er so wenig Zeit bei seinem eigenen Volk verbringt?«

»Es dauert nicht mehr lange, dann ist das Lager verloren«, sagte ich. »Ich würde vorschlagen, daß ihr alle um euer Leben reitet!«

»Ich ziehe das Ödland vor«, sagte Grunt zornig. »Im Ödland hat man stärkere Mägen!«

»Reiter!« rief Cuwignaka. »Und Kaiila!«

Wir fuhren herum.

»Kaiila-Krieger!« rief Cuwignaka.

Fünf Krieger von den Napoktan-Kaiila verhielten ihre Tiere in unserer Nähe; jeder von ihnen führte an Zügeln etliche Kaiila hinter sich.

»Die Frauen und Kinder«, sagte Cuwignaka und wies den Reitern den Weg, »findet ihr in dieser Richtung.«

»Wasnapohdi!« rief einer der Krieger in diesem Augenblick. »Bist du es?«

Wasnapohdi schien sich nicht anders helfen zu können als haltlos auf die Knie zu sinken. Sie blickte empor, und ihre Unterlippe zitterte, und ihre Augen waren voller Tränen. »Ja, Herr!« sagte sie.

»Beeilung!« rief der Anführer der Krieger, die in die Richtung davongaloppierten, die Cuwignaka ihnen gewiesen hatte.

Nicht entgangen war mir die Art und Weise, wie Wasnapohdi zu dem jungen Mann »Herr« gesagt hatte – nicht als allgemeine Anrede, sondern mit einer besonderen Betonung.

»Das war Waiyeyeca«, sagte ich zu ihr.

»Ja, Herr«, antwortete sie, und ihre Augen funkelten vor Tränen. Plötzlich verstand ich, warum sie sich im Lager vor ihm versteckt hatte. Sie hatte Angst vor ihren Gefühlen. Für mich gab es in diesem Moment keinen Zweifel – wohl ebensowenig wie für sie –, daß sie diesen Mann wirklich liebte. Ihre Augen, ihre Stimme verrieten, daß sie sich im Herzen noch immer als seine Sklavin sah.

Auch Grunt war diese Tatsache nicht verborgen geblieben.

Wasnapohdi richtete sich auf und schaute hinter den Reitern her. Sie streckte die Hand aus.

»Laß mich ihm folgen, Herr«, sagte sie zu Grunt. »Bitte!«

»Habe ich dir erlaubt aufzustehen, Sklavin?« fragte Grunt.

Erstaunt blickte sie ihn an. Grunt versetzte ihr eine Ohrfeige, und ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Ungläubiges. »Du gehörst nicht ihm«, sagte Grunt barsch. »Sondern mir!«

»Ja, Herr«, sagte sie. Mit ganzem Herzen sehnte sie sich danach, Waiyeyeca zu folgen, doch sie mußte Grunt begleiten, der jetzt auf seine Kaiila gestiegen war. Ihr Wille bedeutete nichts. Sie war Sklavin.

»Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt«, sagte Grunt. »Manchmal lasse ich die Dinge zu dicht an mich herankommen. Ich danke euch beiden, meine Freunde, daß ihr mich zur Vernunft gebracht habt.«

»Reite«, sagte Cuwignaka. »Es ist beinahe dunkel. Hoffentlich können viele reitend oder zu Fuß aus dem Lager fliehen.«

»Du begleitest uns doch sicher«, sagte Grunt.

»Nein«, gab Cuwignaka zurück.

»Kämpfen ist Sache von Kriegern«, sagte Grunt.

»Wir sind Krieger«, erwiderte Cuwignaka.

»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte Grunt.

»Wir dir auch«, sagte ich.

»Oglu waste!« sagte Cuwignaka.

»Oglu waste!« gab Grunt zurück. »Viel Glück!«

Und er ritt seine Kaiila durch das Zwielicht. Wir sahen, wie Wasnapohdi einen gepeinigten Blick in die Richtung warf, in die Waiyeyeca geritten war. Dann eilte sie neben Grunts Kaiila.

»Er ist der einzige Mann in meiner Bekanntschaft, der das überlebt hat«, sagte Cuwignaka.

»Für sich gesehen ist es nicht tödlich«, sagte ich. »Nur wird es im allgemeinen an Sterbenden oder Toten vollzogen.«

»Du hast natürlich recht«, sagte Cuwignaka.

»Grunt schien in diesem Punkt ziemlich empfindlich zu sein«, sagte ich.

»Es hat ihm heute das Leben gerettet«, meinte Cuwignaka. »Eher sollte er sich darüber freuen.«

»Vermutlich kann man sich daran gewöhnen«, meinte ich.

»Scheußlich sieht es aus.«

»O ja, bereitwillige Nachahmer wird es nicht geben.«

»Gewiß nicht!« sagte Cuwignaka lachend.

»Er ist ein guter Mann«, meinte ich.

»Ja, und sehr freundlich.«

»Ja.«

»Ich frage mich, ob Wasnapohdi jemals begreift, wie besorgt Grunt um ihr Leben war.«

»Irgendwann wird sie es sicher erkennen«, sagte ich. »Sie ist eine intelligente Frau.«

»Mahpiyasapa weiß, daß das Lager verloren ist«, stellte Cuwignaka fest.

»Ja«, erwiderte ich. »Die jungen Krieger brachten Kaiila für die Evakuierung von Frauen und Kindern.«

»Meinst du, es werden genug Kaiila zusammenkommen?«

»Keine Ahnung«, entgegnete ich.

»Die Tiere werden nicht reichen«, behauptete Cuwignaka.

27

Hauend und stechend kämpften wir eine Gruppe von Soldaten nieder.

»Kaiila! Freunde!« schrie ich mit erhobener Lanze.

»Tatankasa! Cuwignaka!« rief ein Mann.

Das dünne, unregelmäßige, ausgedünnte Oval an Kriegern, etwa hundert Meter lang, öffnete sich und ließ uns ein. Im Innenkreis drängten sich Frauen und Kinder und Kaiila.

Mahpiyasapa und seinen Leutnants war es mit der Hilfe von gebrüllten Befehlen und Signalen ihrer Kriegsstäbe und Pfeifen gelungen, eine neue Kampflinie zu bilden und einen Abwehrkreis zu formen.

Wir zogen unsere Kaiila herum und ließen uns in die Formation eingliedern.

Zwischen uns landeten Pfeile hochfliegender Kinyanpi.

Hier und dort stellten Gelbmesser und Soldaten in kurzen, heftigen Scharmützeln unsere Verteidigungskraft auf die Probe.

»Niemand flieht, ehe Mahpiyasapa das Zeichen gibt!« rief ein Mann.

»Wir müssen durchhalten, bis es dunkel wird«, bemerkte ein anderer.

»Und dann müssen wir, die Frauen und Kinder abschirmend, durch die gegnerischen Linien brechen, soweit das möglich ist.«

»Es wird eine bedeckte Nacht«, meinte jemand. »Die Kinyanpi werden uns kaum folgen können.«

»Bald ist es dunkel«, sagte eine Stimme hoffnungsvoll.

Hci lenkte seine Kaiila aus der Kampflinie und verhielt sie neben Cuwignakas Tier.

»Ich hatte nicht geglaubt, daß du zurückkommen würdest«, sagte er.

»Ich bin ein Kaiila«, antwortete Cuwignaka.

Hci kehrte an seinen Posten zurück.

»Ich glaube, wir können die Stellung bis zur Nacht halten«, sagte ich zu Cuwignaka.

»Ich bin deiner Meinung. Wenn nicht, gibt es hier ein Blutbad.«

Plötzlich hörten wir das Klappern von Rasseln und das Dröhnen kleiner Handtrommeln. Die Gelbmesser öffneten ihre Linien. Die Soldaten zogen sich ebenfalls ein Stück zurück. In dem nun gebildeten Korridor erschienen Tänzer: Ihre Körper waren bemalt, sie hatten sich Zweige um Hand- und Fußgelenke gebunden. Sie sangen, stampften, drehten sich schlurfend im Kreis.

»Gelbmesser«, sagte ein Mann angstvoll.

»Sie machen Medizin«, flüsterte ein anderer.

Die Masken, die sie trugen, waren groß, beinahe so breit wie ihre Schultern. Durch die Mundlöcher der Masken vermochte ich die mit gelben Streifen bemalten Gesichter zu erkennen. Die Masken waren ebenfalls bemalt. Sie bestanden aus Holz und Leder.

»Sie rufen Medizinhelfer!« sagte ein Mann erschrocken.

Für den roten Wilden sind solche Masken nicht einfach nur Masken, sondern besitzen eine angsteinflößende Macht. Nach der Überlieferung ihrer Völker konnten die auf solchen Masken festgehaltenen Visionen direkt aus der Medizinwelt stammen.

Unbehaglich rutschten Männer auf dem Rücken ihrer Kaiila hin und her. Ein oder zwei Tiere wichen bereits aus der Linie.

»Haltet eure Plätze!« rief Mahpiyasapa. »Wir haben keine Angst vor Holz und Leder!«

Ich lächelte vor mich hin. Mahpiyasapas Bemerkung klang mir sehr nach Ketzerei. Andererseits war es in diesem Moment bestimmt nicht in seinem Interesse, die Gültigkeit der Gelbmesser-Medizin herauszustreichen.

»Es ist eine falsche Medizin!« rief Mahpiyasapa. »Wir haben keine Angst vor Holz und Leder!«

Wieder lächelte ich vor mich hin. Mahpiyasapa hatte eine angemessene Unterscheidung getroffen, indem er unterstellte, daß es falsche und echte Medizin gebe, wobei die Medizin der Kaiila vermutlich die echte sein sollte und die der Gelbmesser unwirksam. Besser hätte man wohl zwischen schwächerer und stärkerer Medizin unterschieden. Der rote Wilde bezweifelt im allgemeinen nicht, daß auch der Feind über Medizin verfügt; dabei hofft er natürlich, daß seine Medizin sich als die stärkere erweisen wird. Sollte die Medizin der Gelbmesser dagegen eine absolut falsche Medizin sein – was gab es dann noch zu befürchten?

Der wahre Test für die stärkere Medizin schien mir letztlich im Erfolg zu liegen, im Sieg.

»Habt keine Angst!« rief Mahpiyasapa. »Die Medizin der Gelbmesser ist eine falsche Medizin!«

»Was sind das für Medizinwesen, die da auf den Masken dargestellt werden?« fragte ein Mann.

»Keine Ahnung«, antwortete ein anderer unbehaglich.

»Ich habe ein solches Ungeheuer noch nie gesehen«, meinte ein dritter.

»Solche Geschöpfe gibt es sicher nur in der Medizinwelt«, meinte ein vierter.

»Die Medizin der Gelbmesser ist falsch!« rief jemand. »Mahpiyasapa hat recht!«

»Und wenn nicht?«

»Solche Lebewesen gibt es nicht«, sagte ein Mann. »Nicht einmal in der Medizinwelt!«

»Woher aber kam die Vision für solche Masken?« wollte jemand wissen.

»Wenn diese Geschöpfe in der Medizinwelt existierten, würden sie die Gelbmesser nicht begünstigen.«

»Das stimmt«, sagte ein Mann.

»Und was ist, wenn sie es doch tun?« fragte eine Stimme.

»Dann wären wir verloren!« rief der erste Mann.

Ich beugte mich auf dem Kaiilarücken vor. Aus dieser Entfernung vermochte ich die auf den Masken nachgestalteten Gesichter einigermaßen deutlich auszumachen. Sofort begannen sich mir die Nackenhaare zu sträuben. Es waren eindeutig Kurgesichter!

»Haltet eure Position!« bat ich die Männer links und rechts von mir. »Was auch passiert, weicht nicht zurück!«

»Eure Medizin ist falsch!« rief Mahpiyasapa den Gelbmessern zu, obwohl sie ihn zweifellos nicht verstehen konnten. »Wir haben keine Angst davor! Sie besteht nur aus Holz und Leder!«

Ein erschreckender Laut ertönte in den Reihen der Gelbmesser und Söldner. Es war ein langer, heulender Schrei. Auch den Gelbmessern und ihren Verbündeten mußte dieser Laut schrecklich in den Ohren klingen. Es war ein unmißverständlicher Schrei – ich hatte ihn schon auf den Felshängen Torvaldslands vernommen, im Sand der Tahari, in den Dschungeln der Ua.

In diesem Augenblick tauchte in den Reihen des Feindes ein riesiger Kur auf, etwa neun Fuß groß, ungefähr neunhundert Pfund schwer. Das Wesen trug einen riesigen Schild mit einer dazu passenden Lanze – die Ausrüstung eines Menschen. Links und rechts dahinter folgten weitere Artgenossen, ähnlich herausgeputzt.

»Aii!« schrie ein Kaiilakämpfer und wendete sich zur Flucht.

»Haltet die Position!« rief Mahpiyasapa.

Aber schon schrien alle Männer, ihre Kaiila wimmelten durcheinander, schon löste sich die Formation auf. Angst wandelte sich zu Flucht, Flucht zu heillosem Chaos, das Chaos zu sinnloser Töterei. Gelbmesser und Söldner drängten nach. Frauen und Kinder schrien.

»Flieht!« brüllte Mahpiyasapa. »Flieht!«

Männer liefen los. Frauen und Kinder versuchten die Kaiila zu besteigen, die man für sie bereitgestellt hatte.

Ich senkte meine Lanze und richtete sie auf das Herz des riesigen Kur. Es war Sardak, der Anführer des Hinrichtungskommandos von den Stahlwelten. Im nächsten Augenblick schoben sich Söldner zwischen uns, und ich kam nicht mehr an ihn heran. Eine Frau auf einer Kaiila, ein Kind vor sich, galoppierte vorüber.

»Cuwignaka!« rief ich.

»Hier!« kam die Antwort.

Ich sah ihn ein Stück entfernt neben seiner Kaiila stehen. Er hatte seine Lanze fortgeworfen und schob gerade ein zweites Kind hinter das erste auf den Rücken seines Reittiers. »Flieht, kleine Brüder!« rief er und versetzte der Kaiila einen Hieb. Wiehernd hüpfte sie davon.

»Komm!« rief ich ihm zu. »Komm, reite hinter mir!«

Er schüttelte den Kopf. »Es gibt nicht genügend Kaiila!« sagte er.

Ich stieg neben ihm ab. Zwei Kaiila, geritten von Gelbmessern, galoppierten vorüber. Überall herrschte das Chaos. Hier und dort wurde gekämpft. »Auf deine Kaiila, du Dummkopf!« rief Cuwignaka. »Reite fort! Flieh!«

»Schau!« sagte ich.

Hci saß auf seinem Reittier und wirkte starr und stumm. Es sah beinahe aus, als wäre er gelähmt, als könne er sich vor Angst nicht bewegen.

»Paß auf!« brüllte ich. Ich sah, wie ein Gelbmesser seine Kaiila herumwirbeln ließ und die Lanze senkte.

»Paß auf!« rief ich.

Hci wendete sein Tier und erblickte den Mann. Der Gelbmesser, der den Vorteil der Überraschung verloren sah, zog die Zügel seiner Kaiila an, woraufhin das Tier sich beinahe auf die Hinterhand stellte. Als das Tier sich wieder beruhigt hatte, starrte der Mann auf Hci. Hci erwiderte den Blick.

»Vorsicht!« rief ich.

Es war beinahe, als sehe Hci den Mann nicht, als schaue er durch ihn hindurch, als seien der greifbare Gegner und die körperlich vorhandene Speerspitze aus scharfer Bronze nur die Symbole von etwas, das er weitaus mehr fürchtete.

Hci zog seine Kaiila nicht herum. Er machte keine Anstalten, sich der Attacke zu erwehren.

Verwirrt und unentschlossen zögerte der Gelbmesser-Krieger. Die Inaktivität seines Gegners kam für ihn so überraschend und war so unnatürlich, so unheimlich, daß er beunruhigt reagierte. Hatte er hier noch einen Menschen vor sich oder etwas anderes, vielleicht einen Gast aus der Medizinwelt, etwas, durch das sein Angriff hindurchgehen würde, ohne etwas zu berühren, etwas, das sich hinter ihm zu Rauch auflösen mochte?

Im nächsten Augenblick stieß Hci einen qualvollen Schrei aus. Sein Schild begann sich zu heben. Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als versuche er mit dem Schild zu kämpfen, der sich aber, wie von einem eigenen Willen beseelt, langsam zu heben begann.

Der Gelbmesser richtete seine Lanze aus.

Hci saß starr auf dem Rücken seiner Kaiila, resigniert, ohne jeden Widerstand, reglos, die Arme zu den Monden Gors gestreckt.

»Paß auf!« brüllte ich.

Die Lanze des Gelbmessers traf ihn links unten am Torso, schleuderte ihn von der Kaiila, und schon galoppierte der Gelbmesser mit einem Siegesschrei weiter.

»Sein Schild wollte ihn nicht verteidigen«, sagte Cuwignaka entsetzt. »Sein Schild hat ihn verraten. Ich habe von solchen Dingen erzählen hören! Aber noch nie habe ich es selbst beobachtet – bis jetzt!«

Ein Söldner preschte auf einer Kaiila vorüber. Seine Lanze wirkte schwarz in der Dämmerung.

Ich packte eine herbeistürmende Frau am Handgelenk, ehe sie mir ihr Messer in den Leib stoßen konnte. Aufschreiend ließ sie die Waffe fallen, und ich zerrte sie auf meine Kaiila. Cuwignaka nahm das Kind, das zu der Frau gehörte, und schob den Jungen hinter ihr auf das Reittier.

»Du willst nicht fliehen?« fragte mich Cuwignaka.

»Ich verlasse dieses Feld nicht ohne dich«, sagte ich.

»Los!« brüllte Cuwignaka und versetzte der Kaiila einen energischen Schlag. »Los!« Das Tier trabte in die Dunkelheit, suchte sich einen Weg durch das Gewirr der Menschen.

Über uns, keine zwanzig Fuß entfernt, peitschten Tarnflügel durch die Luft. Staub wirbelte vom Boden hoch. Die Hufe einer passierenden Kaiila stießen mich um. Ich rappelte mich wieder auf und wischte mir den Staub aus den Augen.

»Ich bin hier«, sagte Cuwignaka und packte mich am Arm. »Komm mit.«

»Kinyanpi!« sagte ich. »Sie werden die Außenbereiche des Lagers überwachen und die Felder nach Flüchtlingen absuchen.«

»Deshalb müssen wir im Lager bleiben«, sagte Cuwignaka. So arbeiteten wir uns durch die Schatten vorwärts, fort vom Ort des Todes, manchmal rennend, manchmal geduckt kriechend. Kurze Zeit später hatten wir uns in einem der übriggebliebenen Zelte versteckt. Das Getrappel von Kaiilahufen, das schnell leiser wurde, ließ uns aufhorchen.

»Sie reiten aus dem Lager, um Flüchtlinge zu verfolgen!« sagte ich.

»Hartnäckig sind sie!« sagte Cuwignaka.

»Das ist die Disziplin der Söldner und der Ungeheuer«, antwortete ich.

»Anzunehmen.«

»Wohin willst du?«

»Vielleicht ist er nicht tot«, sagte Cuwignaka.

»Hci?« wollte ich wissen.

»Natürlich!«

»Du schleichst dich zurück?«

»Ja.«

»Ich begleite dich.«

»Das ist nicht nötig!«

»Ich begleite dich!«

»Es ist gefährlich.«

»Für einen wird es gefährlicher sein als für zwei«, widersprach ich.

»Mitakola«, sagte Cuwignaka.

»Mitakola«, antwortete ich. In der Sprache der Kaiila bedeutet dieses Wort »mein Freund«.

Ich hielt es nicht für erforderlich, Cuwignaka mitzuteilen, daß ich mich selbst um Hci hatte kümmern wollen. Ehe wir das Zentrum des Lagers verließen, hatte ich gesehen, wie er sich bewegte.

Verstohlen verließen wir das Zelt. Wir mußten schnell handeln, ehe die Gelbmesser und die Söldner ins Lager zurückkehrten. Danach würde es mit der Disziplin zunächst vorbei sein. Danach würde man sich über die Toten hermachen, um Trophäen zu erbeuten.

28

»Ich habe gelogen«, sagte Hci.

Er lag im Dunkeln in Grunts Zelt. Es ging auf meinen Wunsch zurück, daß wir uns in diesem Zelt versteckt hatten. Hier lagerten Dinge, die mich interessierten. Außerdem gab es Vorräte an Trockenfleisch und Dörrmasse.

»Ich hatte Canka den Pfeil gestohlen«, fuhr er fort. »Ich war es, der den Angriff auf Mahpiyasapa vortäuschte. Ich beschuldigte Canka, ihn umbringen zu wollen.«

»Das ist uns bekannt«, sagte Cuwignaka. »Ich glaube, daß auch Mahpiyasapa Bescheid weiß, ebenso wie viele andere.«

»Ich leistete einen Schwur auf meinen Schild«, sagte Hci.

Cuwignaka antwortete nicht.

»Der Schild wußte Bescheid«, sagte Hci. »Er kämpfte gegen mich. Ehrbefleckt, wie ich war, wollte er mich nicht verteidigen.«

»Ruh dich aus«, sagte Cuwignaka.

Wir vernahmen lautes Singen und Grölen in der Ferne: Gelbmesser und Söldner feierten dort gemeinsam ihren Sieg.

»Du bist zurückgekommen, um mich zu holen«, sagte Hci.

»Ja«, erwiderte Cuwignaka.

»Warum?«

»Ich bin ein Kaiila.«

»Ich hatte nicht geglaubt, daß du ein Kaiila wärst.«

»Das war ein Irrglaube.«

»Ja«, sagte Hci. »Ich habe mich geirrt.« »Ist er tot?« fragte ich. »Nein«, entgegnete Cuwignaka, »er schläft nur.«

29

»Sie genießen ihre Feier«, sagte Cuwignaka.

Wir lagen hinter der kleinen Anhöhe und schauten auf die Lagerfeuer der Sieger hinab.

Ich mußte etwas feststellen. Auch Cuwignaka, der darauf bestanden hatte, mich zu begleiten, wollte etwas in Erfahrung bringen, etwas, für das er sich interessierte.

»Dort«, sagte ich, »im großen Kreis, an den Ehrenplätzen – siehst du die Ungeheuer?«

»Ja«, antwortete mein Freund.

»Das sind Kurii«, erklärte ich. »Sie begleiteten die Söldner Alfreds, des Hauptmanns aus Port Olni. Sie hausten in den kleinen Wagen am Ende der Kolonne.«

»Als ich noch bei der Kolonne war, als Sklave«, sagte Cuwignaka, »habe ich sie nie zu Gesicht bekommen.«

»Ihre Anwesenheit wurde sogar vor den Söldnern geheimgehalten«, sagte ich.

»Bist du sicher, daß sie nicht von der Medizinwelt stammen?«

»Du glaubst doch gar nicht an die Medizinwelt!«

»Ich glaube an das, was ich sehe.«

»Sie sind so real wie du und ich«, sagte ich. »Sie haben eine eigene Geschichte, sie haben ihre eigenen Ziele – wie die Menschen.«

»Sie erschrecken mein Volk zutiefst«, stellte Cuwignaka fest.

»Siehst du dort den größten Kur?«

»Ja«, antwortete mein Freund.

Das Ungeheuer hockte an einem Ehrenplatz, am höchsten Punkt des großen Kreises und hatte sein Gewicht auf die Füße und die Handknöchel verteilt. Auf einer Seite saßen Alfred, Hauptmann der Söldner, und einige seiner Leutnants. Auf der anderen Seite sah ich die drei Kriegshäuptlinge der Gelbmesser, die Männer, die zuvor im Lager der Kaiila zu Gast gewesen waren. Zweifellos hatten sie ihre Zeit bei Watonka dazu benutzt, das Lager auszukundschaften. In ihrer Gesellschaft befanden sich etliche Hohekrieger des Stammes.

»Das ist der Anführer der Kurii«, erklärte ich. »Sein Name, auf goreanisch übersetzt, lautet Sardak. Hinter ihm hockt ein zweiter hochstehender Kur, der Kog genannt wird.«

»Solche Wesen haben Namen?« fragte Cuwignaka.

»Ja. Wie viele zählst du? Laß dir Zeit – die Zahl ist sehr wichtig.«

»Sieben.«

»Ich auch«, sagte ich. In der Kolonne Alfreds hatten sich siebzehn der kleinen Wagen befunden, von denen ich vermutete, daß sie Kurii enthielten. Angesichts der Reizbarkeit der Kurii nahm ich an, daß in jedem Wagen nur ein Wesen gehockt hatte. Somit hatte das Hinrichtungskommando ursprünglich aus siebzehn Kurii bestanden, einschließlich der Anführer Sardak und Kog. Als Grunt und ich den Schauplatz des Massakers erreichten, erfuhren wir von Kürbis, dem Waniyanpi-Sklaven, daß die Leichen von neun Ungeheuern gefunden worden waren. Damals hatte ich nicht feststellen können, ob sich Kog und Sardak unter den Toten befanden. Die Leichen der Ungeheuer waren von roten Wilden fortgezerrt worden. Anscheinend hatten sie nichts anderes mit ihnen anzufangen gewußt. Später erfuhr ich von der ehemaligen Lady Mira aus Venna, die von ihren roten Herren zur Waniyanpi-Sklavin gemacht wurde, daß anscheinend eine kleine Gruppe Kurii vom Schlachtfeld hatte entkommen können. Offenbar hatten die Wilden wenig Lust gehabt, die Monstren anzugreifen. Das Mädchen schätzte, daß etwa sieben oder acht Ungeheuer entkommen waren. Außerdem wußte ich von dem Überleben eines Kurs, dem ich dort auf der Prärie begegnet war: Ich verhinderte, daß das Ungeheuer eine Gruppe Waniyanpi angriff.

»Einer würde schon genügen«, sagte Cuwignaka neben mir.

»Was meinst du?« fragte ich. Ich nahm nicht an, daß ein einzelner Kur sich auf einen Kampf auf Leben und Tod mit Zarendargar, auch Halb-Ohr genannt, einlassen würde.

»Einer würde genügen, die Gelbmesser zu unterstützen«, erklärte er, »einer genügt, um die Kaiila zu erschrecken und ihnen jeden Mut zu nehmen.«

»Natürlich«, sagte ich. Befaßt mit meinen Sorgen, mit meinen ureigenen Plänen im Ödland, die darauf hinausliefen, Zarendargar zu finden und vor dieser Gefahr zu warnen, hatte ich die offensichtliche Rolle der wilden Kurii in der Militärpolitik des weiten Graslands östlich der Thentis-Berge zu wenig bedacht. Cuwignaka kannte meine wahre Mission im Ödland nicht. Er glaubte, ich sei ein einfacher Tauschhändler wie Grunt.

»Mit dem Kaiila-Stamm ist es aus«, sagte Cuwignaka resigniert.

»Viele müssen entkommen sein«, tröstete ich ihn.

»Sie sind versprengt und ohne Halt. Das Fleisch für den Winter ist verloren.«

»Einige werden sicher überleben.«

»Vielleicht ähnlich wie die Staubfüße«, sagte Cuwignaka, »als Händler, Diplomaten, Dolmetscher, anderen dienend – nicht länger Ubars der Ebene, Meister über das Grasland.«

Ich schämte mich. Wie dumm war ich doch gewesen! Wie sehr konzentrierte man sich manchmal doch auf die eigenen Dinge, wie wenig Feingefühl entwickelte man für die Gedanken anderer! Mir ging es um das Leben eines Freundes. Cuwignaka machte sich Gedanken um das Überleben eines Volkes.

»Vielleicht werden die Kaiila wieder aufsteigen«, sagte ich.

»Nein, nichts kann sie mehr retten.«

»Das kannst du nicht wissen«, sagte ich.

»Was sollte sie retten?« fragte Cuwignaka.

»Vielleicht gibt es wirklich nichts.«

Cuwignaka blickte von der kleinen Anhöhe auf die Gruppe der Feiernden hinab.

»Dort sind die Sieger«, sagte er.

Auf der großen Fläche wimmelte es von Kriegern und Sklaven. Es gab einen großen Kreis, in dem allerlei Würdenträger ihren Platz hatten, daneben zahlreiche kleinere Runden. In der Mitte jeder Gruppe loderte ein Feuer. Im Mittelpunkt des großen Kreises prasselte das Riesenfeuer, das von zahlreichen zerbrochenen Zeltstäben gespeist wurde. Sklavinnen huschten herum und bedienten oder kümmerten sich um dampfende Töpfe.

