Die Zeitmaschine

H. G. Wells

1980

(Aus dem Englischen von A. Reney und A. Auer, 1988)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Maschine

3 Der Zeitreisende kehrt zurück

4 Fahrt durch die Zeit

5 Im goldenen Zeitalter

6 Menschheit im Niedergang

7 Ein unerwarteter Schlag

8 Die Erklärung

9 Die Morlocken

10 Als es Nacht wurde

11 Der Palast aus grünem Porzellan

12 Im Dunkel

13 Die Falle der weißen Sphinx

14 Zukunftsvisionen

15 Der Zeitreisende kehrt zurück

16 Das Ende der Erzählung

17 Epilog

Kapitel 1

Einleitung

Der Zeitreisende (denn so wollen wir ihn der Bequemlichkeit halber nennen) war im Begriff, uns eine geheimnisvolle Sache darzulegen. Seine grauen Augen funkelten und blitzten, und sein sonst so blasses Gesicht war lebhaft gerötet. Im Kamin loderte ein helles Feuer, und der sanfte Schimmer der in Silberleuchtern brennenden Kerzen spiegelte sich in den Sektperlen, die in unseren Gläsern aufstiegen und vergingen. Unsere Fauteuils — von ihm selbst entworfen — waren keine gewöhnlichen Sitzmöbel, sondern schienen uns zärtlich zu empfangen, und es herrschte jene entspannte Nachtischatmosphäre, in der die Gedanken befiügelt und frei von den Fesseln strenger Logik dahinschweben. Und in dieser Stimmung sprach unser Gastgeber — wichtige Stellen mit erhobenem Zeigefinger unterstreichend —, während wir dasaßen und in Muße den Ernst bewunderten, mit dem er uns sein neues Paradoxon (denn dafür hielten wir es) und dessen Tragweite erklärte.

≫Sie müssen mir aufmerksam zuhören. Ich werde eine oder zwei Ideen, die fast allgemein anerkannt sind, widerlegen müssen. Die Geometrie, zum Beispiel, die man Sie in der Schule gelehrt hat, beruht auf einer völlig falschen Voraussetzung.≪

≫Ist das nicht ein ziemlich starkes Stück, das Sie uns da gleich zu Beginn vorsetzen?≪ meinte Filby, ein streitsüchtiger Mann mit rotem Haar.

≫Ich möchte nicht von Ihnen verlangen, irgend etwas ohne vernünftigen Grund anzunehmen, doch Sie werden mir Ihre Zustimmung nicht versagen können. Natürlich wissen wir, daß eine mathematische Linie, eine Linie der Stärke Null, in Wirklichkeit nicht existiert. Das hat man Sie doch gelehrt? Ebensowenig existiert eine mathematische Fläche. Diese Dinge sind bloße Abstraktionen.≪

≫Das stimmt≪, sagte der Psychologe.

≫Ebensowenig kann ein Würfel, wenn er nur Länge, Breite und Höhe hat, tatsächlich existieren.≪

≫Hier muß ich widersprechen≪, sagte Filby. ≫Natürlich kann ein fester Körper tatsächlich existieren. Alle Objekte der Wirklichkeit…≪

≫So denken die meisten Leute. Aber warten Sie einen Augenblick. Kann ein momentaner Würfel existieren?≪

≫Versteh ich nicht≪, sagte Filby.

≫Gibt es einen Würfel, der keinerlei zeitliche Dauer hat?≪

Filby wurde nachdenklich. ≫Es ist klar≪, fuhr der Zeitreisende fort, ≫daß jeder tatsächlich vorhandene Körper sich in vier Dimensionen ausdehnen muß: in Länge, Breite, Höhe und — in Dauer. Aber infolge einer angeborenen Unvollkommenheit unserer menschlichen Natur sind wir, wie ich Ihnen sogleich darlegen werde, geneigt, diese Tatsache zu übersehen. Tatsächlich gibt es vier Dimensionen, von denen wir drei die Ebenen des Raumes nennen, und eine vierte, die Zeit. Es besteht aber die Tendenz, eine unbegründete Unterscheidung zwischen den erstgenannten drei Dimensionen und der letzteren zu machen, weil sich unser Bewußtsein — wenn auch mit Unterbrechungen — in dieser vierten Dimension in einer Richtung, vom Beginn bis zum Ende unseres Daseins, bewegt.≪

≫Das≪, sagte ein sehr junger Mann, der sich krampfhaft bemühte, seine Zigarre über einer Kerzenflamme neu zu entzünden, ≫das …ist tatsächlich völlig klar.≪

≫Nun ist es aber wirklich bemerkenswert≪, fuhr der Zeitreisende, mit einem leichten Anflug von Heiterkeit fort, ≫daß dies so hartnäckig übersehen wird. Genau das nämlich ist mit der ‘Vierten Dimension’ gemeint, obwohl manche Leute, die davon reden, gar nicht wissen, daß sie von der vierten Dimension sprechen. Es ist nur eine neue Betrachtungsweise der Zeit. Der einzige Unterschied zwischen der Zeit und irgendeiner der drei Dimensionen des Raumes besteht darin, daß unser Bewußtsein sich in ihr bewegt. Nur sind manche Narren an diese Idee von der falschen Seite herangegangen. Sie haben doch alle gehört, was man über diese vierte Dimension behauptet?≪

≫Ich nicht≪, sagte der Bürgermeister aus der Provinz.

≫Es ist einfach so: Der Raum, wie unsere Mathematiker ihn auffassen, dehnt sich angeblich in drei Dimensionen aus, die man mit Länge, Breite und Höhe bezeichnen kann, und ist immer bestimmbar in bezug auf diese drei Ebenen, von denen jede im rechten Winkel zu den beiden anderen steht. Einige philosophische Köpfe aber haben sich gefragt: Warum gerade drei Dimensionen — und nicht noch eine vierte, im rechten Winkel zu den anderen drei? — und sie haben sogar versucht, eine vierdimensiomale Geometrie zu entwerfen. Professor Simon Newcomb hat dies der mathematischen Gesellschaft von New York vor ungefähr einem Monat dargelegt. Es ist bekannt, wie man auf einer Fläche, die ja nur zwei Dimensionen hat, die Figur eines dreidimensionalen Körpers räumlich darstellen kann; in analoger Weise glauben sie, könnte man mittels dreidimensionaler Modelle einen vierdimensionalen Raum darstellen — falls das Problem der Perspektive sich meistern läßt. Verstehen Sie?≪

≫Ich glaube, ja…≪, murmelte der Bürgermeister und verfiel, mit gerunzelten Bremen, in einen Zustand der Selbstversenkung, während seine Lippen sich bewegten, als wiederholten sie mystische Worte. ≫Ja jetzt wird es mir klar…≪, sagte er nach einer Weile und sah vorübergehend fast heiter drein.

≫Also, ich gestehe Ihnen gerne, daß ich schon seit einiger Zeit an dieser vierdimensionalen Geometrie arbeite. Einige meiner Resultate sind merkwürdig. Zum Beispiel habe ich hier das Bild eines Mannes im Alter von acht Jahren, dann mit fünfzehn, mit siebzehn, mit dreiundzwanzig und so weiter. Alle diese Bilder sind in der Tat Schnitte, das heißt dreidimensionale Projektionen eines vierdimensionalen Daseins. Das ist eine feststehende und unleugbare Tatsache.≪

≫Die Wissenschaft≪, fuhr der Zeitreisende nach einer Pause fort, die zum besseren Verständnis des Vorhergesagten beitragen sollte, ≫die Wissenschaft weiß sehr wohl, daß Zeit eigentlich nur eine Form von Raum ist. Hier haben Sie ein allgemein verständliches wissenschaftliches Diagramm: eine Wetterkurve. Diese Linie, die ich mit meinem Finger nachziehe, zeigt den Ausschlag des Barometers. Gestern stand es noch so hoch, in der Nacht ist es gefallen, heute früh wieder etwas angestiegen, und seither langsam weiter bis hierher. Das Quecksilber hat diese Linie doch sichtlich nicht innerhalb einer der drei allgemein anerkannten Dimensionen des Raumes gezogen? Und doch entstand diese Linie, woraus wir schließen müssen, daß sie entlang der Zeitdimension gezogen wurde.≪

≫Aber≪, sagte der Arzt, den Blick starr auf ein Stück Kohle im Kamin geheftet, ≫wenn Zeit tatsächlich nur eine vierte Dimension des Raumes ist, warum wird und wurde sie dann immer als etwas anderes angesehen? Und warum können wir uns innerhalb der Zeit nicht so frei bewegen wie in den anderen Dimensionen des Raumes?≪

Der Zeitreisende lächelte. ≫Sind Sie so sicher, daß wir uns im Raum frei bewegen können? Nach rechts und links, vorwärts und rückwärts können wir uns wohl ziemlich ungehindert fortbewegen, und das haben die Menschen auch seit jeher getan. Ich gebe also zu, daß wir uns in zwei Dimensionen frei bewegen können. Aber wie steht es mit aufwärts und abwärts? Hier setzt uns die Schwerkraft Grenzen.≪

≫Nicht völlig —≪ sagte der Mediziner. ≫Es gibt Luftballons.≪

≫Aber vor der Erfindung des Ballons hatte der Mensch, wenn man von krampfhaften Sprüngen oder den Unebenheiten der Erdoberfläche absieht, keine Möglichkeit, sich in vertikaler Richtung fortzubewegen.≪

≫Immerhin konnte er sich ein wenig aufwärts und abwärts bewegen≪, wandte der Arzt ein.

≫Allerdings leichter, viel leichter ab- als aufwärts!≪

≫Innerhalb der Zeit aber kann man sich überhaupt nicht bewegen, den gegenwärtigen Augenblick kann man nicht verlassen.≪

≫Gerade in diesem Punkt, mein Verehrtester, irren Sie. Hier irrte die ganze Welt. Wir entfernen uns doch stetig vom gegenwärtigen Moment. Unsere geistige Existenz, die immateriell ist und keinerlei Dimensionen hat, gleitet von der Wiege bis zum Grabe mit gleicher Geschwindigkeit der Zeitdimension entlang. Gerade so, als hätten wir unsere Existenz fünfzig Meilen oberhalb der Erdoberfläche begonnen und glitten seither bergab.≪

≫Aber die große Schwierigkeit ist doch≪, unterbrach der Psychologe, ≫daß man sich zwar innerhalb der Dimensionen des Raumes in alle Richtungen bewegen kann, nicht aber innerhalb der Zeit.≪

≫Das ist die Keimzelle meiner großen Entdeckung. Aber Sie haben unrecht, wenn Sie sagen, daß wir uns innerhalb der Zeit nicht bewegen können. Wenn ich mich, zum Beispiel, an ein Ereignis sehr lebhaft erinnere, so kehre ich zum Zeitpunkt des Geschehens zurück: Ich werde, wie man sagt, ‘geistesabwesend’. Für einen Augenblick springe ich in die Vergangenheit zurück. Natürlich haben wir keine Möglichkeit, dort auch nur für die kürzeste Zeitspanne zu verweilen, ebensowenig wie ein Wilder oder ein Tier sechs Fuß über der Erdoberfläche verweilen kann. Aber ein zivilisierter Mensch ist in dieser Hinsicht besser dran als der Wilde. Er kann, gegen die Schwerkraft, mit einem Ballon in die Höhe steigen; und warum sollte er nicht Grund zur Hoffnung haben, eines Tages auch sein Gleiten entlang der Zeitdimension aufhalten oder beschleunigen zu können? Oder sogar umzukehren und in entgegengesetzter Richtung zu reisen?≪

≫Ach das —≪ begann Filby, ≫das ist alles —≪

≫Warum nicht?≪ sagte der Zeitreisende.

≫Weil es gegen die Vernunft ist≪, sagte Filby.

≫Welche Vernunft?≪ fragte der Zeitreisende.

≫Sie können mir beweisen, daß Schwarz Weiß ist≪, sagte Filby, ≫aber Sie werden mich niemals überzeugen.≪

≫Möglicherweise nicht≪, sagte der Zeitreisende. ≫Aber Sie beginnen jetzt das Ziel meiner Forschungen über die Geometrie der vier Dimensionen zumindest zu ahnen. Vor langer Zeit hatte ich eine unbestimmte Vorstellung von einer Maschine —≪

≫Mit der man durch die Zeit reisen kann!≪ rief der sehr junge Mann. ≫Mit der man sich ungehindert in jeder Richtung durch Raum und Zeit bewegen kann, wie es der Lenker bestimmt.≪

Filby begnügte sich mit einem Lachen als Antwort.

≫Ich habe bereits eine experimentelle Bestätigung≪, sagte der Zeitreisende.

≫Das wäre ja außerordentlich praktisch für den Historiker≪, bemerkte der Psychologe. ≫Er könnte sich beispielsweise zurückversetzen, um die überlieferte Darstellung der Schlacht bei Hastings nachzuprüfen!≪

≫Befürchten Sie nicht, dort unliebsames Aufsehen zu erregen?≪ sagte der Arzt. ≫Unsere Vorfahren hatten wenig Sinn für Anachronismen.≪

≫Man könnte sein Griechisch direkt von den Lippen Homers und Platos lernen≪, erwog der sehr junge Mann.

≫In dem Fall würden Sie allerdings schon beim Vorexamen durchfallen! Die deutschen Professoren haben das Griechische inzwischen ja so verbessert!≪

≫Und die Zukunft erst!≪ schwärmte der sehr junge Mann. ≫Stellen Sie sich nur vor: Man könnte sein ganzes Geld auf hochverzinste Sparbücher legen und vorwärts in die Zukunft reisen!≪

≫Um dort dann eine Gesellschaftsordnung vorzufinden≪, sagte ich, ≫die nach streng kommunistischen Grundsätzen errichtet wurde.≪

≫Nichts als extravagante und unwahrscheinliche Theorien!≪ bemerkte der Psychologe.

≫Ja, so schien es mir auch, und deshalb sprach ich niemals davon, bis…≪

≫Experimentelle Bestätigungen!≪ rief ich aus. ≫Das wollen Sie durch Experimente beweisen?≪

≫Ein Experiment!≪ rief Filby, des angestrengten Denkens müde.

≫Führen Sie uns also Ihr Experiment vor≪, sagte der Psychologe, ≫obwohl die ganze Sache reiner Humbug ist, das wissen Sie ja!≪

Der Zeitreisende blickte lächelnd in die Runde. Dann verließ er, immer noch leise lächelnd und die Hände in die Hosentaschen vergraben langsam das Zimmer, und wir hörten ihn in seinen Pantoffeln den langen Gang, der zu seinem Laboratorium führte, entlangschlurfen.

Der Psychologe sah uns an. ≫Ich frage mich, was er vorhat?≪

≫Irgendeinen Taschenspielertrick oder etwas Ähnliches≪, sagte der Mediziner, und Filby begann uns eine Geschichte von einem Geisterbeschwörer zu erzählen, den er in Burslem getroffen hatte. Doch bevor er noch mit seiner Einleitung fertig war, kam der Zeitreisende zurück, und Filbys Geschichte blieb unvollendet.

Kapitel 2

Die Maschine

Der Zeitreisende hielt ein glitzerndes Metallgebilde in der Hand, kaum größer als ein Wecker und sehr fein konstruiert. Einige seiner Bestandteile waren aus Elfenbein, andere aus einem durchsichtigen, kristallinen Material. Und nun muß ich ausführlich werden, denn was nun folgte, ist — wenn man nicht dem Zeitreisenden glauben will—völlig unerklärlich. Er nahm einen der kleinen achteckigen Tische, die im Raum umherstanden, und rückte ihn vor das offene Feuer, so daß er mit zwei Beinen auf dem Kaminvorleger stand. Auf diesen Tisch stellte er den Apparat. Dann schob er einen Stuhl heran und setzte sich. Der einzige andere Gegenstand auf dem Tischchen war eine kleine Schirmlampe, deren helles Licht auf das Modell fiel. Außerdem brannten vielleicht noch ein Dutzend Kerzen im Raum, zwei in Messingleuchtern auf dem Kaminsims, andere in Wandleuchtern, so daß der Raum hell erleuchtet war. Ich saß dem Feuer am nächsten in einem niedrigen Armsessel, den ich so weit vorschob daß ich mich fast zwischen dem Zeitreisenden und dem Kamin befand. Filby saß hinter ihm und schaute ihm über die Schulter. Der Arzt und der Provinzbürgermeister sahen ihn von rechts im Profil, der Psychologe von links. Der sehr junge Mann stand hinter dem Psychologen. Wir beobachteten alles mit gespannter Aufmerksamkeit. Es scheint mir gänzlich unwahrscheinlich, daß wir unter diesen Bedingungen durch irgendein Kunststück oder einen noch so raffiniert und geschickt ausgeführten Trick hätten getäuscht werden können.

Der Zeitreisende blickte zuerst auf uns, dann auf den Apparat.

≫Nun?≪ fragte der Psychologe.

≫Dieses kleine Ding≪, sagte der Zeitreisende, die Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Hände über dem Apparat gefaltet, ≫ist nur ein Modell. Es ist mein Entwurf für eine Maschine, mit der man durch die Zeit reisen kann. Es wird Ihnen aufgefallen sein, daß sie ein wenig verdreht aussieht, und daß diese Stange so sonderbar funkelt, als wäre sie irgendwie unwirklich.≪ Er deutete mit dem Finger auf den betreffenden Bestandteil. ≫Dann sehen Sie hier einen kleinen weißen Hebel, und dort einen zweiten.≪

Der Arzt erhob sich von seinem Stuhl und betrachtete das Objekt aus der Nähe. ≫Es ist eine wundervolle Konstruktion≪, sagte er.

≫Es hat mich auch zwei Jahre Arbeit gekostet≪, erwiderte der Zeitreisende, und nachdem wir alle dem Beispiel des Arztes gefolgt waren, sagte er: ≫Nun möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Hebel lenken, der auf Druck die Maschine in die Zukunft gleiten läßt, während dieser hier sie in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Dieser kleine Sattel stellt den Sitz des Zeitreisenden dar. Ich werde jetzt auf den ersten Hebel drücken, und die Maschine wird sich in Bewegung setzen. Sie wird sich auf den Weg in die Zukunft machen und vor unseren Augen verschwinden. Beobachten Sie den Apparat genau. Behalten Sie aber auch den Tisch im Auge, und überzeugen Sie sich, daß kein Schwindel im Spiel ist. Ich will nicht dieses Modell opfern, um dann ein Scharlatan genannt zu werden.≪

Es entstand eine Pause von vielleicht einer Minute. Der Psychologe schien mir etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber. Dann streckte der Zeitreisende seinen Finger nach dem Hebel aus. ≫Nein≪, sagte er dann unvermittelt. ≫Geben Sie mir Ihre Hand.≪ Er wandte sich dem Psychologen zu, ergriff seine Hand und bat ihn, den Zeigefinger auszustrecken. So war es denn der Psychologe, der das Modell der Zeitmaschine auf seine endlose Reise schickte. Wir alle sahen, wie er den Hebel umlegte. Ich bin völlig sicher, daß keinerlei Täuschung im Spiele war. Es entstand ein Windzug, und die Flamme der Lampe zuckte auf . Eine der Kerzen auf dem Kaminsims erlosch, und die kleine Maschine begann sich plötzlich zu drehen, ihre Konturen verschwammen eine Sekunde lang war sie noch wie ein Phantom zu sehen, wie ein Wirbel von schwach glitzerndem Metall und Elfenbein, und dann war sie fort — spurlos verschwunden!

Auf dem Tisch stand nur noch die Lampe.

Alle blieben eine Minute lang stumm. Dann stieß Filby einen Fluch aus.

Der Psychologe erholte sich von seiner Erstarrung und schaute plötzlich unter den Tisch. Darüber lachte der Zeitreisende herzlich. ≫Nun?≪ sagte er und sah dabei den Psychologen an. Dann stand er auf , trat zur Tabaksdose auf dem Kaminsims und begann, mit dem Rücken zu uns, seine Pfeife zu stopfen.

Wir starrten einander an. ≫Hören Sie≪, sagte der Arzt, ≫meinen Sie das alles im Ernst? Glauben Sie wirklich, daß diese Maschine in die Zeit hinausgefahren ist?≪

≫Sicherlich≪, sagte der Zeitreisende und bückte sich, um einen Spam am Kaminfeuer zu entzünden. Dann drehte er sich um, zündete seine Pfeife an und sah dem Psychologen ins Gesicht. Dieser nahm, um nicht zu zeigen, daß er verstört war, eine Zigarre und versuchte sie anzurauchen, ohne die Spitze abzuschneiden. ≫Das ist noch nicht alles: Dort drinnen≪ — und er wies in Richtung des Laboratoriums — ≫habe ich eine große Maschine, fast fertig, und wenn es soweit ist , gedenke ich mich selbst auf die Reise zu begeben.≪

≫Wollen Sie damit sagen, daß die Maschine in die Zukunft abgereist ist?≪ fragte Filby.

≫In die Zukunft oder in die Vergangenheit — genau kann ich es selbst nicht sagen.≪

Nach einer Pause kam der Psychologe auf eine Idee. ≫Wenn, so muß sie in die Vergangenheit gefahren sein≪, sagte er.

≫Wieso?≪ fragte der Zeitreisende.

≫Weil ich annehme, daß sie sich nicht im Raum bewegt hat. Hätte sie sich aber in Richtung Zukunft auf den Weg gemacht, so müßte sie noch hier sein, denn sie müßte ja den jetzigen Moment durchqueren.≪

≫Aber≪, sagte ich, ≫wenn sie in die Vergangenheit abgereist wäre, hätte sie schon sichtbar sein müssen, als wir diesen Raum betraten, und auch vorigen Donnerstag, als wir hier versammelt waren; und den Donnerstag vorher und so weiter!≪

≫Das sind sehr beachtenswerte Einwände≪, bemerkte der Provinzbürgermeister mit Unparteilicher Miene indem er sich an den Zeitreisenden wendete.