»Ja«, sagte ich.

»Dort, Lanzentänzer«, sagte Cuwignaka.

Zwischen den Zelten kam eine lange Reihe von Lanzenträgern hervor. Schlangengleich bewegte sich diese Reihe auf die Feuerstellen zu und begann sich dann dazwischen hindurchzuwinden; die Tänzer schlurften mit den Füßen, bückten sich, richteten sich wieder auf und sangen.

»Ein Tanz der Schlangengemeinschaft, einer Kriegervereinigung der Gelbmesser«, sagte Cuwignaka. »Bei den Kaiila kennen wir einen ähnlichen Tanz, doch jeder Krieger kann ihn vollführen, der schon einmal einen Coup errungen hat.«

»Wenigstens lebt sie noch«, sagte ich.

»Ja«, erwiderte Cuwignaka.

»Ich nehme an, das wolltest du bei unserem kleinen Kundschafterausflug feststellen«, sagte ich.

»Ja«, antwortete Cuwignaka.

»Sie bedient jetzt Iwoso.«

»Ja.«

»Glaubst du, sie gibt eine gute Zofe für sie ab?«

»Sie würde jedem eine gute Sklavin sein!«

»Entrüstet es dich, sie dort als Sklavin zu sehen?«

»Sie hat die Kaiila verraten. Nein!«

»Zweifellos trägt sie jetzt Iwosos Kragen«, sagte ich.

»Zweifellos«, bestätigte er.

»Ich wußte gar nicht, daß Bloketu so schön ist«, sagte ich. Einer Frau, die nur einen Sklavenkragen tragen darf, fällt es schwer, ihre Schönheit zu verbergen.

»Ich frage mich, ob Iwoso nicht vielleicht noch schöner ist«, sagte Cuwignaka.

»Vielleicht wird es eines Tages Sklavenherren geben, die das ganz genau wissen«, sagte ich.

Cuwignaka blickte mich von der Seite an und lächelte. »Vielleicht«, sagte er.

»Hier ist es gefährlich«, sagte ich. »Ob es dir wohl gelingt, den Blick von Bloketu loszureißen?«

»Sie ist hübsch, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich. »Ich vermute, daß die Außenbezirke des Lagers noch immer überwacht werden, damit keine Kaiilakrieger zurückschleichen und sich Nahrung holen. Aus demselben Grunde dürfte es schwierig sein, sich Kaiilatiere zu beschaffen und zu fliehen, ohne Hci zurückzulassen.«

»Sie ist so schön«, sagte Cuwignaka versonnen.

»Dementsprechend möchte ich empfehlen, die Nacht im Lager zu verbringen. Das ist nicht nur in Hcis Interesse, sondern auch in unserem. Morgen früh müssen wir dann zu fliehen versuchen, nachdem die Wachen zurückgerufen worden sind oder sich langsam beruhigt haben – oder das Lager als Ganzes verlassen worden ist.«

»Wirklich schön«, sagte Cuwignaka bewundernd.

»Was sagst du dazu?«

»Wozu?«

»Na, zu meinem Vorschlag, heute nacht im Lager zu bleiben?«

»Selbstverständlich«, sagte Cuwignaka. »Ich könnte das Lager ohnehin nicht vor morgen verlassen.«

»Warum nicht?« fragte ich.

»Du mußt doch wissen, was heute für ein Tag ist!«

Ich schaute ihn verständnislos an.

»Es ist der Höhepunkt unseres Festes – der erste Tag des großen Tanzes!«

»Na und?« fragte ich.

»Ich werde tanzen!«

»Du bist ja verrückt!«

»Das Portal der Tanzhalle dürfte unbewacht sein«, erklärte er. »Niemand wird mir den Eintritt noch verwehren.«

»Aber es wird auch niemand dort sein, mit dir zu tanzen«, sagte ich. »Niemand, der die Einsamkeit und den Schmerz mit dir teilt.«

»Ich werde allein tanzen«, sagte Cuwignaka.

»Heute tanzen aber die Kaiila nicht.«

»Einer doch.«

»Das Tanzzelt ist zerstört. Der Stamm selbst ist entehrt, die Symbole seiner Macht sind fort. Dein Körper wäre nicht richtig angemalt. Du hättest keine Zweige an deinen Arm- und Fußgelenken. Du würdest es nicht wagen, die Herlit-Pfeife zu blasen.«

»Glaubst du wirklich, diese Dinge wären unbedingt erforderlich?« fragte Cuwignaka lächelnd.

»Ich weiß nicht.«

»Um den Kern des Tanzes zu erleben, braucht man eigentlich sehr wenig«, erklärte mein Freund. »Ich werde den Baumstamm haben, mich selbst und meine Männlichkeit. Das genügt.«

»Manche Männer brauchen zwei oder drei Tage, um sich von dem Stamm zu befreien«, sagte ich.

»Soviel Zeit habe ich nicht«, sagte Cuwignaka. »Ich werde bis morgen früh davon los sein.«

»Damit bringst du dich um.«

»Ich halte das nicht für wahrscheinlich.«

»Verzichte auf den Tanz!«

»Irgendwann im Leben, auf die eine oder andere Weise, muß jeder Mann tanzen. Sonst ist er kein Mann.«

»Man kann auf viele Arten tanzen.«

»Ich werde tanzen, wie es bei meinem Volk üblich ist, den Kaiila«, sagte Cuwignaka.

»Du glaubst ja nicht einmal an die Medizinwelt!« rief ich.

»Ich glaube an den Tanz.«

Ich blieb stumm.

»Vielleicht brauche ich ein wenig Hilfe«, sagte Cuwignaka, »beim Festmachen der Seile, beim Anbringen der Spieße in meinem Fleisch. Wirst du mir helfen?«

»Ja.«

»Und wenn ich dann mit dem Tanz fertig bin und mich ein wenig ausgeruht habe, brechen wir auf. Wir bauen ein Transportgestell für Hci. Wir verlassen das Lager vor Beginn der Morgendämmerung. Ich kenne in der Nähe eine kleine Senke. Wir werden uns dort verstecken und vielleicht morgen abend endgültig verschwinden.«

»Wohin?«

»Hci muß gepflegt werden«, sagte Cuwignaka.

»Ich verstehe«, sagte ich und deutete auf die lodernden Feuerstellen unter uns. »Schau!«

»Die Gelbmesser bereiten sich auf ihren Siegestanz vor.«

»Ich habe keine Lust, mir das anzuschauen«, sagte ich.

»Laß sie tanzen«, sagte Cuwignaka. »An einem anderen Ort wird ein anderer Mann ebenfalls tanzen.«

»Du bist fest dazu entschlossen?«

»Ja«, sagte Cuwignaka. »Ich werde tanzen.«

30

Schon aus der Ferne hörten wir das Rasseln und Klappern.

Flieger kreisten am Himmel.

Durch hüfthohes Gras marschierend, zogen wir das Transportgestell, auf dem Hci und unsere Habe lagen. Von einer Anhöhe vermochten wir auf die unter uns liegenden Felder zu schauen, hinter denen sich palisadengeschützte Bauten erhoben.

Die Tatsache, daß wir keine Kaiila besaßen, hatte sich anscheinend zu unserem Vorteil ausgewirkt. In den letzten Tagen hatten wir mehrmals einsame Kinyanpi-Kundschafter am Himmel bemerkt und uns jedesmal rechtzeitig im hohen Gras verstecken können.

Dankbar nutzten wir die Schräge des Hangs aus und zerrten das Gestell zu Tal.

Am Feldrand war eine primitive Holzplattform errichtet worden, die über eine Leiter zu erreichen war. Abgeschirmt wurde diese Plattform durch einen Stoffbaldachin, der sich im Wind bewegte. Auf der Plattform standen zwei Waniyanpi-Frauen; die eine hielt eine Schnur mit einigen daran festgebundenen Töpfen und Pfannen, die andere einen Löffel und eine Metallpfanne. Beide erzeugten den Lärm, der die Flieger verscheuchen sollte.

In diesem Moment entdeckten uns die Frauen; eine stieg hastig die Leiter herab und lief auf die ferne Palisade zu. Die andere kam in unsere Richtung.

»Fort!« brüllte sie.

Ich schaute in den Himmel. »Wir sollten im Mais Deckung suchen«, sagte ich.

»Ihr werdet hier nicht willkommen sein«, sagte das Mädchen, das neben uns herlief. »Alle werden fortgeschickt.«

»Dieser Mann braucht dringend Hilfe.«

»Das ist egal. Tut mir leid.«

»Ist dies nicht Garten Elf, ein Waniyanpi-Gehege im Besitz des Kaiila-Stammes?« fragte ich.

»Wir gehören jetzt den Gelbmessern«, sagte die Waniyanpi. »Soldaten haben uns das gesagt.«

»Ihr steht noch immer im Besitz von Kaiila!« rief Cuwignaka ärgerlich. »Ihr werdet uns Unterkunft und Essen geben.«

»Wir haben Angst«, sagte sie.

»Es kommt jemand«, sagte ich.

Eine Gruppe von etwa fünfzehn Frauen und Männern eilte am Rain des Maisfeldes auf uns zu. Sie alle trugen die langweilige Einheitsuniform der Waniyanpi, ein langes, lose herabhängendes Gewand.

»Rübchen!« rief die Frau an der Spitze zornig. »Was tust du?«

»Diese Leute suchen Unterkunft, Radieschen«, sagte das Mädchen.

Ich verschränkte die Arme und musterte die aufgebrachte Waniyanpi-Frau.

»Verschwindet!« sagte Radieschen zornig. »Hier ist kein Platz für euch!«

»Ich möchte lieber mit einem Mann sprechen«, sagte ich. »Wer hat hier das Kommando?«

Radieschen zuckte zusammen, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. »Ich spreche für uns alle«, sagte sie.

»Kürbis?« fragte ich. »Bist du das dahinten? Bist du hier der Anführer?«

»Nein, nein«, sagte Kürbis hastig und senkte den Kopf. »Es gibt hier keinen Anführer. Wir sind Gleiche. Wir sind alle gleich. Es gibt keine Führer. Frieden und Licht und Gelassenheit und Güte seien mit dir.«

»Friede sei mit dir«, sagte Karotte in der Gruppe.

»Friede sei mit dir«, sagte auch Kohlkopf neben ihm.

»Ist diese Frau womöglich euer Anführer?« fragte ich.

»Vielleicht«, sagte Radieschen lächelnd.

»Radieschen ist energisch und willensstark«, sagte Karotte.

»Wir haben hier einen Schwerverwundeten!« rief ich und deutete auf Hci. »Wir benötigen Nahrung und Unterkunft.«

»Die müßt ihr euch woanders suchen«, sagte Radieschen.

Ich schaute in die Runde, und Karotte senkte beschämt den Kopf.

»Es ist nicht nur wegen dir«, sagte Kohlkopf. »Gestern hat Radieschen sogar zwei junge Leute aus dem Gehege verbannt, einen Jungen und ein Mädchen. Sie hatte gemerkt, daß sie sich insgeheim berührten.«

»Schrecklich!« sagte eine der Waniyanpi-Frauen, obwohl ihre Worte nicht sehr überzeugend klangen.

»Fort mit euch!« wiederholte Radieschen. »Hier findet ihr keine Hilfe.«

Ich schaute die Waniyanpi-Männer an. »Ihr seid üble Heuchler«, sagte ich verbittert. »Ihr habt eure Männlichkeit der sinnlosen Gleichheitstheorie der Waniyanpi geopfert!«

»Gehen wir, Tatankasa«, sagte Cuwignaka. »Mitakola.«

Mein Blick fiel auf Kürbis, an den sich meine Hoffnungen klammerten. Doch er ließ den Kopf hängen wie alle anderen.

»Komm, Rübchen!« sagte Radieschen zornig.

»O nein!« antwortete das Mädchen und kniete vor mir nieder. »Ich knie vor dir, Herr und neige den Kopf vor dir als Sklavin!«

»Du beschämst uns!« kreischte Radieschen. »Steh auf!«

Aber Rübchen verneigte sich nur noch tiefer vor mir.

»Du bist ausgestoßen!« schrie Radieschen. »Du gehörst nicht mehr zu unserem Gehege!«

Rübchen achtete nicht mehr auf sie. Lächelnd blickte sie zu mir auf. Sie stand auf und streifte das weite Gewand der Waniyanpi ab. Darunter war sie splitternackt. Mit Ausnahme Radieschens warfen ihr die Frauen bewundernde Blicke zu. Die Männer wandten beschämt die Blicke ab.

»Mit dem Recht des Kaiilakriegers über jede Sklavin in den Waniyanpi-Gehegen seines Stammes nehme ich diese Frau hiermit zur persönlichen Sklavin!« sagte Cuwignaka laut. »Und überantworte sie ihm.« Und Cuwignaka deutete auf mich.

»Ja, Herr!« sagte sie fröhlich und schaute mich an. »Ich weiß schon seit langem, daß ich nichts anders als eine Sklavin bin, das lehrte mich die Peitsche und das Joch der roten Krieger, ehe ich dieses Gehege erreichte. Aber vor allem wurde es mir hier klar, in den langen Stunden des Nachdenkens, auf den Feldern und in den Hütten. Ich habe keinen Zweifel mehr. Ich bin zur Sklavin geboren!«

Die Frauen der Waniyanpi erschauderten sichtlich; nur Radieschen blieb ungerührt.

»Vor langer Zeit, als ich noch Lady Mira war und du deine Freiheit hattest, wurde ich zum Aufenthalt in einem Waniyanpi-Gehege verurteilt, und du weigertest dich, mich zu deiner Sklavin zu machen. Doch inzwischen habe ich mich verändert, und die Gründe, die du damals hattest, gelten vielleicht nicht mehr.«

»Du scheinst wirklich eine andere Frau geworden zu sein«, sagte ich.

»Mir ist klar geworden, daß ich eine Sklavin bin, Herr«, sagte sie.

»Ich liebe es, das Transportgestell mit dir zu ziehen, Herr«, sagte sie.

»Ich selbst wünschte mir, vier oder fünf Sklavinnen für diese Arbeit zu haben«, antwortete ich.

»Ja, Herr«, erwiderte sie und senkte den Kopf. »Herr?« fragte sie einige Zeit später.

»Ja?«

»Ich habe noch keinen Namen. Ich hätte gern einen.«

»Wie wär’s mit ›Rübchen‹?«

»Oh, bitte, Herr, nicht diesen Namen!« sagte sie lachend. »Der erinnert mich so sehr an die Waniyanpi.«

»Dein Leben hat sich grundlegend verändert, das wirst du bald erfahren«, sagte ich. »Da würde der Name tatsächlich nicht mehr zu dir passen.«

»Das freut mich zu hören.«

»Vielleicht sollte ich dich ›Wowiyutanye‹ nennen.«

»Und was bedeutet das?«

»Versuchung.«

»Der Herr schmeichelt mir«, sagte sie lächelnd.

»Ah, jetzt habe ich einen Namen für dich«, sagte ich, »einen sehr einfachen, sehr passenden Namen für eine Sklavin.«

»Ja, Herr.« Welchen Namen ich ihr auch aussuchte, sie würde ihn akzeptieren müssen.

»Ich taufe dich …«

»Ja, Herr?«

»Ich taufe dich ›Mira‹«, sagte ich.

»Ich danke dir, Herr!« sagte sie. »Mein Herr weiß eine Sklavin zu beschämen. Dieser Name wurde vor langer Zeit von einer Sklavin getragen, die von ihrer Sklaverei nichts wußte. Nun ist der Name nicht nur der Name einer Sklavin, sondern auch ein Sklavinnenname!«

»Ob du wohl eine zufriedenstellende Sklavin sein wirst?« fragte ich.

»Ich werde dir mit ganzem Herzen dienen, Herr«, sagte sie.

»Dann zieh, Sklave!«

»Ja, Herr!«

31

»Das Lager«, sagte Cuwignaka, »liegt hinter der Anhöhe dort.«

Cuwignaka und ich trotteten hangaufwärts durch das hohe Gras. Es war später Nachmittag.

Hinter uns, etwa fünfzig Meter entfernt, kam das Transportgestell, gezogen von drei Personen. Unterwegs waren wir dem jungen Mann und dem Mädchen begegnet, die von den Waniyanpi verstoßen worden waren. Sie hatten schon viel von ihrer Verklemmung verloren und waren sich in ehrlicher Zuneigung nähergekommen – wobei das Mädchen die Rolle der Sklavin als völlig naturgegeben empfand. Er hatte darauf bestanden, beim Ziehen des Gestells zu helfen; so wurde er nun von Sklavinnen flankiert – links von Mira, rechts von seiner blonden Schönheit. Er hatte seiner Sklavin aus dem Waniyanpi-Gewand eine attraktive Tunika gemacht, in der sie sich frei bewegen konnte. Mira dagegen hatte von mir noch keine Bekleidung erhalten. Darüber wollte ich später entscheiden. Sie hatte früher als Agentin der Kurii gearbeitet; um so intensiver sollte sie ihr Sklavendasein zu spüren bekommen.

»Dort!« rief Cuwignaka, der im hohen Gras auf dem Kamm des kleinen Hügels stand. »Dort liegt das Lager, unter uns, zwischen den Bäumen, an dem kleinen Bach. Man kann einige Zelte erkennen.«

Starr verhielt ich neben Cuwignaka. Kaum beachtete ich das flache Tal mit dem Bach und den zwischen den Bäumen versteckten Zelten.

»Was ist?« fragte Cuwignaka.

Ich brachte kein Wort heraus. Das Blut begann in meinen Adern zu pulsieren, das Herz klopfte mir bis in den Hals. Ich begann hastig zu atmen und zu zittern.

»Was ist los mit dir, Mitakola?« fragte Cuwignaka.

»Dort!« sagte ich und deutete auf den Hang jenseits des Lagers.

»Was?«

»Na, dort!«

Auf der Anhöhe befanden sich zwei Bäume, Bäume mit weißer Rinde, etwa fünfzig Fuß hoch, mit leuchtend grünen Blättern. Die Entfernung zwischen ihnen betrug dreißig bis vierzig Fuß, und beide bildeten vor dem Himmel eine dramatische Silhouette.

»Was ist?« fragte Cuwignaka noch einmal.

Zitternd starrte ich auf die beiden einsamen Bäume. »Die Bäume«, sagte ich. »Die Bäume.« Es waren Hogarthe-Bäume, benannt nach einem der frühen Entdecker des Ödlands. In der Nähe von Wasserläufen sind sie im Ödland häufiger anzutreffen. In der Form erinnern sie an Pappeln, wie es sie auf der Erde gibt.

»Nach den beiden Bäumen«, sagte Cuwignaka, »ist dieser Ort benannt.«

»Und wie heißt er?«

»Zwei Federn«, antwortete Cuwignaka.

»Das hielt ich für einen Männernamen.«

»Es ist ein Name, der Name dieses Ortes«, sagte Cuwignaka.

»Wer führt hier das Kommando?«

»Eigentlich Kahintokapa, Mann-der-vorausgeht, von den Gelben Kaiila-Reitern, wenn er noch lebt.«

»Er muß überlebt haben!« rief ich.

Und ich lief den Hang hinab auf das Lager zu.

»Warte!« rief Cuwignaka. »Da kommt jemand!«

»Tatankasa!« rief Canka, der von den Zelten auf uns zueilte. Aber ich lief an ihm vorbei, ich rannte, als hätte ich den Verstand verloren. Er und vielleicht auch Akihoka, der losgezogen war, um ihn von der Jagd zurückzuholen, mußten Flüchtlinge aus dem überfallenen Lager getroffen haben und mit ihnen in dieses Lager gezogen sein.

»Herr!« rief Winyela.

Aber auch sie ließ ich links liegen.

»Warte doch!« hörte ich Cuwignaka hinter mir rufen.

Aber ich konnte nicht warten. Es war später Nachmittag, die geeignete Zeit für das Sonnen der Schilde, hinter den Zelten auf den Schildgestellen hängend, der Zelteingang nach Osten gerichtet, die Rückseite der Zelte nach Westen.

Frauen hoben erstaunt den Kopf, so kopflos hastete ich durch das Lager. »Tatankasa!« rief mir mehr als eine zu.

»Tatankasa!« rief auch Mahpiyasapa.

Ich, ein Sklave, fiel vor ihm auf die Knie. Er war Häuptling der Isbu-Kaiila.

»Du lebst!« rief er. »Mein Herz singt!«

»Herr!« rief ich. »Wo ist Kahintokapas Zelt?«

»Dort«, sagte Mahpiyasapa verwirrt und zeigte mir die Richtung an.

»Sei bedankt, Herr!« rief ich.

Ich ballte die Fäuste.

»Du darfst aufstehen«, sagte Mahpiyasapa, der genau spürte, daß es mir wichtig war.

Ich sprang auf.

»Tatankasa!« rief Mahpiyasapa.

»Ja?«

»Hast du keine Nachrichten von Hci?«

»Dein Herz hat Grund zur Freude, Herr«, sagte ich. »Dein Sohn lebt!« Ich deutete hinter mich, auf den Hang, auf dem bereits das Transportgestell zu sehen war. Mahpiyasapa eilte strahlend darauf zu. Ich sah, wie sich Canka und Cuwignaka umarmten. Winyela stand daneben und klatschte in die Hände. Aus dem Lager eilten zahlreiche Gestalten auf die Gruppe zu, um sie zu begrüßen.

Ich lief auf Kahintokapas Zelt zu und verlangsamte meine Schritte erst, als ich es erreicht hatte. Gemessenen Schrittes ging ich schließlich um den Bau herum. Sonnenschein wärmte mir den Rücken. Nie zuvor hatte ich Kahintokapas Schild außerhalb der Hülle gesehen, selbst als ich ihm vor langer Zeit zum erstenmal begegnete; damals, mit Canka und den Kampfgefährten am Ort des Überfalls auf den Wagenzug.

Es ist nicht ungewöhnlich, daß ein Krieger seinen Schild, wenn er ihn nicht braucht, in einer Hülle aufbewahrt. Sie wird abgenommen, wenn er den Schild zum Sonnen stellt, um Energie und Medizin zu gewinnen aus den flammenden Strahlen des Sterns zweier Welten, Sol oder Tor-tu-Gor, Licht-auf-dem-Heimstein.

An jenem Sommertag verweilte ich lange Zeit reglos und betrachtete den Schild, der da auf seinem Gestell hing. Das Gebilde bewegte sich im Wind leicht hin und her. Mit Rücksicht auf die Gefühle der roten Wilden sorgte ich dafür, daß mein Schatten nicht darauf fiel, während es in der Sonne hing. In ähnlicher Rücksichtnahme geht man niemals zwischen einem Gast und dem Zeltfeuer vorbei, ohne seine Entschuldigung zu erbitten.

Ich hörte Cuwignaka und Canka näherkommen. Sie betrachteten den Schild ebenfalls.

»Seht ihr es?« fragte ich.

»Natürlich«, sagte Cuwignaka.

»Der Jäger, der vor langer Zeit im Schnee jagte, war Kahintokapa«, sagte ich.

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Cuwignaka.

»Zwei Federn«, sagte ich. »Das war kein Männername, sondern die Bezeichnung für diesen Ort.«

»Was meint er?« fragte Canka.

»Keine Ahnung«, sagte Cuwignaka.

»Schaut euch den Schild an«, sagte ich.

Wir alle betrachteten den Schild. Das Gesicht eines Kur war darauf gemalt, detailgetreu, schwarz umrissen, mit farbigen Pigmenten ausgefüllt. Es war ein breiter, gefährlich aussehender Kopf. Die vorragenden Reißzähne waren deutlich auszumachen. Die Augen fand ich besonders gut gelungen. Sie schienen uns zu mustern. Das linke Ohr war halb fortgerissen.

»Zarendargar, Halb-Ohr«, sagte ich.

»Wer ist Zarendargar?« wollte Cuwignaka wissen.

»Ein Wesen, mit dem ich einmal vor langer Zeit und an einem fernen Ort Paga getrunken habe«, sagte ich.

»Es ist Kahintokapas Medizinhelfer«, sagte Canka.

»Ich würde ihn gern kennenlernen«, sagte ich.

»Diese Wesen sind sehr persönlich«, erwiderte Canka. »Sie werden in Träumen gesehen, in Visionen. Wie kann man den Medizinhelfer eines anderen Mannes kennenlernen?«

»Ich muß mit Kahintokapa sprechen«, sagte ich.

»Kahintokapa ist schwer verwundet«, antwortete Canka.

»Würdet ihr ihm meinen Wunsch begreiflich machen?« fragte ich.

»Ja.«

Ich betrachtete das Gesicht auf dem Schild. Der Kur war gut getroffen. Unter der Habe, die auf dem Lastenschlepper aus Grunts Zelt im Festlager mitgeführt worden war, befand sich das bebilderte Leder, das vor langer Zeit im Delta des Vosk in meinen Besitz gekommen war. Auf diesem Leder wurden eine Jagd und die Begegnung mit einem Medizinhelfer geschildert. Diese Darstellung war der Schlüssel, der nicht nur Kog und Sardak und ihre Verbündeten in das Ödland gelockt hatte, sondern auch mich. Am Ende der Schilderung auf dem Leder hatte der Künstler ein Bild des Medizinhelfers niedergelegt, als Porträt auf einem Schild. Schon diese Nachbildung hatte mich klar an Zarendargar erinnert. Nun hatte ich den eigentlichen Schild vor mir, hier, tief im Ödland, nördlich des Nördlichen Kaiila-Flusses, im Land der Casmu-Kaiila.

Ich drehte mich um.

Inzwischen hatten sich etliche Zuschauer eingefunden.

Ich schaute an ihnen vorbei, fort vom Lager, über die Prärie.

Dann wandte ich mich wieder Cuwignaka und Canka zu.

»Ich möchte gern mit Kahintokapa sprechen«, sagte ich.

»Du suchst seinen Medizinhelfer?« fragte Canka.

»Ja.«

»Wenn du das tust«, sagte Canka, »mußt du so handeln, wie es bei uns üblich ist.«

»Natürlich gehe ich auf eure Wünsche ein«, sagte ich.

»Cuwignaka und ich werden mit Kahintokapa sprechen«, sagte Canka. »Wir werden für dich eintreten.«

»Ich bin euch dankbar«, sagte ich.

32

»Die Leiche wurde nie gefunden«, sagte ich.

»Das würde einem Tuchuk schon etwas ausmachen«, sagte Kamchak von den Tuchuks.

Ein kalter Wind wehte über das flache Dach des Justizzylinders in Ar.

Kalt waren die Steine, etwa zwanzig Pasangs westlich des Casmu-Kaiila-Lagers bei Zwei Federn.

Wieder hielt ich Gras und Erde mit Kamchak von den Tuchuks. Ich spürte sie kühl in der Hand, zwischen den Fingern.

Es begann zu regnen. Der Regen wusch mir Schmutz und Gras von den Händen. Die Brücken Tharnas hatten grau und kühl im gemächlichen Regen gelegen.

Aus der Ferne hörte ich das Gebrüll der Zuschauermassen im Tarn-Stadion von Ar.

Die Silbermaske schien unnatürlich groß zu sein. Die Frauenstimme, die dahinter erklang, schien von weither zu tönen. Dennoch vernahm ich den wütenden Unterton. »Wir werden uns wiedersehen!« sagte sie.

Der Tarn erhob sich vom Dach des Palasts. Eine frische Brise zupfte an meiner Kleidung.

Die Dorna war ein Schiff, ein Tarnschiff, ein Rammschiff mit geringem Tiefgang, geradem Kiel und einer Ruderebene. Es besaß ein Lateinersegel und war grün bemalt auf dem bewegten Wasser des Thassa vor Port Kar kaum auszumachen.

Lara, die ehemalige Tatrix von Tharna, kniete im Lager des Sklavenhändlers Targo auf einem roten Teppich vor mir und hielt mir unterwürfig zwei gelbe Schnüre entgegen.

Misk, der bei Nacht im Sardargebirge stand, herablassend, geschmeidig, ein großartiger Anblick vor den Monden, während der Wind seine Tentakel bewegte.

An jenem Abend hätte ich vielleicht in die Taverne Sapedons in Lydius zurückkehren müssen, um Vella beim Tanz zuzuschauen. Ich hatte Geschäfte erledigt.

»Ein Hurrikan aus Steinen!« brüllte Hassan, und der Wind zerrte an seinem Burnus.

»Vielleicht wird es heute nacht kalt«, sagte Imnak und beugte sich über die Schieferspitze seiner Harpune, die er im Licht einer kleinen Sleenöl-Lampe methodisch mit einem Stein schärfte.

»Ja«, stimmte ich ihm zu.

Über die tobende See des Nordens vernahm ich Ivar Gabelbarts mächtiges Lachen.

Blitze umzuckten die zerklüfteten Gipfel der Voltai-Berge.

»Peitscht ihn aus!« befahl Marlenus aus Ar.

Hiebe wurden ausgeteilt.

Meine Wange berührte die kalten, nassen Steine. Man verläßt den Ort der Visionen nicht. Es regnete. Ich streckte die Hand aus und umfaßte Eis. Prasselnd landete es ringsum, prallte von den Steinen zurück. Mein Rücken begann zu bluten. Der weiße Kalk, der meinen Körper bedeckte, wies zahlreiche Furchen auf. Ich bedeckte meinen Kopf und blieb auf den Steinen liegen. Man verläßt den Ort der Visionen nicht.

Es war heiß.

Ich hörte Vogelgeschrei im Dschungel der Ua.

»Wir wollen weitermarschieren«, sagte Kisu, und auf dem breiten Fluß, der sich zwischen den feuchten, verfilzten grünen Dschungeldickichten erstreckte, tauchten wir erneut unsere Paddel ein.

Mir war schwindlig. Vielleicht lag es an der Sonne. Ich lag auf dem Rücken. Die hochstehende, heiße Sonne der Tahari brannte erbarmungslos.

»Trink!« sagte Hassan, der sich über mich beugte. »Schade«, fügte er hinzu. »Der Wasserbeutel ist leer.«

»Wenigstens ist es jetzt kühler«, sagte Samos. »Das ist immerhin eine Erleichterung.«

»Ja«, sagte ich.

»Ein Sturm kommt auf, Kapitän«, meldete Thurnock. »Um diese Jahreszeit läuft ein vernünftiger Kapitän den Hafen an.«

Ich schlug das Schwert aus der Hand Marlenus’ aus Ar.

»Will man Medizinhelfer zu Gesicht bekommen, muß man bestimmte Wege beschreiten«, sagte Canka. »Wenn du etwas erreichen willst, mußt du auf die richtige Weise danach streben.«

»Ich werde auf deine Wünsche eingehen«, sagte ich.

»Es gibt keine Garantie, daß sich der Medizinhelfer wirklich blicken läßt«, sagte Kahintokapa.

»Das verstehe ich.«

»Die Sache ist nicht einfach«, sagte Cuwignaka.

»Das ist mir klar.«

Hcis Schild stieg empor wie ein Mond, unaufhaltsam, und entblößte ihn der Lanze des Gelbmessers. Der Mond bewegte sich schnell hinter den Wolken. Es gibt viele Möglichkeiten, das Gesehene zu deuten.

Ein kleines Paket, schwer, rechteckig, zwischen den Sachen in Grunts Zelt hervorgekramt, lag in meiner Nähe auf den Steinen. Ich versuchte mich auf den Steinen aufzurichten und stemmte dazu die Hände auf die Knie.

Ich spürte Regen.

Blitze zuckten am Himmel, Donner grollte wie eine Brandung zwischen den Küsten des Horizonts.

Kalter Regen, windgetrieben, prasselte herab, dröhnte auf die Steine, zerrte an den Blättern einiger Bäume.

»Wer ist die Frau?« fragte ich.

»Es heißt, sie war einmal die Tochter Marlenus’ aus Ar«, erhielt ich zur Antwort. »Weil sie ihn entehrte, wurde sie verstoßen.« Ihre Gestalt, die eine Verhüllungsrobe trug, war aus dem Korridor verschwunden.

Und wieder erhellten Blitze den Unwetterhimmel und die Regenbahnen, doch dann waren Blitze und Regen verschwunden, und es ertönten laute, widerhallende Schläge, und der schwere Hammer Krons, eines Mitglieds der Kaste der Metallarbeiter, hob und senkte sich und traf einen riesigen Amboß und ließ Funken durch die Nacht stieben, die in das stille Meer fielen und dort wie Diamanten funkelten, und ich ließ mich auf den Rücken rollen und bemerkte emporschauend, daß die Diamanten am Himmel hingen und Sterne waren.

Es beginnt im Schwitzzelt – ein kleiner Bau, oval und niedrig gebaut. Ein Mann kann im Innern nicht aufrecht stehen. Zuerst wird ein Astgerüst errichtet, das man dann mit Fellen bedeckt. Im Loch in der Mitte werden die draußen erhitzten Steine abgelegt und mit Wasser übergossen. Mit dem Schwitzzelt verbinden sich zahlreiche bedeutsame Rituale. Wichtig sind dabei die Steine, das Feuer, die Ausrichtung des Zelts, der Weg zwischen Zelt und Feuer, die Wassermengen und die Art und Weise des Gießens und die Häufigkeit, mit der das Zelt geöffnet wird. Ich will diese Dinge nicht im Detail ausführen und mich mit der Bemerkung begnügen, daß die Zeremonie des Schwitzzelts ein detailliertes, komplexes, durchdachtes und sehr symbolisches Ritual ist. Hauptziel ist die Reinigung des Badenden, seine Vorbereitung auf die schwierige Aufgabe, den Traum oder die Vision zu erlangen. Meine Helfer, die sich um das Feuer und die Steine kümmerten, waren Canka und Cuwignaka.

Ich folgte dem vorgeschriebenen Ritual nicht in jeder Beziehung; zum einen, weil ich gewisse Vorbehalte hatte und an die Existenz der Medizinwelt nicht recht glauben konnte, zum anderen, weil ich kein Kaiilakrieger war. Meine Überlegungen und Entscheidungen in diesem Punkt wurden von Canka und Cuwignaka respektiert. Gleichwohl hat man viel Zeit zum Nachdenken, während man da allein im abgedunkelten Innern des Schwitzzeltes sitzt, den Kopf zwischen die Knie gedrückt, um in der ungeheuren Hitze nicht ohnmächtig zu werden. Es ist sicher nicht übel, wenn der Mensch ab und zu allein ist und Zeit zum Nachdenken hat. Es ist jedenfalls eine ausgezeichnete Gelegenheit zur Selbsterfahrung.

Nach Verlassen des Schwitzzelts begibt man sich zu einem Fluß und reinigt sich in kaltem Wasser von Kopf bis Fuß. Dann wird ein kleines Feuer aus Nadeln und Süßblättern entzündet, dessen Rauch man in seine Haut einmassiert. Schließlich reibt man sich mit weißem Kalk ein: Diese Dinge sollen den menschlichen Geruch verschwinden lassen. Angeblich mögen Medizinhelfer den Menschengeruch nicht.

Dann begibt man sich an den Ort der Visionen. Es ist eine hochgelegene, felsige Stelle. Einige Bäume stehen in der Nähe. Man kann über die Prärie hinwegschauen, deren Gras sich im Wind wiegt.

Dort fastet man. Dort wartet man.

Man darf ein wenig Wasser trinken. Das Verhungern dauert lange, wochenlang; Durst läßt den Tod schon viel früher eintreten.

Man wartet. Man weiß nicht, ob der Medizinhelfer kommen wird oder nicht.

Es ist einsam am Ort der Visionen.

Als ich erwachte, war es grau und kalt; die Morgendämmerung hatte eben eingesetzt.

Wie kommt es, daß diese Leute Visionen haben? fragte ich mich.

Vielleicht hat der mit Entbehrungen gepeinigte Körper irgendwann genug. Vielleicht fleht er dann das Gehirn um eine Vision an, die ihm Erleichterung bringen könnte.

Natürlich ist es hilfreich, an solche Visionen zu glauben und sie als Zeichen aus der Medizinwelt zu akzeptieren.

Am Ort der Visionen kommt es zu seltsamen Bewußtseinsverschiebungen; sicher hat das mit Hunger und Durst und der Einsamkeit zu tun. Manchmal fällt es schwer, zwischen Träumen, Visionen und Realitäten zu unterscheiden.

Man braucht nicht unbedingt eine Vision. Ein Traum erfüllt denselben Zweck.

Aber es gibt Menschen, die einfach keine Visionen haben können; andere wiederum können sich nicht daran erinnern, was sie im Traum erlebt haben. Sie wissen nicht mehr, was sie im Traumland taten – nur daß sie dort waren.

Aber solche Fälle behandeln die roten Wilden gnädig. Sie wissen, daß nicht alle Menschen gleich sind. Es genügt ihnen, wenn man den Versuch macht, zu träumen, die Vision zu erlangen. Schließlich steht es in der Entscheidung des Medizinhelfers zu erscheinen – oder aber auch nicht. Von einem Menschen kann man nicht mehr erwarten, als daß er sich an den Ort der Visionen begibt. Das ist sein Teil an der Sache. Was kann er mehr tun?

Der Medizinhelfer kommt nicht, redete ich mir ein. Ich habe getan, was ich konnte. Ich bin durch.

Dann vernahm ich ein Geräusch und fürchtete schon, es könnte ein Sleen sein.

Mühsam kämpfte ich mich in eine sitzende Stellung hoch. Stehen konnte ich nicht mehr. Ich hörte kleine Steine den Hang hinabklappern. Ich legte die Hand auf meinen Messergriff. Es war die einzige Waffe, die ich hier am Ort der Visionen hatte. Doch meine Finger vermochten sich kaum um den perlenbesetzten Griff zu schließen. Ich war zu schwach.

Den Kopf sah ich zuerst, dann den Körper des Geschöpfs. Wenige Fuß von mir entfernt hockte es sich nieder. Es war groß, größer als ein Sleen. Ich legte die Hände auf die Knie.

Das Wesen hob den lederumwickelten Gegenstand, den ich vor mir hingestellt hatte. Mit den Zähnen riß es die Umhüllung auf.

Im Zwielicht waren seine Gesichtszüge kaum zu erkennen.

Es kam zu mir und nahm mich in die Arme. Es drückte die mächtigen Kiefer gegen mein Gesicht, holte aus seinem Vorratsmagen Wasser in seine Mundhöhle und gab mir Schluck für Schluck zu trinken. Auf ähnliche Weise übertrug es mir einen weichen Fleischbrocken, den es ebenfalls aus seinem Vorratsmagen heraufholte. Ich zwang mich dazu, den Brocken zu schlucken.

»Bist du der Medizinhelfer Kahintokapas?« fragte ich im Dialekt der Kaiila. »Bist du der Medizinhelfer des Mannes-der-vorausgeht?« wiederholte ich auf goreanisch.

»Ich bin Zarendargar«, tönte es auf goreanisch aus dem Übersetzungsgerät, »Kriegsgeneral der Kurii.«

33

Ich blickte zum Himmel auf.

»Beeil dich!« befahl ich dem Mädchen.

»Ja, Herr«, sagte sie und schnitt hastig Grasbrocken. Die Decke aus Ästen und Stäben über der Grube deckt man mit lebendigem Gras ab, um zu verhindern, daß sich die Begrünung innerhalb weniger Stunden verfärbt. Manchmal muß man zwei oder drei Tage lang im Loch ausharren.

Dieses Loch ist etwa zehn Fuß lang, fünf Fuß breit und vier Fuß tief. Es muß lang genug sein, um den Fesselstamm, den Jäger und manchmal auch den Köder zu beherbergen.

Wir hörten einen Schrei, der von einem Flieger zu kommen schien. Cuwignaka hatte aufgepaßt. »Runter!« sagte ich und drückte das Mädchen in das hohe Gras.

Fluchend blickte ich zum Himmel auf. Ein einsamer Tarnkämpfer, einer der Kinyanpi, flog nach Nordwesten.

Wir befanden uns in einem Gebiet, in dem auch die Kinyanpi so jagten, wie wir es vorhatten.

»Weitermachen!« sagte ich zu dem Mädchen, meiner Sklavin Mira.

Der Fesselstamm war letzte Nacht von zwei Kaiila hierhergezerrt worden. Den Aushub aus dem Loch hatten wir unter Büschen versteckt und im Gras verstreut.

»Fertig«, sagte das Mädchen und setzte den letzten Grasbrocken ein.

»Steig in die Grube!« sagte ich zu Mira.

»Ja, Herr.« Ich folgte ihr durch die Öffnung, die wir zum Ein- und Ausstieg gelassen hatten. Dann hockten wir uns gegenüber hin. Der Fesselstamm befand sich links von mir. Ich band das Mädchen mit dem rechten Fußgelenk an den Stamm fest. Eine viel dickere Lederleine war um den Stamm gewickelt und lag griffbereit auf dem Holz. Andere Lederseile lagen neben uns in dem Loch.

Ich blickte durch die Öffnung, die etwa achtzehn Zoll im Quadrat maß. Eine ähnliche, etwas kleinere Öffnung befand sich am anderen Ende der Vertiefung. Sie hatte ihren Zweck. Durch mein Fenster vermochte ich den Himmel und die Wolken zu sehen.

»Jetzt warten wir«, sagte ich.

»Ja, Herr.«

34

Licht fiel durch die Löcher in unsere Grube.

Ähnliche Vertiefungen wie die, in der wir saßen, allerdings viel kleiner, werden für den Fang des krallenfüßigen Herlit-Vogels verwendet, der vor allem wegen seines Gefieders geschätzt ist. Heute aber hatten wir es nicht auf Herlits abgesehen.

Nackt ausgestreckt lag das Mädchen vor mir, mit der langen Lederleine am Fesselstamm festgebunden.

»Still!« sagte ich nach langer Zeit. Ich hatte ein Geräusch vernommen.

Vorsichtig kroch ich zu der größeren Öffnung in der Decke.

»Eine Urt«, sagte ich. »Seltsam. Sie ist fort.«

Ich kehrte an meinen Platz zurück. Das Warten in der Falle kann nervenaufreibend sein. In der langen Zeit, die wir nun schon hier zubrachten, hatte es schon mehrere Unterbrechungen gegeben. Zweimal hatten wir den einzelnen Fliegerschrei gehört, erzeugt von Cuwignaka, der uns damit anzeigen wollte, daß Kinyanpi unseren Bereich durchflogen. Einmal war ein Prärie-Tabuk, ein einhörniges gazellenartiges Tier, grasend in unsere Nähe geraten. Auf eine Weise hatte mich dieses Vorkommnis gefreut, schien es mir doch darauf hinzudeuten, daß sich unsere Jagdbeute in der Nähe befinden konnte; in anderer Beziehung war ich nicht so erbaut darüber gewesen, weil der Tabuk vielleicht nicht allein war, denn im allgemeinen ziehen diese Tiere in Herden durch die Prärie. Einmal hatten wir zwei Fliegerschreie vernommen, aber es stellte sich zu unserem Unmut bald heraus, daß dieses Signal nicht von Cuwignaka kam, sondern von einem echten Fliegervogel.

Ich lehnte mit dem Rücken an der Querwand des Lochs.

Mein Blick ruhte auf dem Fesselstamm, der links von mir lag, und dem darauf zusammengerollten Seil. Ich betrachtete die Wände der Erdgrube und die Decke, deren Astgewirr die Grasnarbe stützte; schließlich blickte ich in die Lichtbahnen, die durch die beiden Öffnungen hereindrangen.

In diesem Moment vernahm ich zwei Vogelschreie, die von einem Flieger stammen konnten.

»Ein Flieger«, sagte Mira, »weiter nichts.«

Ich stieß sie zur Seite und schob den Kopf durch die größere der beiden Öffnungen.

Wieder waren die beiden Laute zu hören, diesmal nachdrücklicher.

Ich stand auf und hob die Schultern aus der Öffnung.

»Herr?« fragte sie.

»Das ist kein Vogel«, sagte ich.

Hastig duckte ich mich wieder in das Loch und zerrte probehalber an dem Lederseil, das am rechten Fußgelenk des Mädchens befestigt und am anderen Ende zweimal um den Fesselstamm gewickelt war. Dann zog ich die Frau neben mir hoch.

»Herr!« rief sie bekümmert.

Ich schob sie durch die Öffnung ins Freie.

»Siehst du ihn?« fragte ich.

»Ja«, antwortete sie nach kurzem Schweigen. »Er fliegt sehr hoch.«

»Kreist er?«

»Schwer zu sagen«, antwortete sie. »Möglich wäre es.«

»Gut«, sagte ich. »Dann ist er wahrscheinlich auf der Jagd.« Die gemächlichen Jagdmanöver dieser Tiere in großer Höhe hatten zuweilen einen Durchmesser von mehreren Pasang.

»Kann er dich sehen?« fragte er.

»Ich glaube nicht.«

»Dann beweg dich ein bißchen! Geh herum!« Ich sah, wie sie die Lederschnur spannte.

Das Sehvermögen unserer Beute war wirklich bemerkenswert. Besonders gut versteht sich der Vogel darauf, Bewegungen auszumachen. Angeblich kann er auf eine Entfernung von zwei Pasang eine Urt erspähen und auf eine Pasang jede ungewöhnliche Bewegung im Gras. Ich war davon überzeugt, daß wir uns auf seine Augen verlassen konnten.

»Er kreist«, sagte sie.

»Kann er dich sehen?« fragte ich.

»Jetzt!« sagte sie erschrocken. »Ja, jetzt sieht er mich wohl.«

»Verlier ihn nicht aus den Augen!« mahnte ich. »Du darfst dir nicht anmerken lassen, daß du etwas gemerkt hast, aber laß ihn nicht verschwinden. Dein Leben könnte davon abhängen. Merk dir auch genau die Position des Loches.«

»Ich weiß genau, wo er ist, Herr«, sagte sie. »Sei unbesorgt.«

»Es kann jetzt sehr schnell gehen«, sagte ich. »Du verstehst, was ich sage?«

»Ja, Herr, ja!«

Unser Opfer durfte nicht viel Zeit haben, sich die Sache anzuschauen.

»Er sieht mich!« stöhnte sie.

»Gut!« sagte ich. »Du darfst ihn nicht beachten!«

»Er kommt!« rief sie. »Er kommt sehr schnell!«

»Atme tief durch. Verlier ihn nicht aus den Augen!«

»Ich habe Angst!«

Plötzlich schien die Leine förmlich aus dem Loch zu schnellen und spannte sich gleich darauf straff. Mira schrie entsetzt. Ich schob Kopf und Schultern aus dem Loch und sah sie auf dem Bauch im Gras liegen, ein Bein lang nach hinten ausgestreckt, von der Fessel festgehalten. Sie hatte fliehen wollen.

Ich stemmte mich aus dem Loch und sprang schreiend und fluchend und armschwenkend herum. Der anfliegende Vogel, von meinem überraschenden Auftauchen verwirrt, bog ab und schwebte wenige Fuß entfernt an mir vorbei; sein riesiger Schatten huschte zwischen mir und der Sonne hindurch.

»Steh auf!« befahl ich.

Zitternd gehorchte sie.

»Du hast uns die Beute gekostet«, sagte ich.

»Ich hätte dabei umkommen können«, sagte sie zitternd. »Verzeih mir, Herr!«

»In das Loch!« befahl ich. »Noch ein solcher Auftritt, und du wirst bestraft!«

»Ja, Herr.«

»Vielleicht kommt er ja zurück.«

Sie erbebte.

Wenige Ehn später erfüllte sich meine Hoffnung – wir hörten erneut die beiden Fliegerrufe.

»Vielleicht hat er Hunger«, mutmaßte ich.

Mira hob den Blick, und in ihren Augen stand Entsetzen.

»Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er dich vergessen würde, mein hübscher nackter Köder«, fuhr ich fort und betrachtete sie. »Raus mit dir!«

»Bitte nicht!«

Doch ich blieb unerbittlich. Angstvoll, mit zitternden Knien kroch sie aus dem Loch.

»Er ist da oben«, meldete sie gleich darauf. »Am Himmel. Er kreist. Ich spüre, daß ich der Mittelpunkt des Kreises bin.«

»Ausgezeichnet!« sagte ich.

»Ich möchte mich verstecken!« flehte sie.

»Nein.«

»Er kommt!« kreischte sie plötzlich.

»Ins Loch!« brüllte ich. »Beeil dich!« Der panische Unterton ihrer Stimme machte mir klar, daß der Raubvogel zum Angriff übergegangen war.

»Ich kann mich nicht bewegen!« rief sie. »Ich kann mich nicht bewegen!«

Ich stemmte mich halb aus dem Loch und packte ihr rechtes Fußgelenk mit der Hand. Sie schrie und schlug die Hände vor das Gesicht, und ich mußte sie mit voller Kraft heranzerren. Beinahe im gleichen Moment zuckte ein riesiger Körper über die Öffnung, riesige Krallen schlossen sich, und das vom Flugwind niedergedrückte Gras sprang hinter der Erscheinung wieder empor und schien beinahe ausgerissen zu werden.

Erschauernd klammerte sich Mira an mich.

»Du warst nicht gehorsam«, sagte ich und stieß sie fort.

»Ist er weg?« fragte sie schluchzend.

»Er wird zurückkommen«, antwortete ich. »Halte dich in der Nähe der Öffnung.«

Ich band ihr Seil vom Fesselstamm los. Sie beobachtete mich verängstigt. Dann begab ich mich zu der kleineren Deckenöffnung am anderen Ende und griff nach dem Seil, das am Fesselstamm befestigt war.

»Was tun wir jetzt?« fragte sie.

»Wart’s ab!«

Wir mußten nicht lange warten.

Plötzlich ertönte ein intensiver, dumpf-dröhnender Laut. Es war, als wäre eine halbe Kaiila zu Boden gestürzt. Ein Geräusch, das unverwechselbar ist, hat man es einmal vernommen. Die Vibrationen waren durch die Wände der Grube zu spüren.

»Er ist da«, sagte ich.

Das Mädchen hob den Kopf und stieß einen Angstschrei aus. Ein großes, helles, rundes Auge schaute durch die Öffnung in unser Loch.

Ein gekrümmter gelber Schnabel, beinahe zwei Fuß lang, wurde in die Grube gesteckt und wieder zurückgezogen. Gleich darauf hörten wir einen Krallenfuß auf unserem Grasdach herumkratzen.

»Wir sind hier sicher!« rief das Mädchen.

»Nein«, sagte ich.

Wieder erschien der Schnabel und angelte in der Tiefe herum. Er berührte Miras Körper, und sie begann zu schreien. Der Schnabel schnappte nach ihr, und sie wich zum anderen Ende der Grube zurück. Ihr Geschrei erregte das Raubtier. Es stieß den Kopf halb in die Öffnung, um ihr zu folgen. Dann stieß es ebenfalls einen schrillen Schrei aus, zog den Kopf zurück und begann wie wild auf die Grasnarbe und die Aststreben einzuhacken. Eine Kralle senkte sich durch die Grasdecke. Holz begann sich zu verschieben und zu splittern.

Das Tier war ganz auf das Mädchen und die Aufgabe konzentriert, das Hindernis zwischen ihm und ihr zu beseitigen. Ich nutzte die Gelegenheit, mich durch die kleinere Öffnung zu zwängen und das Seil des Fesselstammes mit zwei Windungen und zwei Knoten am rechten Bein des Geschöpfes festzumachen. Dann begann ich zu brüllen und versetzte dem Wesen, das zu mir herumwirbelte, einen Stoß. Den Schnabel wehrte ich mit dem Unterarm ab.

»Gut gemacht!« rief Cuwignaka, der in diesem Augenblick im Gras erschien. Er stellte sich mit seiner Lanze zwischen mich und das Raubtier. Mit energischer Bewegung biß der Schnabel den Lanzenschaft durch. Im gleichen Moment erschien auch Hci im hohen Gras; er schwang etliche Seile in den Händen. Cuwignaka und ich wichen zurück. Der Vogel begann mit den Flügeln zu schlagen und raste auf uns zu, fiel dann aber haltlos auf den Bauch ins Gras und ließ Federn in sämtliche Richtungen fliegen. Erst in diesem Augenblick erkannte der Tarn, daß er seine Bewegungsfreiheit eingebüßt hatte. Heftig fuhr er herum. Cuwignaka schlug ihm mit dem Lanzenschaft auf den Schnabel und lenkte ihn ab. Hci lief herbei und hieb mit zusammengerollten Seilen zu. Daraufhin erhob sich der Vogel mit mächtig peitschenden Flügeln in die Luft und riß den Fesselstamm aus der Fanggrube, ohne Rücksicht auf das Grasnarbendach.

»Kräftig ist er! Großartig!« rief Cuwignaka.

Er hatte nicht gewußt, wie stark ein solches Wesen war.

Mit heftigen, mühsamen Flügelschlägen, begleitet von lauten Schreien, auf- und niederwippend und schließlich Höhe gewinnend, kämpfte der Vogel gegen das Gewicht. Etwa hundert Fuß hoch erhob er sich in die Luft, aber der Stamm pendelte schwer unter ihm und zog ihn langsam wieder herab. Cuwignaka und Hci folgten ihm durch das Gras. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich war bester Laune.

Mit schnellen Schritten kehrte ich zu dem Loch zurück, dessen Dach halb zerstört war, holte zusätzliche Seile und das Mädchen und folgte Cuwignaka und Hci, um ihnen zu helfen.

»Ein ausgezeichneter Fang!« rief ich.

Der Schnabel des Vogels wurde von Seilen zusammengehalten. Das Tier lag auf der Seite. Die Füße waren ebenfalls gefesselt, und auf ähnliche Weise führten Lederschnüre um die Flügel und hielten sie am Körper fest. Schon hatten wir dem Tier einen Sitzgurt verpaßt von der Art, wie ihn die Kinyanpi verwenden, um ihre Knie darunterzuschieben.

Wir hatten den Vogel auf einem von zwei Kaiila gezogenen Lastenschlepper zu dieser Baumgruppe gebracht, in der sich unser Lager befand, etwa einen Pasang von der Fanggrube entfernt, die wir wieder instandgesetzt hatten.

Der Vogel spannte alle Muskeln gegen die Fesseln und lag wieder still.

»Ein ausgezeichneter Fang«, sagte ich.

»Wir müssen es morgen noch einmal versuchen«, meinte Cuwignaka.

»Mit dem Erdloch kommt man allerdings nur langsam voran, Tatankasa, Mitankola«, sagte Hci. »Selbst wenn wir Glück haben, fangen wir bis zum Winter nicht genügend Tarns, um gegen die Kinyanpi anzutreten.«

»Mit der Grube gedenke ich nur zwei oder drei zu fangen«, sagte ich.

»Das dürfte aber nicht genügen«, meinte Hci.

»Für sich gesehen nicht«, räumte ich ein und hob vielsagend die Augenbrauen.

»Ah!« sagte Hci. »Aber das wird sehr schwierig und gefährlich!«

»Ich sehe keinen anderen Weg«, äußerte ich. »Oder du?«

»Nein«, antwortete Hci.

»Machst du mit?«

»Selbstverständlich!«

Dann setzten wir uns vor unserem Zelt nieder, wo Mira auf einigen Blättern Speisen bereitgelegt hatte. Wir kauten die Dörrmasse kalt, da wir an diesem Ort kein Feuer anzünden wollten.

Am Himmel stiegen die drei Monde auf.

35

»Er ist erschöpft, aber immer noch gefährlich!« rief ich. Ich hielt ein Ende des Seils, das sich um den Hals des flatternden Vogels spannte, und Hci zog auf der anderen Seite. »Vorsichtig!« rief ich Cuwignaka zu.

Beruhigende Worte sprechend, näherte er sich dem Vogel.

Wir befanden uns in der Nähe des Tarnlochs. Dies war der zweite Tarn, den wir gefangen hatten. Der erste war uns gestern in die Falle gegangen.

Cuwignaka sprang jäh vor und verschränkte die Arme um den Schnabel des Vogels. Das Tier schüttelte den Kopf und schleuderte den Mann beinahe zur Seite. Mit einem Arm den Schnabel umfassend, wickelte er eine Fessel darum und sicherte sie. Kurze Zeit später hatten wir auch die Flügel festgebunden und fesselten schließlich gemeinsam die Beine.

Bebend lag das Tier auf der Seite. »Es ist bereit für das Transportgestell«, sagte ich.

Dann machte ich kehrt und stieg wieder in das Tarnloch. Das Grasdach war verschwunden, zerfetzt von dem Fesselstamm, den das Tier in die Luft gerissen hatte.

Ich schaute in das Loch. Das Mädchen lag auf dem Bauch, die Hände über den Kopf gelegt.

»Alles in Ordnung?« fragte ich.

»Habe ich dir letzte Nacht nicht gefallen?« fragte sie bedrückt.

»Ja«, antwortete ich verständnislos.