≫Durchaus nicht≪, sagte der Zeitreisende, und, zum Psychologen gewandt: ≫Sie sind ein Denker. Sie könnten das erklären. Es handelt sich hier um eine unterschwellige Wahrnehmung, wie Sie wissen. Eine ganz flüchtige Wahrnehmung.≪

≫Natürlich≪, sagte der Psychologe zu unserer Beruhigung. ≫Das ist ein bekanntes Phänomen in der Psychologie. Ich hätte daran denken sollen. Es ist einfach genug, und eine fabelhafte Unterstützung dieses Paradoxons. Wir können diese Maschine weder sehen. noch können wir sie beurteilen — ebensowenig wie die Speichen eines rasch rollenden Rades oder eine durch die Luft fliegende Kugel. Wenn die Maschine fünfzig Mal oder hundert Mal schneller durch die Zeit rast als wir, wenn sie also eine Minute durcheilt, während wir nur eine Sekunde zurücklegen, so wird der Eindruck, den sie hervorruft, natürlich nur ein Fünfzigstel oder ein Hundertstel von dem sein, was er wäre, wenn sie nicht durch die Zeit flöge. Das ist ganz klar.≪ Er fuhr mit der Hand durch den Luftraum, in dem die Maschine gestanden war. ≫Sehen Sie?≪ sagte er lachend.

Wir saßen und starrten einige Augenblicke auf den leeren Tisch. Dann fragte uns der Zeitreisende, was wir von der ganzen Sache hielten.

≫Heute abend erscheint sie uns noch ganz plausibel≪, sagte der Arzt. —≫Aber warten wir bis morgen früh. Warten wir, was der morgendliche gesunde Menschenverstand dazu sagt.≪

≫Möchten Sie die echte Zeitmaschine sehen?≪ fragte der Zeitreisende, nahm die Lampe in die Hand und führte uns durch den langen, zugigen Korrider zu seinem Laboratorium. Ich erinnere mich lebhaft an die flackernde Beleuchtung, an die Umrisse seines merkwürdig breiten Kopfes, den Tanz der Schatten an der Wand, wie wir alle ihm folgten, gespannt aber ungläubig, und wie wir schließlich im Laboratorium vor einer großen Ausführung des kleinen Apparates standen, der sich eben vor unseren Augen in Nichts aufgelöst hatte. Einzelne Teile waren aus Nickel, andere aus Elfenbein, wieder andere offenbar aus Bergkristall herausgefeilt oder gesägt. Die Konstruktion war fast vollendet, nur die gewundenen Kristallstangen lagen unfertig auf der Werkbank neben einigen Bogen mit Entwürfen. Ich nahm eine davon in die Hand, um sie genauer zu betrachten. Sie schien aus Quarz zu sein.

≫Hören Sie≪, sagte der Arzt, ≫meinen Sie das alles im Ernst? Oder ist das ein Schwindel — wie der Geist, den Sie uns vorige Weihnachten erscheinen ließen?≪

≫Mit dieser Maschine≪, sagte der Zeitreisende und hielt die Lampe hoch, ≫gedenke ich die Zeit zu erforschen. Ist das klar? Nie im Leben habe ich etwas so ernst gemeint.≪

Keiner von uns wußte, was er dazu sagen sollte.

Über die Schulter des Arztes hinweg begegnete ich Filbys Blick, und er blinzelte mir vielsagend zu.

Kapitel 3

Der Zeitreisende kehrt zurück

Ich denke, daß damals keiner von uns ernstlich an die Zeitmaschine glaubte. Der Zeitreisende gehörte zu jenen Menschen, die zu gescheit sind, um glaubwürdig zu sein: Nie hatte man das Gefühl, ihn ganz zu durchschauen; immer vermutete man einen Rest von Geheimnis, eine hinter seiner geistvollen Offenheit versteckte Ironie. Hätte uns zum Beispiel Filby das Modell vorgeführt und die Sache mit denselben Worten wie der Zeitreisende erklärt, wir hätten ihm gegenüber weit weniger skeptisch reagiert. Denn wir hätten seine Motive durchschaut: Selbst ein Schweineschlächter konnte Filby verstehen. Der Zeitreisende dagegen vereinigte in seinem Charakter die wunderlichsten Elemente, und wir mißtrauten ihm. Dinge, die einen weniger genialen Mann berühmt gemacht hätten, wirkten bei ihm wie zweifelhafte Kunststücke. Es ist ein Fehler, große Leistungen allzu mühelos zu vollbringen. Selbst ernsthafte Leute, die auch ihn ernst nahmen, wurden durch sein Verhalten unsicher: Ihren guten Ruf für ihn einzusetzen, fühlten sie, wäre der Tapezierung eines Kinderzimmers mit hauchdünnem Porzellan gleichgekommen. Deshalb, glaube ich, sprach keiner von uns in der Zeit zwischen jenem Donnerstag und dem nächsten viel über die Zeitreise, obwohl deren erstaunliche Möglichkeiten unsere Gedanken zweifellos intensiv beschäftigten: ihre theoretische Wahrscheinlichkeit und zugleich ihre praktische Unglaublichkeit, die interessante Aussicht auf Anachronisrnen und maßlose Verwirrungen, die sie zur Folge haben könnte. Was mich betrifft, so beschäftigte mich besonders der Trick mit dem verschwundenen Modell. Ich erinnere mich, darüber mit dem Mediziner gesprochen zu haben, den ich am Freitag in der Linné-Gesellschaft traf. Er behauptete, ein ähnliches Phänomen in Tübingen gesehen zu haben, und legte besonderes Gewicht auf das Verlöschen der Kerze. Doch wie das Kunststück funktionierte, war auch ihm unerklärlich.

Am nächsten Donnerstag fuhr ich wieder nach Richmond — ich glaube, ich war einer der treuesten Gäste des Zeitreisenden —, und da ich etwas zu spät am, fand ich schon vier oder fünf Männer im Wohnzimmer versammelt. Der Arzt stand beim Kamin und hielt in einer Hand ein Blatt Papier, in der anderen seine Uhr. Ich hielt eben Ausschau nach dem Zeitreisenden, als der Arzt sagte: ≫Es ist schon halb acht — ich meine, wir sollten lieber zu Tisch gehen.≪

≫Wo ist X.?≪ fragte ich, unseren Gastgeber nennend.

≫Sie sind eben erst gekommen, nicht? Es ist sonderbar: Er wurde durch eine unaufschiebbare Angelegenheit aufgehalten. In diesem Brief ersucht er mich, Sie um sieben zu Tisch zu bitten falls er bis dahin noch nicht zurück sein sollte. Er schreibt, er würde uns nach seiner Rückkehr alles erklären.≪

≫Es wäre doch schade, das Abendessen verderben zu lassen≪, sagte der Herausgeber einer sehr bekannten Tageszeitung; worauf der Arzt zu Tisch läutete.

Der Psychologe war der einzige außer dem Arzt und mir, der dem Treffen in der vorigen Woche beigewohnt hatte. Die anderen Gäste waren Blank — der schon erwähnte Herausgeber —, ein befreundeter Journalist und noch jemand — ein ruhiger, schüchterner Mann mit Bart — den ich nicht kannte, und der, soweit ich mich erinnere, den ganzen Abend den Mund nicht öffnete. Bei Tisch wurden Vermutungen über den Grund der Abwesenheit des Gastgebers laut, und ich meinte, halb im Scherz, er habe vielleicht eine Zeitreise angetreten. Der Herausgeber bat um eine Erklärung, und der Psychologe setzte zu einem trockenen Bericht über ≫die phantastische Idee und das Kunststück≪ an, die wir eine Woche zuvor miterlebt hatten. Er wurde in seinen Erläüterungen jäh unterbrochen, als sich plötzlich langsam und leise die Tür zum Korridor öffnete. Ich saß genau gegenüber und bemerkte es als erster. ≫Hallo!≪ sagte ich. ≫Endlich!≪ Die Tür ging weiter auf, und der Zeitreisende stand vor uns.

Ich stieß einen Schrei der Überraschung aus.

≫Barmherziger Himmel! Mann, was ist los mit Ihnen?≪ rief der Arzt, der ihn als nächster erblickte. Darauf wandte sich die ganze Tafelrunde zur Tür.

Unser Gastgeber warin einem erschreckenden Zustand. Sein Rock war staubig, schmutzig, die Ärmel bis hinauf mit Grasflecken verschmiert; sein Haar in Unordnung und, wie mir schien, ergraut — entweder durch Staub und Schmutz, oder weil es wirklich die Farbe verloren hatte. Sein Gesicht war entsetzlich bleich; am Kinn hatte er eine halb verheilte, bräunliche Schnittwunde, sein Blick war verstört, die Züge verzerrt wie durch ein schweres Leiden. Einen Augenblick lang blieb er in der Tür stehen, als ob das Licht ihn blendete. Dann trat er ein. Er hinkte auf eine Art, wie ich sie bisher nur bei Landstreichern mit wunden Füßen beobachtet hatte. Wir starrten ihn schweigend an und warteten darauf, daß er zu sprechen beginne.

Er sagte jedoch kein Wort, sondern näherte sich mühselig dem Tisch und deutete auf den Wein. Der Herausgeber füllte ein Glas mit Sekt und schob es ihm hin. Er leerte es, und es schien ihm gut zu tun: denn er blickte rund um den Tisch, und ein Schatten seines gewohnten Lächelns huschte über seine Züge. ≫Was, um Himmels willen, ist mit Ihnen geschehen, Mann?≪ rief der Doktor aus. Der Zeitreisende schien die Frage gar nicht zu hören. ≫Laßt euch nicht stören≪, sagte er mit einem leichten Stottern. ≫Es ist alles in Ordnung.≪ Er unterbrach sich, hielt sein Glas zum Nachfüllen hin und trank es auf einen Zug leer. ≫Das tut wohl≪, sagte er. Seine Augen hellten sich auf, und ein wenig Farbe kehrte auf seine Wangen zurück. Sein Blick irrte über unsere Gesichter mit einer Art dumpfer Genugtuung und streifte dann das warme, gemütliche Zimmer. Dann sprach er wieder, noch immer so , als ob er nach den Worten suchen müßte: ≫Ich gehe mich jetzt waschen und umkleiden, dann komme ich wieder und erkläre euch alles…Hebt mir ein bißchen von dem Lammbraten auf . Ich bin aus gehungert nach einem Bissen Fleisch.≪

Er schaute zu dem Herausgeber hinüber, der ein seltener Gast War, und fragte nach seinem Befinden. Der Herausgeber holte zu einer Frage aus.

≫Ich erkläre Ihnen alles später≪, sagte der Zeitreisende. ≫Mir ist so sonderbar! Gleich wird es mir wieder bessergehen.≪

Er stellte sein Glas hin und ging zu der Tür, die ins Stiegenhaus führte. Wieder fiel mir auf , daß er hinkte und sonderbar lautlos dahintappte, und als ich mich von meinem Platz erhob, sah ich beim Hinausgehen seine Füße. Er hatte nichts als ein Paar zerfetzter, blutgetränkter Socken an. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Schon wollte ich ihm folgen, als ich mich erinnerte , wie ungern er das Getue um seine Person hatte.

Eine Minute lang hing ich meinen Gedanken nach. Dann hörte ich den Herausgeber sagen: ≫Sonderbares Betragen für einen berühmten Wissenschaftler.≪ Er dachte, wie gewohnt, in Schlagzeilen. Dies lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf die gesellige Tafelrunde.

≫Was wird da gespielt?≪ fragte der Journalist. ≫Ist er als Amateur-Hausierer unterwegs gewesen? Ich versteh´ das alles nicht.≪ Ich begegnete dem Blick des Psychologen und las meine eigene Deutung auch in seinem Gesicht. Ich dachte an den Zeitreisenden, wie er sich jetzt unter Schmerzen treppauf schleppte. Ich glaube nicht, daß noch jemand außer mir sein Hinken bemerkt hatte.

Der erste, der sich völlig von seiner Überraschung erholte, war der Arzt. Er läutete — der Zeitreisende mochte es nämlich nicht, daß Diener bei Tisch servierten — und ließ eine Wärmeplatte kommen. Daraufhin griff der Heraüsgeber brummend wieder zu Messer und Gabel, und der schweigsame Mann tat es ihm nach. Man setzte die Mahlzeit fort. Die Konversation war zeitweilig sehr geräuschvoll und von lauten Ausrufen der Verwunderung unterbrochen. Der Herausgeber wurde immer neugieriger. ≫Verbessert unser Freund sein bescheidenes Einkommen durch Reisen, oder ist er in seiner Nebukadnezar-Phase?≪ fragte er.

≫Ich bin sicher, es handelt sich um diese Geschichte mit der Zeitmaschine≪, sagte ich und setzte den Bericht des Psychologen über unser Treffen von vergangener Woche fort. Die neuen Gäste konnten es offensichtlich nicht glauben. Der Herausgeber erhob Einwände. Was war eigentlich diese Zeitreiserei? Ein Mann konnte sich doch nicht mit Staub bedecken, indem er sich in einem Paradoxon herumwälzte, oder? Dann, als die Geschichte ihm klarer wurde, zog er sie ins Komische. Gab es denn in der Zukunft keine Kleiderbürsten? Auch der Journalist wollte um keinen Preis daran glauben und unterstützte den Herausgeber bei dem bequemen Unterfangen, die ganze Angelegenheit mit Spott und Hohn zu überhäufen. Sie gehörten beide zur neuen Generation von Zeitungsleuten — äußerst spöttische und respektlose junge Männer. ≫Unser Spezialherichterstatter von übermorgen berichtet≪, sagte — oder vielmehr schrie — der Journalist gerade, als der Zeitreisende wieder eintrat. Er war in einen gewöhnlichen Abendanzug gekleidet, und nichts als sein verstörter Blick zeugte noch von der Veränderung, die mich so sehr erschreckt hatte.

≫Ich sage Ihnen≪ rief der Herausgeber übermütig, ≫diese Burschen da behaupten, Sie wären zur Mitte der nächsten Woche gereist! Verraten Sie uns doch bitte, was Minister Rosebery vorhat, ja? Was verlangen Sie dafür?≪

Der Zeitreisende begab sich, ohne ein Wort zu sagen, zu dem für ihn reservierten Platz. Er lächelte gleichmütig, wie es seine Gewohnheit war.

≫Wo ist mein Lammbraten?≪ fragte er. ≫Welch ein Genuß, seine Gabel endlich wieder in ein Stück Fleisch zu stechen!≪

≫Die Geschichtel≪ schrie der Herausgeber.

≫Hol der Teufel die Geschichte!≪ sagte der Zeitreisende. ≫Ich will etwas zu essen. Nicht ein Wort sage ich, bevor ich nicht etwas Pepton in meine Arterien gepumpt habe. Danke. Das Salz, bitte.≪

≫Nur ein Wort≪, sagte ich. ≫Sind Sie durch die Zeit gereist?≪

≫Ja≪, antwortete der Zeitreisende mit vollem Mund und nickte.

≫Ich zahle einen Schilling pro Zeile für einen Exklusiv-Bericht≪, sagte der Zeitungsberausgeber. Der Zeitreisende schob sein Glas dem Schweigsamen zu und klopfte mit dem Fingernagel daran: Der Schweigsame, der ihm ins Gesicht gestarrt hatte, fuhr zusammen und schenkte ihm nach. Der Rest des Mahles war ausgesprochen ungemütlich. Was mich betrifft, so drängten sich mir unentwegt Fragen auf, die ich nicht aussprach, und sicher ging es den anderen ebenso. Der Journalist versuchte die Spannung zu mildern, indem er alte Anekdoten erzählte. Der Zeitreisende wandte indessen seine ganze Aufmerksamkeit dem Essen zu und entfaltete dabei den Appetit eines Vagabunden. Der Arzt rauchte eine Zigarette und beobachtete den Zeitreisenden unter gesenkten Lidern. Der Schweigsame betrug sich noch ungeschickter als gewöhnlich und trank aus Nervosität ein Glas Champagner nach dem anderen. Schließlich schob der Zeitreisende seinen Teller weg und sah uns alle an.

≫Ich glaube, ich muß mich entschuldigen≪, sagte er. ≫Aber ich war völlig ausgehungert. Ich habe unglaubliche Dinge erlebt.≪ Er griff nach einer Zigarre und schnitt die Spitze ab. ≫Gehen wir ins Herrenzimmer hinüber. Diese Geschichte ist zu lang, um sie vor schmutzigen Tellern zu erzählen.≪ Er zog im Vorübergehen an der Glocke und führte uns ins Nebenzimmer.

≫Sie haben Blank, Dash und Chose von der Maschine erzählt?≪ fragte er mich und machte es sich in einem Armsessel bequem.

≫Aber das alles ist doch reine Phantasterei!≪ rief der Herausgeber.

≫Ich kann heute abend nicht streiten. Ich bin bereit, Ihnen die Geschichte zu erzählen, aber ich will nicht diskutieren. Ich werde Ihnen≪, fuhr er fort, ≫die Geschichte meiner Erlebnisse erzählen, wenn Sie sie hören wollen, aber Sie dürfen mich nicht unterbrechen. Ich werde sie einfach erzählen. Unzureichend. Und manches wird vielleicht wie eine Lüge klingen. Mag sein! Dennoch ist die Geschichte wahr, jedes Wort davon. Ich betrat also mein Laboratorium um vier Uhr, und seither …habe ich acht Tage erlebt…Tage, wie sie noch kein menschliches Wesen je durchlebt hat. Ich bin am Rande der Erschöpfung, doch ich werde nicht schlafen gehen, bevor ich Ihnen die Sache zu Ende erzählt habe. Aber bitte keine Unterbrechungen! Einverstanden?≪

≫Einverstanden!≪ sagte der Herausgeber, und wir stimmten alle mit ein: ≫Einverstanden!≪ Daraufhin begann der Zeitreisende seine Erlebnisse zu erzählen, wie ich sie aufgeschrieben habe. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sprach zuerst mit müder Stimme. Später wurde er zusehends lebhafter. Während ich die Geschichte niederschreibe, spüre ich nur zu deutlich, wie unzulänglich Tinte und Feder sind und wie sehr mir vor allem das Talent mangelt, die Atmosphäre unverfälscht wiederzugeben. Ich vermute, daß Sie ein aufmerksamer Leser sind, aber Sie können weder das blasse, ehrliche Gesicht des Erzählers im Lichtkreis der kleinen Lampe sehen, noch hören Sie den Tonfall seiner Stimme. Sie können sich nicht vorstellen, wie sein Mienenspiel die Wendungen seiner Geschichte reflektierte! Die meisten von uns Zuhörern saßen im Schatten, denn die Kerzen im Herrenzimmer waren nicht angezündet worden, und nur das Gesicht des Journalisten und die Beine des Schweigsamen waren von den Knien abwärts zu sehen. Zuerst blickten wir einander noch hie und da an, bald aber sahen wir alle nur noch das Gesicht des Zeitreisenden.

Kapitel 4

Fahrt durch die Zeit

≫Einigen von Ihnen habe ich am vorigen Donnerstag die Prinzipien der Zeitmaschine dargelegt und Ihnen den damals noch unfertigen Apparat selbst in meiner Werkstatt gezeigt. Dort steht er nun wieder, wenn auch ein wenig beschädigt von der Reise: Einer der Elfenbeinstäbe ist gesprungen und eine Metallschiene verbogen; doch sonst ist er intakt. Ich hatte gehofft, ihn am Freitag fertigzustellen, bemerkte aber an diesem Tag, als die Montage fast beendet war, daß eine der Nickelstangen um genau einen Zoll zu kurz war und mußte eine neue anfertigen, so daß der Apparat erst heute früh fertig war. Heute, um genau zehn Uhr Vormittag, trat die erste aller Zeitmaschinen ihre Laufbahn an. Ich klopfte sie ein letztes Mal ab, kontrollierte nochmals alle Schrauben, goß einen Tropfen Öl auf das Quarzgestänge und stieg in den Sattel. Ich glaube, ein Selbstmörder, der die Pistolenmündung an seinen Schädel hält, müßte ähnlich gespannt sein auf das, was ihn erwartet, wie ich in diesem Moment. Ich ergriff den Starthebel mit einer Hand, den Stophebel mit der anderen , betätigte den ersten und unmittelbar danach den zweiten. Schwindel ergriff mich; ich hatte, wie in einem Alptraum, das Gefühl zu fallen: Aber als ich mich umsah, war das Laboratorium unverändert. War überhaupt etwas geschehen? Einen Augenblick lang dachte ich, mein Verstand habe mich im Stich gelassen. Dann bemerkte ich die Uhr. Einen Augenblick vorher — so schien es mir — hatte sie ungefähr eine Minute nach zehn gezeigt: Jetzt aber war es fast halb vier!

Ich holte tief Atem, biß die Zähne zusammen, betätigte den Starthebel mit beiden Händen und fuhr mit einem Ruck los. Das Laboratorium verschwamm vor meinen Augen. Mrs. Watchett betrat das Zimmer und ging, scheinbar ohne mich zu sehen, zur Gartentüre. Ich vermute , sie brauchte ungefähr eine Minute, um den Raum zu durchqueren, mir aber schien es, als schösse sie vorbei wie eine Rakete. Ich drückte den Hebel bis zum Anschlag nieder. Die Nacht brach herein, so plötzlich, wie wenn man eine Lampe auslöscht, und im nächsten Augenblick brach schon der nächste Tag an. Das Laboratorium verschwamm mehr und mehr in einem Nebel. Die morgige Nacht brach schwarz herein, dann wurde es abwechselnd Tag und wieder Nacht, immer schneller und schneller. Ein Wirbel von Geräuschen dröhnte in meinen Ohren, und eine sonderbare, dumpfe Verwirrung trübte meine Sinne.

Ich fürchte, ich kann Ihnen die sonderbaren Eindrücke einer Fahrt durch die Zeit nicht deutlich machen. Sie sind außerordentlich unangenehm. Man fühlt sich wie auf einer rasenden Berg- und Talbahn — hilflos vorangeschleudert! Dazu kam das schreckliche Gefühl, sofort zerschmettert zu werden. Als ich beschleunigte, folgte die Nacht dem Tag wie das Flattern eines schwarzen Flügels. Die verdämmernden Umrisse des Laboratoriums begannen ins Nichts zurückzuweichen, und ich sah die Sonne über den Himmel hüpfen, ihn jede Minute überspringend, so daß jede Minute einen Tag anzeigte. Ich vermutete, das Laboratorium gesprengt zu haben und ins Freie geschleudert worden zu sein. Ich hatte den flüchtigen Eindruck eines Baugerüstes, war aber schon zu rasch unterwegs, um irgendwelche beweglichen Objekte erfassen zu können. Die langsamste Schnecke, die je dahinkroch, sauste zu schnell für mich vorbei. Der blitzartige Wechsel von Tag und Nacht war äußerst schmerzhaft für die Augen. Dann sah ich, in den dunklen Zwischenräumen, den Mond schnell durch alle Phasen von Neumond bis Vollmond gehen und bemerkte das schwache Blinken der umlaufenden Sterne. Als sich meine Fahrt weiter beschleunigte, verschmolz der Pulsschlag von Tag und Nacht zu einem fortlaufenden Grau. Der Himmel nahm ein wundervoll tiefes Blau an, eine herrlich leuchtende Farbe wie zur Zeit der frühen Dämmerung: Die springende Sonne wurde zu einem Feuerstreifen, einem leuchtenden Bogen im All, der Mond war wie ein blasses, schwingendes Band; und von den Sternen sah ich nicht mehr als hie und da einen hellen flimmernden Kreis im Blau.