»Trotzdem hast du mich wieder als Köder benutzt.«

»Natürlich. Aber nun ist alles vorbei. Wir haben den Vogel.«

Sie begann hysterisch zu schluchzen.

»Warum regst du dich so auf?« fragte ich, sprang zu ihr in die Grube und nahm sie in die Arme. »Es ist alles vorbei.«

Sie schaute mich mit angstvoll geweiteten Augen an. »Wozu ihr uns zwingen könnt!« japste sie.

»Heute hast du dich nicht übel gehalten«, sagte ich.

Sie drückte sich weinend an mich. »Empfindest du denn nichts für mich?« fragte sie.

»Du bist Sklavin«, erinnerte ich sie.

»Natürlich, Herr! Wie dumm von mir, etwas anderes zu erhoffen.«

»Tatankasa!« rief Cuwignaka in diesem Augenblick. »Komm schnell!«

Ich sprang aus dem Erdloch.

»Dort!« rief Cuwignaka und deutete himmelwärts. »Ein Kinyanpi!«

Ich legte eine Hand über die Augen.

»Es ist kein wilder Tarn. Da ist irgend etwas auf seinem Rücken.«

»Ja«, sagte ich.

»Es muß ein vorgebeugt sitzender Mann sein.«

»Aber warum fliegt er so?«

»Vielleicht versucht er zu verheimlichen, daß der Tarn nicht wild ist«, meinte Cuwignaka.

»Vielleicht ist er verwundet«, sagte Hci und legte einen Pfeil auf seinen Bogen.

»Hat er dich bestimmt gesehen?« fragte ich.

»Unser gefesselter Tarn wurde gesichtet«, sagte Cuwignaka. »Davon bin ich überzeugt. Der Vogel wechselte die Flugrichtung. Inzwischen dürfte er uns auch gesehen haben.«

»Der Tarn kreist«, sagte Hci.

»Den gefangenen Tarn können wir nicht verstecken«, sagte Cuwignaka.

»Unser Plan ist mißlungen. Unsere Hoffnung dahin!« rief Hci.

»Ein Kinyanpi würde aber bestimmt sofort in sein Lager zurückkehren, sobald er unsere Anwesenheit im Tarn-Gebiet entdeckt hat«, sagte ich. »Sein Ziel wäre es, so schnell wie möglich Meldung zu machen und mit anderen zurückzukehren.«

»Warum kreist er noch?« wollte Cuwignaka wissen.

»Keine Ahnung«, antwortete ich.

»Was ist, Herr?« fragte Mira, die verschüchtert aus der Grube gekrochen war. Sie stand ein Stück links hinter mir.

»Wir wissen es nicht genau«, antwortete ich.

»Ich glaube, der Vogel will landen«, sagte Cuwignaka.

»Das ist unglaublich!« rief ich. »Gewiß wird sich kein Kinyanpi gegen drei bewaffnete Krieger stellen!«

»Er will landen«, sagte Cuwignaka.

»Du hast recht«, bestätigte ich.

»Warum zeigt sich der Krieger nicht?« fragte Hci.

»Ich sehe Beine«, sagte Mira.

»Ich beziehe Position, damit ich mich ein wenig hinter dem Vogel befinde, wenn er auf diesem Kurs bleibt«, sagte Hci und justierte seinen Bogen. »Wenn der Krieger dann absteigt, können wir ihn in die Zange nehmen.«

Ich nickte. Der Schild eines Kämpfers schützt nur in eine Richtung.

»Warum sollte er landen wollen?« rätselte Cuwignaka.

»Keine Ahnung«, sagte ich.

Der Vogel raste auf uns zu, hob mehrere Meter entfernt bremsend die Flügel und verharrte einen Augenblick lang in der Luft, ehe er die Krallen senkte und landete.

Vor dem Wind und den aufwirbelnden Staubpartikeln schlossen wir kurz die Augen.

Mira hob die Hand vor den Mund und schrie auf.

»Zurück!« befahl ich.

Ich trat vor und packte die Zügel des Tarn. Das Wesen schüttelte den Kopf. Die Lenkzügel des Tarn scheinen bei den Kinyanpi ähnlich gestaltet zu sein wie das Kaiilageschirr bei den roten Wilden. Dies scheint mir darauf hinzudeuten, daß die Kinyanpi vor den Tarns Kaiila geritten hatten und daß die Zähmung des Vogels unabhängig von der Entwicklung in den Ländern der Weißen erfolgt war und beispielsweise nichts mit den Tarnkämpfern aus Thentis zu tun hatte. In den meisten Städten werden die Tarns mit zwei großen Ringen und sechs Zügeln gelenkt. So leitet der erste Zügel den Aufstieg ein, während der Tarn an Höhe verliert, wenn man den vierten Zügel zieht.

»Was könnte so etwas anrichten?« fragte Cuwignaka staunend.

Ein Stück hinter uns erbrach sich Mira ins Gras.

»Ich weiß nicht genau«, sagte ich.

Hci verließ seine Deckung und trat näher. »Aii«, sagte er leise.

»Was meinst du?« fragte Cuwignaka.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, bemerkte der junge Krieger. Und er hatte recht – die Kräfte, die eine solche. Wirkung ausüben konnten, überstiegen das Vorstellungsvermögen.

Der gelandete Tarn hatte einen breiten Sattelgurt.

Ich schaute zu Mira zurück, die auf allen vieren im Gras kniete. Ihre Beobachtung war richtig: Sie hatte Beine gesehen. Die Knie steckten unter dem Bauchgurt. Es gab auch Oberschenkel und einen Unterleib. Der Oberkörper fehlte allerdings.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Cuwignaka flüsternd.

»Dies kann nur etwas aus der Medizinwelt getan haben«, meinte Hci.

Ich blickte prüfend zum Himmel auf. Die unbekannte Kraft, die hier am Werk gewesen war, mußte sich noch immer irgendwo befinden.

»Warum ist der Vogel gelandet?« fragte Cuwignaka.

»Er ist ein gezähmter Tarn«, sagte ich. »Wahrscheinlich möchte er von den Überresten des Reiters befreit werden. Er sah Menschen unter sich.«

»Mir ist unwohl«, sagte Cuwignaka.

»Mir auch«, bemerkte Hci.

»Dies ist ein großer Glücksumstand für uns«, sagte ich. »Zieht die Beine unter dem Gurt hervor.«

»Wie meinst du das?« fragte Cuwignaka, zog mit Hcis Hilfe die Überreste unter dem Gurt hervor und legte sie ins Gras.

Ich tätschelte dem Tarn den Hals. »Dies ist ein gezähmter Tarn«, sagte ich. »Voll ausgebildet. Wir brauchen ihn nicht nur nicht einzuarbeiten, sondern er wird uns auch mit einem entsprechenden Geschirr dabei helfen, die beiden schon gefangenen wilden Tarns auszubilden.« Ich wandte mich um und rief: »Mira!«

Das Mädchen eilte herbei und kniete vor mir nieder.

»Es wird dich freuen zu hören«, sagte ich, »daß wir im Augenblick genug Tarns beisammen haben. So brauchst du zunächst nicht wieder den Köder für uns zu spielen.«

»Danke, Herr!« rief sie.

»Du zerstörst jetzt die Tarngrube«, sagte ich, »und sorgst dafür, daß alle unsere Spuren beseitigt werden.«

»Jawohl, Herr.«

»Wir nehmen die Kaiila und schnallen sie vor das Transportgestell«, fuhr ich fort. »Dann bringen wir diesen Tarn in unser Lager.«

»Ja, Tatankasa«, sagte Cuwignaka.

»Wir wollen nicht länger als nötig im Freien verweilen«, bemerkte ich.

»Wenn du mit deiner Arbeit noch nicht fertig bist, wenn wir aufbrechen«, sagte ich zu Mira, »folgst du den Spuren des Transportgestells zu unserem Lager. Und nun lauf los.«

»Ja, Herr«, sagte sie.

»Heute abend werden wir uns auf den Weg nach Zwei Federn machen«, sagte ich.

»Gut«, meinte Cuwignaka.

»Unsere Pläne kommen gut voran«, sagte ich zu Hci.

»Ausgezeichnet!« rief dieser. »Aber kannst du so einen Vogel wirklich fliegen, Tatankasa?«

»Ja.«

»Ein erstaunlicher Gedanke. Vielleicht besitzen aber die Kinyanpi eine besondere Medizin, eine ganz besondere Kraft.«

»Nein«, entgegnete ich. »Es sind Männer wie du und ich.«

»Die Rückenfedern des Tarn sind blutdurchtränkt«, sagte Hci.

»Aber beinahe trocken«, sagte ich.

»Der Vorfall ist also noch nicht allzulange her«, meinte er. »Sicher kann nur eine Erscheinung aus der Medizinwelt so etwas bewirkt haben. Es ist, als fände man einen Fuß in einem Mokassin.«

»Hast du Angst?« fragte ich.

»Ja.«

»Das kann ich kaum glauben«, sagte ich.

»Du weißt doch, was ich fürchte, nicht wahr, Cuwignaka, nicht wahr, Mitakola?« fragte Hci.

»Ja«, sagte Cuwignaka.

»Was denn?« wandte ich mich an Cuwignaka.

»Ach, nichts«, sagte Cuwignaka. »Hci meint einen Mythos.«

»Was für einen Mythos?« fragte ich.

»Er fürchtet, hier kann nur Wakanglisapa am Werk gewesen sein«, sagte Cuwignaka.

»Wakanglisapa?« fragte ich.

»Ja, Wakanglisapa, ›Schwarzer Blitz‹, der Medizintarn«, sagte Cuwignaka.

»Das ist eine törichte Vorstellung, mein Freund«, sagte ich zu Hci.

»Ich bin anderer Ansicht«, antwortete er. »Während ich im Gras hockte und die Landung des Tarn erwartete, fand ich etwas, das ich euch zeigen möchte.«

Cuwignaka und ich schwiegen. Wir sahen zu, wie Hci an die Stelle zurückkehrte, an der er sich versteckt und auf die Landung des Tarn gewartet hatte. Kurze Zeit später kehrte er zu uns zurück.

In der Hand hielt er eine große Feder.

»Sie ist schwarz«, sagte Cuwignaka.

»Es gibt viele schwarze Tarns«, äußerte ich.

»Aber schau dir an, wie groß sie ist, Tatankasa, Mitankola«, sagte Cuwignaka staunend.

»Groß ist sie«, räumte ich ein. Die Feder maß etwa fünf Fuß. Sie konnte nur von einem sehr großen Tarn stammen.

»Es ist die Feder Wakanglisapas, des Medizintarns«, sagte Hci.

»Ein solches Tier gibt es nicht«, widersprach ich.

»Dies ist seine Feder!« beharrte Hci.

Ich schwieg.

Hci ließ den Blick in den Himmel schweifen. »Wakanglisapa beobachtet uns vielleicht auch in diesem Moment«, sagte er.

Ich legte ebenfalls den Kopf in den Nacken. »Der Himmel scheint frei zu sein«, sagte ich.

»Die Ungeheuer der Medizinwelt«, erklärte Hci, »tauchen auf oder bleiben unsichtbar, wie es ihnen gefällt.«

»Red keinen Unsinn, mein Freund!« sagte ich.

Hci stieß die Feder wie eine Lanze in den Boden. Ich betrachtete sie. Die Fasern bewegten sich im Wind.

»Wir wollen das Lastengestell selbst ziehen«, schlug Hci vor. »Damit sparen wir Zeit.«

»Cuwignaka und ich werden es ziehen, nachdem wir die Zügel dieses Tarn an einer der Stützstangen festgemacht haben«, antwortete ich. »Du gehst voraus, holst die Kaiila und kommst uns dann entgegen.«

»Ich halte es für besser, wenn wir alle zusammenbleiben«, meinte Hci.

»Du glaubst, es besteht Gefahr?« fragte ich.

»Eine große Gefahr«, sagte Hci.

»Dann warten wir noch auf die Sklavin«, sagte ich.

Kurze Zeit später eilte Mira zu uns. Sie hatte sich beeilt.

»Was tust du?« fragte Hci.

Ich hatte die Feder aus dem Boden gezogen und auf das Lastgestell gelegt.

»Ich nehme die Feder mit«, sagte ich. »Vielleicht nützt sie uns noch.«

»Ich weiß nicht, ob das klug gehandelt wäre, Tatankasa«, bemerkte Hci erschaudernd.

»Keine Sorge«, beruhigte ich ihn. »Ich habe eine Idee.« Wenn Hci so fest davon überzeugt war, daß die Feder von dem sagenhaften Medizintarn Wakanglisapa stammte, mochten andere der gleichen Ansicht sein.

Ich überzeugte mich, daß die Zügel des ungefesselten Tarn am rechten Gestellholm festgemacht waren, und stellte mich neben Cuwignaka in das Zuggeschirr. Wir wollten das Lastgestell gemeinsam ziehen. Die Sklavin riefen wir nicht zu uns nach vorn; wir wollten durch ihre kürzeren Schritte und ihre geringere Kraft nicht aufgehalten werden.

»Siehst du etwas, Hci?« fragte Cuwignaka.

»Nein.«

»Du glaubst nicht an Wakanglisapa, nicht wahr?« fragte ich Cuwignaka.

»Manchmal«, antwortete Cuwignaka unsicher, »weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.«

»Ich verstehe.«

»Immerhin haben wir die Feder«, sagte mein Freund.

»Es ist nur die Feder eines sehr großen Tarn«, bemerkte ich.

»Irgend etwas muß für das Unglück verantwortlich sein, das dem Kinyanpi zugestoßen ist«, sagte ich.

»Da hast du recht.«

»Und das Wesen ist noch irgendwo da draußen.«

»Es war Wakanglisapa!« sagte Hci.

»Kannst du irgend etwas erkennen?« fragte ich.

»Nein«, antwortete Hci.

»Dann mach dir keine Sorgen!«

»Tatankasa«, sagte Hci.

»Ja?«

»Laß die Feder hier draußen zurück!« bat Hci.

»Nein«, sagte ich und stemmte mich mit vollem Gewicht in das Geschirr. Das Transportgestell rutschte leicht vorwärts. Der Tarn war zwar riesig, im Vergleich zu seiner Masse aber nicht schwer.

»Eine Frage verwirrt mich in dieser Sache noch«, sagte ich nach einer gewissen Zeit zu Cuwignaka. »Warum sollte ein Tarn, wenn es sich wirklich um einen Tarn gehandelt hat, einen Fliegenden angreifen? Das ist höchst ungewöhnlich.«

»Die Erklärung liegt in der Legende Wakanglisapas«, sagte Cuwignaka.

»Erzähl mir davon!« forderte ich.

»Es heißt, Wakanglisapa schätzt seine Federn und bewacht sie scharf, weil sie eine starke Medizin enthalten.«

»Ach?«

»Vielleicht hatte der Fliegende die Feder gefunden und trug sie bei sich, als Wakanglisapa sie sich zurückholen wollte.«

»Verstehe«, sagte ich.

»Wir fanden die Feder in der Nähe«, mutmaßte Cuwignaka. »Möglicherweise hat der Tarnreiter sie fallen lassen.«

»Denkbar wäre es«, sagte ich.

»Deshalb wollte Hci die Feder liegenlassen«, fuhr Cuwignaka fort.

»Ah.«

»Er fürchtet, Wakanglisapa könnte sich erneut auf die Suche danach machen.«

Ich erschauderte. »Siehst du etwas, Hci?« fragte ich.

»Nein«, antwortete er.

36

»Ich sage dir, er existiert!« behauptete Hci.

»Hast du ihn gesehen?« fragte ich.

»Nein«, antwortete er. »Mira hat ihn gesehen.«

»Sie ist doch nur Sklavin.«

Das Mädchen kniete zitternd neben unserem Zelt bei den Zwei Federn.

»Du warst mit Cuwignaka fort, um Tarns zu zähmen«, sagte sie erbebend. »Da raste er plötzlich wie ein riesiges schwarzes Ungeheuer schreiend herbei. Durch seinen Vorbeiflug wurden Blätter von den Bäumen gerissen.«

»Jetzt aber ist er fort«, stellte ich fest.

»Es gibt ihn wirklich, Tatankasa«, sagte Hci nachdrücklich. »Daß du dich da in nichts verrennst! Es gibt ihn wirklich.«

»Er ist nur ein Tarn«, sagte ich.

»Es ist Wakanglisapa, der Medizintarn«, sagte Hci.

»Ich glaube nicht an die Medizinwelt«, entgegnete ich. »Und somit nicht an die Existenz dieses Wesens.«

»Er verfolgt uns«, behauptete Hci. »Er sucht nach seiner Feder.«

»Das ist absurd!«

»Du mußt die Feder verschwinden lassen«, sagte Hci. »Bring sie wieder ins Ödland! Wirf sie fort, verbrenn sie! Sie ist gefährlich.«

»Vielleicht brauchen wir sie noch!«

»Laß sie verschwinden!« forderte Hci.

»Es ist doch nur eine Feder«, sagte ich.

»Neben der Feder Wakanglisapas gibt es keine stärkere oder gefährlichere Medizin«, sagte Hci. »Deshalb hat er sich auf die Suche danach gemacht.«

»Der Medizintarn existiert nicht«, sagte ich.

»Sie hat ihn aber gesehen!« rief Hci und deutete auf Mira, die vor Angst bleich geworden war.

»Du bist einer der mutigsten Männer, die ich je gekannt habe, Hci«, sagte ich. »Wie kommst du nur auf so verquere Gedanken? Wie kannst du dich so seltsam benehmen?«

»Tatankasa«, sagte er, »du weißt über Tarns mehr als ich. Benehmen sich diese Vögel normalerweise so?«

»Nein«, mußte ich einräumen. »Normalerweise nicht.«

»Dann ist es kein gewöhnlicher Tarn.«

»Ich weiß nicht, vielleicht hast du recht.«

»Erinnerst du dich an den Kinyanpi-Krieger?«

»Ja«, sagte ich erschaudernd.

»Das kann nur das Werk Wakanglisapas gewesen sein!«

»Wakanglisapa existiert nicht!«

»Ich habe keine Angst vor Menschen«, sagte Hci. »Ich habe keine Angst vor Dingen, die ich sehen kann, die ich bekämpfen kann.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

»Dann laß die Feder verschwinden!«

»Ich glaube nicht an die Medizinwelt«, sagte ich.

»Ich weiß aber, daß sie existiert«, sagte Hci.

»Woher?«

»Weil ich einmal schlimm gelogen habe. Später, im Kampf wurde ich von meinem eigenen Schild verraten. Es wollte mir nicht gehorchen. Aus eigenem Antrieb stieg es empor und gab mich der Lanze meines Feindes schutzlos preis.«

»Ich weiß, was geschehen ist«, sagte ich. »Fremd ist uns dagegen der Grund. Solche Dinge sind nicht ganz unbekannt, nicht einmal den Ärzten aus den Städten. Es gibt Bezeichnungen für sie. Man versteht solche Erscheinungen noch nicht richtig, denn ihre Gründe liegen oft in rätselhaften Tiefen.«

»Der Schild stieg empor«, sagte Hci.

»Der Schild kann nicht allein aufgestiegen sein«, behauptete ich. »Dein Arm bewegte sich aufwärts.«

»Ich habe den Arm nicht gehoben!« rief Hci.

»Solche Bewegungen, über die wir keine Kontrolle haben, hängen zuweilen mit tieferliegenden Ursachen zusammen – beispielsweise mit Schuldgefühlen und der Überzeugung, daß gewisse Verhaltensweisen angemessen wären. Sie rühren von unmerklichen Vorgängen im Gehirn her. Ein Teil von dir liegt mit einem anderen im Widerstreit. Und zwar ohne daß du Einfluß darauf hast. So etwas kann erschreckend sein.«

»Der Schild stieg empor wie ein Mond«, sagte Hci.

»Zweifellos sah es so aus.«

»Er stieg auf, so fest und unaufhaltsam wie ein Mond.«

»Die Menschen begreifen Dinge in unterschiedlichen Überzeugungskategorien«, sagte ich. »Von einem Standpunkt aus könnte ein Ereignis auf die eine Weise interpretiert werden, von einer anderen Überzeugung aus aber ganz anders.«

»Das ist schwer zu verstehen«, sagte Hci.

»Weil du eben nur mit einer Überzeugungskategorie vertraut bist«, sagte ich, »und zwar der eigenen. So bist du es nicht gewöhnt, zwischen dem zu unterscheiden, was gewissermaßen interpretiert werden soll, und seiner Interpretation. Diese beiden Dinge neigen in deinem Denken dazu, zu einer Einheit zu verschmelzen – in diesem Fall zu der Überzeugung, daß dein Schild dich verraten habe.«

»Das hat er doch aber getan!« rief Hci.

»Schau empor«, sagte ich. »Siehst du die Monde?«

»Ja.«

»Siehst du nicht, wie sie durch den Himmel fliegen?«

»Das sind die Wolken, die sich im Wind bewegen«, sagte Hci, »und zwar in die andere Richtung. Deshalb sieht es so aus, als bewegten sich die Monde.«

»Schau noch einmal hin!«

Wieder kam Hci meiner Aufforderung nach.

»Kannst du die Monde fliegen sehen?« fragte ich.

»Ja«, antwortete er nach einer gewissen Zeit. »So könnte ich sie auch sehen.«

»Jetzt verstehst du sicher, daß es viele Möglichkeiten gibt, etwas Gesehenes zu deuten.«

»Das verstehe ich«, sagte Hci. »Sind sämtliche Deutungen gleichwertig?«

»Nein«, antwortete ich, »die meisten sind vermutlich falsch.«

»Woher wissen wir, wenn wir die eine wahre Erklärung gefunden haben?«

»Dessen können wir wohl niemals ganz sicher sein«, erwiderte ich. »Dazu gibt es wohl zu viele theoretisch mögliche Erklärungen.«

»Interessant.«

»Wenn man nicht beweisen kann, daß eine Erklärung absolut zutrifft, heißt das noch lange nicht, daß sie nicht doch stimmen könnte.«

»Das verstehe ich«, sagte Hci. »Weißt du ganz genau, daß die Medizinwelt nicht existiert?«

»Ich nehme nicht an, daß es sie gibt«, sagte ich.

»Weißt du, daß sie nicht existiert?« fragte Hci.

»Nein«, antwortete ich, »ich weiß nicht, daß sie nicht existiert.«

»Vielleicht gibt es sie also.«

»Vielleicht, aber ich weiß es nicht.«

»Du glaubst nicht daran.«

»Nein«, antwortete ich.

»Ich glaube aber, daß es sie gibt«, sagte Hci.

»Verstanden.«

»Vielleicht ist dann ja deine Erklärung falsch – und nicht meine.«

»Vielleicht.«

»Wir befinden uns hier im Ödland«, sagte er.

»Da hast du recht.«

»Vielleicht liegen die Dinge hier nicht so wie in deiner Heimat«, sagte er.

»Vielleicht.« Vermutlich war es tatsächlich eine Glaubenssache anzunehmen, die Natur müsse einheitlich sein – ein vernunftgestützter Glaube, doch gleichwohl ein Glaube. Kein Zweifel: Das Universum war riesig und rätselhaft. Vielleicht war es gar nicht verpflichtet, sich nach unseren Vorlieben zu richten. Wenn es unseren Grenzen zu entsprechen schien, so lag das vielleicht daran, daß wir es nur innerhalb dieser Grenzen überhaupt erfassen konnten. Ahnungslos mochten wir inmitten von Dimensionen und Wundern leben, Dingen, die unsere Werkzeuge nicht zu erreichen vermochten, an die unsere Phantasie, unser Intellekt nicht heranreichte, die zu fremd waren, um sie zu erfassen. Aber dennoch – was für kühne, tollkühne Mäuse wir doch waren! Wie edel ist doch der Mensch!

»Du bist entschlossen, die Feder zu behalten?« fragte Hci.

»Ja«, sagte ich. »Begleitest du uns heute nacht?«

»Wakanglisapa könnte unsere Pläne zunichte machen«, sagte er.

»Unsinn! Kommst du mit?«

»Ja.«

»Wir müssen bald aufbrechen.«

»Ich habe vorher noch etwas zu erledigen«, sagte er.

»Und das wäre?«

»Mein Todeslied zu singen«, sagte er.

37

»Schneller!« rief ich vom Rücken meines Tarn. »Beeil dich!«

»Sinnlos!« brüllte Hci, der einige Meter von mir entfernt flog, ebenfalls auf einem Tarn; wir rasten etwa zweihundert Meter über dem weiten, gewellten Grasland dahin. Rechts von mir trieb auch Cuwignaka seinen Vogel zur Eile an.

»Sie holen auf!« brüllte Hci. »Sie werden uns abfangen!« Es war eine halbe Ahn nach Beginn der Morgendämmerung.

Ich schaute über die Schulter nach hinten. Fünf Reiter, Angehörige der Kinyanpi, verfolgten uns erbarmungslos. Wir hörten ihre Kriegsrufe.

Was unseren Flug langsam machte, waren die Zügel, die wir umklammert hielten. Hinter jedem von uns, durch Halsleinen miteinander verbunden, flatterten fünf Tarns, insgesamt fünfzehn Tiere. Die Vögel der Kinyanpi waren bei Nacht nicht gut bewacht gewesen. In der Nähe eines Lagers der Gelbmesser, die ihre Verbündeten waren, inmitten von Stämmen, die sich mit Tarns nicht auskannten, hatten sie sich sicher gefühlt. Wir nahmen nicht an, daß sich diese Nachlässigkeit noch einmal wiederholen würde.

Eine weißhäutige Sklavin, die aus einem der Gelbmesserzelte verbannt worden war, hatte uns gesehen und Alarm geschlagen. Im Mondlicht hatte ich sie sogar wiedererkannt – eine kurzbeinige, hübsch gerundete Blondine, eine ehemalige Amerikanerin. Sie hatte einmal in Grunts Besitz gestanden und damals den Namen Lois getragen. Nach dem Überfall auf Alfreds Wagenzug war sie von Gelbmessern als Beute mitgenommen worden; überhaupt hatte Grunt zu dieser Zeit fast seinen gesamten Bestand an Mädchen eingebüßt.

»Wir haben genug Tarns; mehr könnten wir gar nicht bewältigen«, hatte ich zu Cuwignaka und Hci gesagt und dem letzten Vogel die Zügelschlaufe über den Schnabel geschoben. »Laßt uns verschwinden!«

Am liebsten hätten wir die Tarns ein Stück vom Lager fortgeführt, ehe wir uns in die Lüfte schwangen, aber dazu blieb nach dem Geschrei der Sklavin keine Zeit mehr. So waren wir sofort aufgestiegen, und das Kreischen der Vögel und ihr lauter Flügelschlag hatten das Lager der Gelbmesser und Kinyanpi noch munterer gemacht. Dabei waren wir vor dem Licht der Monde sicher deutlich auszumachen.

Es wollte uns scheinen, als wäre das Lager kaum unter uns fortgesunken, als sich bereits rote Tarnkämpfer in die Lüfte schwangen und überstürzt die Verfolgung aufnahmen. Fünf waren uns ganz nahe, aber sie verfolgten uns auf keinen Fall allein.

»Wir können ihnen nicht davonfliegen!« rief Hci.

Wieder blickte ich über die Schulter. Unsere Verfolger hatten noch weiter aufgeholt.

»Näher heran!« rief ich Hci zu. Als er meiner Aufforderung nachkam, warf ich ihm die Tarnleine zu, die ich in der Hand hielt; das geflochtene Leder fiel über den Rücken seines Tarn, und er griff danach und wickelte sie sich um die Faust.

»Ich drehe um!« rief ich. »Fliegt allein weiter!«

»Wir geben die Tarns frei!« rief Cuwignaka.

»Nein!« widersprach ich.

»Wir drehen auch um und kämpfen mit dir!« rief Hci.

»Nein!« brüllte ich zurück. »Bringt die Tarns ins Lager! Wir brauchen sie!«

»Nein!« rief Cuwignaka.

»Ihr bringt jetzt nicht alles in Gefahr!« rief ich. »Ihr fliegt weiter!«

»Tatankasa!« rief Cuwignaka.

»Die Kaiila müssen leben!« sagte ich.

»Tatankasa!« rief auch Hci.