Die Landschaft war undeutlich und in Nebel gehüllt. Ich befand mich noch am Abhang des Hügels, auf dem jetzt dieses Haus steht, seine Flanke stieg undeutlich grau über mir auf. Ich sah die Bäume wachsen und sich wie Dampfwolken verändern, bald grün, bald braun: Sie wuchsen, breiteten sich aus, erschauerten und verschwanden. Ich sah hohe Gebäude sich erheben, verschwommen zuerst, dann deutlich, und wieder vergehen wie Träume. Die ganze Erdoberfläche schien verändert — sie schmolz und zerfloß unter meinem Blick. Die kleinen Zeiger auf den Zifferblättern, die meine Geschwindigkeit anzeigten, rasten schneller und schneller herum. Jetzt bemerkte ich auch, daß der Sonnengürtel auf und ab schwankte, von einer Sonnenwende zur andern, innerhalb einer Minute oder noch weniger, und meine Geschwindigkeit daher mehr als ein Jahr pro Minute betragen mußte. Von einer Minute zur anderen leuchtete weißer Schnee über der Welt auf, und ihm folgte das helle, vergängliche Grün des Frühlings.

Die unangenehmen Gefühle des Starts waren jetzt weniger heftig. Sie verwandelten sich allrhählich in eine Art hysterisch gesteigerte Heiterkeit. Zwar spürte ich ein plumpes Schwanken der Maschine, das ich mir nicht erklären konnte, aber mein Geist war zu verwirrt, um sich damit zu befassen; so schwang ich mich, wie vom Wahnsinn besessen, weiter in die Zukunft hinein. Zuerst dachte ich kaum daran, anzuhalten, dachte an nichts als diese neuen Eindrücke. Mit der Zeit aber registrierte mein Bewußtsein neue, andere Eindrücke — eine gewisse Neugier überkam mich, und mit ihr eine Art Furcht — die sich meiner schließlich vollkommen bemächtigten. Welch sonderbare Entwicklungen der Menschheit, welch wundervolle Fortschritte über unsere ru- dimentäre Zivilisation hinaus, dachte ich, würden wohl auftauchen, wenn ich die dämmernde, flüchtige Welt, die da vor meinen Augen vorbeiraste und wogte, aus der Nähe betrachtete! Ich sah große, glänzende Bauten rings um mich aufragen, massiger als die Architektur unserer Zeit, und doch, wie es mir schien, aus flimmerndem Nebel erbaut. Ich sah ein saftigeres Grün die Hänge überfluten und dort ohne jede winterliche Unterbrechung verweilen. Sogar durch den Schleier meiner verwirrten Sinne drang das Bild einer sehr schönen Erde. So begann ich mich auf eine Landung vorzubereiten.

Das größte Risiko lag in der Möglichkeit, daß ich in dem Raum, den ich mit meiner Maschine einnahm, auf eine feste Substanz stoßen konnte. Solange ich mit hoher Geschwindigkeit durch die Zeit raste, machte das kaum etwas aus: Ich war sozusagen verdünnt, ich schlüpfte wie eine Dampfwolke durch die Zwischenräume der mir begegnenden Substanzen! Aber haltzumachen bedeutete die Gefahr, Molekül für Molekül mit dem zusammenzuprallen, was mir im Weg lag; bedeutete, meine Atome in so engen Kontakt mit denen des Hindernisses zu bringen, daß eine heftige chemische Reaktion — vielleicht eine weitreichende Explosion — entstehen konnte, die meinen Apparat und mich selbst aus allen möglichen Dimensionen herausschleudern würde — ins völlig Unbekannte. Diese Möglichkeit hatte ich mir wieder und wieder ausgemalt, während ich die Maschine konstruierte; aber damals hatte ich sie ohne Bedenken als ein unvermeidliches Risiko hingenommen — ein Risiko, dem ein Mann sich eben aussetzen muß! Jetzt, da dieses Risiko unvermeidlich geworden war, sah ich es in weniger heiterem Licht. Unmerklich hatten die völlige Fremdartigkeit ringsum, das beunruhigende Schwanken und Rasseln der Maschine und vor allem das Gefühl endlosen Fallens meine Nerven angegriffen. Ich redete mir ein, niemals mehr anhalten zu können, und in einem Anfall von Trotz beschloß ich, sofort haltzumachen. Wie ein ungeduldiger Narr drückte ich mit aller Kraft auf den Stophebel, die Maschine stürzte abrupt nach vorne, und ich wurde kopfüber durch die Luft geschleudert.

Es hallte wie ein Donnerschlag in meinen Ohren. Einen Augenblick lang muß ich betäubt gewesen sein. Ein erbarmungsloser Hagel zischte rund um mich durch die Luft, und ich saß auf weichem Rasen, neben der umgestürzten Maschine. Alles erschien mir noch grau, aber ich bemerkte sofort, daß die wirren Geräusche in meinen Ohren verstummt waren. Ich sah mich um. Anscheinend saß ich auf einem Rasenplatz in einem Garten, umringt von Rhododendron-Büschen, deren purpurne und lila Blüten ich unter den Schlägen der Hagelkörner zu Boden fallen sah. Der aufprallende, tanzende Hagel hing in einer kleinen Wolke über der Maschine und wehte wie Nebel über den Boden dahin. Innerhalb von Sekunden war ich bis auf die Haut durchnäßt. ‘Ein reizender Empfang’, sagte ich ‘für einen Mann, der eine Unzahl von Jahren gereist ist, um euch zu besuchen!’

Dann fiel mir ein, was für ein Narr ich doch war, mich so durchnässen zu lassen. Ich stand auf und sah mich um. Eine kolossale Statue , offenbar aus irgendeinem weißlichen Stein gemeißelt, schimmerte jenseits der Rhododendron-Büsche durch den Hagelschleier. Sonst war von der Welt nichts zu sehen.

Meine Gefühle lassen sich kaum beschreiben. Als der Hagelvorhang dünner wurde, erkannte ich die weiße Statue deutlicher. Sie mußte sehr groß sein, denn der Wipfel einer Silberbirke reichte ihr nur bis zur Schulter. Sie war aus weißem Marmor und ähnelte einer geflügelten Sphinx, nur mit dem Unterschied, daß die Flügel, statt an den Flanken zu liegen, ausgebreitet waren, so daß sie zu schweben schien. Das Piedestal, so schien es mir, war aus Bronze und dick mit Grünspan überzogen. Es traf sich, daß ihr Gesicht mir zugewendet war; die blicklosen Augen schienen mich zu beobachten: Um ihre Lippen lag der Schatten eines Lächelns. Die ganze Figur war stark verwittert und machte einen beunruhigenden, fast krankhaften Eindruck. Ich stand und betrachtete sie eine Weile — vielleicht eine halbe Minute, vielleicht auch eine Stunde lang. Sie schien näher und ferner zu rücken, je nachdem, ob der Hagel dünner oder dichter fiel. Schließlich löste ich meinen Blick von ihr und bemerkte, daß der Hagelvorhang fadenscheinig geworden war und eine Andeutung von Sonnenschein den Himmel erhellte.

Ich erhob den Blick wieder zu der lauernden weißen Gestalt, und plötzlich wurde ich mir der Tollkühnheit meiner Reise bewußt. Was würde zum Vorschein kommen, wenn sich dieser Nebelvorhang ganz auflöste? Wie mochte die Menschheit sich verwandelt haben? Wie, wenn die Grausamkeit zum allgemeinen Laster geworden wäre? Wenn in dem langen Zeitraum die Rasse alles Menschliche verloren hätte und sich zu einem fremdartigen, gefühllosen und übermächtigen Geschlecht entwickelt hätte? Möglicherweise würde man mich für ein urweltliches wildes Tier halten, nur um so fürchterlicher und abstoßender durch sein menschenähnliches Aussehen — ein widerliches Geschöpf, daß man sofort erschlagen mußte?

Nun sah ich auch andere Formen anfragen — große Gebäude mit verzierten Balkonen und hohen Säulen, und daneben einen bewaldeten Abhang, der durch den abnehmenden Sturm hindurch auf mich zukroch. Panische Furcht ergriff mich. Wie besessen rannte ich zurück zu meiner Maschine und bemühte mich verzweifelt, sie wieder in Ordnung zu bringen. Währenddessen drangen die ersten Sonnenstrahlen durch die Gewitterwolken. Der graue Regenvorhang wurde zur Seite geschoben und zog ab wie die schleppenden Gewänder eines Gespenstes. Über mir, im tiefen Blau eines Sommerhimmels, verloren sich noch einige letzte graue Wolkenfetzen. Die großen Gebäude rund um mich zeichneten sich jetzt klar und rein ab, noch glänzend von der Nässe des Regens und an den Simsen von ungeschmolzenen Hagelkörnern weiß gerändert. Ich fühlte mich nackt und hilflos in einer fremden Welt ausgesetzt. Ich fühlte mich wie ein Vogel in freier Luft, der weiß, daß über ihm der Falke schwebt, bereit, auf ihn herabzustoßen. Meine Angst grenzte an Wahnsinn. Ich holte tief Atem, biß die Zähne zusammen und stemmte mich nochmals mit Händen und Knien verzweifelt gegen die Maschine. Unter meiner Anstrengung gab sie endlich nach und kippte in aufrechte Stellung zurück. Dabei schlug sie heftig gegen mein Kinn. Eine Hand auf dem Sitz die andere auf dem Hebel, stand ich atemlos keuchend da, bereit, wieder einzusteigen.

Mit der Aussicht auf eine schnelle Rückzugsmöglichkeit kehrte mein Mut zurück. Neugieriger und weniger ängstlich blickte ich auf diese Welt der fernen Zukunft. In einem runden Fenster, hoch oben an der Fassade des nächsten Hauses, sah ich eine Gruppe von Gestalten, in reiche fließende Gewänder gekleidet. Sie hatten mich gesehen, und ihre Gesichter waren mir zugewendet.

Dann hörte ich Stimmen näher kommen. Zwischen den Büschen um die weiße Sphinx tauchten die Köpfe und Schultern herbeieilender Menschen auf. Einer von ihnen erschien auf dem Pfad, der geradewegs auf den kleinen Rasenplatz zuführte, wo ich mit meiner Maschine stand. Es war ein schmächtiges Geschöpf – vielleicht vier Fuß hoch — bekleidet mit einer purpurfarbenen Tunika, die um die Körpermitte mit einem Ledergürtel zusammengehalten war. An den Füßen trug es Sandalen oder verschnürte Halbstiefel — dies konnte ich nicht genau unterscheiden — seine Beine waren nackt bis zum Knie, der Kopf unbedeckt. Erst als ich das sah, merkte ich, wie warm die Luft war, die mich umgab.

Mir erschien das kleine Wesen als wunderschön und anmutig, aber unbeschreiblich zerbrechlich. Sein gerötetes Gesicht gemahnte mich an die Schönheit mancher Schwindsüchtiger — diese fiebrige Schönheit, von der man so oft reden hört. Bei seinem Anblick faßte ich plötzlich wieder Mut. Ich nahm die Hände von der Maschine.

Kapitel 5

Im goldenen Zeitalter

Im nächsten Augenblick standen wir einander gegenüber, ich und dieses zerbrechliche Zukunftswesen. Es kam direkt auf mich zu und lachte mich freundlich an. Erstaunt stellte ich fest, daß es keinerlei Anzeichen von Furcht zeigte. Dann wandte es sich an zwei andere Menschlein, die ihm gefolgt waren, und redete mit ihnen in einer sonderbaren, auffallend sanften und wohlklingenden Sprache.

Andere kamen hinzu, und bald hatte sich eine Gruppe von acht oder zehn dieser schönen Geschöpfe um mich geschart. Eines von ihnen sprach mich an. Mir kam der merkwürdige Gedanke, daß meine Stimme zu rauh und tief für sie sein könnte. So schüttelte ich nur den Kopf, deutete auf meine Ohren und schüttelte ihn erneut. Einer machte einen Schritt auf mich zu, zögerte ein wenig, und berührte dann meine Hand. Dann fühlte ich andere zarte kleine Finger nach meinem Rücken und meinen Schultern tasten. Sie wollten sich davon überzeugen, daß ich kein Trugbild sei. Nichts an alledem war beunruhigend. Im Gegenteil, diese hübschen kleinen Leute hatten etwas an sich, das Vertrauen einflößte — eine anmutige Freundlichkeit, eine gewisse kindliche Grazie. Dabei sahen sie so zart aus, daß ich mir vorstellen konnte, mit Leichtigkeit ein ganzes Dutzend wie Kegel umzuwerfen. Nurum sie zu warnen machte ich eine abwehrende Bewegung, als ich sah, wie sie mit ihren rosigen Händchen die Zeitmaschine betasteten. Zum Glück wurde mir noch rechtzeitig eine Gefahr bewußt, an die ich bisher nicht gedacht hatte. Ich griff in das Gestänge, um die kleinen Hebel herauszuschrauben, die meine Maschine in Bewegung setzen konnten, und steckte sie in die Tasche. Dann wandte ich mich wieder den kleinen Leuten zu, um zu versuchen, eine Form der Verständigung mit ihnen zu finden.

Als ich sie mir genauer ansah, fielen mir einige weitere Eigentümliehkeiten ihrer porzellanenen Schönheit auf. Ihr lockiges Haar war gegen Wangen und Hals scharf abgegrenzt, das Gesicht zeigte nicht die geringste Spur von Haarwuchs. Ihre Ohren waren winzig, und alle hatten sie kleine Münder, mit feinen, hellroten Lippen, und kleine spitze Kinne. Ihre Augen waren groß und sanft, und — dies klingt vielleicht sehr egozentrisch — es sprach aus ihnen weniger Interesse, als ich erwartet hätte.

Da sie gar keinen Versuch machten, sich mit mir zu verständigen, sondern einfach um mich herumstanden und in sanft girrenden Tönen miteinander sprachen, leitete ich die Konversation ein. Ich deutete zuerst auf die Zeitmaschine und dann auf mich selbst. Dann überlegte ich einen Augenblick lang, wie ich den Begriff Zeit zum Ausdruck bringen sollte, und wies auf die Sonne. Sofort machte ein ziemlich hübsches Wesen in rot und weiß karierter Kleidung meine Geste nach und versetzte mich in Erstaunen, indem es das Geräusch des Donners imitierte.

Einen Augenblick lang stutzte ich, obwohl die Bedeutung seiner Geste unmißverständlich war. Ich fragte mich plötzlich, ob ich es mit Verrückten zu tun hätte? Sie werden wohl kaum verstehen, warum mich das so berührte. Sehen Sie, ich hatte immer angenommen, daß die Menschen im Jahr achthundertundzweitausend oder danach uns in Wissen, Kunst — ja in allem — unglaublich weit voraus sein würden. Und nun stellte mir einer von ihnen plötzlich eine Frage, die offensichtlich dem intellektuellen Niveau eines fünfjährigen Kindes entsprach — fragte mich tatsächlich, ob ich mit dem Gewitter von der Sonne herabgekommen sei! Ich begrub die Meinung, die ich mir auf Grund ihrer Kleidung, ihrer gebrechlieh zarten Glieder und ihrer feinen Züge gebildet hatte. Eine Welle der Enttäuschung stieg in mir hoch. Einen Augenblick lang meinte ich, die Zeitmaschine vergeblich gebaut zu haben.

Ich nickte, deutete auf die Sonne, und ahmte einen Donnerschlag so wirklichkeitsgetreu nach, daß sie erstaunt zurückwichen und sich verbeugten. Dann trat einer lächelnd auf mich zu und hing mir eine Girlande schöner, nie gesehener Blumen um den Hals. Dieser Einfall wurde mit klangvollem Beifall begrüßt; sogleich rannten sie alle hin und her, um Blumen zu holen, die sie mir lachend zuwarfen, bis ich fast unter Blüten begraben war. Sie, die Sie dergleichen nie gesehen haben, können sich kaum vorstellen, was für zarte und wundervolle Blumen zahllose Jahre der Zucht hervorgebracht hatten. Dann schlug einer vor, das neue Spielzeug im nächsten Gebäude auszustellen, und so führten sie mich — vorbei an der weißen Marmorsphinx, die mich die ganze Zeit, lächelnd über mein Erstaunen, beobachtet zu haben schien — zu einem großen grauen Gebäude aus verwittertem Stein. Als ich so mit ihnen ging, überfiel mich ein unwiderstehlicher Lachreiz bei der Erinnerung an meine erwartungsvolle Vorstellung von einer tiefernsten und intellektuellen Nachwelt.

Das Gebäude hatte einen gewaltigen Eingang und war überhaupt von kolossalen Ausmaßen. Am meisten fesselte mich natürlich der Anblick der wachsenden Menge kleiner Leute und der riesenhaften Portale, die sich dunkel und rätselhaft vor mir öffneten. Die Welt, die ich über ihre Köpfe hinweg sah — eine verwirrende Fülle schöner Sträucher und Blumen — erinnerte an einen lang vernachlässigten und doch nicht verwilderten Garten. Ich sah vor allem eine Menge hoher weißer Blumenkerzen, deren wachsige Blütenblätter etwa ein Fuß im Durchmesser maßen. Sie standen Verstreut und wie wildgewachsen unter den verschiedenen Sträuchern, doch, wie gesagt, ich nahm sie damals nicht genauer in Augenschein. Die Zeitmaschine blieb verlassen auf dem Rasen zwischen den Rhododendronbüschen zurück.

Der Torbogen des Gebäudes war mit Skulpturen reich verziert, aber ich konnte sie natürlich nicht sehr eingehend betrachten wenn sie mich im Vorübergehen auch entfernt an alt-phönizische Ornamente erinnerten. Es fiel mir auf , daß sie arg beschädigt und verwittert waren. Im Torweg empfingen mich weitere buntgekleidete Leute, und wir traten ein, ich in meiner schmutzigen Kleidung im Stil des neunzehnten Jahrhunderts ziemlich lächerlich aussehend, mit Blumen behängt und umringt von einer wogenden Menge heller, bunter Gewänder und weißglänzender Glieder, inmitten eines melodischen Wirbels von Gelächter und fröhlichem Geplapper.

Der hochgewölbte Torbogen führte in eine prächtige, braun getäfelte Halle. Die Decke lag im Schatten, und die Fenster, teils mit farbigen Glasscheiben versehen, teils unverglast, ließen gedämpftes Licht einfallen. Der Fußboden bestand aus riesigen Blöcken eines sehr harten weißen Metalls — nicht Fliesen oder Platten —, nein, Blöcken, und er war so abgenützt, vermutlich durch das Hin- und Hergehen vorangegangener Generationen, daß an den meistbegangenen Stellen tiefe Rinnen ausgetreten waren. Quer zur Länge des Saales waren unzählige Tische aus poliertem Steinplatten aufgestellt, nicht mehr als ** etwa ein Fuß hoch, auf denen sich Berge von Früchten türmten. Einige davon erkannte ich als hypertrophe Abarten unserer Erdbeeren und Orangen, die meisten aber waren mir unbekannt.

Zwischen den Tischen lagen unzählige Kissen verstreut. Darauf setzten sich meine Begleiter und deuteten mir, dasselbe zu tun. Unter anmutiger Mißachtung allen Zeremoniells begannen sie die Früchte mit der Hand zu essen und warfen Stengel, Schalen und so weiter in runde seitliche Öffnungen der Tische. Ich zögerte nicht, ihrem Beispiel zu folgen, denn ich war durstig und hungrig. Während ich aß, sah ich mir in aller Ruhe die Halle an.

Was mich vielleicht am meisten überraschte, war ihr verkommenes Aussehen. Die bunten Glasfenster, die nur geometrische Muster zeigten, waren an vielen Stellen zerbrochen, und die Vorhänge am unteren Ende des Saales waren völlig verstaubt. Es fiel mir auch auf, daß eine Ecke des Marmortisches neben mir abgebrochen war. Trotzdem aber war der Gesamteindruck sehr üppig und malerisch. Es speisten vielleicht einige hundert Leute in dieser Halle, und die meisten von ihnen trachteten, sich so nahe wie möglich zu mir zu setzen, und beobachteten mich über die Früchte hinweg mit vor Neugier leuchtenden Äuglein. Alle waren in die gleichen weichen und doch festen Seidenstoffe gekleidet.

Ihre Nahrung bestand übrigens nur aus Früchten. Diese Leute aus der fernen Zukunft waren strenge Vegetarier, und solange ich mich bei ihnen aufhielt, mußte auch ich mich, trotz meines Hungers nach Fleisch, mit Obst begnügen. Pferde, Rinder, Schafe und Hunde, so stellte ich später fest, waren nämlich dem Beispiel des Ichthyosaurus gefolgt und ausgestorben. Doch die Früchte waren köstlich, vor allem eine, die während meines ganzen Aufenthaltes geerntet wurde — ein mehliges Ding in einer dreikantigen Schale — fand ich besonders wohlschmeckend und erkor sie zu meiner Lieblingsspeise. Zuerst überraschte mich die Fülle fremdartiger Früchte und Blumen, die ich überall sah, aber später begann ich ihre Bedeutung zu begreifen.