»Ich habe einen Plan!« rief ich. »Fliegt, fliegt!« Ich brach die Diskussion mit meinen Freunden ab und wendete den Tarn, indem ich heftig an den Zügeln zog. Das Tier schlug die breiten Flügel und verharrte beinahe reglos in der Luft. Unter dem Sitzgurt zog ich einen Gegenstand hervor, den ich dort zuvor deponiert hatte. Es war die große schwarze Feder, die ich vor Tagen in der Nähe der Tarnfalle erhalten hatte, die Feder, die meinem Freund Hci so große Sorgen bereitete. Nun schwenkte ich sie über dem Kopf; dabei hielt ich sie in der Mitte wie einen Speer oder ein Banner.

Diese Feder, so hoffte ich, würde den Kinyanpi noch mehr Angst einflößen als Hci.

Mit solchen Federn waren sie, die Kinyanpi, hoffentlich allzu vertraut.

Der Glaube an die Medizinwelt, darauf zielte ich ab, würde den Verstand der Kinyanpi ebenso fesseln, wie er anscheinend das Denken so vieler roter Wilder verwirrte, Freunde und Feinde gleichermaßen.

Im Abstand von etwa fünfzig Metern zog der Kinyanpi-Anführer plötzlich seine Tarnzügel an und ließ den Vogel auf der Stelle verharren. Seine Begleiter machten es ihm nach. Er deutete auf mich. Die Männer berieten sich lautstark durch das Rauschen der Flügel.

Ich hielt die Feder empor, beinahe schwenkte ich sie. Die Männer sollten wissen, woran sie waren.

Ich griff nicht nach meinen Waffen. Wozu brauchte ich Waffen, wenn ich über die Medizin Wakanglisapas gebot? Und welche Medizin oder Waffen hatten eine Chance dagegen?

Die Reaktion des Kinyanpi-Anführers schien allerdings mehr überrascht als ängstlich gewesen zu sein. Er benahm sich beinahe, als sei er bei einer Unaufmerksamkeit ertappt worden; dabei hatte ich auf Entsetzen gehofft. Leider sollte es dazu nicht kommen.

Die Vögel, deren Flügel auf und nieder peitschten, die mit beinahe senkrecht stehendem Rücken verhielten, die Männer vorgebeugt unter den Gurten, boten einen prächtigen Anblick.

Ein Umstand freute mich. Jeder Augenblick war kostbar. Cuwignakas und Hcis Vorsprung erhöhte sich immer mehr.

Zu meiner Bestürzung mußte ich sodann beobachten, wie die fünf Tarnreiter ihre Waffen zur Hand nahmen. Offensichtlich wollten sie angreifen.

Es waren mutige Männer.

Außerdem hatte ich mich wohl verrechnet. Wenn die Feder nicht Wakanglisapa gehörte, würden sie annehmen, daß sie nichts zu fürchten hatten. Und wenn es Wakanglisapas war, warum sollten sie nicht versuchen, sie zu erobern, die starke Medizin für sich zu gewinnen?

Die fünf Kämpfer verließen ihre Formation, indem sie zur Seite ausschwärmten und zu kreisen begannen, um Tempo zu gewinnen, und nach kurzer Zeit hatten sie ihre Tiere wieder auf Angriffskurs gebracht.

Zornig steckte ich die Feder unter den Sitzgurt. Sie hatte mir wirklich viel genützt! Hastig spannte ich meinen kleinen Bogen und zog drei Pfeile aus dem Tabukleder-Köcher an meiner linken Hüfte. Einen Pfeil setzte ich auf die Sehne, zwei hielt ich mit der Bogenhand.

In schnellem Flug kamen die Angreifer näher.

Die Formation erinnerte an einen mathematischen Körper – der Frontreiter würde bis auf Lanzenreichweite an mich herankommen. Die anderen vier flogen ein Stück hinter ihm, links und rechts, oberhalb und unterhalb. Egal wie man dem ersten Reiter ausweicht, die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß man zumindest einem dem nachfolgenden Angreifer einen verwertbaren Vorteil verschafft.

Unter Ausnutzung der Geschwindigkeit wollte ich versuchen, möglichst schnell durch die Formation zu stoßen und beim Passieren über die linke Schulter zu schießen.

Ich mußte nur den richtigen Augenblick abwarten, um den Tarn zur Eile anzutreiben. Die Kinyanpi mußten annehmen, daß ich die Position halten wollte.

Der Anführer war nur noch etwa hundert Meter entfernt. Ich sah die Lanze herunterkommen, ich sah, wie die am Schaft befestigten Herlit-Federn flatterten. Bei diesem Bild mußte ich an einen Sleen denken, der beim Angriff die Ohren anlegt.

Noch wenige Meter, dann mußte ich die Tarnzügel bewegen, die Fersen einsetzen und mein Tier mit einem Schrei in Bewegung setzen.

Ich gab dem Tier die Sporen, zog dann aber die Zügel wieder an. Der Tarn, beim Anfliegen gehindert, bäumte sich kreischend auf. Ich wurde zurückgeworfen, vermochte mich aber festzuhalten.

Wenige Meter entfernt hatte der erste Angreifer seinen Tarn energisch aus der Bahn gezogen. Ich sah, wie das Tier emporstürmte, nach rechts abbog und zurückflog. Dabei schaute mich der Mann nicht einmal an. Sein Blick schien auf etwas gerichtet zu sein, das sich hinter mir befand. Sein Gesicht schien vor Entsetzen verzerrt zu sein. Er schwang den Tarn herum und begann zu fliehen. Beinahe gleichzeitig reagierten seine Begleiter, gaben die Formation auf, strebten auf allen Seiten von mir wie ein Stern auseinander und wendeten ihre Tarns, als wäre ich nicht mehr interessant für sie.

Ich drehte mich um. Ich sah nichts. Hinter mir erstreckten sich die Wolken, der Himmel.

Wie von einer plötzlichen Kälte ergriffen, erschauderte ich und drehte meinen Tarn.

Für den Fall, daß ich weiter verfolgt wurde, schlug ich einen Kurs ein, der mich von Zwei Federn fortführte. Später wollte ich auf Umwegen zu meinen Kameraden zurückkehren.

Der Himmel schien leer zu sein. Die morgendliche Luft war frisch und kühl.

»Und so geschah es«, erzählte ich Cuwignaka und Hci. »Im letzten Moment drehten sie plötzlich ab und flohen.«

»Sie haben hinter dir etwas gesehen«, sagte Hci.

»Was denn?« wollte Cuwignaka wissen.

»Keine Ahnung«, sagte ich.

»Da kommt nur eins in Frage«, sagte Hci.

»Was denn?«

»Wakanglisapa.«

»Ich habe nichts gesehen«, sagte ich.

»Die Wesen aus der Medizinwelt zeigen sich den Menschen, wie es ihnen gefällt – oder eben nicht.«

»Wakanglisapa existiert nicht«, behauptete ich.

»Es ist aber interessant, daß du die Feder hattest und nicht angegriffen wurdest«, sagte Hci. »Vielleicht wurdest du durch die Medizin der Feder beschützt.«

»Ich bin sicher, es gibt da eine ganz logische Erklärung«, beharrte ich auf meinem Standpunkt.

»Was tun wir jetzt?« fragte Cuwignaka.

»Wir setzen unsere Pläne in die Tat um«, antwortete ich. »Wir schicken Tarnreiter zu den Stämmen der Staubfüße, Flieger und Sleen.«

»Die Flieger machen bestimmt nicht mit«, meinte Hci. »Sie sind Erzfeinde der Kaiila.«

»Und von den Sleen können wir auch nicht viel erwarten«, meinte Cuwignaka.

»Die Reiter werden losgeschickt«, sagte ich.

»Schön«, sagte Cuwignaka.

»In den nächsten Wochen müssen wir Tarnflieger ausbilden«, sagte ich.

»Die werden einen Blotanhunka brauchen«, meinte Cuwignaka.

»Canka«, sagte Hci sofort.

»Wenn man deinen Tarn mitrechnet, Hci«, sagte ich, »nicht aber meinen Tarn oder Cuwignakas Tier, dann haben wir sechzehn Tarns. Wir bilden daraus zwei Gruppen, jede mit einem Anführer und sieben Kämpfern. Der Blotanhunka einer Gruppe wird Canka sein. Der Blotanhunka der anderen Hci.«

»Hci?« fragte Hci.

»Ja.«

»Vielleicht solltest du besser Cuwignaka bestimmen«, sagte Hci.

»Du bist ein viel größerer Krieger als ich, Hci«, sagte Cuwignaka.

»Du würdest mir den Posten eines Blotanhunka anvertrauen?« fragte Hci.

»Ja«, erwiderte ich. »Und damit wären sicher alle Männer einverstanden.«

»In dir fließt das Blut Mahpiyasapas«, sagte Cuwignaka. »Du bist ein großer Krieger. Du bist der geborene Anführer.«

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte Hci.

»Wieviel Zeit haben wir?« wollte Cuwignaka wissen.

»Der Kaiila-Stamm hat wenig Fleisch«, sagte ich. »Der Winter kommt.«

»Die Reiter müssen ihre Flüge absolvieren«, sagte Cuwignaka. »Die Männer müssen ausgebildet werden.«

»Mir geht es darum, spätestens Ende Canwapegiwi fertig zu sein«, sagte ich, »am Ende des Mondes, in dem die Blätter braun werden.«

»Das ist ja sehr bald«, sagte Cuwignaka.

»Es muß gejagt werden«, sagte ich. »Man muß sich auf den Winter vorbereiten.«

»Da bleibt wirklich nicht viel Zeit«, sagte Cuwignaka.

»Ich hoffe nur, daß es nicht zu spät ist«, sagte ich.

38

»Du mußt dich mehr anstrengen, die Gelbmessersprache zu lernen«, sagte Iwoso im Kaiiladialekt zu Bloketu.

»Es fällt mir schwer«, sagte Bloketu. Die beiden Mädchen knieten am Boden; Bloketu kämmte ihrer Herrin das Haar. Beide hielten sich in einem Zelt auf. Wir vermochten sie durch die winzige Öffnung zu beobachten, die wir mit der Messerspitze in die Außenhaut des Zeltes gebohrt hatten.

»Ich habe die Kaiilasprache sehr schnell gelernt«, sagte Iwoso.

»Du wurdest auch schon als Kind gefangen«, antwortete Bloketu. »Du brauchtest zwei Jahre, ehe du ordentlich sprechen konntest.«

»Willst du unverschämt werden, Zofe?« fragte Iwoso.

»Nein, Herrin«, sagte Bloketu hastig.

Um Bloketus rötlichbraunen Hals lag ein perlenbesetztes gelbes Band. Zweifellos gehörte es Iwoso. Sie trug außerdem ein schlichtes Gewand, das einen starken Gegensatz bildete zu dem auserlesenen, weichen, beinahe weißen Tabukleder-Kleid ihrer Herrin.

»Ein schönes Gefühl, dich zu besitzen«, sagte Iwoso.

»Ja, Herrin.«

»Auch wenn du völlig wertlos bist.«

»Ich war die Tochter eines Häuptlings!«

»Selbst Töchter von Kaiilahäuptlingen taugen zu nichts anderem, als Sklaven und Zofen von Gelbmessern zu sein«, sagte Iwoso.

»Ja, Herrin«, bestätigte Bloketu schluchzend.

»Du gehörst mir, ich tue mit dir, was mir gefällt.«

»Ja, Herrin.«

»Dein Vater war ein Verräter«, fuhr Iwoso fort, »und du hast dich ebenfalls verräterisch verhalten. Manchmal sage ich mir, daß es das beste wäre, dich den Überlebenden deines Volkes auszuliefern, damit sie über dich urteilen. Sicher wissen sie, wie sie mit Verrätern umgehen müssen.«

»Bitte nicht!« flehte Bloketu.

»Möchtest du lieber meine Zofe bleiben?« fragte Iwoso amüsiert.

»Ja, Herrin!«

Mit einem langen, schnellen Messerschnitt öffnete ich die Lederwand des Zeltes. Ehe die Mädchen reagieren konnten, waren Cuwignaka und Hci in das Innere gestürmt, packten die Mädchen und drückten sie zu Boden. Dabei hielten sie ihnen den Mund zu.

Ich folgte meinen Freunden in das Zelt und reichte beiden zusammengerollte Kugeln aus Fell und Leder, mit denen die Mädchen geknebelt wurden, ehe wir sie gründlich fesselten.

Dann zog ich zwei lange, speziell vorbereitete Ledersäcke in das Zelt. Iwoso schüttelte heftig den Kopf.

Mit den Füßen voran wurden die Mädchen in die langen, engen, festen Säcke gesteckt, in denen sie sich nur wenig bewegen konnten. Der Sack verfügte über starke Laschen und zwei Griffe, die sich über dem Kopf der Gefangenen zusammenbinden ließen.

Iwoso stieß dumpfe Laute aus, die ihren Zorn verrieten.

»Willst du uns etwa sagen, daß wir damit auf keinen Fall durchkommen?« fragte Hci.

Iwoso nickte lebhaft, und Hci lächelte.

»Du machst dich hübsch in deinem Sklavensack«, sagte er.

Bloketu stieß leise Wimmerlaute aus und versuchte damit Cuwignakas Aufmerksamkeit zu erregen.

Endlich schaute er sie an. »Sei still, Sklavin und Verräterin!« sagte er heftig.

Stöhnend neigte sie den Kopf zurück. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hatte an die Zuneigung appellieren wollen, die er ihr einmal entgegengebracht hatte.

»Geht auf eure Posten!« sagte ich zu Cuwignaka und Hci. »Laßt mir die Kaiila draußen. Wir treffen uns an der vereinbarten Stelle.«

»Der Stamm der Kaiila wird wiederauferstehen«, sagte Hci.

»Unsere Pläne machen Fortschritte«, sagte Cuwignaka.

»Ja«, sagte ich. »Die Ratsversammlung aller Banden der Kaiila, der Isbu, der Casmu, der Isanna, der Napoktan und der Wismahi, aller Überreste des Kaiila-Volks, wird Ende Canwapegiwi am Ratsfelsen stattfinden.«

Cuwignaka, Hci und ich gaben uns die Hände. Dann verschwanden meine Freunde durch den Schnitt in der Zeltwand.

Ich betrachtete die beiden hübschen Gefangenen, die in ihren Säcken hilflos waren, und begann das Feuer zu schüren. Ich mußte ein Weilchen warten.

Nach einiger Zeit stand ich auf.

Die Mädchen blickten mich angstvoll an, als ich mich neben ihnen niederhockte, ein Lederseil durch die Griffschlaufen über ihren Köpfen zog und beide Säcke auf diese Weise miteinander verband.

Iwoso bewegte heftig den Kopf hin und her und stieß energische Laute aus.

»Du möchtest etwas sagen, nicht wahr, Lady Iwoso?« fragte ich.

Sie nickte nachdrücklich.

»Würdest du mir versprechen, still zu sein«, fragte ich, »wenn ich dir den Knebel abnehme?«

Sie nickte.

»Könnte ich mich in dieser Situation auf dein Wort verlassen?« wollte ich wissen.

Wieder nickte sie.

Meine Hände näherten sich der Fessel. Dann schien ich es mir zu überlegen. »Ich wage den Knebel doch nicht herauszunehmen«, sagte ich. »Du bist eine sehr intelligente und schlaue Frau. Du würdest mich sicher hereinlegen.«

Beruhigend schüttelte sie den Kopf.

Ich betrachtete sie nachdenklich. »Unbequem, nicht wahr?« fragte ich.

Wimmernd nickte sie.

»Die roten Wilden behandeln ihre Frauen manchmal zu streng, nicht wahr?«

Iwoso signalisierte mir Zustimmung.

»Na, vielleicht schadet es doch nichts, wenn ich dir den Knebel ein wenig lockere.«

Iwoso wimmerte dankbar.

Ich löste den Knoten hinter Iwosos Hals, steckte ihr den Finger in den Mund und lockerte den Knebelballen. Als bekäme ich plötzlich Angst, zu großzügig gewesen zu sein, machte ich die Knebelschnur wieder zu, aber nicht mehr so fest wie vorher; außerdem sicherte ich sie mit einem einfachen Knoten, der keiner langen Beanspruchung standhalten konnte.

»Ist es besser so?« fragte ich die Gefangene.

Sie wimmerte mich flehend an, doch ich wandte mich ab und lächelte innerlich. Glaubte sie wirklich, daß eine Frau wie sie, eine wohlgeformte Sklavin, Rücksichtnahme verdiente?

Ich ergriff das Seil, das auf dem Boden lag, verließ das Zelt durch die Rückseite und machte das Leder am Sattelknauf der Kaiila fest, die dort auf mich wartete. Dann kehrte ich ins Zelt zurück, legte eine tarnende Robe an, stieg auf und ritt ohne Eile an. Die beiden Säcke wurden hinter meiner Kaiila aus der Schnittöffnung des Zeltes gezogen.

Ich hörte Iwoso leise verzweifelte Laute ausstoßen. In diesem Moment begann sie wirkliche Angst zu empfinden. Vermutlich machte sie sich zum erstenmal klar, daß wir sie vielleicht tatsächlich aus dem Gelbmesserlager entführen konnten – mit allen Konsequenzen, die das für sie haben würde.

Doch noch hatte ich keine Eile.

Im Schritt lenkte ich meine Kaiila auf den breiten leeren Weg zwischen den Gelbmesser-Zelten. Ich spürte die Spannung in den Seilen, die links und rechts von der Kaiila zu den schleifenden Säcken führten.

Einmal schaute ich zurück. Iwoso wand sich in ihrem engen Behältnis heftig hin und her. Glaubte die sicher gefesselte kleine Dirne wirklich, sie könne freikommen? War ihr nicht klar, daß sie von einem Kaiila-Krieger gefesselt worden war, von Hci? Aber es gab eine einfache Methode, dem Gezappel ein Ende zu machen: Ich erhöhte das Tempo der Kaiila.

Am Ende der Promenade wendete ich mein Tier und galoppierte mitten auf dem breiten Weg durch das Lager. Am anderen Ende machte ich ebenfalls kehrt – in weitem Bogen, um die Seile nicht durcheinanderzubringen.

Inzwischen mußte Iwoso genug Zeit gehabt haben, ihren Knebel zu lockern und auszuspucken.

Hoffentlich hatte ich ihn nicht zu fest gelassen.

Im Galopp schaute ich zurück. Die Säcke und Seile waren staubbedeckt. Plötzlich gab es hinter mir lautes Geschrei, eine schrille Stimme äußerte Worte, vermutlich in der Gelbmessersprache.

Ich verhielt meine Kaiila. Iwoso hatte wirklich lange genug gebraucht, sich von dem Knebel zu befreien.

Sie hatte sich in ihrem Sack aufgerichtet und beugte sich schreiend vor. Ihre Stimme mußte das Lager wecken.

Um mir eine günstige Ausgangsposition am Ende der breiten Passage zu schaffen, setzte ich meine Kaiila wieder in Bewegung; das sich straffende Seil zerrte Iwoso wieder in eine liegende Stellung. Unentwegt kreischte sie. Ich hielt es für angebracht, die Kaiila zu schneller Gangart anzutreiben, schon um sie davon zu überzeugen, daß ich besorgt sei. Hier und dort kamen Gelbmesser-Krieger aus ihren Zelten.

Am Ende des breiten Weges ließ ich die Kaiila erneut halten. Von hier vermochte ich in die Nacht zu entkommen.

»Bitte sei still, Lady Iwoso!« rief ich nach hinten.

Sie verhielt es wie erwartet für angebracht, meine Empfehlung zu mißachten, so wohlmeinend sie auch gewesen war.

Etliche Männer liefen auf uns zu. Mehr Sorgen machten mir jene, die ich nicht sehen konnte, die vielleicht schon hinter ihren Zelten auf Kaiilarücken sprangen.

Andere Männer und Frauen verharrten in der Nähe ihrer Zelte, als versuchten sie zu ergründen, was geschehen sei. Ich ließ Iwoso noch einige Augenblicke schreien; zu meiner Freude schien sie nicht nur Hilfe herbeirufen zu wollen, sondern längere Ausführungen zu machen. Offensichtlich wollte sie den Gelbmessern etwas Wichtiges mitteilen. Ich beherrschte die Gelbmessersprache nicht, glaubte aber ziemlich sicher zu wissen, wie ihre Botschaft aussah. Es war eine Nachricht, die sie unbedingt loswerden wollte, denn damit hoffte sie das Fundament für ihre spätere Befreiung zu legen.

»Jetzt reicht’s, Lady Iwoso«, sagte ich auf Kaiila zu ihr und warf mit einer vielleicht etwas übertriebenen Geste die Robe zur Seite, die ich getragen hatte. Ich hatte Glück – sie landete auf einem Gelbmesser, der mich von der Seite angreifen wollte, und ließ ihn zu Boden gehen. Ich preßte meiner Kaiila die Hacken in die Flanken und ließ sie losgaloppieren. Ein Gelbmesserkrieger stürzte sich auf Iwosos Sack, erreichte sein Ziel aber nicht mehr und fiel in den Staub. Einige Meter entfernt verhielt ich mein Tier erneut. Im Lager herrschte ein lautes Durcheinander. Ich hörte Wutgeschrei. Männer liefen hin und her. Nun ritt ich weiter in die Nacht. Ich hatte keine Zeit mehr. Ich mußte zwei Frauen abliefern, die eine an Cuwignaka, die andere an Hci.

Mein Ziel war ein erhöhter flacher Stein. Die Übergabe hatten wir mehrmals mit Mira geübt. Normalerweise hätte ich keine Chance gehabt, Gelbmesser-Kaiilas davonzugaloppieren, auf keinen Fall mit einem so geringen Vorsprung und so schweren Lasten.

Ich vernahm Geschrei hinter mir. Die Verfolger waren näher, als mir lieb sein konnte.

Wenige Ehn später erreichte ich den Felsen und trieb die Kaiila den Hang hinauf. Ihre Hufe rutschten, aber dann fand sie Halt und erreichte die Gipfelplattform, die etwa vierzig Fuß höher lag als die umgebende Prärie.

Drei volle Monde standen am Himmel.

Ich stieg ab und zerrte die beiden Sklavensäcke zu mir hoch. Ich löste das lange Seil vom Sattelknopf und zerschnitt es in der Mitte. Einen Teil zog ich durch die Schlaufe von Bloketus Sack, band die Enden zusammen und zog die Schlinge als zwei parallele Doppelschlaufen aufwärts. Die gleiche Vorbereitung traf ich bei Iwosos Sack.

Die führenden Gelbmesserreiter hatten angehalten. Sie schienen unsicher zu sein, wohin ich geritten war. Vielleicht hatten sie eine fremde Spur gekreuzt. Andere Reiter, die aus dem Dorf nachrückten, schlossen sich der Gruppe an.

Ich suchte den Himmel ab. Von Cuwignaka oder Hci war noch nichts zu sehen.

Ich schaute auf Iwoso hinab, die hilflos vor mir lag.

»Dir scheint der Knebel zu fehlen«, sagte ich.

Sie blieb still. Hatte sie mich nicht dazu verleitet, ihr den Knebel zu lockern, und sich damit die Gelegenheit verschafft, das Lager zu alarmieren? Kein Wunder, daß sie stumm blieb, wußte sie doch, daß sie hier und jetzt gegen meinen Zorn nichts ausrichten konnte.

Die Reiter setzten ihren Weg fort und schrien plötzlich auf. Sie hatten den näherkommenden Tarn beinahe im gleichen Moment entdeckt wie ich.

Cuwignaka kam als erster. Vom Sitzgurt seines Reittiers baumelte ein großer Holzhaken.

»Du kannst die Verfolger schon hören«, sagte Iwoso in diesem Augenblick. »Bald sind sie hier. Laß mich frei. Du kannst nicht fliehen.«

Ich hob Bloketu hoch und hielt die Doppelschlaufe mit der rechten Hand bereit.

»Was tust du?« fragte Iwoso.

Ich antwortete nicht und behielt den näherkommenden Tarn im Auge.

»Laß mich frei!« forderte Iwoso. »Du kommst hier niemals weg!«

Urplötzlich schien sich Cuwignakas Tarn auf uns zu stürzen. Er kam mit großem Tempo herbei. Der Holzhaken war nur noch vier oder fünf Fuß von der Felsfläche entfernt. Erstaunt schrie Iwoso auf. Ich warf die Doppelschleife über den Haken. Bloketu wurde fortgerissen und in die Luft geschwenkt.

»Nein, nein!« kreischte Iwoso.

Ich zerrte sie hoch. Mit entsetzt geweiteten Augen starrte sie mich an. Im nächsten Moment hatte ich die Schlaufe ihres Sklavensacks über den Haken an Hcis Tarn geschoben, und ihr Schrei verhallte in der Ferne, so schnell wurde sie fortgezerrt.

Verblüfft starrten die Gelbmesser in den Himmel. Ich hoffte, daß Canka ebenfalls bald auftauchen würde.

Einer der Verfolger deutete auf mich. Ich befand mich noch auf dem hohen Felsen. Zwei oder drei Krieger trieben ihre Tiere an.

Ich machte kehrt. Cankas Kampfvogel fegte herbei, dichtauf gefolgt von meinem Tarn, den er an einem Zügel mitführte. Ich hörte Tarnkrallen über das Gestein scharren, streckte die Hände aus und schob meine Arme in das Netzgeflecht, das am Sitzgurt befestigt war. Der dicht über die Felsfläche dahinhuschende Tarn riß mich von den Füßen und hob mich mit wirbelnden Flügeln in die Luft. Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, kletterte ich am Netz auf den Rücken des Tarn und nahm dort meinen Platz ein. Canka stieß einen Glückwunsch-Schrei aus und schleuderte mir den Zügel zu; ich rollte ihn ein und steckte ihn unter den Sitzgurt. Cuwignaka und Hci waren schon weit vorausgeflogen. Ich beschrieb einen großen Kreis und schaute zurück. Etliche Gelbmesserkrieger hatten inzwischen das kleine Felsplateau erreicht.

Ich zog den Tarn herum, um meinen Freunden zu folgen.

Gewiß, wir hatten eine Kaiila geopfert, aber das war sicher ein geringer Preis für Iwoso.

Ich schaute in den herrlichen Himmel mit seinen Monden und Wolken und stimmte ein Kriegerlied aus Ko-ro-ba an.

Als ich mich nach einiger Zeit umschaute, gewahrte ich einen anderen Umriß am Himmel. Er befand sich zwei- oder dreihundert Meter entfernt, schräg rechts hinter mir. Es war ein großer schwarzer Tarn. Ich zog meinen Reitvogel herum, um dem Tier entgegenzufliegen. Wir umkreisten einander. Dann ließ ich meinen Tarn auf der Prärie landen. Der andere Tarn setzte in der Nähe auf.

»Sei gegrüßt, alter Freund!« sagte ich. »Wir haben uns lange nicht gesehen.«

39

»Oh!« seufzte Iwoso zusammenfahrend, als ich die Knoten enger zog und sie unlösbar mit dem dicken Pfosten verband. »Ich bin eine freie Frau!« protestierte sie. »Es gehört sich nicht, daß ich an einen Pfahl angebunden bin!«

»Hci hat es so entschieden«, sagte ich.

»Hci?« rief sie. »Mit welchem Recht hat er diesen Befehl gegeben?«

»Er hat dich gefangen.«

»Oh!« rief sie erschrocken.

Es gab insgesamt zwei Pfosten, die tief in einen Riß des Ratsfelsens gekeilt worden waren, dicht am Abgrund. Von den Pfählen vermochte man pasangweit über die Prärie zu schauen, die sich einige hundert Fuß tiefer erstreckte; der Blick schweifte vor allem nach Westen. Da sich die Pfosten dicht am Hang befanden, ermöglichten sie zugleich einen guten Ausblick auf den Hauptweg, der sich steil und schmal zum Gipfel emporwand.

Bloketu, ebenfalls nackt, stand bereits gefesselt am zweiten Pfahl.

Die Mädchen hatten nicht nur das gesamte Panorama vor sich, sondern konnten auch von unten vom Weg gut gesehen werden.

»Welchem Umstand verdanken wir dieses außerordentliche Privileg?« fragte Iwoso leichthin. »Dies ist doch mal etwas anderes als die abgestandene Luft in unserem Gefängniszelt.«

»Heute«, sagte ich, »soll über euch geurteilt werden.«

Bloketu wand sich wimmernd in den Fesseln, und auch Iwoso war unbehaglich zumute.