Nun Will ich Ihnen aber weiter von meiner Obstmahlzeit in der fernen Zukunft erzählen. Sobald mein Hunger ein wenig gestillt war, beschloß ich, einen ernsten Versuch zu machen, die Sprache meiner neuen Freunde zu erlernen. Das war ohne Zweifel die vordringlichste Aufgabe. Die Früchte boten ein passendes Thema für den Anfang, und so hob ich eine von ihnen auf und vollführte eine Reihe von fragenden Lauten und Gesten. Ich hatte aber große Schwierigkeiten, ihnen meine Absicht begreiflich zu machen. Zuerst riefen meine Anstrengungen nur überraschte Blicke oder hemmungsloses Gelächter hervor, endlich aber schien ein blondhaariges Geschöpf meine Absicht zu erfassen und sprach einen Namen aus. Sie verständigten sich mit viel Geplapper und langen Wortwechseln untereinander, und meine ersten Versuche, die reizenden kleinen Laute ihrer Sprache nachzuahmen, riefen laute Ausbrüche aufrichtiger, wenn auch nicht sehr höflicher Heiterkeit hervor. Ich kam mir wie ein Schulmeister inmitten einer Kinderschar vor und nahm alle Geduld zu Hilfe. Binnen kurzer Zeit verfügte ich wenigstens über eine Anzahl von Substantiven; dann kamen wir zu den Demonstrativpronomina und schließlich sogar zum Verbum ‘essen’. Aber die Arbeit ging nur langsam vorwärts, denn die kleinen Leute ermüdeten rasch und wollten meiner Fragerei bald entkommen; so beschloß ich notgedrungen, meine Lektionen in kleinen Dosen von ihnen entgegenzunehmen, wann immer sie dazu geneigt waren. Und diese Dosen waren wirklich sehr klein, wie ich bald herausfand, denn noch nie hatte ich so träge und rasch ermüdende Menschen kennengelernt.

Kapitel 6

Menschheit im Niedergang

Eine Eigenschaft, die mir an meinen kleinen Gastgebern besonders auffiel, war ihr Mangel an Interesse. Sie pflegten mir mit lebhaften Ausrufen des Erstaunens entgegenzulaufen wie Kinder, bald aber hörten sie auf, mich zu beachten, und machten sich auf die Suche nach irgendeinem anderen Spielzeug. Als das Mahl und meine Sprachübungen zu Ende waren, bemerkte ich auf einmal, daß jene, die mich zuerst umringt hatten, alle fort waren. Eigenartig war es mich, wie schnell ich selbst gegenüber diesen kleinen Leuten gleichgültig wurde. Sobald mein Hunger gestillt war, trat ich durch das große Portal wieder in die sonnige Welt hinaus. Auf Schritt und Tritt begegneten mir Zukunftsmenschen, die mich ein kurzes Stück begleiteten, plapperten und über mich lachten, um mich bald darauf mit einem Lächeln und einigen freundlichen Gesten wieder mir selbst zu überlassen.

Abendliche Stille hatte sich über die Welt gesenkt, als ich aus der großen Halle trat, und die Landschaft glühte im Warmen Licht der untergehenden Sonne. Anfangs versetzte mich alles in Verwirrung. Hier war alles anders als in der Welt, aus der ich kam — sogar die Blumen. Das große Gebäude, das ich verlassen hatte, lag am Abhang eines breiten Flußtales, aber die Themse hatte ihr Bett — vielleicht um eine Meile — aus der heutigen Lage verschoben. Ich beschloß, den Gipfel eines ungefähr anderthalb Meilen entfernten Hügels zu ersteigen, von wo aus ich eine weitere Aussicht auf unseren Planeten im Jahr achthundertzweitausendsiebenhundertundeins haben würde. Denn dieses Datum, wie ich hinzufügen sollte, zeigten die kleinen Zeiger auf den Kontrolluhren meiner Maschine an.

Während ich so wanderte, beachtete ich jedes Anzeichen, das mir möglicherweise helfen konnte, den Zustand verfallener Größe zu erklären, in dem ich diese Welt vorgefunden hatte — denn verfallen war sie ohne Zweifel. Etwas höher am Abhang des Hügels lag zum Beispiel ein großer Haufen Granit, der durch Unmengen von Aluminium zusammengehalten wurde; es bildete sich ein riesiges Labyrinth aus steilen Mauern und Trümmerhaufen, zwischen denen ein Dickicht wunderschöner pagodenartiger Pflanzen wuchs, möglicherweise etwas wie Nesseln, aber mit wundervoll braun gefärbten Blättern, die nicht brannten. Offenbar handelte es sich um die zerfallenen Überreste eines weitläufigen Gebäudes, aber ich konnte nicht feststellen, zu welchem Zweck es errichtet worden war. Hier sollte ich später ein sehr merkwürdiges Erlebnis haben — die erste Ankündigung einer noch viel seltsameren Entdeckung —, aber davon Will ich erst zum gegebenen Zeitpunkt erzählen.

Als ich, einer plötzlichen Eingebung folgend, von einer Terrasse aus, wo ich eine Weile rastete , um mich blickte, wurde mir bewußt, daß nirgends kleine Häuser zu sehen waren. Scheinbar hatte das Einzelhaus, und möglicherweise auch der Einzelhanshalt, zu existieren aufgehört. Hier und dort standen palastartige Gebäude in der grünen Landschaft, aber die Häuser und Villen, die so charakteristisch für unsere heutige englische Landschaft sind, waren verschwunden.

‘Kommunismus’, sagte ich zu mir selbst.

Und daran schloß sich unmittelbar ein anderer Gedanke. Ich blickte auf das halbe Dutzend kleiner Gestalten, die mir folgten. Da wurde mir plötzlich bewußt, daß sie alle Kleider im selben Schnitt trugen, alle dasselbe weiche, haarlose Gesicht und dieselben mädchenhaften Gestalten hatten. Es mag vielleicht verwunderlich scheinen, daß ich das nicht früher bemerkt hatte. Aber es war ja rundum alles so sonderbar. Nun sah ich diese Tatsachen vollkommen klar. Sowohl in ihrer Kleidung wie auch in allen Merkmalen des Körperbaues und des Verhaltens, die heutzutage die Geschlechter voneinander unterscheiden, glichen diese Zukunftswesen einander vollkommen. Die Kinder erschienen mir wie Miniaturausgaben ihrer Eltern. Ich schloß daraus, daß die Kinder dieser Ära außerordentlich frühreif sein mußten, körperlich wenigstens, und fand diese Vermutung in der Folge mehrmals bestätigt.

Beim Anblick der Sicherheit und Sorglosigkeit, in der diese Leute lebten, wurde mir klar, daß diese Angleichung der Geschlechter eigentlich zu erwarten gewesen war: denn die Stärke des Mannes, die Sanftmut des Weibes, die Institution der Familie und die Arbeitsteilung im Berufsleben sind ja nur in einem Zeitalter unbedingt notwendig, das von physischer Kraft beherrscht wird. Wo die Bevölkerung ausgewogen und zahlreich ist, wird reichlicher Nachwuchs eher zu einem Übel als zu einem Segen für den Staat: wo Gewalt selten und die Nachkommenschaft gesichert ist, besteht weniger, ja überhaupt keine Notwendigkeit für eine gut funktionierende Familie, und die Spezialisierung der Geschlechter im Hinblick auf die Bedürfnisse der Kinder erübrigt sich. Anfänge dieser Entwicklung beobachten wir ja schon in unserem Zeitalter, und in dieser Zukunft war sie endgültig vollzogen. Ich muß Sie daran erinnern, daß das meine damaligen Mutmaßungen waren; später sollte ich einsehen lernen, wie weit sie von der Wirklichkeit abwichen.

Während ich über diese Dinge nachgrübelte, wurde meine Aufmerksamkeit von einem gefälligen kleinen Bauwerk gefesselt, das wie ein Brunnen, überdacht von einer kleinen Kuppel, aussah. Einen Augenblick lang dachte ich, wie sonderbar es doch sei, daß solche Brunnen noch existierten, und nahm dann den Faden meiner Überlegungen wieder auf. Etwas weiter hügelaufwärts gab es keine größeren Bauwerke mehr, und da meine Ausdauer beim Gehen hier offenbar als ein Wunder angesehen wurde, folgte mir niemand mehr, und ich war nun zum erstenmal allein. Mit einem sonderbaren Gefühl von Freiheit und Abenteuerlust stieg ich weiter bis zum Gipfel.

Dort fand ich einen Sitz aus einem mir unbekannten gelblichen Metall, stellenweise von rötlichem Rost zerfressen und von weichem Moos halb überwuchert, mit geschnitzten Armlehnen in Form von Greifenköpfen. Ich ließ mich darauf nieder und genoß den Ausblick auf die Weiten unserer alten Welt im Sonnenuntergang dieses langen Tages.

Der Anblick war so lieblich und schön, wie ich kaum einen anderen erlebt hatte. Die Sonne war schon unter den Horizont gesunken, und der Westen glühte in flammendem Gold, von dem sich nur einzelne waagrechte Streifen in Rot und Purpur abhoben. Unter mir lag das Tal der Themse, durch das sich der Fluß wie ein schimmerndes Stahlband schlängelte. Die in dem wechselnden Grün der Landschaft verstreuten Paläste habe ich ja bereits erwähnt; einige waren Ruinen, andere noch bewohnt. Hier und da ragte eine weiße oder silberne Figur aus dem verwilderten Garten der Erde, hier und da hoben sich die klaren Konturen eines Obelisken oder einer Kuppel gegen den Himmel ab. Es gab keine Hecken, keine Anzeichen von Eigentumsrechten, keine Hinweise auf Ackerbau: die ganze Erde war ein Garten geworden.

Während ich meinen Blick schweifen ließ, versuchte ich das Gesehene zu deuten und legte mir an jenem Abend etwa die folgende Interpretation zurecht. (Später sollte ich erfahren daß ich nur Halbwahrheiten entdeckt hatte — oder nur einen einseitigen Schimmer der Wahrheit.)

Es schien mir, daß ich in die Verfallsperiode der Menschheit geraten war. Der blutrote Sonnenuntergang lenkte meine Gedanken auf den Untergang der Menschheit. Zum erstenmal begann mir ein sonderbares Resultat des sozialen Fortschritts zu dämmern, den wir zur Zeit anstreben. Doch wenn man es recht bedenkt, ist die Folgerung ganz logisch: Stärke entsteht aus der Not; Sicherheit bringt Schwäche mit sich. Die Arbeit an der Verbesserung der Lebensbedingungen — also der eigentliche Zivilisationsprozeß, der das Leben immer sicherer gestaltet — war bis zu einem Höhepunkt stetig weiter fortgeschritten. Ein Triumph der geeinten Menschheit über die Natur war dem anderen gefolgt. Dinge, die heute noch bloße Träume sind, hatten sich in Projekte verwandelt, die wohlüberlegt angepackt und durchgeführt worden waren. Und was ich hier vor mir sah, war das Endergebnis!

Im Grunde befinden sich die Gesundheitsfürsorge und der Ackerbau von heute ja noch in einem Anfangsstadium. Die Wissenschaft unserer Zeit hat sich bisher nur mit einem kleinen Teilgebiet des weiten Feldes menschlicher Krankheiten befaßt, breitet ihre Tätigkeit aber ständig und beharrlich aus. In unserem Acker- und Obstbau wird wohl hier und da ein Unkraut ausgerottet und eine kleine Auswahl von gesunden Pflanzen gezüchtet, aber die Mehrzahl überläßt man ihrem natürlichen Schicksal. Wir verbessern unsere bevorzugten Pflanzen- und Tierarten — und wie wenige sind das! — nur schrittweise durch Auswahl und Zucht: einmal ein neuer und besserer Pfirsich, einmal eine kernlose Traube einmal eine schönere und größere Blume einmal eine nützlichere Rinderrasse. Wir verbessern sie deshalb nur allmählich, weil unsere Vorstellungen unklar und zaghaft sind, unser Wissen sehr beschränkt und weil die Natur selbst sich nur schen und zögernd unseren ungeschickten Händen fügt. Eines Tages wird all dies besser und immer besser organisiert sein. In die- ser Richtung verläuft die Entwicklung, allen Hindernissen zum Trotz. Einmal wird die ganze Welt gescheit, gebildet und zur Mitarbeit bereit sein; immer schneller und schneller wird die Unterwerfung der Natur voranschreiten, und schließlich werden wir, durch Weisheit und Sorgfalt, das tierische und pflanzliche Gleichgewicht vollkommen unseren menschlichen Bedürfnissen angepaßt haben.

In jener Zwischenzeit, die meine Maschine übersprungen hatte, so sagte ich mir, mußte dieses Gleichgewicht erreicht worden sein, und zwar vollständig, endgültig und für immer. Die Luft war frei von Mücken, die Erde frei von Unkraut und Pilzen; überall wuchsen Früchte und herrliche, duftende Blumen, und dazwischen flogen buntschillernde Schmetterlinge umher. Das Ziel der Präventivmedizin mußte erreicht worden sein. Krankheiten waren ausgerottet. Während meiner ganzen Anwesenheit sah ich nicht die geringste Spur irgendeiner Infektionskrankheit. Später werde ich Ihnen noch zu erzählen haben, daß sogar die Fäulnis- und Zersetzungsprozesse von diesen Neuerungen tiefgreifend beeinflußt waren.

Auch in sozialer Hinsicht hatte man einen Höhepunkt erreicht. Ich sah die Menschheit in großartigen Behausungen untergebracht, prachtvoll gekleidet, und bisher hatte ich noch niemanden arbeiten gesehen. Es gab keine Anzeichen eines Kampfes, weder eines sozialen noch eines wirtschaftlichen. Handel, Reklame, Verkehr — die ständige Geschäftigkeit, die zum Wesen unserer Welt gehört — waren verschwunden. Es ist verständlich, daß an jenem golden verglühenden Abend die Vorstellung eines sozialen Paradieses in mir aufstieg. Das Problem des Bevölkerungswachstums war, so meinte ich, überwunden worden, und die Bevölkerung nahm nicht weiter zu.

Aber mit den veränderten Lebensbedingungen geht unweigerlich die entsprechende Anpassung Hand in Hand. Worin besteht — wenn die ganze biologische Wissenschaft nicht eine Ansammlung von Irrtümern ist — die Grundvoraussetzung menschlicher Intelligenz und Lebenskraft? Not und Freiheit sind die Bedingungen, unter denen die Aktiven, Starken und Klugen überleben und die Schwächeren an die Wand gedrückt werden; Bedingungen, welche den Zusammenschluß fähiger Männer erfordern und Eigenschaften wie Selbstbeherrschung, Ausdauer und Entschlossenheit fördern. Auch die Institution der Familie mitsamt den Gefühlen, die sie mit sich bringt — wilde Eifersucht, Zärtlichkeit für die Kinder, elterliche Hingabe —, alles das findet seine Rechtfertigung in den Gefahren, welche den Nachwuchs bedrohen. Wo aber sind sie jetzt, diese Gefahren? Schon entsteht ein gewisser Widerstand — und er wird weiter zunehmen — gegen eheliche Eifersucht, gegen übertriebene Mütterlichkeit, gegen Leidenschaften aller Art; schon heutzutage sind das überflüssige Dinge, Dinge, die uns unbequem sind, Überbleibsel einer primitiven Zeit, Störfaktoren in einem verfeinerten Leben.

Ich dachte an den schmächtigen Körperbau dieser Leute, ihre geringe Intelligenz, an die großen Ruinen überall und fand darin meine Ansicht, daß ein vollkommener Sieg über die Natur stattgefunden hatte, bestätigt. Denn auf die Schlacht folgt die Ruhe. Die Menschheit war stark, energisch und klug gewesen und hatte ihre gesamte überschüssige Vitalität verbraucht, um die Bedingungen, unter denen sie lebte, zu verändern. Und nun folgte die Reaktion auf diese veränderten Bedingungen.

In dieser neuen Situation vollkommener Zufriedenheit und Sicherheit mußte sich die rastlose Energie, die unsere Stärke ist, in Schwäche verwandeln. Selbst in unserer Zeit sind schon gewisse Neigungen und Wünsche, die einmal für das Überleben notwendig waren, eine permanente Quelle des Versagens. Wagemut und Kampflust, zum Beispiel, sind nicht unbedingt Vorzüge, sondern unter Umständen sogar Nachteile in den Augen eines zivilisierten Menschen. In einem Zustand materieller Ausgewogenheit und Sicherheit wäre geistige oder körperliche Gewalt nicht mehr am Platze. Hier, so nahm ich an, hatte es seit unzähligen Jahren weder Kriegsgefahr noch Gewalttaten gegeben, keine Bedrohung durch wilde Tiere, keine Seuchen, die eine kräftigere Konstitution erfordert hätten, keinen Zwang zur Arbeit.

Für ein solches Leben sind die, die wir als Schwache bezeichnen, genauso gut gerüstet wie die Starken, sind also in der Tat nicht mehr schwach. Ja, sie sind für dieses Leben sogar besser geeignet, denn die Starken würden von ihrer ungenutzten Energie verzehrt werden. Zweifellos war die auserlesene Schönheit der Gebäude, die ich hier sah, das Ergebnis eines letzten Aufflammens dieser jetzt zwecklosen Energie der Menschheit, bevor sie die vollkommene Harmonie der Lebensumstände erreicht hatte, unter denen sie jetzt lebte, die letzte Blüte jenes Sieges mit dem der große Friede begann. Dies war seit jeher das Los der Tatkraft in einem Zeitalter der Sicherheit: sie wendet sich der Kunst und der Erotik zu, und danach setzen Schwäche und Verfall ein.

Auch der künstlerische Antrieb erlischt mit der Zeit, und in der Zeit, die ich sah, war er schon so gut wie erloschen. Sich mit Blumen zu bekränzen, im Sonnenschein zu tanzen und zu singen — mehr war ihnen an künstlerischem Geist nicht geblieben. Und sogar das würde sich mit der Zeit in zufriedenem Müßiggang verlieren. Wir werden ständig auf dem Wetzstein von Schmerz und Not zurechtgeschliffen, und hier, so schien es mir, war dieser hassenswerte Wetzstein endlich zerbrochen!

Während ich dort in der hereinbrechenden Dunkelheit stand, glaubte ich, mit dieser einfachen Auslegung das Weltproblem gelöst — und das ganze Geheimnis dieser entzückenden Leute enträtselt zu haben. Möglicherweise waren ihre Maßnahmen gegen eine Vermehrung der Bevölkerung allzu wirksam gewesen, und statt konstant zu bleiben, hatte ihre Zahl eher abgenommen. Das wäre eine Erklärung für die verlassenen Ruinen gewesen. So einfach war meine Erklärung — und so plausibel wie die meisten irrigen Theorien!

Kapitel 7

Ein unerwarteter Schlag

Während ich so dastand und über diesen allzu perfekten Sieg der Menschheit nachsann, stieg im Nordosten aus einer Flut von Silber rund und golden der Vollmond auf. Die munteren kleinen Gestalten im Tal verschwanden, geräuschlos huschte eine Eule vorbei, und mich fröstelte in der Abendkühle. Ich beschloß hinunterzusteigen und mir einen Platz zum Schlafen zu suchen.

Zuerst hielt ich Ausschau nach dem Gebäude, das ich schon kannte. Dann glitt mein Blick weiter zur Statue der weißen Sphinx auf ihrem Bronzepiedestal, die im Licht des aufgehenden Mondes allmählich immer deutlicher hervortrat. Ich konnte sogar die Silberbirke neben ihr erkennen. Auch das Gestrüpp der Rhododendronsträucher, schwarz in dem fahlen Licht, und den kleinen Rasenplatz sah ich. Ich blickte nochmals genauer hin. Ein schrecklicher Verdacht ließ mich plötzlich erstarren. ‘Nein’, sagte ich trotzig zu mir selbst — ‘das ist nicht der Rasenplatz!’

Aber es war der Rasenplatz. Denn das weiße, aussätzige Antlitz der Sphinx war ihm zugewendet. Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute war, als mein Verdacht Gewißheit wurde? Doch nein, das können Sie nicht. Die Zeitmaschine war verschwunden!

Wie ein Schlag ins Gesicht, traf mich plötzlich die Erkenntnis, daß ich mein eigenes Zeitalter verlieren und hilflos in dieser sonderbaren neuen Welt ausgesetzt bleiben könnte. Der bloße Gedanke verursachte mir geradezu körperliche Qualen. Ich fühlte, wie er mich an der Kehle packte und mir den Atem raubte. Im nächsten Augenblick rannte ich in panischer Angst in großen Sprüngen den Abhang hinunter. Einmal fiel ich der Länge nach hin und zerschnitt mir das Gesicht; ich verlor keine Zeit damit, das Blut zu stillen, sondern sprang auf und hetzte weiter, während es mir warm über Wange und Kinn tropfte. Im Laufen wiederholte ich mir immerzu: ‘Sie haben sie nur ein wenig beiseite geschoben, sie unter die Büsche gezogen.’ Dennoch rannte ich weiter, so schnell ich nur konnte. Doch mit jener Gewißheit, die äußerste Angst begleitet, wußte ich, daß diese Hoffnung Wahnsinn war, wußte instinktiv, daß die Maschine für mich unerreichbar geworden war. Das Atmen schmerzte mich. Ich muß wohl die ganze Strecke vom Gipfel des Hügels bis zum Rasenplätz, also vielleicht zwei Meilen, in zehn Minuten zurückgelegt haben. Dabei bin ich kein Jüngling mehr. Während ich lief, verfluchte ich laut die verrückte Vertrauensseligkeit, mit der ich die Maschine allein gelassen hatte, und vergeudete damit nun kostbaren Atem. Ich schrie laut, aber niemand antwortete. Kein lebendes Wesen regte sich in dieser mondhellen Welt.

Als ich den Rasenplatz erreichte, fand ich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Von der Maschine war keine Spur zu sehen. Schwäche und Kälte überfielen mich, als ich so vor dem leeren Platz zwischen den dunklen Büschen stand. Ich rannte im Kreis umher, als ob die Maschine in einer Ecke versteckt sein könnte, und blieb dann plötzlich stehen und raufte mir die Haare. Über mir thronte die Sphinx auf ihrem Bronzepiedestal, weiß, aussätzig und schimmernd im Licht des aufgehenden Mondes. Sie schien spöttisch über meine Verzweiflung zu lächeln.

Ich hätte mich vielleicht mit der Vorstellung trösten können, daß die kleinen Leute den Apparat für mich an irgendeinem sichern Ort aufbewahrt hatten, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, daß sie dazu weder stark noch intelligent genug waren. Was mich zur Verzweiflung brachte, war die aufdämmernde Ahnung, daß eine bisher unvermutete Macht am Werk sein mußte, die meine Maschine hatte verschwinden lassen. Eines wenigstens war gewiß: wenn nicht in einer anderen Epoche dieselbe Maschine erfunden worden war, konnte die meine nicht in der Zeit bewegt worden sein. Die Einstellung der Hebel — ich will Ihnen die Methode später demonstrieren — machte es unmöglich, daß irgend jemand sie in dieser Weise in Bewegung setzte, solange die Griffe abgeschraubt waren. Der Apparat war fortgeschafft worden, konnte aber nur im Raum versteckt sein. Die Frage war nur, wo?

Ich muß wohl in eine Art von Raserei verfallen sein. Ich erinnere mich genau, daß ich wie Wild zwischen den mondbeschienenen Büschen rund um die Sphinx hin und her lief und dabei irgendein weißes Tier aufscheuchte, das ich in dem fahlen Licht für ein kleines Reh hielt. Ich erinnere mich auch, daß ich später mit geballten Fäusten auf die Sträucher einschlug, bis meine Fingerknöchel von den abgebrochenen Zweigen aufgerissen und blutig waren. Dann ging ich, schluchzend und rasend vor Angst und Verzweiflung, zu dem großen steinernen Gebäude hinüber. Die weite Halle war dunkel, still und leer. Ich glitt auf dem unebenen Boden aus, stürzte über einen der Malachittische und brach mir dabei fast das Schienbein. Ich entzündete ein Streichholz und trat durch die verstaubten Vorhänge, von denen ich Ihnen schon erzählt habe.

Dahinter fand ich eine zweite große Halle, die mit Kissen ausgelegt war, auf denen zwanzig oder mehr der kleinen Leute schliefen. Sichtlich waren sie höchst erstaunt über mein Auftreten, als sie mich plötzlich mit unartikuliertem Geschrei im flackernden Licht eines Streichholzes aus dem stillen Dunkel auftauchen sahen. Sie wußten nämlich nichts mehr von Streichhölzern. ‘Wo ist meine Zeitmaschine?’ rief ich greinend wie ein erbostes Kind, packte sie und rüttelte alle wach. Sie müssen sehr verwundert gewesen sein. Einige lachten, aber die meisten sahen tief erschrecken aus. Als ich sie so um mich stehen sah, fiel mir ein, daß ich das Verrückteste tat, was ich unter diesen Umständen nur tun konnte, nämlich das vergessene Gefühl der Angst in ihnen wachzurufen. Denn nach ihrem Verhalten am Tage zuvor zu schließen, schien mir Angst zu den vergessenen Gefühlen zu gehören.

Hastig warf ich das Streichholz fort, stieß einen der kleinen Leute nieder und stolperte durch die große Speisehalle wieder hinaus ins Mondlicht. Hinter mir hörte ich Schreckensschreie und das Geräusch hin und her laufender und stolpernder kleiner Füße. Ich erinnere mich nicht an alles, was ich tat, während über mir der Mond am Himmel emporstieg. Wohl weil ich ihn überhaupt nicht erwartet hatte, brachte mein Verlust mich beinahe um den Verstand. Ich fühlte mich hoffnungslos von meinen Zeitgenossen abgeschnitten — wie ein seltsames Tier in einer unbekannten Welt. Wahrscheinlich raste ich brüllend umher, gegen Gott und mein Schicksal aufbegehrend. Ich erinnere mich dunkel an ein Gefühl grenzenloser Müdigkeit, während die Nacht der Verzweiflung quälend langsam verstrich; ich suchte an jedem möglichen und unmöglichen Ort, kletterte zwischen mondbeleuchteten Ruinen umher, wo ich im tiefen Schatten mit seltsamen Geschöpfen zusammenstieß, und blieb schließlich erschöpft in der Nähe der Sphinx am Boden liegen. Hilfloses Weinen schüttelte mich, und mit meinen letzten Kräften schwand endlich sogar die Wut über meinen Wahnsinn, die Maschine verlassen zu haben. Nichts als Verzweiflung war mir geblieben. Dann muß ich eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, war es heller Tag, und in Reichweite meiner Hand hüpfte ein Sperlingspärchen auf dem Rasen umher.

Ich richtete mich in der Morgenkühle auf und versuchte mich zu erinnern, wie ich hierhergekommen war und warum ich ein so tiefes Gefühl von Verlassenheit und Verzweiflung empfand. Langsam wurde mir alles wieder klar bewußt. Im hellen, nüchternen Licht des Tages konnte ich den Tatsachen ruhiger ins Gesicht sehen. Ich erkannte die Sinnlosigkeit meines nächtlichen Tobens und konnte endlich wieder logisch denken. Nehmen wir einmal das Schlimmste an, sagte ich mir. Nehmen wir an, die Maschine sei endgültig verloren oder zerstört. Auch in diesem Fall bleibt mir nichts anderes übrig, als Ruhe und Geduld zu bewahren. Ich muß versuchen, auf die Leute einzugehen, um herauszufinden, wie es zu diesem Verlust kam, und ob ich die Möglichkeit habe, mir Material und Werkzeug zu verschaffen, um eventuell eine neue Maschine konstruieren zu können. Dies war meine einzige Hoffnung, eine armselige Hoffnung zwar, aber besser als gar keine. Und schließlich war die Welt, in der ich mich befand, doch auch schön und eigenartig.

Vermutlich aber war die Maschine ja nur beiseite geschafft worden. Auf jeden Fall mußte ich Ruhe und Geduld bewahren, ihr Versteck ausfindig machen und sie mit List oder Gewalt zurückgewinnen. So biß ich die Zähne zusammen, stand auf und schaute mich suchend nach einer Waschgelegenheit um. Ich fühlte mich müde, steif und schmutzig von der Reise. Die Frische des Morgens erweckte den Wunsch in mir, auch mich zu erfrischen. Meine Aufregung hatte sich gelegt, ja als ich nun meinem Vorhaben nachging, wunderte ich mich über meine Gefühlsausbrüche während der vergangenen Nacht. Ich unterzog den Boden des Rasenplatzes einer sorgfältigen Prüfung. Einige Zeit verschwendete ich noch mit unnützen Fragen, die ich an die gerade vorbeikommenden Leutchen richtete, soweit dies möglich war. Doch keiner verstand meine Gesten: einige blieben einfach teilnahmslos, andere hielten es für einen Scherz und lachten mir zu. Es kostete mich einige Überwindung, ihnen nicht in die hübschen, lachenden Gesichter zu schlagen. Es war eine unvernünftige Regung, aber der aus Angst und Wut gezeugte Teufel ließ sich schwer im Zaum halten und war darauf aus, meine Verwirrung auszunutzen. Der Rasen gab bessere Auskunft. Ich entdeckte eine Furche, etwa in der Mitte zwischen dem Piedestal der Sphinx und den Trittspuren, die ich selbst bei meiner Ankunft hinterlassen hatte, als ich mich um die umgekippte Maschine bemühte. Ringsum gab es andere Abschleppspuren, begleitet von sonderbar schmalen Fußabdrücken, ähnlich denen, die meiner Vorstellung nach ein Faultier hinterlassen müßte. Sie lenkten meine Aufmerksamkeit auf das Piedestal. Es bestand, wie ich wohl schon gesagt habe, aus Bronze. Es war jedoch kein glatter Block, sondern zeigte an allen Seiten tief eingelassene, reich verzierte Füllungen. Ich ging hin und klopfte daran. Das Piedestal war hohl. Als ich nun die Füllungen genauer untersuchte, sah ich, daß sie mit den Rahmen nicht fest verbunden waren. Es gab zwar weder Klinken noch Schlüssellöcher, doch möglicherweise waren die Füllungen — falls es sich, wie ich vermutete, um Türen handelte — von innen zu öffnen. Eines aber erschien mir offensichtlich: Es bedurfte keiner großen geistigen Anstrengung, um zu dem Schluß zu gelangen, daß meine Zeitmaschine sich im Innern des Piedestals befand. Wie sie allerdings dorthin gelangt sein sollte, war ein anderes Problem.

Durch das Buschwerk sah ich die Köpfe von zwei orange gekleideten Leutchen die unter blühenden Apfelbäumen auf mich zukamen. Lächelnd wandte ich mich ihnen zu und winkte sie heran. Sie kamen, und indem ich auf das Bronzepiedestal deutete, versuchte ich ihnen meine Bitte verständlich zu machen, es zu öffnen. Doch schon bei meiner ersten Andeutung benahmen sie sich ganz merkwürdig. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen ihre Mienen schildern soll. Nehmen wir an, Sie hätten einer feinfühlenden Frau gegenüber eine höchst unschickliche Geste vollführt — sie würde so dreingeschaut haben. Die beiden gingen fort, als wäre ihnen die gröbste Beleidigung widerfahren. Als nächstes versuchte ich es mit einem sanft aussehenden kleinen Kerl in Weiß — mit genau demselben Ergebnis. Irgendwie bewirkte seine Reaktion, daß ich mich vor mir selbst schämte. Doch wie Sie sich vorstellen können, wollte ich unbedingt meine Maschine wiederhaben und ließ daher nicht locker. Als er mir jedoch genau wie die andern den, Rücken wandte, übermannte mich der Zorn. Mit drei Schritten hatte ich ihn erreicht, packte ihn am Halsausschnitt seines losen Gewandes und schleppte ihn auf die Sphinx zu. Dann aber sah ich das Entsetzen und den Ekel auf seinem Gesicht und ließ ihn augenblicklich los.

Doch ich gab mich noch nicht geschlagen. Mit beiden Fäusten hämmerte ich gegen die Bronzefüllungen. Mir war, als hörte ich etwas von drinnen — genauer gesagt, ich glaubte eine Art Kichern gehört zu haben —, aber ich muß mich wohl geirrt haben. Dann holte ich vom Flußufer einen großen Stein und hämmerte damit auf den Sockel ein, bis ich eines der spiralförmigen Ornamente flach geschlagen hatte und der Grünspan in staubigen Flocken abblätterte. Die zarten kleinen Leute mußten mein wütendes Gehämmer auf eine Meile in der Runde gehört haben, doch ich erreichte nichts damit. Ich sah sie in Gruppen an den Abhängen stehen, von wo sie heimliche Blicke auf mich warfen. Schließlich setzte ich mich nieder, erhitzt und müde, um den Ort weiter im Auge zu behalten. Doch ich war zu rastlos, um lange Wache zu halten: ich bin ein Mann des Westens und daher unfähig, lange und geduldig zu warten. Ich könnte jahrelang an der Lösung eines Problems arbeiten, aber vierundzwanzig Stunden untätig zu warten — das ist etwas ganz anderes.

So stand ich nach einer Weile auf und begann ziellos durch die Büsche hügelaufwärts zu wandern. ‘Geduld!’ redete ich mir zu. ‘Wenn du deine Maschine wiederhaben willst, mußt du diese Sphinx in Ruhe lassen. Wenn sie die Absicht haben, sie dir wegzunehmen, so nützt es dir auch wenig, wenn du ihre Bronzeplatten einschlägst; und wenn sie diese Absicht nicht haben, so wirst du die Maschine zurückerhalten, sobald du dich verständlich machen kannst. Sich unter all diesen unbekannten Dingen auf ein Rätsel zu versteifen, ist hoffnungslos. Das führt zur Monomanie. Setz dich mit dieser Welt auseinander. Lerne ihre Gewohnheiten kennen, beobachte sie und hüte dich vor voreiligen Schlußfolgerungen. Irgendwann wirst du den Schlüssel zu allem finden.’ — Dann kam mir plötzlich die Komik meiner Situation zu Bewußtsein: der Gedanke an all die Jahre, die ich studiert und gearbeitet hatte, um in die Zukunft zu gelangen, und nun mein angstvolles Bestreben, wieder herauszukommen! Ich hatte mir selbst die komplizierteste und auswegloseste Falle gestellt, die jemals ein Mensch ersonnen hat. Obwohl es auf meine Kosten ging, konnte ich nicht anders: ich mußte schallend lachen.

Als ich den großen Palast durchquerte, schien es mir, als ob die kleinen Leute mir auswichen. Entweder bildete ich mir das nur ein, oder aber es war eine Folge meines Hämmerns an den Bronzetüren. Jedenfalls war ich ziemlich sicher, daß sie mir aus dem Weg gingen. Ich gab mir Mühe, mir keinerlei Besorgnis anmerken zu lassen, und machte auch keinen Versuch mehr, ihnen nachzulaufen. Innerhalb von ein oder zwei Tagen standen wir wieder auf demselben Fuß wie zu Beginn meines Aufenthaltes. Ich machte allmählich Fortschritte beim Erlernen ihrer Sprache und dehnte meine Nachforschungen auch auf andere Gebiete aus. Wenn mir nicht irgendwelche Feinheiten entgangen sein sollten, so war ihre Sprache wirklich äußerst einfach — sie bestand fast ausschließlich aus Substantiven und Verben. Es schien, wenn überhaupt, nur wenige abstrakte Begriffe zu geben, und auch bildliche Redewendungen wurden kaum verwendet. Die Sätze waren sehr einfach, gewöhnlich bestanden sie nur aus zwei Worten, und es gelang mir nicht, etwas mitzuteilen oder zu verstehen, das über die einfachsten Feststellungen hinausging. Ich beschloß daher, alle Gedanken an meine Zeitmaschine und das Geheimnis der Bronzetüren im Sockel der Sphinx so lange in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses zu verbannen, bis meine zunehmenden Kenntnisse mich von selbst zu ihnen zurückführen würden. Doch ein unbestimmtes Gefühl hielt mich, wie Sie wohl verstehen werden, in einem Umkreis von wenigen Meilen um den Ort meiner Landung fest.

Kapitel 8

Die Erklärung

So weit ich sehen konnte, herrschte überall derselbe üppige Wohlstand wie im Themsetal. Von jedem Hügel, den ich erstieg, sah ich eine Überfülle glanzvoller Bauwerke in den verschiedensten Variationen von Material und Stil, dazwischen überall dasselbe Dickicht immergrüner Pflanzen, die gleichen blütenbeladenen Bäume und Baumfarne. Hier und da glänzten Wasserflächen wie Silber, dahinter stieg die Landschaft zu blauen, sanft geschwungenen Hügeln an und verschmolz in der Ferne mit dem heiteren Himmel. Eine Besonderheit, die von Anfang an meine Aufmerksamkeit erweckte, war die Vielzahl kreisrunder Brunnen, die teilweise von bedeutender Tiefe zu sein schienen. Einer lag am Rande des Pfades, den ich während meines ersten Spazierganges hinaufgestiegen war. Wie alle übrigen hatte er eine eigenartige Bronze-Fassung und eine kleine Kuppel zum Schutz gegen Regen. Wenn ich am Rand dieser Brunnen saß und in ihre dunklen Schächte hinuntersah, erblickte ich weder einen Schimmer von Wasser, noch konnte ich mit einem brennenden Streichholz einen Lichtreflex erzeugen. Aber aus der Tiefe hörte ich immer ein bestimmtes Geräusch aufsteigen: bumm — bumm — bumm, es klang wie das Stampfen einer großen Maschine; und die flackernde Flamme meiner Streichhölzer zeigte an, daß ein ständiger Luftzug die Schächte hinunterströmte. Einmal warf ich auch ein Stückchen Papier in einen dieser Brunnen, und anstatt langsam hinunterzuflattern, wurde es sofort hinabgesogen und entschwand meinem Blick.

Nach kurzer Zeit begann ich, die Brunnen mit den hohen Türmen in Verbindung zu bringen, die verstreut an den Abhängen standen: denn über diesen Türmen sah ich oft jenes Flimmern in der Luft, wie man es an einem heißen Tag über einem sonnendurchglühten Strand beobachten kann. Aus der Kombination dieser Beobachtungen leitete ich die Annahme eines ausgedehnten unterirdischen Lüftungssystems ab, dessen eigentlichen Zweck ich mir allerdings schwer vorstellen konnte. Zuerst neigte ich zu der Ansicht, es handle sich um die sanitären Einrichtungen dieser Leute. Dieser Schluß war naheliegend, aber er erwies sich als völlig falsch.

Hier muß ich zugeben, daß ich während meines Aufenthaltes in der Zukunft sehr wenig über Entwässerungsanlagen, Beförderungsmittel und ähnliche Annehmlichkeiten erfuhr. In manchen Schilderungen utopischer Welten oder kommender Zeiten, die ich gelesen habe, findet man genaue Beschreibungen von Bauten, sozialen Einrichtungen und so weiter. Aber so leicht solche Einzelheiten zu erfassen sind, solange diese ganze Welt nur in der Phantasie existiert, so unzugänglich sind sie für einen wirklichen Besucher, der plötzlich Gegebenheiten gegenübersteht, wie ich sie hier vorfand. Stellen Sie sich vor, wie ein Neger, der aus dem tiefsten Zentralafrika nach London kommt, bei seiner Rückkehr seinen Stammesgenossen die Stadt beschreibt! Was wüßte er von Eisenbahngesellschaften, sozialen Unruhen, von Telephon- oder Telegraphendrähten, von der Paketbeförderung, von Postanweisungen und dergleichen mehr? Dabei wären wir wenigstens gern bereit, ihm diese Dinge zu erklären! Und wieviel von dem, was er selbst begriffen hätte, könnte er einem Freund, der noch nicht gereist ist, begreiflich oder glaubhaft machen? Bedenken Sie dabei, wie gering der Abstand zwischen einem Neger und einem Weißen unserer Zeit ist, im Vergleich zu dem, der zwischen mir und den Leuten des Goldenen Zeitalters klaffte! Manches, das zu meiner Bequemlichkeit beitrug, spürte ich nur, ohne es je zu sehen; doch außer einem ganz allgemeinen Eindruck weitgehender Automatisierung in allen Bereichen kann ich Ihnen, fürchte ich, sehr wenig von dieser Andersartigkeit vermitteln.

Was das Bestattungswesen betrifft, zum Beispiel, konnte ich weder Krematorien noch etwas, das an Grabstätten erinnerte, entdecken. Doch stellte ich mir vor, daß die Friedhöfe (oder Krematorien) möglicherweise irgendwo außerhalb der Reichweite meiner Streifzüge lägen. Dies war eine der Fragen, die ich mir bewußt stellte, wenn meine Neugier in diesem Punkt vorerst auch völlig unbefriedigt blieb. Die Sache ging mir nicht aus dem Sinn, und sie führte mich zu einer zweiten Beobachtung, die mir noch mehr Kopfzerbrechen verursachte: Alte und schwache Leute gab es in diesem Volk überhaupt nicht!

Ich muß gestehen, daß ich mich nicht lange mit meiner anfänglichen Theorie über eine automatisierte Zivilisation und eine dekadente Menschheit zufriedengab. Doch leider fiel mir keine bessere ein. Lassen Sie mich meine Schwierigkeiten darlegen. Die wenigen großen Paläste, die ich durchforscht hatte, beherbergten nichts als Wohnstätten, prächtige Speiseräume und Schlafgemächer. Ich sah weder Geräte noch Maschinen irgendwelcher Art. Und doch waren diese Wesen in schöne Stoffe gekleidet, die doch von Zeit zu Zeit erneuert werden mußten, und ihre Sandalen waren zwar schmucklos, aber doch Musterbeispiele feinster Metallarbeit. Irgendwo mußten diese Dinge doch hergestellt werden! Die kleinen Leute aber ließen keinerlei Fähigkeit zu produktiver Arbeit erkennen. Es gab bei ihnen keine Läden, keine Werkstätten, keine Anzeichen von Warenimport. Sie verbrachten ihre Tage mit heiteren Spielen, mit Baden im Fluß, mit spielerischem Liebesgetändel, mit Essen und mit Schlafen. Es war mir völlig unerklärlich, wodurch dieses Leben in Gang gehalten wurde.

Dann wieder die Sache mit meiner Zeitmaschine: Irgend jemand, ich weiß nicht wer oder was, hatte sie in das hohle Piedestal der weißen Sphinx geschafft. Warum? Ich konnte es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Dann diese wasserlosen Brunnen, diese flimmernden Türme — es fehlte mir der Schlüssel dazu. Es kam mir vor…— wie soll ich es erklären? Gesétzt den Fall, Sie fänden eine Inschrift mit einzelnen Sätzen in klar verständlichem Englisch, dazwischen aber andere, die aus Worten, ja sogar aus Buchstaben bestehen, die ihnen völlig unbekannt sind. Nun, ungefähr so stellte sich mir am dritten Tag meines Besuches die Welt des Jahres achthundertzweitausendsiebenhunderteins dar!

An diesem Tag schloß ich auch eine Freundsehaft — wenn man das so nennen kann. Ich sah gerade einigen der Menschlein beim Baden an einer flachen Stelle des Flusses zu, als eines von ihnen offenbar plötzlich von einem Krampf befallen und flußabwärts getrieben wurde. Die Hauptströmung war hier ziemlich schnell, aber nicht zu stark für einen auch nur mittelmäßigen Schwimmer. Sie werden sich daher eine Vorstellung von der erstaunlichen Schwächlichkeit dieser Geschöpfe machen können, wenn ich Ihnen sage, daß niemand auch nur den geringsten Versuch unternahm, das schreiende kleine Geschöpf, das vor ihren Augen zu ertrinken drohte, zu retten. Als ich das sah, schlüpfte ich rasch aus meinen Kleidern, watete ein Stück weiter unten ins Wasser, packte das arme kleine Würmchen und zog es ans sichere Land. Es war eine zarte, kleine Frau. Eine kurze Massage brachte sie bald wieder auf die Beine, und es freute mich, sie wieder gesund und munter zu sehen, als ich sie verließ. Ich hatte inzwischen eine so geringe Meinung von ihresgleichen, daß ich keinerlei Dankbarkeit von ihr erwartete. In dieser Hinsicht hatte ich mich aber getäuscht.

Der Vorfall hatte sich am Morgen ereignet. Am Nachmittag, als ich von einem meiner Entdeckungsspaziergänge zurückkehrte, traf ich in der Nähe meines Landungsplatzes meine kleine Frau wieder — ich nehme an, sie war es —, und sie begrüßte mich mit Freudenrufen und überreichte mir einen großen Blumenkranz den sie offenbar für mich, für mich allein, geflochten hatte. Das beeindruckte mich tief. Höchstwahrscheinlich hatte ich mich sehr verlassen gefühlt. Jedenfalls tat ich mein Bestes, um ihr meine Dankbarkeit für diese Gabe auszudrücken. Bald saßen wir nebeneinander in einer kleinen Steinlaube, vertieft in ein Gespräch, das hauptsächlich aus Lächeln bestand. Die Zutraulichkeit des kleinen Geschöpfes rührte mich genauso wie die eines Kindes. Wir überreichten einander Blumen, sie küßte meine Hände und ich die ihren. Dann versuchte ich ein Gespräch anzuknüpfen und erfuhr, daß sie Weena hieß; und obwohl ich seine Bedeutung nicht verstand, schien mir der Name doch sehr gut auf sie zu passen. Dies war der Beginn einer seltsamen Freundschaft, die eine Woche dauerte und dann zu Ende ging — wie, werde ich Ihnen noch erzählen.