»Krieger, bring mir eine Kaiila!« flüsterte sie. »Hilf mir fliehen! Ich verschaffe dir großen Reichtum bei den Gelbmessern!«

Sie hatte mich ›Krieger‹ genannt, obwohl ich noch Cankas Kragen trug, obwohl ich noch Sklave war. Ich musterte das Mädchen abschätzend. »Tut mir leid«, sagte ich schließlich, »aber meine Sympathien liegen auf Seiten der Kaiila.«

Zornig blickte sie mich an. »Ungeheuer!« fauchte sie. »Sleen!«

Ich wandte mich ab.

»Oh, Krieger, Krieger!« rief sie verzweifelt.

»Ja?«

»Wie läuft die Ratsversammlung?« wollte sie wissen.

»Welche Ratsversammlung?« fragte ich.

»Na, die große Versammlung der Kaiila, aller Überreste der Kaiila-Banden – der Isbu, Casmu, Isanna, Napoktan und Wismahi.«

»Der Rat?«

»Der hier und jetzt zusammengetreten ist!«

»Woher wußtest du davon?« fragte ich.

»Du sprachst im Lager der Gelbmesser davon, in meinem Zelt.«

»Oh!«

»Und glaubst du, ich hätte nicht all die Zelte gesehen, während ich vorhin zum Pfahl gebracht wurde?«

»Vermutlich macht es nichts mehr, daß du Bescheid weißt, da du gefangen bist«, sagte ich. »Natürlich wäre es nicht ratsam, wenn die Ungeheuer davon erführen oder die weißhäutigen Söldner oder die Gelbmesser oder Kinyanpi.«

»Nein«, sagte sie, »denn sie könnten euch hier umzingeln und auf dem Ratsfelsen belagern.«

»Nur gut«, sagte ich, »daß unsere Versammlung ein wohlgehütetes Geheimnis ist, von dem unsere Feinde keine Ahnung haben.«

»Ja«, sagte sie, »sonst könnte hier die Arbeit, die am Sommerlager begonnen wurde, mühelos beendet werden: mit der totalen Vernichtung des Kaiila-Stammes.«

»Zum Glück können unsere Feinde nicht wissen, wo wir sind.«

»Wir trugen tagelang unsere Sklavenhauben«, sagte Iwoso, »und wissen nicht, wieviel Zeit vergangen ist. Könntest du einer armen freien Frau nicht sagen, welchen Tag wir heute haben, hübscher Krieger?«

»Sicher kann es nichts schaden«, antwortete ich. »Wir haben heute den letzten Tag des Canwapegiwi.«

»Ah!« rief sie erfreut.

Ich lächelte vor mich hin. Hatte sie die Staubfahne noch nicht bemerkt? Seit gut einer Viertel-Ahn war sie im Westen auszumachen. Unsere Kundschafter beobachteten die weißhäutigen Soldaten und die Gelbmesser seit vier Tagen, seit sie den Nördlichen Kaiila überquert hatten.

»Du scheinst dich zu freuen«, sagte ich.

»Ach, nichts«, sagte sie.

Glaubte sie wirklich, sie wäre rein zufällig an diesem Morgen an den Pfahl gebunden worden, am letzten Tag des Canwapegiwi?

Unauffällig begann Iwoso nun das unter uns liegende Terrain zu mustern.

»Suchst du etwas?« fragte ich.

»Nein«, antwortete sie hastig und richtete den Blick auf mich.

Ich wandte mich von ihr ab und begann ein Seil aufzurollen. Dabei trat ich langsam hinter Iwoso und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Wie erwartet blickte sie forschend über die Ebene.

Plötzlich bemerkte ich eine Bewegung ihres Körpers. Ich war sicher, daß sie den Staub gesehen hatte.

»Bist du sicher, daß es da unten nichts zu sehen gibt?« fragte ich und trat hinter sie.

»Nein!« rief sie. »Nein!«

»Ich weiß nicht recht«, sagte ich nachdenklich und schaute über die Prärie.

»Bin ich nicht hübsch, Krieger?« fragte sie.

Ich drehte mich zu ihr um. Unter meinem Blick erschauderte sie.

»Ja«, sagte ich und tat, als wollte ich mich wieder der Prärie zuwenden, auf der die Staubwolke schnell größer wurde.

»Schau mich an, hübscher Krieger!« flehte sie. »Du weißt, du kannst mit mir tun, was du willst. Schau mich an!«

»Warum?«

»Weißt du das nicht?« fragte sie lächelnd und drängte ihren Körper in meine Richtung. »Ich bin eine Frau. Ich möchte berührt und geliebt werden.«

»Oh?« sagte ich. »Du redest wie eine Sklavin.«

»Ja, vielleicht begreife ich in diesem Moment etwas von dem, was es bedeutet, eine hilflose Frau zu sein, die ihren Herrn anfleht, ihr Freuden zu bereiten.«

»Verstehe ich das richtig, daß du mir am Pfahl dienen willst – als Sklavin?«

»Ja«, schnurrte sie, schloß die Augen und schürzte die Lippen.

»Gelbmesser!« ertönte plötzlich ein Schrei. »Gelbmesser!« wurde gebrüllt. Männer liefen durcheinander. Jeder kannte seine Position und Aufgaben genau. In den letzten Tagen hatten wir diese Abläufe oft geübt.

Wir schauten über die Prärie nach Westen. Kaum einen Pasang entfernt, ganz offen reitend, galoppierten Gelbmesser mit flatternden Federn auf den Ratsfelsen zu, eine riesige Staubwolke aufwirbelnd.

»Ihr seid überrascht!« rief Iwoso begeistert. »Jetzt werdet ihr alle sterben! Ihr seid verloren! Für euch gibt es keine Flucht mehr! Ihr sitzt auf dem Ratsfelsen in der Falle!«

»Es läuft wie geplant«, sagte Hci, der mit Cuwignaka herbeigeeilt war.

»Ja«, antwortete Cuwignaka.

»Ihr könnt nicht mehr fliehen!« rief Iwoso freudig. »Nun ist es aus mit euch, ihr Kaiila-Sleen!«

Unter uns vermochte ich nur Gelbmesser zu erkennen, war aber davon überzeugt, daß Alfred, der Söldnerhauptmann aus Port Olni, mit den Resten seiner Truppe, die ich auf etwa dreihundert Kavalleristen schätzte, nicht weit sein konnte. Zweifellos wollte er die Gelbmesser den ersten Angriff reiten lassen, um den stärksten Widerstand zu brechen; auf diese Weise schonte er seine eigenen Männer. Die Gelbmesser hatten sicher nichts gegen diesen Plan; ihnen ging es darum, die Kaiila auszulöschen.

»Bald werden sie unten am Weg stehen!« rief Iwoso. »Dann ist euch der Fluchtweg abgeschnitten!«

Mahpiyasapa, der Zivilhäuptling der Kaiila, eilte an uns vorüber. Ihm folgte der berühmte Kahintokapa, Anführer der Gelben Kaiila-Reiter von den Casmu.

»Wißt ihr nicht, wie man euch gefunden hat?« rief Iwoso und weinte beinahe vor Freude. »Das ist mein Werk! Ich habe es ihnen gesagt! In meinem Zelt hörte ich, wie dieser törichte Sklave Ort und Zeit der Ratsversammlung nannte. Ich brachte ihn dazu, meinen Knebel zu lockern, und ehe er mich aus dem Lager schaffen konnte, befreite ich mich davon und informierte mein Volk von eurem Vorhaben!«

»Es geschah mit Absicht, daß Tatankasa in deinem Zelt von der Versammlung sprach«, sagte Hci.

»Außerdem«, fiel Cuwignaka ein, »entsprach es unserem Plan, dir den Knebel zu lockern.«

»Damit du deinem Volk zubrüllen konntest, was du von unseren Plänen wußtest!« rief Hci.

»Noch eben habe ich euch erneut hereingelegt«, sagte sie, »indem ich diesen Sklaven davon abhielt, den Staub der anrückenden Krieger zu erkennen!«

»Der Staub«, sagte ich, »war schon sichtbar, als er dir noch gar nicht aufgefallen war, lange bevor dir dein raffiniertes Ablenkungsmanöver einfiel.«

»Und du ließest mich trotzdem gewähren?«

»Es war hübsch zu sehen, wie du sexuelle Bedürfnisse vortäuschtest«, sagte ich.

»Die Gelbmesser stürmen zielstrebig heran«, sagte Cuwignaka. »Zweifellos hatten sie Angst, es könnte jemand entkommen.«

»Sie sind schon am Fuße des Weges!« rief Iwoso schluchzend. »Ihr könnt nicht mehr entkommen! Ihr seid verloren!«

Und wirklich – die Gelbmesser ritten am Fuß des Weges, der zum Gipfel des Ratsfelsens emporführte, wild durcheinander. Dieser Weg ist zwischen fünf bis zehn Fuß breit. Einige Krieger trieben ihre Reittiere bereits den Pfad herauf, zweifellos in dem Bemühen, als erste Coups zu sammeln. Andere wendeten ihre Kaiila hierhin und dorthin und kämpften gestikulierend um eine Position auf der schmalen Schräge.

»Ich habe sie hergerufen!« jubilierte Iwoso.

Ich hielt es nicht für klug von den Gelbmessern, ihre Kaiila in solchen Zahlen auf einen so engen Weg zu schicken. Gewiß, sie waren kampflustig, und manchmal ist es schwer, einen roten Wilden von seiner Kaiila zu trennen. Trotzdem wäre in dieser Lage ein Angriff zu Fuß besser gewesen – aber die Gelbmesser würden noch eine Weile brauchen, um dieses taktische Gebot einzusehen. Den Hangweg hatten wir jedenfalls hier und dort sehr verengt, um unseren Gegnern den Aufstieg zu erschweren.

»Es ist aus mit euch, Kaiila-Sleen!« rief Iwoso. »Ihr werdet alle umkommen – mit Frauen und Kindern!«

»In diesem Lager gibt es keine einzige Frau und kein einziges Kind«, sagte Hci.

»Wie? Und was ist mit all den Zelten?«

»Die sind meistens leer«, antwortete Hci. »Unsere Frauen und Kinder befinden sich an einem anderen Ort in Sicherheit.«

»Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst.«

»Dies ist ein Kriegerlager.«

»Aber die Ratsversammlung?«

»Die hat es nie gegeben«, sagte Hci.

»Aber was macht ihr dann hier?« fragte Iwoso.

»Wir warten auf die Gelbmesser.«

»Wir beobachten sie schon seit vier Tagen«, warf Cuwignaka ein.

»Du hast deine Rolle gut gespielt, deinen Anteil an unseren Plänen«, rief Hci.

»Ich verstehe das nicht!«

»Wir haben dich gelenkt, getäuscht, hereingelegt«, sagte Cuwignaka.

»Ohne es zu ahnen, bist du so gehorsam wie eine Sklavin gewesen«, sagte Hci.

»Nein!« rief Iwoso und wand sich in den Fesseln.

»Hast du die Gelbmesser nicht hergeholt?« fragte Hci.

»Ja!«

»Du hast sie in eine Falle gelockt!«

»Nein!«

Zweihundert Meter unter uns ertönte der Schrei einer Kaiila. Zwei Tiere glitten strampelnd über den Wegrand in den Abgrund; übereinander wirbelnd stürzten sie in die Tiefe.

»Ich glaube euch nicht!« rief Iwoso. »Es kann nicht sein!«

»Warum hätten wir dich wohl hier so gut sichtbar angebunden? Damit du selbst sehen kannst, was du angerichtet hast!«

»Nein!« rief Iwoso.

»Außerdem hoffen wir, daß die Gelbmesser, wenn sie dich als hohe Frau ihres Stammes hier angebunden sehen, in wilden Zorn geraten.«

Eine weitere Kaiila wieherte und stürzte tief unter uns ab.

Vier oder fünf Gelbmesser galoppierten nun nebeneinander her auf dem Weg, der etwa hundert Fuß rechts von uns endete.

Doch ehe diese Vorhut den eigentlichen Gipfel erreichte, wurde ein Gebilde aus Balken und angespitzten Hölzern in seine Position geschoben. Die zwischen den Balken verankerten Spitzen waren wie riesige Holzsterne zusammengebunden. Wiehernde Kaiila, die nicht mehr rechtzeitig anhalten konnten, spießten sich hilflos auf. Auf den Spitzen festsitzend, von hinten weiter bedrängt, füllten sie die Luft mit Schreckenslauten, bäumten sich auf, warfen ihre Reiter ab und bissen auf Artgenossen ein. Weitere Kaiila stürmten von hinten heran, prallten auf die festsitzende, blutige Masse. Reiter rutschten kreischend zwischen Tieren zu Boden. Weitere Kaiila drängten nach. Dutzende von Tieren und Reitern wurden vom Weg geschoben und stürzten den steilen Hang des Ratsfelsens hinab.

Ich sah einen der Kriegshäuptlinge der Gelbmesser, den ich aus dem Sommerlager kannte, mitsamt seiner Kaiila in die Tiefe stürzen. Immer neue Gelbmesser, die keine Ahnung hatten, was über ihnen passierte, versuchten auf dem schmalen Pfad nach oben durchzubrechen. Kämpfer versuchten vom gefährlichen Abgrund fortzukommen und stachen dabei sogar auf Stammesgenossen ein.

Das Geschrei von Menschen und Tieren zerriß die Luft. Lanzen zerbrachen an der Felswand und der Barrikade. Männer, die zwischen den in Panik geratenen Tieren hindurchkriechen wollten, wurden zertrampelt. Andere Reiter sahen ein, daß ein Vorankommen unmöglich war, und versuchten zu wenden; mit diesem Manöver drückten sie weitere Aufrückende in die Tiefe. Befehle wurden gebrüllt, und ich sah, wie Kriegsstäbe sich bewegten. Ihre Zeichen waren aber auf dem gewundenen Weg kaum auszumachen. Der ganze Pfad schien nun voller Gelbmesser zu sein: eine ideale Falle, auf einer Seite eine unerklimmbare Felswand, auf der anderen ein tödlicher Abgrund.

»Nein!« schrie Iwoso bei diesem Anblick. »Nein!«

In diesem Augenblick wurden einige Zelte unseres Lagers umgeworfen, und Männer zerrten kleine Transportgestelle hervor, die mit Steinen beladen waren. Andere begannen größere Felsen auf den Rand des Abgrunds zuzurollen.

Bis jetzt hatten wir noch keinen Streich ausgeteilt; gleichwohl schätzte ich die Verluste des Gegners bereits auf gut hundertundfünfzig: Opfer jenes steilen Weges. Nun begann der tödliche Steinhagel; die größeren oder kleineren Geschosse konnten ihre Ziele gar nicht verfehlen. Sie trafen wuchtig auf das Gewirr der Tiere und Menschen hier und dort auf dem Weg. Einige größere Steine taten ihr Werk sogar mehr als einmal; sie fegten Männer oder Kaiila vom Pfad und polterten dann weiter den Hang hinab, um auf einer tiefer liegenden Wegkehre weitere Verwüstung anzurichten.

Die Gelbmesser hoben ihre Schilde, was ihnen aber nicht viel nützte, weil die stürzenden Brocken eine zu große Durchschlagskraft entwickelten. Männer wurden vom Rücken ihrer Kaiila gestoßen. Tiere gerieten völlig in Panik.

Entsetzt beobachtete Iwoso die Szene.

Das verzweifelte Schrillen der Kriegspfeifen vom unteren Teil des Weges hatte endlich die gewünschte Wirkung. Langsam rückten Gruppen von Gelbmessern zurück und ermöglichten es den weiter oben festsitzenden Kampfgenossen, sich langsam zu lösen. Steinsalven und Felsbrocken machten ihnen den Rückzug allerdings schwer.

Die Barrikade am oberen Ende des Weges wurde sogar kurz zur Seite geschoben, um einen ganz besonders großen Felsbrocken hindurchzulassen. Dieser rollte den Weg hinab. Die Nachhut der zurückweichenden Angreifer sah die Masse Gestein unaufhaltsam auf sich zupoltern. Der Felsbrocken fegte etwa zwölf Mann mit in die Tiefe, hüpfte die Felswand hinab und landete mit unglaublicher Wucht inmitten herumwirbelnder Gelbmesser auf der Prärie am Fuße des Berges.

Iwoso blickte Hci von der Seite an.

Die Steine waren in den letzten Tagen gesammelt und auf den Ratsfelsen gebracht worden. Hiervon hatten die Mädchen in ihrem Gefängniszelt natürlich nichts mitbekommen.

»Der Weg wird geräumt«, sagte Cuwignaka. »Meinst du, sie ziehen sich zurück?«

»Nein«, antwortete ich.

»Wo stecken die Soldaten?« wollte Cuwignaka wissen.

»Sie müssen irgendwo sein.«

»Schau«, sagte Hci und deutete nach unten.

Ein einzelner Gelbmesser mit bemaltem Oberkörper und einem Kranz aus Herlitfedern auf dem Kopf lenkte seine Kaiila den Weg herauf.

»Ein mutiger Mann«, sagte Cuwignaka.

Kurze Zeit später ritt der Reiter, seine Medizin singend, unter uns vorbei. Er verzichtete darauf, seinen Schild zu heben.

»Ich erkenne ihn«, sagte Cuwignaka. »Er ist einer der Kriegshäuptlinge, die mit Watonka verhandelt haben.«

»Richtig«, antwortete ich. Drei solcher Häuptlinge waren im Kaiila-Lager gewesen. Einer war beim ersten Angriff gefallen.

Mahpiyasapa gab keinen Schießbefehl. Damit respektierte er nicht nur den Mut des Mannes, sondern gestattete ihm auch, die Lage auszukundschaften. Die Gelbmesser sollten zu einer bestimmten Form des Angriffs ermutigt werden.

Wenige Meter vor der blutigen Barriere zügelte der Mann seine Kaiila.

Dann wendete er sein Tier ohne Eile und verhielt in der Bewegung. Er hatte die Mädchen an ihren Pfählen entdeckt. Während er Bloketu kaum beachtete, verweilte sein Blick eine Weile auf Iwoso. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Langsam, Medizin singend, setzte er dann seinen Abstieg fort.

»Er ist wütend! Ausgezeichnet!« Hci wandte sich an Iwoso. »Sie werden nun besonders heftig kämpfen, um dich zu retten!«

Vergeblich bäumte sich das Mädchen in den Fesseln auf.

»Ich glaube nicht, daß sie noch einmal beritten angreifen werden«, sagte Cuwignaka, und er sollte recht behalten.

Etwa eine Ahn später, zur Mittagszeit, entdeckten wir drei- bis vierhundert Gelbmesser, die langsam zu Fuß den Pfad erklommen.

»Jetzt ist es um euch geschehen«, sagte Iwoso.

Zur Verteidigung verfügten wir nur über etwa zweihundert Mann, alles was wir nach der Schlacht um das Sommerlager an versprengten Bandengruppen hatten finden können.

»Die Gelbmesser sind in der Übermacht!« rief Iwoso begeistert. »Sie werden eure Barriere erstürmen, die Verteidiger niederkämpfen und dann euch töten!«

»Ich glaube nicht, daß einer von ihnen die Barriere erreicht«, sagte Hci zuversichtlich.

»Was meinst du damit? Was tut ihr?« rief Iwoso und versuchte um den Pfahl nach hinten zu schauen, was ihr wegen der Fesselung nicht gelang.

Aus Zelten, die am Rand des Abgrunds standen, wurden weitere Transportgestelle geholt, auf denen riesige Pfeilbündel lagen, Hunderte von Pfeilen in jedem Gebinde. Viele Pfeile waren nicht gut ausgearbeitet, den meisten fehlten sogar Spitzen und Leitfedern. Doch auf kurze Distanz von den starken Bögen der Wilden abgefeuert, konnten sie gleichwohl gefährlich werden. Krieger, Frauen und Kinder hatten viele Tage gebraucht, sie zu fertigen.

»Du mußt nicht nur an die Zahl der Krieger denken, Iwoso«, sagte ich, »sondern auch an die Schußkraft.«

Erstaunt blickte sie auf eines der riesigen Pfeilbündel, das neben ihr abgeladen wurde.

»Manchmal«, fuhr ich fort, »gibt es kaum einen Unterschied zwischen zehn Männern, die jeweils einen Pfeil besitzen, und einem Mann, der zehn Pfeile verschießen kann.«

Hci und Cuwignaka machten ihre Bögen schußbereit.

Auf Mahpiyasapas Kommando sirrten Hunderte von Pfeilen talwärts. Im Nu waren die Schilde der Gelbmesser von Pfeilen gespickt, doch boten die kleinen Flächen kaum Schutz. So mußten die Gelbmesser schnell erkennen, daß sie keinem gewöhnlichen Pfeilhagel ausgesetzt waren, einem Schauer, der schnell vorüberging, sondern etwas Neuem, einer gefährlichen Erfahrung. Einer der Männer verlor prompt die Nerven und ergriff die Flucht, und man ließ auch noch die nächsten beiden fliehen. Dies ermutigte die Gelbmesser, und die ganze Horde machte kehrt; auf dem Weg wimmelte es plötzlich von Männern, die nur noch an Flucht dachten. Sie gaben ausgezeichnete Ziele ab.

»Siehst du die Gelbmesser?« wandte sich Hci an Iwoso. »Sie fliehen wie Urts.«

»Du bist schrecklich!« tobte Iwoso. »Keine Frau könnte dich je lieben. Ich hasse dich! Ich hasse dich!«

»Was werden die Gelbmesser deiner Ansicht nach jetzt tun?« fragte Cuwignaka.

»Ich glaube, sie werden ein Lager aufschlagen und unsere Position überprüfen.«

»Ich wollte lieber sterben, ehe ich deine Sklavin würde!« rief Iwoso schluchzend.

»Dort sind Alfred und seine Offiziere«, sagte ich und deutete mit dem Finger. »Zweifellos erhalten sie soeben einen umfassenden Lagebericht.«

»Siehst du die Ungeheuer?« wollte Cuwignaka wissen.

»Wahrscheinlich halten sie sich mit den Söldnern im Hintergrund«, erwiderte ich. »Schau!« fügte ich hinzu. »Sie gehen auf Patrouille. Das hätte schon längst passieren müssen.«

Alfred, seine Offiziere und mehrere Gelbmesser ritten langsam nach Süden.

»Sie werden unsere Position genau erkunden«, sagte Cuwignaka.

Ich nickte. Kurze Zeit später bogen die Reiter nach Osten ab und begannen unsere Position zu umreiten. Alfred, der ein guter Soldat war, würde sich gründlich orientieren.

»Die Gelbmesser haben große Verluste erlitten«, sagte Hci. »Ich fürchte fast, sie werden sich zurückziehen.«

»Ich nehme es nicht an«, sagte ich. »Inzwischen sind ja die Soldaten zur Stelle. Außerdem dürfen wir ihr Vertrauen in die Ungeheuer nicht vergessen.«

»Ich habe von Anfang an meine Bedenken gehabt«, sagte Hci. »Welchen Wert hat eine Falle, aus der sich der in der Falle Sitzende zurückziehen kann?«

»Ohne fremde Hilfe können wir diese Falle nicht schließen«, sagte Cuwignaka.

»Vielleicht kommen sie ja gar nicht«, sagte Hci.

»Möglich«, meinte Cuwignaka.

»Wovon redet ihr?« fragte Iwoso.

Ich wandte mich zu ihr um. »Wir sind nicht die Falle«, sagte ich, »sondern der Köder.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte sie.

Hci trat vor sie hin. »Wenn sie sich zurückziehen, müßtest du alle Hoffnungen fahren lassen.«

»Und was würde dann mit mir geschehen?« fragte sie.

»Du bist ziemlich hübsch. Würdest du gern meine Sklavin sein?«

»Keine Frau könnte dich lieben! Ich könnte niemals deine Sklavin sein. Eher würde ich sterben!«

Er hob die Hand an die Seite ihres Gesichts.

»Faß mich nicht an!« fauchte sie.

Seine Hand verharrte einen Zoll von ihrer Wange entfernt und berührte sie dann leicht.

Ein Schaudern durchlief sie, eine Reaktion, die ihren ganzen Körper erfaßte, vom Kopf bis zu den Zehen.

»Glaubst du, die Gelbmesser greifen heute noch einmal an?« fragte Cuwignaka später.

»Ich nehme es nicht an.«

Von Zeit zu Zeit blickte ich zu Iwoso hinüber, die anscheinend den Blick nicht mehr von Hci losreißen konnte. Sie war seine Sklavin. Ich fragte mich, ob ihr diese Erkenntnis bereits gekommen war.

»Dort ist der weiße Offizier«, sagte Cuwignaka. »Anscheinend hat er seinen Rundritt beendet.«

Tief unter uns kehrten Alfred und seine Begleiter ins Lager der Gelbmesser zurück.

»Hat er Schwächen in unserer Verteidigungsstellung gefunden?« fragte Cuwignaka.

»Er wird es sich jedenfalls einbilden«, sagte ich. Auch ich hatte mir den Ratsfelsen aus den verschiedensten Perspektiven genau angesehen; so manches, was sich aus der Ferne als leicht einnehmbar ausmachte, war ein nicht zu überwindendes Hindernis.

»Wollen wir hoffen, daß er sich irrt«, sagte Cuwignaka.

»Abgesehen von dem Hauptweg«, sagte ich, »führt keine leichte Route auf den Gipfel des Ratsfelsens.«

»Aber man kann ihn erklettern«, sagte Hci. »Es wäre nicht das erstemal.«

»Ja«, sagte ich, »aber unsere Feinde werden feststellen, daß das schwierig und gefährlich ist.«

40

Ich spürte Cuwignakas Hand an der Schulter und öffnete die Augen.

»Die ersten haben den Gipfel beinahe erreicht«, meldete er.

»Wir lassen einige heraufkommen, um die anderen zu ermutigen«, sagte ich. »Dann schlagen wir zu.«

Ich lief durch die pechschwarze Nacht und nahm meine Position ein.

»Entzündet die Ballen!« brüllte ich schließlich.

Ganz in meiner Nähe schob sich ein Arm über die Felskante. Ein verzerrtes Gesicht erschien. Hci stieß den Mann zurück und ließ ihn in die Tiefe stürzen.

Eine Fackel wurde gebracht. Ihre Flammen ließen die riesigen Zweigbündel auflodern, die wir an der Felskante bereitgestellt hatten. Ihr Licht erhellte die Angreifer, die wie Insekten in den Felswänden hingen. Sie waren unseren Angriffen wehrlos ausgesetzt.

»Ich hörte Geschrei gestern nacht«, sagte Iwoso. »Oh!« rief sie.

Ich zog die Fessel an, die sie an den Pfahl band. Neben ihr war Bloketu bereits festgemacht, wie gestern. Die Morgendämmerung hatte eingesetzt.

»Was tragen die denn da?« fragte Hci und schaute in die Tiefe.

»Sieht aus wie große Schutzschilde«, antwortete ich. »Wahrscheinlich aus Ästen und Leder gefertigt. Solche Gebilde konnten den größten Teil unserer Pfeile ablenken.«

»Einige Soldaten rücken mit vor«, stellte ich fest.

»Ja«, sagte Hci.

»Siehst du irgendeine Spur von den Ungeheuern?« fragte ich.

»Nein.«

»Laß mich frei!« forderte Iwoso. »Eure Position ist unhaltbar, zumal jetzt Söldner mit angreifen. Erbittet das Privileg, euch ergeben zu dürfen. Vielleicht behalten dann einige von euch das Leben.«

»Was hat denn Iwoso heute früh?« fragte Hci.

»Ich glaube nicht, daß sie den Verstand verloren hat«, sagte ich. »Vielmehr habe ich das Gefühl, daß sie gestern gezwungen war, einen Blick in ihr tiefstes Inneres zu werfen und dort Dinge entdeckte, die ihr Angst machen. Jetzt versucht sie dagegen anzukämpfen. Sie ist nicht bereit, diese erstaunlichen, alarmierenden Einsichten zu akzeptieren – heute will sie dafür um so härter erscheinen.«

»Interessant«, sagte Hci und trat vor Iwoso hin.

»Sie kommen den Weg herauf«, meldete Cuwignaka.

Etwa fünfhundert Gelbmesser und ungefähr fünfzig Söldner rückten langsam zum Gipfel vor. Einige hielten die Abschirmung zwischen sich und uns. Andere bewegten sich in diesem Schutz.

»Die Prärie scheint im Westen leer zu sein«, sagte ich.

»Ja«, antwortete Cuwignaka.

»Sie passieren die erste Barrikade«, bemerkte Hci. Es war eine Barrikade, die wir gestern weiter unten am Weg in Position gesenkt hatten, um die Umkehr von Kaiila zu erschweren. Sie wurde nicht verteidigt und bildete für Infanteristen kein unüberwindliches Hindernis.