Sie war wie ein Kind. Immer wollte sie bei mir sein, und bei meinem nächsten Ausflug ging es mir zu Herzen, als ich sah, wie sie aus Müdigkeit zurückblieb und mir in klagendem Ton nachrief. Aber ich mußte die Rätsel lösen, die diese Welt mir aufgab. Ich war doch nicht, sagte ich mir, in die Zukunft gereist, um einen Miniatur-Flirt anzuknüpfen! Doch ihr Kummer, wenn ich sie zurückließ, war wirklich groß und ihre Vorwürfe beim Abschied manchmal so ungestüm, daß ihre Verehrung mir alles in allem ebenso viele Unannehmlichkeiten wie Freuden bereitete. Aber dennoch empfand ich ihre Anwesenheit irgendwie als sehr tröstlich. Ich glaubte, sie hinge nur aus kindlicher Liebe so an mir. Erst als es zu spät war, wurde mir bewußt, was ich ihr mit jedem Abschied angetan hatte. Denn allein dadurch, daß sie mich gern zu haben schien und sich bemühte, mir auf ihre ungeschickte Weise ihre Zuneigung zu beweisen, gab dieses puppenhafte kleine Geschöpf mir bei jeder Rückkehr zum Standort der weißen Sphinx das Gefühl, nach Hause zu kommen; und ich hielt jedesmal Ausschau nach ihrer zarten weiß-goldenen Gestalt, wenn ich über den Hügel herabkam.

Von ihr erfuhr ich auch, daß die Furcht diese Welt noch nicht verlassen hatte. Bei Tageslicht war sie eher mutig und zu mir hatte sie ein grenzenloses Vertrauen; denn einmal, als ich zum Scherz drohende Grimassen schnitt, lachte sie nur darüber. Aber sie fürchtete sich vor dem Dunkel, vor Schatten, vor schwarzen Gegenständen. Dunkelheit war für sie der Inbegriff des Schreckens. Dieses Gefühl war von so ungewöhnlicher Leidenschaftlichkeit, daß es mich nachdenklich stimmte und neugierig machte. So entdeckte ich unter anderem, daß sich die kleinen Leute bei Einbruch der Dunkelheit in die Gebäude zurückzogen und sich dort wie Herdentiere zusammendrängten. Wenn man ohne Licht bei ihnen eintrat, versetzte sie das in panische Angst. Niemals fand ich einen von ihnen bei Nacht außer Haus oder allein in einem Haus schlafend. Aber ich war immer noch zu begriffsstutzig, um diese Angst richtig zu deuten, und beharrte zu Weenas Kummer darauf, abseits der schlummernden Menge zu schlafen.

Das beunruhigte sie sehr, doch schließlich gewann ihre treue Anhänglichkeit doch die Oberhand, und in fünf Nächten unserer Bekanntschaft, auch während der letzten Nacht, schlief sie bei mir, den Kopf auf meinen Arm gebettet. Aber ich verliere den Faden meiner Erzählung, wenn ich von ihr spreche. Es muß wohl in der Nacht vor ihrer Rettung gewesen sein, daß ich in der Morgendämmerung von etwas geweckt wurde. Ich hatte schlecht geschlafen und dabei geträumt, daß ich ertrunken sei und Seeanemonen mit ihren sanften Fühlern über mein Gesicht strichen. Ich fuhr aus dem Schlaf hoch und hatte den seltsamen Eindruck, irgendein graues Tier wäre eben aus dem Raum gehuscht. Ich versuchte wieder einzuschlafen, fühlte mich aber ruhelos und unbehaglich. Es war um jene Dämmerstunde, zu der die Gegenstände eben beginnen, sich aus dem Dunkel zu lösen, alles farblos und klar umrissen und doch unwirklich ist. Ich stand auf, ging zur großen Halle hinunter und blieb auf den Steinplatten vor dem Palast stehen. Ich gedachte aus der Not eine Tugend zu machen und mir den Sonnenaufgang anzusehen.

Der Mond war im Untergehen, und sein ersterbendes Licht vermischte sich mit dem ersten Morgendämmern zu einem geisterhaften Zwielicht. Die Sträucher wirkten tintenschwarz, der Boden stumpfgrau, der Himmel farblos und trostlos. Auf dem Hügel aber glaubte ich Gespenster zu sehen. Dreimal erblickte ich, als ich den Abhang genau ins Auge faßte, weiße Gestalten. Zweimal vermeinte ich ein weißes, affenartiges Wesen ziemlich schnell bergauf laufen zu sehen, und einmal sah ich neben den Ruinen mehrere von ihnen einen dunklen Körper davontragen. Sie bewegten sich sehr hastig. Ich konnte nicht erkennen, was mit ihnen geschah; anscheinend waren sie im dichten Buschwerk verschwunden. Sie müssen bedenken, daß in der Dämmerung alles nur undeutlich erkennbar war. Ich empfand jenes ungwisse frühmorgendliche Kältegefühl, das Sie wohl alle kennen. Ich traute meinen Augen nicht recht.

Als der Himmel im Osten heller wurde, das Sonnenlicht zurückkehrte, und mit ihm die lebhaften Farben des Tages, musterte ich nochmals genau meine Umgebung. Aber keine Spur der weißen Gestalten war mehr zu sehen, Sie waren vielleicht nur Geschöpfe des Zwielichts. ‘Es müssen Gespenster gewesen sein’, sagte ich mir. ‘Wer weiß, aus welcher Epoche!’ Denn eine wunderliche Idee von Grant Allen kam mir in den Sinn und erheiterte mich. Wenn jede verstorbene Generation ihre Gespenster hinterläßt, hatte er gemeint, muß die Welt zuletzt von ihnen übervölkert sein. Nach dieser Theorie hätten sie, nach ungefähr achthunderttausend Jahren seit heute, längst unzählbar geworden sein müssen und so war es nicht erstaunlich, wenn man gleich vier auf einmal sah. Aber dieser Scherz befriedigte mich nicht, und ich dachte den ganzen Morgen über an diese Gestalten, bis schließlich Weenas Rettung sie aus meinen Gedanken verdrängte. Entfernt erinnerten sie mich an das weiße Tier, das ich bei meiner ersten verzweifelten Suche nach der Zeitmaschine aufgestöbert hatte. Aber Weena war ein viel erfreulicheres Thema. Leider sollte alles bald auf viel schrecklichere Weise wieder in mein Bewußtsein treten.

Ich glaube, ich habe schon erwähnt, um wieviel heißer das Klima dieses Goldenen Zeitalters war als unseres. Ich weiß nicht, warum. Mag sein, daß die Sonne heißer oder die Erde der Sonne näher war. Es wird allgemein angenommen, daß sich die Sonne in Zukunft immer mehr abkühlen werde. Aber die Leute, die mit Theorien wie der des jungen Darwin nicht vertraut sind, übersehen, daß die Planeten schließlich, einer nach dem anderen, in das Zentralgestirn zurückfallen müssen. Jedesmal, wenn eine solche Katastrophe eintritt, wird die Sonne mit erneuerter Energie aufstrahlen: und es mag sein, daß einer der inneren Planeten dieses Schicksal schon erlitten hatte. Doch aus welchem Grund auch immer, Tatsache ist, daß die Sonne heißer und heller strahlte, als wir es gewohnt sind.

An einem sehr heißen Morgen nun — meinem vierten, glaube ich, war es —, als ich in einer großen Ruine unweit des Hauses, in dem ich aß und schlief, Schutz vor der Hitze und Helligkeit suchte, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Denn als ich zwischen dem zerfallenen Mauerwerk herumkroch, stieß ich auf eine schmale Galerie, deren Ende und Seitenfenster von herabgestürzten Steinmassen verschüttet waren. Im Kontrast zu der blendenden Helligkeit draußen erschien sie mir zuerst undurchdringlich dunkel. Ich betrat sie tastend, denn der Wechsel vom Licht zur Finsternis ließ bunte Flecken vor meinen Augen tanzen. Plötzlich hielt ich wie gebannt inne: Im Widerschein des spärlich einfallenden Tages leuchteten mir zwei Augen aus dem Dunkel entgegen.

Die instinktive Urangst vor wilden Tieren überkam mich. Ich ballte die Fäuste und hielt unverwandt dem Blick dieser glotzenden Augen stand. Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Dann erinnerte ich mich der unbeschränkten Sicherheit, in der die Menschheit zu leben schien. Zugleich aber dachte ich auch an diese sonderbare Furcht vor der Dunkelheit. Meine Angst mühsam überwindend, trat ich einen Schritt vor und sprach die Erscheinung an. Ich muß zugeben, daß meine Stimme rauh und unbeherrscht klang. Ich streckte die Hand aus und berührte irgend etwas Weiches. Augenblicklich wichen die Augen zur Seite, und etwas Weißes rannte an mir vorüber. Mit heftigem Herzklopfen drehte ich mich um und sah eine seltsame, affenartige, kleine Gestalt mit gesenktem Kopf quer durch den hellen Raum hinter mir laufen. Das Wesen prallte gegen einen Granitblock, taumelte zur Seite und verschwand blitzschnell unter einem anderen Haufen von Mauertrümmern.

Mein Eindruck war natürlich nur undeutlich; aber ich weiß, daß das Wesen von stumpfer weißer Farbe war und sonderbar große, graurote Augen hatte; flachsblondes Haar fiel von seinem Kopf bis über den Rücken hinab. Doch, wie gesagt, es rannte zu schnell, als daß ich es genau hätte sehen können. Ich kann nicht einmal sagen, ob es auf allen vieren rannte oder nur die Arme tief herabhängen ließ. Nach kurzem Zögern folgte ich ihm in den anderen Trümmerhaufen. Zuerst konnte ich es nicht finden; nach kurzem Suchen in der Dunkelheit aber gelangte ich zu einer jener brunnenartiger Öffnungen, von denen ich Ihnen erzählt habe; sie war halb verdeckt von einem gestürzten Pfeiler. Plötzlich kam mir eine Idee: Konnte das Wesen den Schacht hinuntergeflüchtet sein? Ich entzündete ein Streichholz, und als ich hinabsah, bemerkte ich ein kleines weißes Wesen mit großen leuchtenden Augen, die es fest auf mich gerichtet hielt, während es sich zurückzog. Ich Schauderte: Es glich einer menschlichen Spinne! Es kletterte an der Wand des Schachtes hinunter, und jetzt sah ich zum erstenmal, daß dort metallene Fuß- und Handstützen angebracht waren, die wie Leitersprossen den Schacht hinunterführten. Dann verbrannte mir das Hölzchen die Finger und fiel mir aus der Hand. Dabei verlosch es, und bevor ich ein neues angezündet hatte, war das kleine Ungeheuer verschwunden.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß und in den Schacht hinunterstarrte. Erst nach geraumer Zeit konnte ich mich zu der Überzeugung durchringen, daß das Wesen, das ich gesehen hatte, menschenähnlich gewesen war. Nach und nach aber dämmerte mir die Wahrheit: Die Menschheit war nicht eine ungeteilte Gattung geblieben, sondern hatte sich in zwei verschiedene Arten gespalten: meine anmutigen Kinder der Oberwelt waren nicht die einzigen Abkommen unserer Menschheitsstufe, sondern auch dieses bleiche, widerliche Nachtwesen, das blitzartig an mir vorbeigehuscht war, mußte ein Erbe aller vergangenen Zeitalter sein.

Ich dachte an die flimmernden Türme und an meine Theorie einer unterirdischen Belüftungsanlage. Ich begann ihre wahre Bedeutung zu ahnen. Und welche Rolle, so fragte ich mich, sollte ich diesem Lemuren in meinem Schema einer perfekten Organisation züteilen? In welchem Verhältnis stand er zur unbekümmerten, heiteren Welt der schönen Oberweltler? Und was verbarg sich dort unten, am Grunde dieses Schachtes? ich saß auf dem Brunnenrand und redete mir ein, daß es keinerlei Grund zu Befürchtungen gebe und ich nur hinuntersteigen müsse, um die Antwort auf alle meine Fragen zu finden. Dabei wurde mir schon bei dem Gedanken daran schlecht vor Angst! Während ich noch zögerte, kamen zwei der hübschen Oberweltleute in verliebtem Spiel über den sonnigen Platz in den Schatten gelaufen. Der Mann verfolgte das Mädchen und warf im Laufen Blumen nach ihr.

Sie schienen entsetzt zu sein, als sie mich so, den Arm auf die umgestürzte Säule gestützt, in den Brunnen hinabblicken sahen. Offenbar galt es als äußerst ungehörig, diese Öffnungen überhaupt zu bemerken; denn als ich auf diese eine deutete und versuchte, in ihrer Sprache eine Frage darüberzu formulieren, waren sie noch betroffener und wandten sich ab. Dafür aber zeigten sie Interesse für meine Streichhölzer, und ich ließ einige aufflammen, um sie zu unterhalten. Dann versuchte ich nochmals nach dem Brunnen zu fragen, und wieder mißlang es mir. So verließ ich sie, um zu Weena zurückzukehren und zu versuchen, von ihr etwas zu erfahren. Aber mein Verstand arbeitete bereits rege. Meine Vermutungen und Eindrücke verschoben sich und ordneten sich zu einem völlig neuen Bild. Ich besaß jetzt einen Schlüssel zur Bedeutung dieser Brunnen, dieser Entlüftungstürme und dieser Gespenster — ganz zu schweigen von dem Fingerzeig auf die Funktion der Bronzetüren und das Schicksal meiner Zeitmaschine! Und noch vage ahnte ich nun auch eine mögliche Lösung für das wirtschaftliche Problem, das mir solche Rätsel aufgegeben hatte.

Hier meine neue Interpretation: ohne Zweifel war diese zweite Gattung Mensch ein Höhlenbewohner. Es waren vor allem drei Umstände, die mich vermuten ließen, daß ihr seltenes Erscheinen an der Erdoberfläche das Resultat einer langen Gewöhnung an das Leben unter der Erde war: Erstens ihr bleiches Aussehen, das den meisten Tieren eigen ist, die hauptsächlich im Dunklen leben — wie die weißen Fische in den Höhlen von Kentucky, zum Beispiel. Zweitens die großen Augen, mit der besonderen Eigenheit, Licht zu reflektieren, die ein allgemeines Merkmal nächtlich lebender Tiere sind, wie man an Katzen und Eulen beobachten kann. Schließlich ihre offensichtliche Hilflosigkeit bei Tageslicht, diese überstürzte und dabei ungeschickte Flucht in den schützenden Schatten, und die eigentümliche Kopfhaltung bei Tageslicht — all das unterstützte meine Theorie einer außerordentlichen Empfindlichkeit ihrer Netzhaut.

Die Erde unter meinen Füßen mußte von unzähligen Tunnels durchzogen sein, und diese unterirdischen Stollen waren der Lebensraum der neuen Rasse. Die ungezählten Lüftungsschächte und Brunnen an allen Abhängen — nur im Flußtal gab es keine — ließen darauf schließen, wie weit verzweigt sie waren. Drängte sich da die Folgerung nicht geradezu auf, daß in dieser künstlichen Unterwelt alle Arbeit getan wurde, die für das Wohlergehen der Tageslicht-Rasse nötig war? Diese Annahme war so wahrscheinlich, daß ich sie sofort akzeptierte und daranging, nun das Wie dieser Zweiteilung der Gattung Mensch zu ergründen. Ich vermute, daß Sie meine Theorie in Umrissen bereits ahnen, aber ich mußte bald erkennen, daß sie von der Wahrheit weit entfernt war.

Ausgehend von den Problemen unserer Ära, war es mir sonnenklar, daß in der immer größer werdenden Kluft zwischen Kapitalist und Arbeiter, die uns gegenwärtig noch zeitlich und gesellschaftlich begrenzt erscheint, der Ursprung dieser Gesellschaftsordnung lag. Das wird Ihnen ziemlich grotesk und ganz unglaublich vorkommen, und doch sind schon jetzt Entwicklungen festzustellen, die in diese Richtung weisen. Es herrscht eine Tendenz, die weniger ansehnlichen Einrichtungen unserer Zivilisation unter die Erde zu verlegen — wie zum Beispiel die Untergrundbahn in London, neue elektrische Bahnlinien oder unterirdische Werkstätten und Restaurants —, und sie vermehren sich und breiten sich aus. Offenbar, so dachte ich, hatte sich diese Tendenz so weit verstärkt, daß die gesamte Industrie allmählich ihr Recht auf Tageslicht verloren hatte. Ich meine damit, daß sie sich mehr und mehr in Richtung auf größere unterirdische Fabrikanlagen entwickelt hatte, in denen man immer mehr Zeit verbringen mußte, bis endlich zum Schluß…! Lebt denn nicht auch heutzutage ein Arbeiter, im Londoner East-End, unter so unnatürlichen Bedingungen, daß er nahezu vom Leben an der freien Erdoberfläche ausgeschlossen ist?

Der den Reichen eigene Hang zur Exklusivität dagegen — ohne Zweifel ein Ergebnis der fortschreitenden Verfeinerung ihrer Bildung und der damit sich erweiternden Kluft zwischen ihnen und der rohen Gewalt der Armen — hat bereits dazu geführt, daß in ihrem Interesse ein beträchtlicher Teil der Erdoberfläche für die Öffentlichkeit gesperrt wurde. In der Umgebung von London, zum Beispiel, ist etwa die Hälfte der schönen Landschaft für das große Publikum unzugänglich. Eben diese immer größer werdende Kluft — eine Folge der Länge und Kostspieligkeit des höheren Bildungsweges sowie der Versuchungen, welche die verfeinerten Lebensgewohnheiten mit sich bringen — wird auch die Kontakte zwischen den Klassen durch Mischehen, die gegenwärtig die Spaltung unserer Gattung in verschiedene soziale Schichten verzögern, immer seltener und seltener werden lassen. So werden am Ende auf der Erde die ‘Habenden’ leben, die sich dem Genuß, der Bequemlichkeit und der Schönheit hingehen, und unter der Erde die ‘Nicht-Habenden’, die arbeitende Klasse, die sich mehr und mehr ihren Arbeitsbedingungen anpassen wird. Einmal dort unten, werden sie ohne Zweifel für die Ventilation ihrer Höhlen Zins zahlen müssen, und zwar gar nicht wenig; und sollten sie sich weigern, würden sie ausgehungert oder erstickt werden. Jene, die schwach oder aufrührerisch sind, werden aussterben, und am Ende, wenn das Gleichgewicht einmal erreicht ist, werden die Überlebenden an das Leben in der Unterwelt ebenso angepaßt und in ihrer Art ebenso zufrieden sein wie die anderen in ihrer Oberwelt. Wie es mir schien, waren die verfeinerte Schönheit einerseits und das verbleichte Aussehen andererseits die ganz natürliche Folge dieser Entwicklung.

Der große Sieg der Menschlichkeit, von dem ich geträumt hatte, nahm in meinem Geist eine ganz an- dere Gestalt an. Es hatte den Sieg moralischer Prinzipien und gemeinnütziger Zusammenarbeit, wie ich ihn erträumt hatte, nie gegeben. Statt dessen sah ich eine Aristokratie an der Macht, bewaffnet mit einer perfektionierten Wissenschaft, die das industrielle System von heute zu seinem logischen Ende geführt hatte. Ihr Sieg war nicht nur ein Sieg über die Natur, sondern ein Sieg über die Natur und den Mitmenschen. Dies, darauf muß ich Sie aufmerksam machen, war meine Auffassung von damals. Ich hatte keinen zuverlässigen Reiseführer in Gestalt eines utopischen Romans. Mag sein, daß meine Deutung völlig falsch ist. Noch immer aber bin ich der Meinung, daß sie die wahrscheinlichste ist. Aber auch wenn man von dieser ausging, mußte die ausgewogene Zivilisation, die schließlich erreicht worden war, ihren Höhepunkt inzwischen längst überschritten haben und sich jetzt schon in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls befinden. Die übergroße Sicherheit der Oberweltmenschen hatte zu einer allmählichen Degeneration geführt, einem allgemeinen Rückgang, was Körpergröße, Kraft und Intelligenz betrifft. Das erkannte ich bereits mit aller Deutlichkeit. Was mit den Unterweltlern geschehen war, ahnte ich noch nicht; auf Grund dessen jedoch, was ich von den ‘Morlocken’ — wie diese Geschöpfe genannt wurden — bisher gesehen hatte, konnte ich mir vorstellen, daß die Veränderungen des Typus Mensch bei ihnen noch viel weiter und tiefer gegangen waren, als bei den ‘Eloi’, der schönen Gattung, die ich bereits kannte.

Dann kamen mir beunruhigende Zweifel. Warum hatten mir die Morlocken meine Maschine weggenommen? Ich war mir nämlich sicher, daß sie es waren. Und wenn die Eloi die Herren waren, warum konnten sie mir dann die Maschine nicht wieder beschaffen? Und warum fürchteten sie sich so sehr vor dem Dunkel? Ich begann, wie schon gesagt, Weena über diese Unterwelt auszufragen, aber auch da erlebte ich eine Enttäuschung. Zuerst verstand sie meine Frage gar nicht, und dann wollte sie nicht antworten. Sie schauderte, als ob ihr dieses Thema unerträglich wäre. Und als ich sie, vielleicht ein wenig streng, zu einer Antwort zwingen wollte, brach sie in Tränen aus. Das waren die einzigen Tränen, mit Ausnahme meiner eigenen, die ich in jenem Goldenen Zeitalter fließen sah. Ihr Anblick ließ mich meine Sorgen wegen der Morlocken sofort vergessen, und ich war nur noch bestrebt, aus Weenas Augen diese Erbmale ihrer menschlichen Herkunft zu verbannen. Und bald darauf lächelte Sie wieder und klatschte in die Hände, als ich feierlichein Streichholz für sie anzündete.

Kapitel 9

Die Morlocken

Es mag Ihnen seltsam erscheinen, aber es vergingen zwei Tage, ehe ich die neugefundene Spur auf dem offensichtlich richtigen Weg weiter verfolgen konnte. Ich empfand einen eigenartigen Widerwillen gegen diese bleichen Geschöpfe. Sie hatten ganz die verblaßte Farbe von Würmern und anderem Getier, die man, in Spiritus konserviert, in zoologischen Museen sieht. Und sie fühlten sich widerlich kalt an. Wahrscheinlich war mein Abscheu von der gleichartigen Einstellung der Eloi beeinflußt, deren Angst vor den Morlocken ich nun zu teilen begann.

In der Nacht darauf schlief ich schlecht. Wahrscheinlich war mein Gesundheitszustand etwas zerrüttet. Ratlosigkeit und Zweifel bedrückten mich. Ein- oder zweimal erfaßte mich eine panische Angst, für die ich keinen bestimmten Grund angeben konnte. Ich erinnere mich, daß ich mich leise in die große Halle schlich, wo die kleinen Leute bei Mondlicht schliefen — diese Nacht war auch Weena bei ihnen — und ich mich allein durch ihre Anwesenheit sicherer fühlte. Ich dachte plötzlich daran, daß innerhalb weniger Tage der Mond durch sein letztes Viertel gehen mußte; die Nächte würden dunkler werden, und diese abstoßenden Geschöpfe aus der Unterwelt, diese verblaßten Lernuren, dieses neue Ungeziefer, das an die Stelle des alten getreten war, würden häufiger auftreten. An den beiden folgenden Tagen quälte mich das beunruhigende Gefühl, daß ich mich einer unausweichlichen Pflicht entzog. Es war mir bewußt, daß sich die Zeitmaschine nur zurückerobern ließ, wenn ich mich mutig an die Lösung des Rätsels der Unterwelt machte. Aber ich schrak vor diesem Rätsel zurück. Wenn ich wenigstens einen Gefährten gehabt hätte, wäre alles anders gewesen. Aber ich war so schrecklich allein und zitterte schon bei dem Gedanken, in den finsteren Brunnenschacht hinabklettern zu müssen. Ich weiß nicht, ob Sie sich meinen Zustand vorstellen können: Mir saß dauernd die Angst im Nacken, und ich fühlte mich keinen Augenblick lang sicher.

Vielleicht war es diese Ruhelosigkeit, dieses Gefühl der Unsicherheit, das mich dazu trieb, meine Entdeckungsreisen weiter und weiter auszudehnen. Als ich durch das gegen Südwesten ansteigende Hügelland wanderte, das heute Combe Wood heißt, erblickte ich in der Ferne, ungefähr in der Richtung des heutigen Banstead, einen gewaltigen grünen Bau, der sich von allen anderen Gebäuden, die ich bisher gesehen hatte, deutlich unterschied. Er war noch mächtiger als die größten Paläste oder Ruinen, und der Stil der Fassade gemahnte an die Architektur des Orients; die Mauern wiesen den besonderen Glanz und auch den blaßgrünen, ins Bläuliche spielenden Farbton einer bestimmten Sorte chinesischen Porzellans auf. Dieses fremdartige Aussehen ließ auch einen besonderen Verwendungszweck vermuten, und ich wäre gerne hingegangen, um ihn zu erkunden. Doch es wurde schon Abend, denn ich hatte das Bauwerk erst nach langem, ermüdendem Umherschweifen entdeckt; deshalb beschloß ich, dieses Abenteuer auf den folgenden Tag zu verschieben, und kehrte zurück zu meiner zärtlichen kleinen Weena und ihren Willkommensgrüßen. Am nächsten Morgen aber wurde mir klar, daß mein Interesse für diesen Palast aus grünem Porzellan ein frommer Selbstbetrug war, ein Vorwand, um die Aufgabe, vor der ich solche Angst hatte, noch einen Tag hinauszuschieben. Ich beschloß also ohne weiteren Zeitverlust den Abstieg zu wagen und brach am frühen Morgen zu einem Brunnen in der N ähe der Granit- und Aluminiumruinen auf.

Die kleine Weena lief mit mir. Sie hüpfte bis zum Brunnen neben mir her, doch als sie sah, wie ich mich über die Öffnung beugte und in den Schlund hinuntersah, geriet sie völlig aus der Fassung. ‘Leb wohl, kleine Weena’, sagte ich, hob sie auf und gab ihr einen Kuß; dann stellte ich sie nieder und begann, über den Brunnenrand gebeugt, nach den Kletterhaken zu tasten. Ich tat es ziemlich hastig, muß ich gestehen, denn ich fürchtete, der Mut könnte mich wieder verlassen! Zuerst sah sie mir voll Entsetzen zu. Dann stieß sie einen jämmerlichen Schrei aus, lief zu mir und versuchte mich mit ihren kleinen Händen zurückzuzerren. Vielleicht war es gerade ihr Widerstand, der mich dazu aneiferte, mein Vorhaben auszuführen. Ich schüttelte sie ab, ein wenig grob vielleiCht und im nächsten Augenblick war ich schon im Brunnenschacht. Ich sah ihr angstverzetrtes Gesichtchen über der Öffnung und lächelte ihr beruhigend zu. Dann mußte ich meine Aufmerksamkeit auf die nicht allzu stabilen Kletterhaken konzentrieren, an denen ich hing.

Ich hatte einen vielleicht zweihundert Ellen tiefen Schacht hinabzuklettern. Den Abstieg ermöglichten aus der Innenwand des Schachtes herausragende Metallstäbe, aber da sie nach den Bedürfnissen sehr viel kleinerer und leichterer Wesen bemessen waren, war ich vom Klettern sehr bald erschöpft und verkrampft. Doch damit nicht genug! Einer der Stäbe gab unter meinem Gewicht plötzlich nach, und um ein Haar wäre ich in die schwarze Tiefe hinuntergestürzt. Einen fürchterlichen Moment lang hing ich nur an einer Hand, und nach diesem Zwischenfall erlaubte ich mir keine Ruhepause mehr. Obwohl mich Arme und Rücken schon sehr schmerzten, kletterte ich an der steilen Wand so schnell wie möglich weiter hinab. Wenn ich hinaufschaute, sah ich über mir die Brunnenöffnung als kleine blaue Scheibe, in der ein Stern sich zeigte, und an ihrem Rand den Kopf der kleinen Weena nur noch als einen kleinen dunklen Punkt. Von unten drang immer lauter und beängstigender das dumpfe Dröhnen einer Maschine an mein Ohr. Mit Ausnahme der kleinen hellen Scheibe über mir herrschte totale Finsternis, und als ich nochmals hinaufsah, war Weena verschwunden.

Ein tödliches Unbehagen erfaßte mich, und ich spielte mit dem Gedanken, den Schacht wieder hinaufzuklettern und die Unterwelt Unterwelt sein zu lassen. Doch auch während mir diese Überlegungen durch den Kopf spukten, stieg ich unaufhaltsam weiter ab. Zu meiner größten Erleichterung entdeckte ich endlich, eine Fußbreite rechts von mir, ein schmales Schlupfloch in der Wand. Ich schwang mich hinein und stellte fest, daß es der Eingang eines engen, waagrechten Tunnels war, in dem ich mich niederlegen und ausrasten konnte. Es war aber auch höchste Zeit. Meine Arme schmerzten, mein Rücken war verkrampft, und aus fortwährender Angst vor dem drohenden Absturz zitterte ich am ganzen Körper. Außerdem hatte die völlige Finsternis meine Augen stark irritiert. Die Luft war erfüllt vom Donnern und Brausen der Maschinen, die Luft in den Schacht hinunterpumpten.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort liegenblieb. Ich wurde dadurch geweckt, daß eine weiche Hand über mein Gesicht strich. Erschrocken fuhr ich in der Dunkelheit hoch und griff nach meinen Streichhölzern. Hastig zündete ich eines an und sah drei gebeugte weiße Gestalten, ähnlich der, die ich oben in der Ruine gesehen hatte, vor dem Licht schleunigst die Flucht ergreifen. Da sie in einer für mich undurchdringlichen Finsternis lebten, waren ihre Augen so abnorm groß und empfindlich wie die Augen von Höhlenfischen und reflektierten auch das Licht auf dieselbe Weise. Ich zweifle nicht daran, daß sie mich in dieser vollkommenen Finsternis erkennen konnten, und sie schienen sich auch, abgesehen vom Licht, überhaupt nicht vor mir zu fürchten. Sobald ich aber ein Streichholz aufflammeh ließ, um sie zu sehen, zogen sie sich fluchtartig in dunkle Spalten und Gänge zurück, aus denen mich ihre Augen starr und unheimlich anglotzten.

Ich versuchte sie anzurufen, aber ihre Sprache war offenbar anders als die der Oberweltler, so daß ich ganz und gar auf mich selbst angewiesen blieb, und der Gedanke an Flucht hätte beinahe doch noch über meinen Forscherdrang gesiegt. Doch dann sagte ich mir: ‘Jetzt kannst du nicht mehr zurück!’ Und während ich mich weiter durch den Gang tastete, hörte ich den Maschinenlärm immer lauter werden. Plötzlich traten die Wände um mich zurück, ein weiter, offener Raum lag vor mir, und als ich ein weiteres Streichholz anstrich, sah ich, daß ich eine große gewölbte Höhle betreten hatte, die sich außerhalb meines Lichtkreises in tiefster Finsternis verlor. Ich konnte ja nicht mehr von ihr sehen, als die Flamme eines Streichholzes zu erleuchten vermochte.

Natürlich ist meine Erinnerung undeutlich. Große Gebilde, die wie ungeheure Maschinen aussahen, ragten aus der Dunkelheit und warfen groteske schwarze Schatten, in denen gespenstisch aussehende Morlocken Schutz vor dem Lichtschein suchten. In der Höhle war es übrigens sehr stickig und drückend, und ein schwacher Geruch nach frisch vergossenem Blut lag in der Luft. Am Rande meines Blickfeldes befand sich ein kleiner Tisch aus weißem Metall, auf dem anscheinend eine Mahlzeit angerichtet war. Demnach schienen die Morlocken also Fleischesser zu sein! Ich erinnere mich, damals noch erwogen zu haben, welches große Tier wohl überlebt haben könnte, um die rote Keule zu liefern, die ich auf dem Tisch liegen sah. Es war alles sehr undeutlich: der stickige Geruch, die großen, unkenntlichen Gebilde, die ekelhaften Gestalten, die im Dunkeln lauerten und nur auf das Erlöschen des Lichtes warteten, um sich mir wieder zu nähern! Dann brannte das Streichholz ab, versengte mir die Finger und fiel wie ein torkelndes rotes Glühwürmchen in die schwarze Finsternis.

Später habe ich mir überlegt, wie außerordentlich mangelhaft ich für eine solche Expedition ausgerüstet war. Als ich meine Zeitmaschine startete, fuhr ich in der absurden Annahme los, die Menschen der Zukunft würden uns auf allen Gebieten unendlich weit voraus sein. Ich war ohne Waffen gekommen, ohne Medikamente, ohne etwas zu rauchen — den Tabak vermißte ich manchmal schmerzlich! —, und ich hatte nicht einmal genug Streichhölzer. Wenn ich wenigstens an eine Kodak gedacht hätte! Ich hätte diesen Blick in die Unterwelt sekundenschnell aufnehmen und ihn später in aller Ruhe untersuchen können. So aber stand ich jetzt nur mit den Waffen und Kräften da, die mir die Natur verliehen hatte — mit Händen, Füßen und Zähnen; außer diesen waren mir genau vier Streichhölzer geblieben.

Ich hatte Angst, zwischen all diesen Maschinen durchs Dunkel zu tappen, und erst jetzt hatte ich entdeckt, daß mir die Streichhölzchen ausgingen. Es war mir bisher gar nicht eingefallen, daß ich sparsam mit ihnen umgehen müsse, und fast die halbe Schachtel hatte ich darauf verschwendet, die Oberweltler, denen Feuer etwas Unbekanntes war, in Erstaunen zu versetzen. Nun besaß ich, wie gesagt, nur mehr vier Stück, und während ich so im Finstern stand, berührte eine Hand die meine, knochige Finger betasteten mein Gesicht, und ein ganz besonders unangenehmer Geruch stieg mir in die Nase. Mir war, als hörte ich ringsum die Atemzüge einer ganzen Schar dieser schrecklichen kleinen Wesen. Ich fühlte, wie sie mir die Streichholzschachtel sanft aus der Hand zu winden versuchten und wie kleine Hände hinter meinem Rücken an meinen Kleidern zupften. Es war ein unbeschreiblich widerliches Gefühl, von diesen unsichtbaren Geschöpfen untersucht zu werden. Mit aller Schärfe überfiel mich in dieser Dunkelheit die plötzliche Erkenntnis, daß ich von ihrer Art zu denken und zu leben überhaupt nichts wußte. Ich brüllte sie an, so laut ich konnte. Sie fuhren zurück, doch gleich darauf spürte ich sie wieder näher kommen. Diesmal griffen sie schon unverschämter nach mir und flüsterten in sonderbaren Lauten miteinander. Ein wildes Grausen schüttelte mich, und ich heulte nochmals schrill auf. Diesmal erschraken sie nicht mehr so sehr und kamen mit einem eigentümlichen Kichern wieder auf mich zu. Ich gestehe, daß ich panische Angst hatte. Ich beschloß, ein neues Hölzchen zu entzünden und bei seinem Schein zu fliehen. Ich tat es, und indem ich die Flamme mit einem Stück Papier aus meiner Tasche verstärkte, gelang es mir, meinen Rückzug bis zu dem kleinen Gang zu decken. Doch kaum hatte ich ihn erreicht, da erlosch die Flamme, und durch das Dunkel vernahm ich hinter mir das Rascheln und Trippeln der Morlocken gleich Blättern im Wind und fallenden Regentropfen.

Binnen Sekunden wurde ich von mehreren Händen gepackt, und es bestand kein Zweifel, daß sie versuchen würden, mich zurückzuschleppen. Ich entzündete noch ein Streichholz und schwenkte es vor ihren verdutzten Gesichtern. Sie können sich kaum vorstellen, wie ekelerregend unmenschlich sie aussahen mit ihren blassen, kinnlosen Gesichtern und den großen, lidlosen, grauroten Augen, als sie mich so geblendet und verstört anstarrten. Aber ich hielt mich nicht damit auf, sie zu betrachten — das können Sie mir glauben! Ich floh weiter, und als mein zweites Streichholz ausgegangen war, entzündete ich das dritte. Es war fast abgebrannt, als ich den Einstieg in den Schacht erreichte. Ich lehnte mich an die Mauer, denn der von unten aufsteigende Lärm der großen Pumpe machte mich schwindlig. Dann tastete ich nach den Klimmhaken an der Seite, als plötzlich etwas von hinten meine Füße packte und ich heftig zurückgerissen wurde. Ich entzündete mein letztes Streichholz…und es erlosch auf der Stelle. Doch meine Finger umklammerten schon den Klimmhaken; mit wütenden Fußtritten befreite ich mich von den Morlocken und kletterte eilends den Schacht hinauf, während sie mir alle regungslos glotzend und blinzelnd nachstarrten — alle, bis auf einen kleinen Kerl, der mir ein gutes Stück nachkletterte und beinahe meinen Schuh als Trophäe davongetragen hätte.

Der Aufstieg schien kein Ende nehmen zu wollen. Bei den letzten zwanzig oder dreißig Fuß befiel mich entsetzlicher Schwindel. Ich war nahe daran, den Halt zu verlieren. Die letzten paar Ellen waren ein verzweifelter Kampf gegen diese aufkommende Schwäche. Mehrmals wurde mir schwarz vor den Augen, und ich hatte das Gefühl, ins Nichts zu stürzen. Irgendwie kam ich aber schließlich doch über den Brunnenrand und taumelte aus der Ruine hinaus in den blendenden Sonnenschein. Ich fiel auf das Gesicht. Und die Erde roch süß und rein. Dann erinnere ich mich noch, daß Weena mir Hände und Wangen küßte und ich die Stimmen anderer Eloi hörte. Danach verlor ich für eine Weile das Bewußtsein.

Kapitel 10

Als es Nacht wurde

Nun schien ich in einer noch schlimmeren Lage zu sein als zuvor. Bisher hatte ich mir — ausgenommen in jener Nacht, in der mich der Verlust der Maschine verzweifeln ließ — die Hoffnung auf ein mögliches Entrinnen bewahrt; durch meine neuesten Entdeckungen aber geriet diese Hoffnung ins Wanken. Bisher hatte ich die Einfalt der kleinen Leute und irgendwelche unbekannte Mächte – die ich jedoch nur verstehen lernen müßte, um ihrerHerr zu werden — für die einzigen Hindernisse gehalten: Nun aber war mit diesen abstoßenden Morlocken ein neues Element auf den Pjan getreten — etwas Unmenschliches und Bösartiges. Instinktiv verabscheute ich sie. Vorher hatte ich mich einfach wie ein Mann gefühlt, der in eine Grube gefallen ist: ich befaßte mich ausschließlich mit der Grube und den Möglichkeiten, aus ihr wieder herauszukominen. Jetzt aber fühlte ich mich wie ein Tier in der Falle, das darauf wartet, vom Feind geholt zu werden.

Sie werden vielleicht überrascht sein, zu hören, welchen Feind ich erwartete: Es war die Dunkelheit des Neumondes. Weena hatte diese Angst durch einige mir zunächst unverständliche Bemerkungen über die ‘Dunklen Nächte’ in mir geweckt. Jetzt war es nicht mehr so schwer zu erraten, was mit diesen kommenden ‘Dunklen Nächten’ gemeint sein konnte. Der Mond war im Abnehmen, die Dunkelheit dauerte jede Nacht länger. Und ich verstand nun, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, die Furcht der kleinen Oberweltler vor dem Dunkel. Bisweilen fragte ich mich, was für gräßliche Untaten die Morlocken bei Neumond wohl verüben mochten. Ich war mir ziemlich sicher, daß meine zweite Hypothese völlig falsch war. Die Oberweltler waren zwar einst vielleicht die bevorzugte Aristokratie gewesen und die Morlocken ihre rechtlosen Sklaven; das aber gehörte schon längst der Vergangenheit an. Die zwei Gattungen, welche die Evolution der Menschheit hervorgebracht hatte, sanken nun allmählich in ein völlig neues Verhältnis zueinander ab oder, hatten es bereits erreicht. Die Eloi waren, wie einst die Karolinger, zu einer nur noch schönen Nutzlosigkeit degeneriert. Noch waren sie die Herren der Erde, doch nur noch geduldete: denn den Morlocken, die seit ungezählten Generationen unterirdisch lebten, war das Tageslicht an der Erdoberfläche mit der Zeit unerträglich geworden. Ich nahm an, daß sie die Kleider für die Eloi herstellten und ihre übrigen Alltagsbedürfnisse befriedigten, einem uralten Dienstritual zufolge vielleicht. Sie taten es ebenso selbstverständlich, wie ein stehendes Pferd mit den Hufen scharrt oder ein Sonntagsjäger zum Vergnügen Tiere erlegt: alte und überholte Verhaltensmuster hatten sich dem Organismus eingeprägt. Aber offenbar hatte sich die alte Ordnung teilweise schon in ihr Gegenteil verkehrt. Die Göttin der Vergeltung war dem verwöhnten Geschlecht auf den Fersen. Vor Weltzeitaltern, vor Tausenden von Generationen, hatte der Mensch seinen Bruder aus dem Wohlleben und dem Sonnenschein verdrängt; jetzt kehrte dieser Bruder zurück — aber verwandelt! Schon hatten die Eloi begonnen, Altes und Vergessenes neu zu erlernen: sie lernten wieder das Fürchten. Und plötzlich schoß mir die Erinnerung an das Fleisch durch den Kopf , das ich in der Unterwelt gesehen hatte. Auf scheinbar seltsame Weise kam es mir in den Sinn: nicht durch den Fluß meiner Gedanken hervorgerufen, sondern wie eine von außen an mich gerichtete Frage. Ich versuchte, mich an seine Form zu erinnern. Ich hatte die unbestimmte Vorstellung von etwas Vertrautem, konnte zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht sagen, was es war.

Während aber die kleinen Leute ihrer geheimnisvollen Angst hilflos ausgeliefert waren, war ich doch aus einem anderen Holz geschnitzt. Ich war ein Kind unseres Zeitalters, dieser höchsten Blütezeit des Menschengeschlechts, da die Angst nicht mehr lähmt und das Geheimnis seine Schrecken verloren hat. Ich jedenfalls würde mich verteidigen. Ich beschloß daher, mir unverzüglich Waffen anzufertigen und mir einen gesicherten Platz zum Schlafen zu bauen. Mit einem solchen Zufluchtsort als Basis konnte ich dieser fremdartigen Welt zumindest mit einem Teil jener Zuversicht gegenübertreten, die ich verloren hatte, als mir zu Bewußtsein gekommen war, welchen Kreaturen ich Nacht für Nacht ausgeliefert war. Ich wußte, ich würde nun nicht mehr schlafen können, bevor mein Lager vor ihnen sicher war. Bei dem Gedanken, daß sie mich wahrscheinlich schon genau untersucht hatten, schauderte ich vor Entsetzen.

Den ganzen Nachmittag wanderte ich durch das Themsetal, fand aber nichts, das sich als unbezwingbare Festung angeboten hätte. Gebäude und Bäume erschienen mir alle leicht zugänglich für so gewandte Kletterer, wie es die Morlocken, nach ihren Brunnenschächten zu urteilen, sein mußten. Dann kamen mir die hohen Zinnen des grünen Porzellanpalastes und der Glanz seiner spiegelglatten Wände wieder in den Sinn; und gegen Abend nahm ich Weena wie ein Kind auf meine Schultern und wanderte mit ihr hügelan nach Südwesten. Ich hatte die Entfernung auf sieben oder acht Meilen geschätzt, aber es müssen wohl an die achtzehn gewesen sein. Ich hatte das Bauwerk zum erstenmal an einem dunstigen Nachmittag gesehen, an dem die Entfernungen trügerisch verkürzt waren. Obendrein hatte sich einer meiner Absätze gelockert und ein Nagel bohrte sich durch die Sohle — es waren bequeme alte Schuhe, die ich sonst nur zu Hause trug —, so daß ich zu hinken anfing. Die Sonne war längst untergegangen, als der Palast als schwarzer Schattenriß gegen den blaßgelben Himmel in mein Blickfeld trat.