Unsere etwa zweihundert Mann teilten sich in fünf Gruppen. Zwei dieser Gruppen, jeweils etwa vierzig Mann umfassend, waren in der Nähe der Gipfelbarriere stationiert. Eine dieser Gruppen, befehligt von Mahpiyasapa, hatte Verteidigungsaufgaben übernommen. Angesichts der Enge des Weges konnte diese kleine Truppe einer Übermacht ohne weiteres standhalten. Die zweite Gruppe auf dem Gipfel schien nach außen hin eine Reserve zu sein, um die Barrikade zu verstärken, wo immer es nötig war. In Wirklichkeit aber handelte es sich um eine zweite Angriffsgruppe. Es gab drei andere Gruppen von jeweils vierzig Mann, die ebenfalls besondere Aufgaben zu erfüllen hatten.

Kurze Zeit später kamen die Gelbmesser und die Söldner unter unserer Position vorbei und stürmten auf die Barrikade los.

»Mahpiyasapas Männer halten die Stellung«, sagte Hci.

Ich nickte. Zumindest eine gewisse Zeit würden die Verteidiger keine Mühe haben, die Angreifer in Schach zu halten.

»Die Gegner stehen günstig für unseren Plan«, sagte ich. »Sie scheinen sich erwartungsgemäß auf die Barrikade zu konzentrieren.«

Hci, Cuwignaka und ich hasteten am Rand des Abgrunds entlang und schlossen uns einer Gruppe an, die dort bereits auf uns wartete. Hci hob die Hand und senkte sie wieder. Die vierzig Mann unserer Gruppe, zu der auch Cuwignaka und ich gehörten, packten Seile, die am Rand lagen und von Mitgliedern der vierten Gruppe gehalten wurden, und ließen sich auf den unter uns vorbeiführenden Weg hinab. Dort fielen wir von hinten über die Gelbmesser her.

Die Gegner fuhren erstaunt herum, versuchten sich auf die neue Situation einzustellen.

»Zurück!« brüllte Hci im richtigen Augenblick.

Hastig liefen wir den Weg hinab.

Erfreut nahmen die Gelbmesser die Verfolgung auf.

Im gleichen Moment stieg unsere fünfte Gruppe fünfzig Meter hinter uns an Seilen den Hang herab; sie stand unter dem Kommando eines Napoktan-Kriegers namens Waiyeyeca. Die Männer hatten sich Lanzen auf den Rücken geschnallt. Kaum hatten sie sich mit uns vereint, lösten sie die Lanzen und stemmten sie schräg gegen den Boden. Wir machten kehrt und hielten die Position. Nachstürmende Gelbmesser wurden hilflos gegen die Lanzen gedrückt. Mit achtzig Mann hielten wir unsere Position, was auf dem schmalen Weg nicht schwer war. Knüppel, Schilde und Messer kamen ins Spiel. Über die verlassene Barrikade rückte unsere zweite Gruppe nach, die sich bisher in Bereitschaft gehalten hatte. Sie trat gegen die Gelbmesser auf dem Weg an, die hoffnungslos in der Klemme steckten, zumal nun noch unsere vierte Gruppe oben am Rand des Abgrunds erschien und mit Pfeilen gezielt auf die Angreifer Jagd machte; diese vierte Gruppe unter dem Kommando Kahintokapas von den Gelben Kaiila-Reitern hatte uns zuvor die Seile gehalten. Übrigens diente in dieser Gruppe ein blonder Jüngling, ehemals ein Waniyanpi, der den Namen Wayuhahaka angenommen hatte, ›Mann-der-viel-besitzt‹.

Zahlreiche Gelbmesser sahen ihre Unterlegenheit ein und wälzten sich über den Rand und glitten den Felshang hinab. Der eine oder andere mochte diese Flucht sogar überleben. Es dauerte nicht lange, bis unsere Gruppen die Gegner völlig verdrängt und sich vereinigt hatten. Über die Seile brachten wir uns wieder auf dem Gipfel in Sicherheit, ehe nachrückende Kaiila-Reiter, die untere Barrikade in die Tiefe stürzend, zu uns aufrücken konnten. Die Verfolger wurden von einem Pfeilhagel empfangen, dem viele Reiter zum Opfer fielen. Darunter auch der zweite Kriegshäuptling der Gelbmesser. Er würde keine Medizin mehr singen.

41

»Ich glaube, sie werden zur Mittagszeit vorrücken«, sagte Cuwignaka.

Wir schrieben den dritten Tag der Belagerung am Ratsfelsen.

Gestern nachmittag hatten wir Kinyanpi gesichtet. Gestern nacht hatten wir ein großes Feuer entzündet, das weit über die Prärie sichtbar gewesen sein mußte.

»Auf sich allein gestellt«, sagte Hci, »hätten sich die Gelbmesser schon nach dem ersten Tag zurückgezogen. Ich kann mir aber kaum vorstellen, daß die Disziplin der Söldner bei ihnen noch lange wirken kann.«

»Sicher haben sie inzwischen die Unterstützung der Kinyanpi gewonnen«, sagte ich.

»Kinyanpi allein genügen nicht, um sie wieder vor die Barrikaden zu treiben«, sagte Hci.

»Du meinst also, es wird nur noch einen großen Angriff geben?«

»Den entschlossensten von allen«, sagte Hci ernst.

»Und wer würde den führen?«

»Natürlich die Ungeheuer«, sagte ich.

»Es ist beinahe Mittag«, sagte Cuwignaka und blickte zum Himmel auf.

»Ich höre Trommeln, Medizintrommeln. Söldner verlassen das Lager. Sie reiten nach Süden.«

»Interessant«, bemerkte Hci.

»Dort, ein Kinyanpi!« rief Cuwignaka und deutete in die Höhe.

»Sicher ein Kundschafter«, meinte Hci.

»Es tut sich etwas im Gelbmesserlager«, sagte ich.

»Sie kommen.«

»Wer führt sie an?«

»Die Ungeheuer«, sagte ich. »Das Ungeheuer, das ganz vorn geht, heißt Sardak. Dicht bei ihm geht Kog.«

»Sie sehen gefährlich aus«, sagte Cuwignaka.

»Bestimmt kommen sie aus der Medizinwelt«, meinte Hci.

»Sie rechnen damit, daß die Gegner sich ergeben, nur weil sie erscheinen«, sagte Cuwignaka verbittert.

»Sie bluten und sterben wie Menschen«, sagte ich zu Hci.

Ein Mann eilte am Rand des Abgrunds auf uns zu. »Söldner, die sich angeseilt haben, ersteigen die Rückseite des Bergs!« rief er.

»Aha, ein koordinierter Angriff«, sagte Cuwignaka.

»Dann müssen wir bald mit den Kinyanpi rechnen«, meinte ich.

»Es ist aus mit euch!« rief Iwoso. »Ihr seid verloren!«

»Schaut!« rief Hci plötzlich und deutete nach oben.

Auf dem Bergpfad hörten wir das dumpfe Dröhnen der von den Medizinmännern geschlagenen Trommeln. Hinter den Ungeheuern rückten die Gelbmesser vor.

»Schau!« rief Hci.

Am Himmel war ein Tarn aufgetaucht.

Mein Herz machte einen Sprung.

»Wir sind verloren!« rief Hci.

Ringsum schrien Männer auf und warfen die Hände vor die Gesichter.

Wir duckten uns nieder, um nicht von den Turbulenzen der mächtigen Flügelschläge in die Tiefe gerissen zu werden. Und schon war das Monstrum zwischen uns gelandet.

»Das ist Wakanglisapa!« rief Hci. »Wakanglisapa, der Medizintarn!«

Langsam näherte ich mich dem Tier, streckte die Hand aus und berührte seinen Schnabel. Dann nahm ich seinen Kopf in die Hände und ließ meinen Tränen freien Lauf. »Sei gegrüßt, Ubar des Himmels!« sagte ich. »Wir sind endlich wieder zusammen!«

»Im Osten ist eine Wolke aufgetaucht«, meldete ein Mann. »Sie ist klein und schnell.«

»Das sind die Kinyanpi«, sagte ich. »Mein Freund ist ihnen vorausgeflogen.«

Männer schauten sich an.

»Bringt einen Sitzgurt und Zügel«, sagte ich. »Und öffnet die Zelte, die unsere Tarns verhüllen. Wir müssen unsere Besucher empfangen.«

Männer eilten fort.

Gestern nacht war auf dem Gipfel des Ratsfelsens ein großes Feuer entzündet worden – das erste von zehn ähnlichen Signalfeuern. Mit ihrer Hilfe waren im Laufe der Nacht, in Gruppen zu zweit oder dritt, unsere Tarns auf den Ratsfelsen geholt worden, ohne daß unsere Gegner etwas bemerkt hätten. Wir verfügten über achtzehn Flugvögel: den Kinyanpi-Tarn, der auf der Ebene zu uns gekommen war, die beiden wilden Tarns, die wir mit der Tarnfalle fangen konnten, und die fünfzehn, die wir bei unserem Überfall erbeuteten. Diese Tarns hatten wir von Zwei Federn aus in das Waniyanpi-Gehege bringen lassen, das von Kürbis befehligt wurde. Dort, bei Tag versteckt und bei Nacht trainiert, in Reichweite des Ratsfelsens, hatten die Tiere unser Signal erwartet.

Ich legte dem großen schwarzen Tarn den Sitzgurt an und befestigte die Zügel.

Das Trommelrasseln auf dem Weg kam näher.

»Die Söldner an der Ostwand sind dem Gipfel nahe«, meldete jemand.

»Wehrt sie ab, so gut es geht!« sagte ich.

Zelte wurden umgestoßen, Tarns kamen in Sicht.

Ich sprang auf den Rücken meines Ubars des Himmels. Man reichte mir meine Waffen.

Canka, Hci und Cuwignaka eilten ebenfalls zu ihren Tarns.

Der Ubar des Himmels wartete mein Zeichen nicht ab, sondern streckte den Hals und stürmte in die Lüfte.

»Ko-ro-ba!« brüllte ich und nannte damit den Namen der Stadt, die auf Gor meine erste Station gewesen war, Ko-ro-ba, die Türme des Morgens.

Der Tarn schrie.

Der Flugwind zerrte an meinem Haar. Die Federn an meiner Temholz-Lanze flatterten wie Flaggen.

Ich hörte andere Tarns hinter mir schreien, vernahm ihren Flügelschlag. Der Ratsfelsen sackte unter mir fort.

Wie ein dunkler Pfeil schnitt der große schwarze Tarn durch den Himmel.

Abrupt drangen wir in die Formation der verblüfften Kinyanpi ein. Mit Widerstand aus der Luft hatten sie nicht gerechnet; überhaupt hatten sie die Initiative des Kampfes behalten wollen.

Meine Lanze schmetterte einen Reiter von seinem Tier. Mit meinem kleinen Schild lenkte ich einen Lanzenstoß ab, während mein Ubar des Himmels über einen Artgenossen herfiel. Dann stieg mein Tier empor. Ringsum und unter uns wirbelten Tarns durcheinander. Einige stießen zusammen und stürzten ab. Ich gab meinem Vogel die Zügel frei. Vier Tarns begannen uns zu folgen. Mein Tarn setzte den Aufstieg fort und durchstieß dabei etliche Wolkenformationen. Tief unter uns folgten Tarns und ihre Reiter und erschienen zwischen den weißen Wolken wie Tiere, die aus Schneebänken hervorsprangen.

»Ist die Sonne dein Ziel?« fragte ich lachend.

War es möglich, daß die raffinierten Luftkampftricks dem eifrigen Gehirn meines riesigen Reittiers noch so gewärtig waren wie vor vielen Jahren? Beherrschte er sie noch mit derselben Genauigkeit, mit derselben kampflustigen Stärke wie in den lange zurückliegenden Tagen, da sie ihm hoch über den Grasebenen von Ko-ro-ba beigebracht worden waren?

Ich versuchte zu Atem zu kommen.

Die gewaltigen Lungen des Tarn weiteten sich aus. Ich spürte die Bewegung des Brustkorbs zwischen meinen Knien. Noch immer gewannen wir an Höhe.

Dann endlich machten wir kehrt. Wir hatten die Sonne im Rücken.

Die anderen Tarns, weit auseinandergezogen, sich abmühend, schwerfällig die Flügel bewegend, hingen unter uns. Sie waren erschöpft. Sie vermochten den Steigflug nicht fortzusetzen und begannen umzukehren.

Aus der Sonne schlug der mächtige Tarn zu. Wie ich es gelernt hatte, machte ich einen tiefen Atemzug, ehe der Sturzflug begann.

Unsere Gegner hatten keine Chance, so überraschend, so heftig kam unsere Attacke. Nur der vierte Tarnreiter vermochte zu fliehen, indem er in den Wolken verschwand.

Ich folgte ihm unauffällig durch die Wolken und hoffte, daß sein Bericht bei seinen Kampfgenossen Angst und Entsetzen verbreiten würde.

Als ich wieder Sichtkontakt zu den anderen Tarnreitern hatte, erfreute mich der Anblick allerdings weniger. Unsere mutigen Tarnflieger vom Ratsfelsen waren von Kinyanpi umringt, die mindestens eine zehnfache Übermacht besaßen. Das Ergebnis einer solchen Konfrontation schien unausweichlich zu sein, es sei denn, man konnte ein neues Element einbringen, etwas, das die Balance des Kampfes drastisch stören würde.

Daß unsere Männer so lange durchgehalten hatten, ging auf mehrere Faktoren zurück, auf die ich gehofft hatte. Soweit ich wußte, gab es im Ödland nur wenige Stämme, die den Tarn gezähmt hatte. Die Existenz der Kinyanpi war für die Kaiila beinahe etwas Mythisches gewesen, bis die Fliegenden dann auf dramatische Weise über dem Sommerlager erschienen. Dies schien mir darauf hinzudeuten, daß Gruppen dieser Art selten waren. Meiner Auffassung nach entsprachen die Kinyanpi gewissen irdischen Stämmen, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert sich als erste das Pferd dienbar machten. Dabei schienen sie allerdings mangels Konkurrenz auf dem Rücken ihrer Tarns noch nicht jene unbedingte Kampfgeschicklichkeit entwickelt zu haben, die sie zuvor mit ihren Kaiila erreicht haben mußten. Meine frisch auf Tarnrücken gesetzten Kaiilakrieger wußten dagegen noch aus jüngster Vergangenheit, wie sie mit Schild und Bogen hantieren mußten.

Eine meiner Erwartungen hatte sich allerdings nicht erfüllt: Das Erscheinen des großen schwarzen Tarn ließ die Kinyanpi nicht vor Entsetzen erstarren und die Flucht ergreifen. Fünf Tarnreiter, Verfolger nach unserem Überfall auf das Gelbmesserlager, hatten sich von dem schwarzen Tier überraschen und einschüchtern lassen. Die unter uns wirbelnden Reiter zeigten dagegen keine Wirkung – wahrscheinlich wegen ihrer großen Zahl oder wegen ihres Anführers oder ihrer Medizin, in die sie großes Vertrauen setzten.

Der riesige Vogel mochte ihnen Unbehagen oder gar Angst einflößen, aber sie zogen sich nicht zurück. Ich mußte sie in Panik versetzen.

Dazu hatte ich mir einen Plan ausgedacht.

Wir rasten von oben mitten in die Horde der Kinyanpi, die schreiend auseinanderstoben. Wir griffen niemanden an. Ich hatte die Waffen in Ruhestellung gebracht. Der Schild hing an meiner Hüfte.

Mein Tarn verharrte flügelschlagend auf der Stelle, während die Kinyanpi sich neu formierten.

Ich deutete nacheinander auf drei Männer, verschränkte die Arme und gab dem Ubar des Himmels einen gesprochenen Befehl. »Einer-Zügel!« Der Vogel stieg empor.

Daß die Kinyanpi überrascht waren, als ich die Zügel losließ, entging mir nicht. Sie hatten hoffentlich begriffen, daß der Tarn allein meiner Stimme gehorcht hatte. Ich schaute nicht zurück, um die Wirkung meines Abgangs nicht zu zerstören. Natürlich hoffte ich, daß die drei Männer mir folgen würden.

Kaum war ich in die Wolken eingedrungen, machte ich meinen kleinen Bogen schußfertig, wobei ich zwei weitere Pfeile in der Hand bereithielt. Ich ergriff die Zügel und zog den Tarn herum. Ringsum wallte die graue Nebelmauer. Wie erhofft flogen die Kinyanpi nacheinander in den Dunst. Drei reiterlose Tarns kehrten schließlich zu der Formation zurück.

Ich steckte den Bogen fort. Nach einer angemessenen Zeit lenkte ich meinen Tarn erneut zwischen die Kinyanpi. Interessanterweise schien der allgemeine Kampf inzwischen nicht weitergegangen zu sein.

Dramatisch deutete ich auf einen Mann. Verzweifelt schüttelte er den Kopf und wendete seinen Tarn. Ich deutete auf einen anderen Kinyanpi, der meine Einladung ebenfalls ablehnte. Einer der Kinyanpi schlug sich mit einem Aufschrei vor die bemalte Brust, und ich deutete auf ihn und anschließend auf zwei weitere. Die drei schauten sich unbehaglich an. Hochmütig wandte ich den Kopf ab. »Einer-Zügel«, sagte ich zum Ubar des Himmels.

Wieder stiegen wir zu den Wolken empor.

Ich lauschte intensiv: Nur der Mann, der sich auf die Brust geschlagen hatte, folgte mir voller Eifer. Mir blieb kaum Zeit, in die Wolke einzudringen, als er sich bereits auf mich stürzte. Den Bogen konnte ich nicht mehr ins Spiel bringen. Seine Lanze fuhr auf mich zu, und ich packte sie und hebelte den Angreifer vom Rücken seines Tarn. Schreiend stürzte der Mann in die Tiefe. Vermutlich würde er zwischen seinen Kampfgefährten hindurchstürzen.

Für die anderen Kinyanpi mußte es so aussehen, als wäre der Mann vom Himmel gefallen, auf geheimnisvolle Weise, wie ein Meteor.

Hoch in den Wolken wartete ich eine angemessene Zeit ab, dann lenkte ich den Ubar des Himmels wieder in die Tiefe und zügelte ihn erneut mitten zwischen den entsetzten Kinyanpi.

Hochmütig und herablassend wies ich sodann auf den Häuptling der Kinyanpi, der von einem Federstabträger begleitet war.

Heftig schüttelte er den Kopf. Mit weit ausholender Geste deutete ich nach Osten, in die Richtung, aus der die Kinyanpi gekommen waren. In hektischer Betriebsamkeit wendete er seinen Tarn, stieß einen Schrei aus und floh, gefolgt von seinen Männern.

»Schnell!« brüllte Cuwignaka, Canka, Hci und den anderen zu. »Zurück zum Ratsfelsen!«

Auf der Ostseite des Ratsfelsengipfels, genau gegenüber dem Ende des gewundenen Weges, hatten sich Söldner festgesetzt, die über die Felswand dorthin geklettert waren. Andere Soldaten, die sich mit Seilen gesichert hatten, hingen noch in der Felswand. Die gesamte Ostflanke des Ratsfelsens schien vor Männern und Seilen zu wimmeln.

Im nächsten Augenblick landeten kreischende Tarns zwischen den Söldnern, die dicht am Abgrund einen ersten Brückenkopf gebildet hatten. Scharfe Krallen taten ihr Werk.

Ich schaute an der Bergklippe hinab auf die Seile mit den Männern, die den Gipfel noch nicht erreicht hatten. »Darum sollen sich Tarnreiter kümmern, die im Sommerlager Frauen und Kinder verloren haben«, sagte ich.

Dann eilte ich, gefolgt von meinen Kämpfern, über den Gipfel des Ratsfelsens. Eine medizinsingende Prozession von Gelbmessern, die langsam den steilen Weg heraufkam, wußte noch nicht, was auf der Oberseite des Berges geschehen war.

»Es ist um euch geschehen!« schrie Iwoso. Auch sie hatte die neueste Entwicklung nicht mitbekommen.

Kaum fünfundzwanzig Fuß unter mir erschienen die ersten Gelbmesser auf dem Weg. Umgeben von tanzenden und trommelschlagenden Medizinmännern, bildeten Sardak und Kog und fünf andere Kurii die Spitze. Bei den Gelbmessern sah ich außerdem Alfred mit einigen Söldnern und einen Gelbmesser-Krieger, in dem ich den dritten der Kriegshäuptlinge erkannte, die im Sommerlager der Kaiila gewesen waren. Soweit ich wußte, hatte er an den bisherigen Angriffen nicht teilgenommen. Nun rechnete er bestimmt mit dem Ende der Belagerung, mit einem klaren Sieg seiner Seite.

Bisher war schon beim Auftauchen der Kurii jeder Widerstand zusammengebrochen.

Auch jetzt zeigte sich die Barrikade am Ende des Weges verlassen.

Etwa sechzig Fuß vor dem Hindernis verharrte die Prozession. Die Trommeln hörten auf zu schlagen. Die Medizinmänner beendeten ihre Tänze und zogen sich zurück.

Gefolgt von den anderen, traten Kog und Sardak vor. Es war still auf dem steilen Weg.

Im nächsten Augenblick war die Barrikade nicht mehr leer. Auf den Balken und Pflöcken war ein riesiger Kur erschienen. Der Wind spielte mit seinem langen Fell.

Die Gelbmesser traten erschrocken einen Schritt zurück. Sie blickten auf Kog und Sardak, die aber wie erstarrt auf dem Weg stehengeblieben waren und von ihrer Begleitung nichts mehr wahrnahmen.

Der auf der Barrikade stehende Kur weitete die Nasenflügel und nahm Witterung.

Sardak trat vor. Er richtete sich zu voller Größe auf.

Das Wesen auf der Barrikade legte die Ohren an, von denen eines halb abgerissen war. Sardak ahmte die Geste nach. Beide Ungeheuer hatten ihre langen Krallen ausgefahren.

Die Gegner sprachen nicht miteinander. Worte waren überflüssig.

Mit geschmeidigen Bewegungen stieg der Kur von der Barrikade und ging auf den anderen zu, bis sie noch etwa zehn Fuß voneinander entfernt waren. Auf allen vieren begannen sie sich zu umkreisen. Ab und zu streckte einer eine Pranke aus oder fauchte, um die Reaktion des anderen zu testen.

Meine Nackenhaare begannen sich zu sträuben.

Plötzlich, wie auf ein unhörbares Kommando, stürzten sie sich aufeinander und begannen zu ringen, zu reißen und zu beißen und verwandelten sich in eine einzige tobende Masse aus Fell und Muskeln.

Dann trennten sie sich und begannen erneut die Umkreisung, ehe eine zweite Attacke folgte, schließlich eine dritte.

Die Medizinmänner der Gelbmesser blickten sich erschrocken an. Blut tropfte auf das Gestein. Diese Ungeheuer konnten also wirklich bluten.

Ich legte einen Pfeil auf die Bogensehne.

Zarendargar, Halb-Ohr, mein Freund, schaffte es schließlich, hinter Sardak zu gelangen. Sardak warf den Kopf in den Nacken, um die empfindliche Stelle zwischen Schädel und Rückgrat zu schließen, doch es war zu spät. Mit einem gewaltigen Biß machte Zarendargar seinem Leben ein Ende, stemmte den riesigen Körper seines Gegners empor und schleuderte ihn in die Tiefe.

Im gleichen Moment jagte ich Kog, dem Begleiter Sardaks, einen Pfeil ins Herz. Er erstarrte und sank zu Boden.

Links und rechts von mir waren andere Kaiilakrieger an der Felskante in Stellung gegangen und zeigten sich dem Gegner. Die Gelbmesser begannen sich zurückzuziehen. Der Kriegshäuptling brüllte Befehle; offenbar wollte er seine Krieger zum Angreifen bewegen, aber er blieb dabei ebenso erfolglos wie Alfred, der seine wenigen Söldner um sich scharte.

In diesem Augenblick erschien der Ubar des Himmels hinter uns, eine schwarze Silhouette vor der Helligkeit des Tages. Er ließ die riesigen Flügel schwingen und stieß den Kampfschrei des Tarns aus.

Die Gelbmesser machten kehrt und flohen.

Kaiilakämpfer schwärmten über die Barrikade aus und schwangen Lanzen und Keulen, Schilde und Messer. Auf dem schmalen Pfad entstand Verwirrung. An einem Dutzend Stellen entbrannten Kämpfe.

»Schaut!« rief ich. Am westlichen Horizont stieg eine Staubwolke auf.

»Sie kommen!« rief Cuwignaka begeistert.

»Ja«, sagte ich.

Es mußte sich um die Staubfüße, Sleen und Flieher handeln – Stämme, zu denen wir Reiter geschickt hatten.

Wir waren hier oben auf dem Ratsfelsen der Köder gewesen, der die Gelbmesser und die Söldner in eine Falle locken sollte, eine Falle, die jene anderen Stämme, gemeinsam vorgehend, nun schließen würden. Dies war unbedingt im Interesse aller Beteiligten. Durch ihre Zusammenarbeit mit den weißen Söldnern hatten die Gelbmesser die ›Erinnerung‹ verraten. Der gemeinschaftlichen Erinnerung zufolge hatte vor langer Zeit eine andere Tragödie, die in den Legenden beinahe vergessen war, auf ähnliche Weise begonnen. Das Ödland mußte beschützt werden. Außerdem war ein Sakrileg begangen worden, der Angriff auf ein Sommerlager. Hierfür galt es Rache zu nehmen. Und was noch schlimmer war: Die Kinyanpi waren erstmals in westliche Länder vorgedrungen. Bündnisse wie zwischen den Gelbmessern, weißen Söldnern und Kinyanpi bedrohten die empfindlichen Stammesbeziehungen im Ödland. Sie konnten Gewohnheiten der Pte verändern und Stämme aus ihren gewohnten Jagdgründen vertreiben. Anscheinend hatten die Argumente unserer Gesandten gewirkt. Für den eigentlichen Kampf kam die Hilfe zu spät, doch konnten die Nachrückenden dem demoralisierten Feind die Fluchtwege abschneiden.

Ich sah, wie Alfred von hinten mit einem hölzernen Canhpi niedergeschlagen wurde. Auf dem Weg unter uns lagen die fünf Kurii, die Sardak und Kog begleitet hatten. Sie waren von zahlreichen Pfeilen durchbohrt.

Es würde lange dauern, bis Kaiila oder Gelbmesser solche Wesen wieder für übernatürliche Kreaturen halten würden, für Besucher aus der Medizinwelt.

Iwoso, die an ihren Pfahl gefesselt war, hatte ergeben die Augen geschlossen.

Ich nahm dem Ubar des Himmels den Sitzgurt ab und entfernte die Zügel von seinem Schnabel.

»Du bist frei, guter Freund«, sagte ich und tätschelte den mächtigen Schnabel, den der Tarn mir sanft in die Seite drückte. Der Ubar des Himmels war kein Sklave des Menschen, sondern ein freies Tier der Lüfte.

»Der Weg ist frei«, sagte ich zu Hci.

»Ja«, antwortete er und wandte sich an Iwoso. »Die Gelbmesser sind besiegt«, fuhr er fort. »Sie sind zersprengt. Sie laufen um ihr Leben.«

»Ja, Herr«, sagte sie.

»Für dich gibt es keine Hoffnung auf Rettung mehr, meine gefesselte Gelbmesser-Dirne«, sagte Hci.

»Nein, Herr«, erwiderte sie.

»Du bist allein und gehörst nun den Kaiila.«

»Ja, Herr«, entgegnete sie resigniert.

42

»An der Schuld dieser beiden besteht kein Zweifel«, sagte Mahpiyasapa.

Die ihn umringenden Männer brummten zustimmend. »Cinto!« sagten mehrere. »Richtig!«

Die beiden Frauen, Bloketu und Iwoso, knieten vor den Männern.

»Die Aussagen sind gemacht worden, die Beweise klar. Ihre Beteiligung an der Vorbereitung des Angriffs auf das Sommerlager ist erwiesen. Sie haben sich gegen das Volk der Kaiila verschworen.«

»Cinto!« riefen die Männer.

»Habt ihr dazu irgend etwas zu sagen?« fragte Mahpiyasapa.

Die Mädchen schluchzten nur.

»Ich spreche euch schuldig«, fuhr Mahpiyasapa fort. »Da aber eine von euch die Tochter eines Kaiilahäuptlings ist, Watonka, einst ein großer Krieger und mein Freund, und die andere ihre Zofe, lasse ich euch nicht foltern.«

»Mahpiyasapa ist gnädig«, sagte jemand.

»Ihr werdet behandelt wie freie Frauen. Morgen früh werdet ihr auf den Gipfel gebracht und in die Tiefe gestürzt.«

Bloketu blickte den Häuptling entsetzt an.

»Nein!« schrie Iwoso. »Nein! Nein!«

Der Wind wehte kühl am oberen Ende des Weges, unweit der Stelle, wo die Barrikade errichtet gewesen war.

Es war kurz nach Tagesanbruch.

»Sind die Gefangenen anwesend?« fragte Mahpiyasapa.

»Ja«, sagte Cuwignaka.

»Dann möge das Urteil vollstreckt werden«, befahl der Häuptling, der von den Mitgliedern des Rates umgeben war. Es hatten sich zahlreiche Zuschauer eingefunden, die sich in größerem Abstand hielten.

Cuwignaka packte Bloketu an den Armen. »Nein!« schrie sie heftig und warf den Kopf in den Nacken. »Ich erflehe die Alternative!« rief sie. »Ich erflehe die Alternative, Herr!« Und sie fiel auf die Knie.

»Herr?« fragte Mahpiyasapa.

»Ja, ›Herr‹!« rief sie. »Als Sklavin muß ich alle freien Männer so ansprechen. Ich unterwerfe mich hiermit als Sklavin. Ich bin seit Jahren schon im tiefsten Herzen Sklavin der Männer. Verzeiht mir, ihr Herren!«

Erstaunt blickte Mahpiyasapa sie an. »Du hast dich zur Sklavin gemacht – nun gibt es kein Zurück mehr.« Er wandte sich an seine Ratsmitglieder. »Einer Sklavin steht der ehrenhafte Tod einer freien Frau nicht mehr zu, nicht wahr?«

Die Ratsmitglieder nickten zustimmend.

Im gleichen Moment löste sich Iwoso aus Hcis Griff und warf sich auf die Knie. »Auch ich bin Sklavin!« schluchzte sie. »Auch ich unterwerfe mich als Sklavin dem Willen aller Männer.«

»Meinst du das ernst?« fragte Mahpiyasapa.

»Ja, Herr.«

»Sie lügt doch nur, um dem Tod zu entgehen«, sagte ein Mann verächtlich.

»Vielleicht glaubt sie zu lügen, doch wenn sie nicht im Grunde ihres Herzen das ist, was sie zu sein behauptet, wäre ihr dieser Ausweg sicher nicht eingefallen.«

»Jedenfalls«, sagte ein Mann, »hat sie sich als Sklavin unterworfen.«

»Euch ist doch klar«, wandte sich Mahpiyasapa an die Mädchen, »daß die Worte allein genügen, daß ihr Sklavinnen wurdet, als ihr sie ausspracht?«

»Ja, Herr.«

»Dann hebe ich mein früheres Urteil hiermit auf.«

Erfreut blickten die Mädchen zu ihm auf.

»Überlaßt sie den Frauen«, fuhr Mahpiyasapa fort.

»Nein«, sagte Cuwignaka und richtete sich auf. »Ich nehme diese Frau zu meiner Sklavin.« Und er deutete auf das Mädchen, das bisher Bloketu geheißen hatte.

Erschaudernd warf sich das Mädchen herum und schmiegte ihre Wange an sein Bein.

Iwoso warf sich vor Hci auf den Boden. »Ich flehe dich an, Herr!« schluchzte sie. »Nimm mich als deine Sklavin!«

Er hockte sich zu ihr nieder. »Du hast gesagt, du würdest lieber sterben, als meine Sklavin zu sein«, sagte er leise.

»Das war gelogen!« rief sie. »Ich habe gelogen! Ich bin Sklavin! Und nicht nur das, ich bin deine Sklavin!«

»Meine Sklavin?« fragte er.

»Seit Jahren«, sagte sie, »wußte ich, daß ich dir ergeben war. Bei jedem Blick auf mich mußt du doch gemerkt haben, daß du mein Herr warst! Gib mir die Gelegenheit, dir zu beweisen, daß ich es wert bin, deine Sklavin zu sein!«

Mit verschränkten Armen richtete er sich wieder auf.

»So sei es denn«, sagte Mahpiyasapa. »Die Angelegenheit ist geregelt.«

43

»Die Flieger-Krieger fanden ihn auf der Prärie«, sagte ein Mann, »und brachten ihn her.«

Zwei dicke Seile führten zu seinem Hals und endeten am Sattel zweier Kaiila, zwischen denen das Wesen geführt wurde. Männer mit Lanzen bewachten es überdies von hinten.

Es war der Kur, den ich insgeheim den achten Kur nannte. Anscheinend war er während des Massakers am Wagenzug von seinen Artgenossen getrennt worden. Ich war ihm schon einmal begegnet; der Kur war auf das Schlachtfeld zurückgekehrt, um zu fressen, und hatte dabei die Waniyanpi bedroht. Nachdem Grunt und ich diesen Kur in die Flucht geschlagen hatten, erfuhr ich von Kürbis, daß neun tote Kurii auf dem Schlachtfeld gefunden und von den roten Wilden fortgezerrt worden waren. So hatte ich nicht feststellen können, ob Kog und Sardak zu den Kur-Überlebenden gehörten. Insgesamt hatten Alfreds Söldner siebzehn Kur-Wagen begleitet. Bei neun Toten blieben acht überlebende Kur, mit denen ich im Ödland rechnen mußte.

Als Cuwignaka und ich die Siegesfeier der Gelbmesser und Söldner im Sommerlager beobachteten, hatten wir dort, Kog und Sardak eingerechnet, sieben Kurii gezählt. Hier war nun der achte, der anscheinend von seinen Artgenossen getrennt worden war. Nun hatten Flieger ihn eingefangen, was vermutlich kein Zufall war. Wahrscheinlich war er den Kriegern gefolgt, in der Hoffnung, daß ihr Ausrücken mit den Plänen seiner Vorgesetzten zusammenhing.

»Was tun wir mit ihm?« fragte ein Mann. »Die Flieger wollen ihn nicht behalten. Und sie scheinen Bedenken zu haben, das Wesen zu töten.«

»Bringt ihn zum Zelt des schwarzen Gasts«, sagte ich.

Der Blick des Kur ruhte auf mir. Anscheinend erinnerte er sich an unsere erste Begegnung ebenso klar wie ich.

Die nackte, schwerbrüstige rothaarige Sklavin stöhnte hilflos ihre Unterwerfung heraus. Sie war noch immer ziemlich verschmutzt.

Ich hatte sie als Beuteanteil von den Gelbmessern erhalten.

»Herr! Herr!« japste sie und starrte mit glasigem Blick zu mir empor.

»Cespu! Mira!« rief ich. Die beiden Sklavinnen eilten herbei, mein Mädchen Mira und Cuwignakas Sklavin, die ehemalige Bloketu, die nun den Namen Cespu trug, ›Warze‹.

Ich deutete auf den Rotschopf vor mir.

»Säubert sie von Kopf bis Fuß und kämmt sie gründlich. Sie soll den besten Eindruck machen.«

»Ja, Herr«, sagte Mira.

»Dann bringt ihr sie als mein Geschenk zu Grunt«, fuhr ich fort. »Er wird schon wissen, was er mit ihr anfangen muß.«

»Ja, Herr«, sagte Cespu.

»Ja, Herr«, sagte auch Mira.

44

»Wo finden wir den Mann, der sich Cuwignaka nennt?« übersetzte der junge hellhäutige, muskulöse Mann.

Der Krieger, von dem diese Frage ausging, war ein Flieger, der sein Haar in einer hohen, zurückgekämmten Frisur trug. Er war Mitglied der Blauen Himmelsreiter. Grunt und ich hatten ihn vor langer Zeit schon einmal gesehen, in der Nähe der Stelle, wo sich das Wagenzug-Massaker ereignet hatte.

»Ich bin Cuwignaka«, sagte mein Freund und trat vor. Er trug inzwischen einen Lendenschurz, hatte aber noch immer die weißen Fetzen des Kleides um den Oberkörper geschlungen. Auch seine Worte wurden von dem hellhäutigen Jüngling übersetzt.

»Ich hatte geglaubt, tot zu sein«, hatte Grunt mir gestern anvertraut. »Jetzt aber habe ich das Gegenteil entdeckt. Ich habe bei den Staubfüßen einen Sohn!«

Grunt hatte den Jungen beim Besuch des Staubfuß-Stammes nach dem Massaker im Sommerlager gefunden. Vorwiegend wegen Grunts Fürsprache hatten die Staubfüße den langen Ritt zum Ratsfelsen unternommen, um den Kaiila zu helfen. Die Mutter des Jungen hatte Grunt vor langer Zeit geliebt. Angeblich lebte sie noch. Der Junge besaß Grunts Sprachtalent und Geschäftssinn. Er gehörte zu den wenigen Staubfüßen, die in Flieger-Lagern willkommen waren, und hatte ihre Sprache erlernt.

Grunt und sein Junge hatten beschlossen, künftig als Partner zu arbeiten – sicher würden sie im Ödland bald Berühmtheit erlangen. Diesen Winter, so hatte Grunt mir gesagt, wollte er nicht in die Ihanke zurückkehren, sondern bei den Staubfuß-Kriegern bleiben. Es gebe dort eine Frau, die ihm einmal viel bedeutet habe. Er wollte sie wiedersehen.

Der Flieger-Krieger musterte Cuwignaka. »Ich habe von dir gehört«, ließ er übersetzen. »Auf den Ebenen ist allgemein bekannt, daß bei den Kaiila ein Mann lebt, der Cuwignaka, Frauenkleid, genannt wird und der keinen Händel mit den Fliegern hat.«

Cuwignaka musterte sein Gegenüber wortlos.

»Deinetwegen«, fuhr der Flieger, »nur deinetwegen sind wir zum Ratsfelsen gekommen.«

Cuwignaka schaute den anderen verwirrt an.

»Weißt du, warum wir zum Ratsfelsen gekommen sind?« fragte der Flieger, »und warum, unseretwegen, die Sleen mitgekommen sind?«

»Nein«, antwortete Cuwignaka. Die Flieger und Sleen sind Verbündete.

»Weil wir keinen Händel mit Cuwignaka haben«, sagte der Flieger lachend.

Dann wendete er seine Kaiila und ritt davon.

»Du bist jetzt ein großer Krieger, mein Freund«, sagte Hci zu Cuwignaka. »Welchen Namen willst du annehmen? Hast du dir schon einen ausgesucht?«

»Willst du deinen alten Namen Petuste wieder annehmen?« In der Kaiilasprache bedeutet dieses Wort ›Feuerscheit‹.

»Nein«, antwortete Cuwignaka. »Ich behalte meinen Namen Cuwignaka.«

Hci lächelte. »Du hast diesen Namen zu einem Kriegernamen gemacht«, sagte er.

»Und was ist mit dir, mein Freund?« wandte sich Cuwignaka an Hci. »Vor langer Zeit warst du als Ihdazicaka bekannt.« In der Übersetzung bedeutete dieser Name ›Mann-der-sich-reich-schätzt‹.

»Nein«, antwortete Hci lächelnd. »Obwohl ich mich nun wirklich reich schätzen kann, werde ich den Namen Hci behalten. Es ist ein Name, auf den ich stolz bin. In der Zeit, in der ich diesen Namen trug, habe ich die höchsten Coups erringen können. Und zum erstenmal in meinem Leben Freunde gefunden.«

Wir gaben uns die Hände.

Die Niederlage der Gelbmesser lag zehn Tage zurück.

Wir befanden uns in einem großen Siegeslager, an einem Flußlauf gelegen, sieben oder acht Pasangs vom Ratsfelsen entfernt. In diesem Lager lebten Flieger, Sleen, Staubfüße und Kaiila einträchtig nebeneinander. Feiern und Tänze hatten stattgefunden. Die Beute aus den Gelbmesser-Lagern war aufgeteilt worden, und es war zu einem lebhaften Austausch von Geschenken gekommen, sogar zwischen Erbfeinden wie den Fliegern und den Kaiila.

Doch so selten solche Friedensfeste auch waren – das Braunwerden des Grases und der kühle Wind kündeten nur zu klar vom Fortschreiten der Jahreszeiten. Schon verließen erste kleine Gruppen das große Lager.

Auch ich mußte mich bald auf den Weg machen. Ich mußte das Ödland verlassen und die lange Reise zur Ihanke und von dort zu den Thentis-Bergen und dem Vosk antreten, von wo ich den Tamber-Golf und Port Kar erreichen würde.

Ich machte mich auf den Rückweg zu dem Zelt, das ich mit Cuwignaka teilte. Bei uns wohnten seine Sklavin Cespu, die ehemalige Bloketu, und Mira, die inzwischen rechtmäßig mein Mädchen war. Cuwignaka wollte sie mir schenken, doch ich hatte darauf bestanden, vier Felle für sie zu bezahlen.

Ein wenig abseits knieten vier Sklavinnen, die einmal Grunt gehört hatten und ihm von Gelbmessern genommen worden waren: Lois, Inez, Corinne und Priscilla. Nach der Niederlage waren sie Grunt als Beuteanteil zurückgegeben worden. Zwei Mädchen hatte er bereits mit gutem Gewinn weiterverkauft; sie waren nur noch nicht abgeholt worden. Zwei andere Mädchen wollte er als Lastenträgerinnen bei sich behalten.

Ich blieb vor Lois stehen und zog ihren Kopf am Haar herum. »Du hast Alarm geschlagen, als ich mit zwei Freunden in einem Gelbmesserlager Kinyanpi-Tarns stehlen wollte.«

Sie erschauderte.

»Wußtest du, daß ich zu den Angreifern gehörte?« fragte ich. »Hattest du mich erkannt?«

»Ja, Herr«, flüsterte sie zitternd.

»Gut gemacht«, sagte ich.

Erstaunt blickte sie mich an.

»Sieh zu, daß du deinem neuen Herrn womöglich noch besser dienst«, sagte ich.

»Ja, Herr«, antwortete sie leise.

Es befanden sich viele andere im Lager, von deren Schicksal ich nun im nachhinein erfuhr. Zum Beispiel Max und Kyle Hobart und die beiden ehemaligen Erdenmädchen Ginger und Evelyn, die zusammen mit den Männern beim Stamm der Sleen versklavt gewesen waren. Grunt hatte den beiden Hobarts die Freiheit erkauft und die Mädchen gleich mit übernommen, die den Hobarts als wahre Sklavinnen zugetan waren. Einen befreundeten Jäger sah ich ins Lager zurückkehren, Cotanka von den Wismahi; quer vor ihm auf seiner Kaiila lag ein erlegter Tabuk, und ich mußte daran denken, daß die Gelbmesser noch viel Fleisch zusammentragen mußten, um über den Winter zu kommen. Zur Begrüßung lief dem jungen Jäger ein blondes Sklavenmädchen entgegen; sie war während des Kampfes um das Sommerlager als Lockmädchen losgeschickt worden.

»Wasnapohdi!« rief ich einer vorbeigehenden Sklavin zu, die ein zusammengerolltes Kailiaukfell auf der Schulter trug.

Entzückt lief sie zu mir und kniete nieder.

»Bist du froh über deinen neuen Herrn?« fragte ich.

»Oh!« rief sie atemlos. »Er ist wirklich mein Herr! Tief in meinem Herzen wußte ich seit Jahren, daß ich nur ihm gehörte! Jetzt endlich bin ich voll und ganz seine Sklavin! Ich bin so glücklich!«

Ihr neuer Herr war ein junger Mann aus der Napoktanbande, Waiyeyeca, ›Mann-der-viel-findet‹, der sie vor langer Zeit, als beide noch Kinder waren, schon einmal besessen hatte. Inzwischen war er ein vielversprechender junger Krieger und sie eine ausgereifte, liebesbedürftige Sklavin. Wer Wasnapohdi im Arm halten durfte, überlegte ich, war in der Tat ein Mann, der viel gefunden hatte.

»Ich hatte große Angst, daß er mich nicht kaufen würde«, fuhr sie fort. »Mein ehemaliger Herr Grunt hatte den Preis wirklich hoch angesetzt.«

»Was hast du ihm denn gebracht?« fragte ich, obwohl ich die Antwort wußte.

»Vier Häute des gelben Kailiauk«, antwortete sie.

Ich tat erstaunt und pfiff durch die Zähne.

»Mein Herr war nicht gerade froh, soviel bezahlen zu müssen, aber nun ist alles in Ordnung.«

»Ich verstehe«, sagte ich. Zweifellos hatte Grunt den Preis so hoch angesetzt, um den jungen Mann vor der Versuchung zu bewahren, seinen Besitz leichtfertig weiterzuveräußern. Dies war aber eine Vorsicht, die ich für überflüssig hielt. Ich nahm nicht an, daß Waiyeyeca seine Kindheitssklavin jemals fortschicken würde.

Ganz in der Nähe stieß ein Mädchen einen Schmerzensschrei aus. Es war die weißhäutige rothaarige Sklavin, die von Mahpiyasapas Frau mit einer Peitsche beim Wassertragen beaufsichtigt wurde. Die schwerbrüstige Rothaarige, die von ihrem Herrn Mahpiyasapa den Namen Natusa erhalten hatte, schaute mich an. Mein Gesicht blieb ausdruckslos. Es war kein Zufall, daß dieses rothaarige Mädchen zu Mahpiyasapa gekommen war. Als Beuteanteil hatte Canka fünf gelbe Kailiaukhäute aus dem Besitz der Gelbmesser erhalten. Diese hatte er Mahpiyasapa überlassen, in einerseits als Geschenk, doch gewissermaßen auch als Ausgleichszahlung für sein Beharren, Winyela zu behalten, die Grunt ursprünglich für Mahpiyasapa in das Ödland gebracht hatte. Indem er die fünf Häute annahm, hatte Mahpiyasapa Canka die Ausübung seines Kriegerrechts verziehen, die Winyelas hübschen Hals in Cankas Kragen gebracht hatte.

Rein zufällig hatte ich unter Gelbmessersklaven das Mädchen entdeckt, das nun den Namen Natusa trug. Ich hatte dafür gesorgt, daß sie meinem Beuteanteil zugeschlagen wurde, und sie dann Grunt geschenkt. Grunt verkaufte sie erfreut an Mahpiyasapa weiter und erhielt dafür die fünf gelben Kailiauk-Häute, die Mahpiyasapa ursprünglich von Canka in Empfang genommen hatte. Auf diesem Wege hatte Canka sozusagen mit seinem Häuptling reinen Tisch gemacht und dabei gleichzeitig einen einwandfreien Besitztitel an Winyela erworben. Grunt bekam seine fünf Häute, und Mahpiyasapa besaß eine Sklavin mit der im Ödland seltenen roten Haarfarbe, wie er sie letztes Jahr bei Grunt bestellt hatte. Mahpiyasapa war sichtlich zufrieden mit diesem Arrangement. Es war im Lager kein Geheimnis gewesen, daß er Winyelas Brüste als zu klein empfunden hatte.

Vor meinem Zelt erwartete mich Mira. Sie kniete vor mir nieder. »Aus dem Zelt des schwarzen Gasts ist eine Nachricht eingetroffen«, sagte sie. »Akihoka hat ausgerichtet, der schwarze Gast habe auf das Übersetzungsgerät gedeutet.«

»Ich verstehe«, antwortete ich. Das Übersetzungsgerät vermittelte zwischen der kurischen und der goreanischen Sprache.

»Ich glaube, der schwarze Gast möchte dich sprechen«, sagte Mira.

»Ja«, antwortete ich.

»Aber warum, Herr?« fragte sie. »Was hast du mit dem schwarzen Gast zu schaffen? Und warum befand sich ein Übersetzungsgerät in deinem Gepäck?«

Ich lächelte.

»Wem gehöre ich?« fragte sie.

»Neugier steht einer Sklavin nicht zu«, sagte ich.

»Verzeih mir, Herr!«

»Ich gehe zum Zelt des schwarzen Gasts«, sagte ich. »Wir werden uns unterhalten.«

45

Cuwignakas Messer fuhr über seinen Unterarm, dann über den meinen und schließlich über Hcis Haut.

»Du kannst zwar kein Mitglied der Sleensoldaten oder der Kampfgefährten sein«, hatte Hci gesagt, »denn du bist kein Kaiila und kennst unsere Tänze und Geheimnisse nicht, auch nicht den Inhalt unserer Medizinbeutel.«

»Aber etwas anderes können wir tun«, hatte Cuwignaka hinzugefügt.

»Laßt es uns tun«, hatte Hci gesagt.

Cuwignaka hielt seinen Arm an den meinen, und ich drückte den meinen gegen Hcis Arm, und Hci berührte seinerseits Cuwignakas Unterarm. Auf diese Weise schloß sich der Kreis des Blutes.

»Es ist geschehen«, sagte Cuwignaka.

»Brüder«, sagte ich.

»Brüder«, sagte Hci.

»Brüder«, sagte Cuwignaka.

46

Ich fesselte Mira die Hände und hievte sie auf den Rücken einer Kaiila.

»Meinst du, man wird mich in Port Kar töten?« fragte sie angstvoll.

»Ich nehme es nicht an«, erwiderte ich, »aber an deiner Stelle würde ich mich offen und detailliert äußern.«

Sie erschauderte. »Das werde ich tun.«

Gestern nacht hatte ich dem Mädchen die wahre Identität ihres Herrn offenbart. Entsetzt hatte sie sich vor mir gewunden, waren doch ihre schlimmsten Vermutungen wahr geworden. Sie, eine ehemalige Agentin der Kurii, war in die Hände eines Mannes gefallen, der den Priesterkönigen gedient hatte, der mit Samos aus Port Kar befreundet war, der vielen als Tarl Cabot, vielen aber auch als Bosk aus Port Kar bekannt war.

»Wenn du rückhaltlos mitmachst«, hatte ich dem entsetzten Mädchen gesagt, »darfst du vielleicht weiterleben – als Sklavin.«

Ich befestigte Vorräte an der Kaiila, auf dem das Mädchen saß. In den Bündeln, die ich links und rechts verknotete, befand sich auch das Übersetzungsgerät.

Wir standen auf einer Anhöhe unweit des Siegeslagers. Es war fast Morgen. Einige Gestalten waren uns aus dem Lager gefolgt. Der Abschied dauerte nicht lange.

Ich bestieg meine eigene Kaiila und ritt in westlicher Richtung los.

Den Tarn, den ich im Tarnland gefangen und gezähmt hatte, ließ ich zurück. Die Kaiila konnten ihn sicher besser gebrauchen als ich. So wie das Aufkommen der Kaiila bei den Stämmen zu einer sozialen und kulturellen Revolution geführt hatte, würde nun wohl auch der Tarn Veränderungen auslösen. Einerseits bereitete mir der Gedanke Kummer, die geschickten Kaiilakämpfer auf dem Tarnrücken zu erleben. Andererseits schien mir die Beherrschung des Tarn in gewisser Weise die Gewähr zu bieten, daß die Lage im Ödland weiter stabil blieb. Sollten nämlich die Stämme, die nicht über Tarns verfügten, den tarnreitenden Wilden weichen müssen, so mochte diese Verdrängung langfristig die Stabilität der Ihanke gefährden.

Ich zügelte meine Kaiila und schaute zurück. Viele meiner Freunde standen auf der Anhöhe am Lager und schauten mir nach.

Zarendargar war nicht darunter.

Vor zwei Tagen hatte er mich in sein Zelt gerufen. Dort fand ich in Zarendargars Gesellschaft den achten Kur vor, der keine Fesseln trug.

Dieser Kur berichtete, er sei bei seiner ziellosen Wanderung durch das Ödland von einem Schiff der Kurii besucht worden. Seinen Ausführungen nach war das gegen Zarendargar ausgesprochene Todesurteil aufgehoben worden. Er hatte Anweisung auf die Stahlwelten zurückzukehren.

»Das glaubst du doch nicht etwa?« fragte ich Zarendargar, Halb-Ohr, durch das Übersetzungsgerät.

»Allein deswegen hat mein Kamerad mich hier gesucht«, antwortete der Kur, »was für ihn sehr gefährlich war.«

»Glaubst du das?« fragte ich.

»Ja«, antwortete Zarendargar. »Es ist die Wahrheit.«

»Woher willst du das wissen?«

»Er hat auf die Ringe geschworen«, sagte Zarendargar.

»Du wirst ihn begleiten?« wollte ich wissen.

»Ja«, antwortete Halb-Ohr. »Es wurde ein Treffen mit dem Schiff vereinbart.«

»Wann brecht ihr auf?«

»Morgen«, antwortete Zarendargar. »Der Treffpunkt ist weit. Es wird eine lange Wanderung.«

»Warum wurde das Urteil verworfen?«

»In den Klippen hat es einen Wechsel der politischen Macht gegeben«, sagte er. »Anscheinend werden meine Dienste nun wieder benötigt.«

»Mit welchem Ziel?«

Die Lippen in dem breiten, zerklüfteten Kur-Gesicht wurden gespannt und entblößten die Reißzähne. Es war ein Kur-Lächeln. »Ich glaube nicht, daß es angebracht wäre, dies zu verraten«, tönte es aus dem Ubersetzungsgerät.

»Als jemand, der gelegentlich für die Sache der Priesterkönige eingetreten ist, müßte ich dich jetzt wohl töten«, sagte ich.

»Gewiß bist du nicht aus diesem Grund ins Ödland gekommen.«

»Nein«, sagte ich lächelnd.

»Und nicht deswegen ließ ich die Bilderhaut nach Westen schaffen.«

»Du hast das mit Absicht getan?«

»Ja«, sagte Zarendargar. »Damit wollte ich das Exekutionskommando in das Ödland locken, wo ich mit ihm fertigwerden konnte. Außerdem wollte ich mich deiner Hilfe versichern.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich.

»Ich ging davon aus, daß die anderen Kurii versuchen würden, sich der Hilfe von Menschen zu versichern; immerhin ging es um ein Projekt, das aus ihrer Sicht auch die Menschen interessieren mußte – meine Gefangennahme und Vernichtung. Dazu würden sie bestimmt Samos aus Port Kar ansprechen, der mit Sicherheit dich von diesen Plänen unterrichten würde.«

»Wir haben ihnen nicht geholfen«, sagte ich. »Sie mußten andere Vereinbarungen eingehen – mit Söldnern.«

»Damit hatte ich gerechnet«, sagte Zarendargar. »Ich glaube, in diesem Punkt konnte ich die Menschen richtiger einschätzen als sie.«

»Möglich«, sagte ich.

»Du würdest ins Ödland kommen, davon war ich überzeugt. Die Kurii dagegen rechneten nicht damit. Und das war ein schlimmer Fehler. Aber vielleicht kann man es ihnen nicht verübeln. Schließlich konnten sie etwas nicht wissen, das mir gut bekannt war.«

»Und das wäre?«

»Daß wir einmal vor langer Zeit Paga geteilt haben.«

Gestern früh hatten Zarendargar und sein Begleiter das Siegeslager verlassen. Ich machte natürlich keinen Versuch, den Kurii zu folgen.

Mein Blick war auf die Anhöhe am Lager gerichtet. Zum Abschied hob ich die Hand.

Dort drüben standen Mahpiyasapa, Zivilhäuptling der Kaiila, und sein Freund Kahintokapa von den Gelben Kaiila-Reitern. Auf seinem Schild leuchtete noch immer das Bild Halb-Ohrs. Neben ihnen verabschiedeten mich Grunt und sein Sohn. Ich sah Canka und Winyela, Wasnapohdi und Waiyeyeca und Oiputake mit ihrem Herrn Wapike. Viele andere waren aus dem Lager geströmt, vor allem natürlich meine Blutsbrüder Hci und Cuwignaka.

Und wieder wandte ich mich ab und ritt langsam in westlicher Richtung. Mein Ziel war die Ihanke.

Zur Mittagsstunde schaute ich einmal hinter mir zum Himmel auf. Mein Blick fiel auf einen großen schwarzen Tarn.

Gemächlich hob ich Arm und Hand zum goreanischen Gruß. Gleich darauf wandte sich das Tier nach Osten und flog davon. Ich schaute ihm nach, bis es am blauen Himmel über der Weite des Ödlandes nur noch ein kleiner Punkt war, der gleich darauf verschwand.

Dann setzte ich meinen Weg fort; den Zügel der nachfolgenden Kaiila mit der Sklavin hatte ich um meinen Sattelknauf geschlungen.