Weena war anfangs entzückt darüber gewesen, daß ich sie huckepack trug, aber nach einer Weile verlangte sie heruntergelassen zu werden und lief neben mir her, gelegentlich wegeilend, um Blumen zu pflücken, die sie mir dann in die Taschen steckte. Meine Taschen hatten Weenas Neugier schon lange beschäftigt, aber schließlich war sie wohl zu dem Schluß gekommen, es handle sich dabei um eine ausgefallene Art von Blumenvasen. Wenigstens benützte sie sie zu diesem Zweck. Und dabei fällt mir etwas ein…Als ich vorher die Jacke ausgezogen hatte, fand ich…≪

Der Zeitreisende unterbrach sich, fuhr mit der Hand in die Tasche und legte schweigend zwei welke Blüten, die großen weißen Malven nicht unähnlich waren, auf den kleinen Tisch. Dann fuhr er in seiner Erzählung fort.

≫Als sich die Abendstille auf die Welt senkte und wir über die Hügelkuppe gegen Wimbledon weiterwanderten, wurde Weena müde und wollte zu dem grauen Steingebäude zurückkehren. Ich aber deutete auf die fernen Zinnen des grünen Porzellanpalastes und versuchte ihr begreilich zu machen, daß wir dort vor dem, was sie ängstigte, Zuflucht finden würden. Kennen Sie die große Stille, Einbruch der Nacht über die Welt senkt? Selbst der Windhauch in den Bäumen verstummt. Für mich hat dieses abendliche Schweigen immer etwas Erwartungsvolles. Der Himmel war klar, fern und wolkenlos bis auf einige waagrechte Streifen am westlichen Horizont. Nun, an jenem Abend spiegelte meine Erwartungen meine Ängste wider! In dieser stillen Dämmerung schienen mir meine Sinne übernatürlich geschärft. Mir war, als fühlte ich die Hohlheit der Erde unter meinen Füßen, ja, als könnte ich tatsächlich in ihrem Inneren die Morlocken wie in einem Ameisenhaufen herumkrabbeln und auf die Dunkelheit warten sehen. In meiner Aufregung dachte ich, sie könnten mein Eindringen in ihre Höhlen als Kriegserklärung aufgefaßt haben. Und warum hatten sie meine Zeitmaschine entführt?

So wanderten wir weiter durch die Stille, und das Zwielicht ging langsam in Nacht über. Das helle Blau in der Ferne verblaßte, und ein Stern nach dem anderen blinkte auf. Der Boden wurde undeutlich, die Bäume schwarz. Weena übermannten Angst und Müdigkeit. Ich nahm sie in die Arme, sprach ihr zu und streichelte sie zärtlich. Als dann die Dunkelheit tiefer wurde, schlang sie ihre Arme um meinen Hals, schloß die Augen und schmiegte ihr Gesicht an meine Schulter. So stieg ich mit ihr einen langen Hang bis ins Tal hinab, wo ich in der Dunkelheit beinahe in einen Bach gestolpert wäre. Ich durchwatete ihn, stieg an der gegenüberliegenden Seite des Tales wieder bergan, vorbei an einer Gruppe von Schlafgebäuden und auch einer Statue — einer faunähnlichen Figur ohne Kopf . Auch hier wuchsen Akazien. Bisher hatte ich noch keine Spur von den Morlocken gesehen, doch die Nacht hatte eben erst begonnen, und die dunkleren Stunden vor Aufgang des abnehmenden Mondes waren noch nicht angebrochen.

Von der Kuppe des nächsten Hügels aus sah ich einen dichten Wald, der sich groß und schwarz vor mir ausdehnte. Dies machte mich stutzig. Ich konnte weder zur Rechten noch zur Linken erkennen, wo er endete. Da ich ziemlich erschöpft war — besonders die Füße schmerzten mich sehr —, blieb ich stehen, löste Weena behutsam von meiner Schulter und setzte mich ins Gras. Ich konnte den Palast aus grünem Porzellan nicht mehr sehen und wußte nicht, welche Richtung ich einschlagen sollte. Ich betrachtete den dichten Wald und überlegte, was er wohl verbergen mochte. Unter diesem dichten Gewirr von Ästen würde man keinen Stern mehr sehen. Auch wenn dort keine anderen Gefahren lauerten — Gefahren, die ich mir gar nicht vorstellen wollte —, so riskierte man jedenfalls, über die vielen Baumwurzeln zu stolpern und gegen die Stämme zu laufen. Außerdem war ich nach den Aufregungen dieses Tages so müde, daß ich beschloß, mich auf kein Wagnis mehr einzulassen, sondern die Nacht unter freiem Himmel auf dem Hügel zu verbringen.

Ich war sehr froh, als ich sah, daß Weena fest schlief. Ich hüllte sie behutsam in meine Jacke und setzte mich neben sie, um den Mondaufgang zu erwarten. Der Abhang lag still und verlassen da, nur im Dunkel des Waldes regte sich manchmal ein Lebewesen. Über mir leuchteten die Sterne, denn die Nacht war wolkenlos klar. Ihr Blinken rief ein tröstliches Gefühl in mir hervor. Allerdings waren alle gewohnten Sternbilder vom Himmel verschwunden: jene langsame Verschiebung, die sich in hundert Menschenaltern noch unmerklich vollzieht, hatte sie längst schon zu unbekannten neuen Ordnungen umgruppiert. Nur die Milchstraße, so schien es mir, war noch dasselbe zerschlissene Band von Sternenstaub wie ehedem. Im Süden (wie ich meinte) stand ein sehr heller roter Stern, der mir unbekannt war: Er strahlte heller als sogar unser Grüner Sirius. Und mitten unter diesen funkelnden Lichtpunkten leuchetete ein heller Planet, ruhig und gütig wie das Gesicht eines alten Freundes.

Als ich so zu den Sternen emporsah, kamen mir meine eigenen Sorgen und alle Schwierigkeiten des irdischen Lebens plötzlich sehr klein vor. Ich dachte an die unvorstellbare Entfernung der Sterne und ihren unabänderlichen Lauf, der sie aus einer unbekannten Vergangenheit in eine unbekannte Zukunft führte. Ich dachte an den großen Präzessionszyklus, den die Erdachse beschreibt. Nur vierzigmal hatte diese stille Umdrehung in all den Jahren, die ich durchfahren hatte, stattgefunden, und im Laufe dieser wenigen Umdrehungen waren alle Leistungen, alle Traditionen, die komplizierten Organisationen, die Nationen, Sprachen, Literaturen und Bestrebungen, ja sogar die Erinnerung an den Menschen, wie ich ihn kannte, erloschen.

An ihre Stelle waren diese schönen, schwächlichen Geschöpfe getreten, die ihre hochentwickelten Vorfahren vergessen hatten, und jene weißen Wesen, die mich so in Schrecken versetzten. Dann dachte ich an die große Angst, die zwischen den beiden Gattungen herrschte, und zum erstenmal kam mir, mit einem plötzlichen Schauder, die Erkenntnis, woher das Fleisch, das ich gesehen hatte, stammte. Nein, die Vorstellung war zu grauenvoll! Ich blickte auf die schlafende kleine Weena neben mir, deren Gesichtchen weiß und sternengleich im Sternlicht leuchtete, und verscheuchte den Gedanken.

Diese ganze lange Nacht hindurch versuchte ich, so gut ich konnte, nicht an die Morlocken zu denken, und vertrieb mir die Zeit, indem ich mir einbildete, ich könnte in den neuen Sternbildern Spuren der alten Konstellationen wiederfinden. Bis auf einige vorüberziehende Wolkenfetzen blieb der Himmel sehr klar. Sicher schlummerte ich zuweilen ein. Gegen Ende meiner Nachtwache erhellte sich der Horizont im Osten wie vom Widerschein eines blassen Feuers, und der abnehmende Mond stieg auf, dünn, spitz und weiß. Und gleich darauf, ihn überflügelnd und überflutend, kam die Morgendämmerung; erst noch blaß, dann rosig und warm. Nicht ein Morlock hatte sich uns genähert. Auch auf dem Hügel hatte ich in jener Nacht keine gesehen, und in der Zuversicht des wiedererstandenen Tages wollte mir meine Angst beinahe unvernünftig érscheinen. Ich stand auf und bemerkte, daß mein Fuß durch den defekten Schuh an der Ferse verletzt und am Knöchel geschwollen war; also setzte ich mich wieder hin, zog die Schuhe aus und warf sie weg.

Ich weckte Weena, und wir gingen in den Wald hinunter, der jetzt nicht mehr schwarz und drohend, sondern grün und heiter aussah. Wir fanden Früchte, die wir zum Frühstück aßen. Bald trafen wir auch andere der hübschen Geschöpfe die lachend im Sonnenschein tanzten, als hätte es auf der Welt nie eine Nacht gegeben. Da kam mir der Gedanke an das Fleisch wieder, das ich gesehen hatte. Ich glaubte jetzt ganz sicher zu wissen, wessen Fleisch es war, und fühlte im Grunde meines Herzens tiefes Mitleid mit diesem letzten schmalen Rinnsal, das vom großen Strom der Menschheit übriggeblieben war. Offenbar war den Morlocken irgendwann in der Frühzeit des Verfalles der Menschheit die Nahrung ausgegangen. Bis dahin hatten sie sich wahrscheinlich von Ratten und ähnlichem Ungeziefer ernährt. Schon heutzutage ist der Mensch in der Wahl seiner Nahrung viel weniger heikel und wählerisch als früher einmal — weniger als der Affe. Sein Vorurteil gegen Menschenfleisch ist kein tief verwurzelter Instinkt. Daher also diese unmenschlichen Abkommen der Menschen…! Ich versuchte die Dinge von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus zu betrachten. Eigentlich waren sie weniger menschenähnlich und primitiver als unsere kannibalischen Vorfahren vor drei- oder viertausend Jahren. Und die Intelligenz, die diesen Zustand zur Qual gemacht hätte, besaßen sie nicht mehr. Warum sollte ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Diese Eloi waren nichts anderes als Mastvieh, das die ameisenartigen Morlocken aufzogen und schlachteten — wahrscheinlich sogar regelrecht züchteten. Und da, neben mir, tanzte Weena!

Dann versuchte ich mich des Grauens, das mich übermannte, zu erwehren, indem ich es als strenge Strafe für den menschlichen Egoismus auffaßte. Der Mensch hatte es genossen, auf Kosten seiner Mitmenschen in Saus und Braus dahinzuleben, hatte die Notwendigkeit als Ausrede gebraucht und zu seiner Parole gemacht; und irgendwann im Lauf der Zeit war diese Notwendigkeit zum Bumerang geworden. Ich versuchte sogar, mich in eine Erbitterung á la Carlyle gegen diese verworfene, dem Untergang geweihte Aristokratie hineinzusteigern, doch diese Geisteshaltung war mir unmöglich. Wie groß ihre intellektuelle Dekadenz auch sein mochte, diese Eloi hatten noch zuviel Menschliches an sich, um nicht meine Sympathie zu erwecken und mich zur Anteilnahme an ihrem Niedergang und ihrer Angst zu zwingen.

Ich hatte zu dieser Zeit höchst unklare Vorstellungen darüber, welchen Weg ich einschlagen sollte. Als erstes mußte ich einen sicheren Zufluchtsort finden und mir, so gut es ging, Waffen aus Metall oder Stein anfertigen. Das war die vordringlichste Aufgabe. Als nächstes hoffte ich, mir irgendwelche Mittel zu verschaffen, um Feuer machen zu können und eine Fackel als Waffe zur Hand zu haben: denn nichts, das wußte ich, war wirkungsvoller im Kampf gegen die Morlocken als Feuer. Schließlich mußte ich irgendeine Methode finden, um die Bronzetüren unterhalb der weißen Sphinx aufzubrechen. Ich dachte an einen Rammbock. Wenn ich diese Tore, eine lodernde Flamme vor mir hertragend, bezwingen könnte, würde ich, so stellte ich mir vor, die Zeitmaschine finden, sie wiedererobern und mit ihr flüchten. Ich hielt die Morlocken nicht für stark genug, um sie weit zu verschleppen. Weena hatte ich beschlossen in unsere Zeit mitzunehmen. Und während ich angestrengt solche und ähnliche Pläne wälzte, setzte ich meinen Weg zu jenem Gebäude fort, das ich in der Phantasie schon zu unserer Wohnstatt erkoren hatte.

Kapitel 11

Der Palast aus grünem Porzellan

Als wir gegen Mittag zu dem Palast aus grünem Porzellan kamen, sah ich, daß er unbewohnt und baufällig war. Nur zackige Glasscherben ragten noch aus den Fensterrahmen, und große Stücke der grünen Verschalung waren von dem verrosteten Metällgerüst abgefallen. Das Gebäude lag hoch auf einem grasbewachsenen Hügel. Bevor ich eintrat, blickte ich nach Nordosten und sah zu meiner Überraschung eine breite Flußmündung oder sogar eine Bucht an jener Stelle, wo meiner Ansicht nach einst Wandsworth und Battersea gelegen haben mußten. Damals fragte ich mich — ohne allerdings diesen Gedanken jemals weiterzuverfolgen —, was wohl mit den Lebewesen des Meeres geschehen war oder noch geschah.

Das Material des Palastes erwies sich bei näherer Betrachtung tatsächlich als Porzellan, und an einer Fassade sah ich eine Inschrift in mir unbekannten Zeichen. Ich dachte, ziemlich dummerweise, daß mir Weena vielleicht helfen könnte, sie zu entziffern, erfuhr bei der Gelegenheit aber nur, daß sie nicht einmal die blasseste Ahnung hatte, was Schrift überhaupt sei. Ich muß sie, glaube ich, immer für menschlicher gehalten haben, als sie war; vielleicht weil mich ihre Anhänglichkeit so menschlich berührte.

Innerhalb der großen Torfiügel, die geborsten waren und offenstanden, fanden wir statt der gewohnten Halle eine lange Galerie in die aus zahlreichen Seitenfenstern Licht einfiel. Auf den ersten Blick hatte ich den Eindruck eines Museums. Der Fliesenboden war dick mit Staub bedeckt, und eine beachtliche Anzahl verschiedenster Gegenstände war mit derselben grauen Schicht überzogen. Dann erblickte ich etwas, das kahl und unheimlich in der Mitte des Raumes aufragte und sich bei näherem Hinsehen als der untere Teil eines riesenhaften Skeletts entpuppte. An den schräggestellten Füßen erkannte ich, daß es sich um irgendein ausgestorbenes Tier, etwa von der Art des Megatheriums, handeln mußte. Der Schädel und die Gebeine des Oberkörpers lagen daneben im Staub, und an einer Stelle, wo durch ein Loch im Dach Regenwasser eingedrungen war, fehlte ein ganzer Teil. Etwas dahinter erhob sich das gewaltige tonnenförmige Skelett eines Brontosaurus. Meine Museums-Hypothese war somit bestätigt. Ich trat an die Wand und bemerkte dort etwas wie schräge Simse, und als ich die Staubschicht fortwischte, kamen darunter die altgewohnten Glasvitrinen unserer Epoche zum Vorschein. Nach dem guterhaltenen Zustand einiger Gegenstände darin zu schließen, mußten sie luftdicht verschlossen sein.

Offenbar befanden wir uns in den Ruinen eines South Kensington der Nachwelt! Dies war sichtlich die paläontologische Abteilung, und sie mußte einmal eine großartige Sammlung von F ossilien beherbergt haben. Obwohl der unaufhaltsame Verfallsprozeß eine Zeitlang wirksam bekämpft werden war und durch die Ausrottung von Bakterien und Pilzen vielleicht neunundneunzig Hundertstel seiner Wirkung eingebüßt haben mochte, hatte er doch, langsam aber sicher, an diesen Schätzen weitergenagt. Hier und da fand ich Spuren der kleinen Leute — in Gestalt seltener Fossilien, die in Stücken umherlagen oder reihenweise auf Stäbchen aufgefädelt waren. Einige der Vitrinen waren gewaltsam entfernt worden — von den Morlocken, wie ich annahm. Es war sehr still in dem Raum. Die Staubschicht dämpfte den Schall unserer Schritte. Weena, die einen Seeigel über das schräge Glas einer Vitrine gerollt hatte, kam plötzlich zu mir, als ich so dastand und mich umsah, nahm ganz still meine Hand und blieb an meiner Seite.

Anfangs war ich so verblüfft über dieses Denkmal eines wissenschaftlichen Zeitalters, daß ich gar nicht an die Möglichkeiten dachte, die es bieten könnte. Sogar meine Sorge um die Zeitmaschine vergaß ich für eine Weile.

Nach der Größe des Bauwerks zu schließen, mußte dieser grüne Palast weit mehr enthalten als nur eine paläontologische Sammlung; möglicherweise historische Abteilungen und vielleicht sogar eine Bibliothek! Für mich waren diese, wenigstens unter den gegebenen Umständen, ungleich interessanter als diese verstaubte Ausstellung urweltlicher Geologie. Ich suchte also weiter und stieß auf eine zweite, kürzere Galerie, die quer zur ersten verlief. Diese schien der Mineralogie gewidmet zu sein, und der Anblick eines Schwefelbrockens lenkte meine Gedanken auf Schießpulver. Leider konnte ich aber weder Salpeter noch sonstige Nitrate entdecken. Zweifellos hatten sie sich schon vor Jahrtausenden aufgelöst. Aber der Schwefel ging mir nicht aus dem Sinn und zog eine ganze Kette von Assoziationen nach sich. Für die übrigen Schaustücke dieser Galerie hatte ich, obwohl sie die vergleichsweise besterhaltenen von allen waren, wenig Interesse. Ich bin kein Fachmann für Mineralogie und bog daher in einen anderen, sehr verfallenen Gang ein, der parallel zum ersten verlief . Anscheinend war diese Abteilung der Naturgeschichte gewidmet gewesen, doch die Objekte waren längst bis zur Unkenntlichkeit vermodert. Einige wenige verschrumpfte, schwärzliche Reste ausgestopfter Tiere, verdorrte Mumien in Glasbehältern, die einst mit Spiritus gefüllt gewesen waren, zu braunem Staub zerfallene Pflanzen: das war alles! Es tat mir leid, denn ich hätte gerne die Spuren des langsamen Anpassungsprozesses verfolgt, über den die Unterwerfung der belebten Natur erreicht worden war. Als nächstes kamen wir zu einer Galerie von geradezu kolossalen Ausmaßen, die jedoch auffallend schlecht beleuchtet war; ihr Fußboden neigte sich von dem Ende, an dem wir eingetreten waren, leicht abwärts. In regelmäßigen Abständen hingen weiße Kugeln von der Decke — viele von ihnen gesprungen oder zerschmettert — die darauf schließen ließen, daß der Raum künstlich beleuchtet gewesen war. Hier war ich schon eher in meinem Element; rundum standen Maschinen von gewaltiger Größe, alle rostzerfressen und viele zusammengebrochen, einige aber noch ziemlich vollständig erhalten. Sie kennen meine Schwäche für Mechanik; ich hätte mich hier daher gerne länger aufgehalten, um so mehr, als die meisten der Maschinen mir Rätsel aufgaben und ich nur schwer erraten konnte, wofür sie bestimmt gewesen sein mochten. Gelänge es mir, ihre Bestimmung zu enträtseln, dachte ich, so könnte mir dieses Wissen im Kampf gegen die Morlocken von Nutzen sein.

Plötzlich drängte sich Weena eng an mich, so unvermittelt, daß ich erschrak. Wäre sie nicht gewesen, so hätte ich wahrscheinlich gar nicht bemerkt, daß der Boden der Galerie geneigt war. (Es kann natürlich auch sein, daß nicht der Boden geneigt wat, sondern daß das Museum in den Hang des Hügels hineingebaut war. — Anmerkung des Herausgebers.) Das Ende, durch das ich eingetreten war, befand sich genau auf der Höhe der Erdoberfläche und war in großen Abständen durch schmale Fensterschlitze erleuchtet. Je weiter man vordrang, um so höher lagen diese Fenster, bis schließlich in dem am tiefsten liegenden Teil nur noch ein schmaler Streifen von Tageslicht hoch oben an der Decke zu sehen war. Ich war langsam weitergegangen, nur mit den Maschinen beschäftigt, und hatte die allmähliche Verringerung des Lichtes nicht bemerkt, bis Weenas wachsende Angst mich darauf aufmerksam machte. Erst jetzt sah ich, daß sich das Ende der Galerie in tiefer Finsternis verlor. Ich zögerte, und als ich mich umsah, bemerkte ich, daß die Staubschicht hier weniger hoch und ihre Oberfläche nicht mehr unversehrt war. Etwas weiter, gegen das Dunkel zu, schien sie von einer Menge kleiner schmaler Fußspuren unterbrochen zu sein. Das erinnerte mich wieder an die gefährliche Nachbarschaft der Morlocken. Ich erkannte, daß ich hier mit dern wissenschaftlichen Studium des Maschinenparks nur Zeit vergeudete. Ich rief mir ins Gedächtnis, daß es schon später Nachmittag war und ich noch keine Waffe, keinen sicheren Zufluchtsort und kein Mittel gefunden hatte, um Feuer zu machen. Und dann hörte ich aus dem entfernten Dunkel der Galerie das eigenartige Getrippel und dieselben sonderbaren Geräusche, die ich in der Tiefe des Brunnens vernommen hatte.

Ich nahm Weena bei der Hand. Plötzlich aber kam mir eine Idee; ich ließ sie stehen und wandte mich einer Maschine zu, aus der ein Hebel, ähnlich dem Arm eines Stellwerks, herausragte. Ich kletterte auf den Sockel der Maschine, ergriff den Hebel mit beiden Händen und drehte ihn mit aller Kraft zur Seite. Plötzlich begann Weena, die einsam im Mittelgang der Galerie stand, laut zu wimmern. Ich hatte die Stärke des Hebels ziemlich richtig eingeschätzt, denn er gab nach etwa einer Minute nach, und ich kehrte mit einem Schlagstock in der Hand zu ihr zurück, der meines Erachtens für jeden etwaigen Morlockenschädel mehr als genügen mußte. Und ich hatte größte Lust, mindestens einen Morlock zu erschlagen! Wie unmenschlich, werden Sie vielleicht denken, einen Abkömmling der eigenen Gattung umbringen zu wollen! Aber es war mir irgendwie unmöglich, diese Wichte als menschlich anzuerkennen. Nur meine Abneigung davor, Weena allein zu lassen, und die Überzeugung, daß ich meine Zeitmaschine gefährdete, wenn ich meinem Blutdurst nachgab, hielten mich davon ab, schnurstracks die dunkle Galerie zu stürmen und die widerlichen Kerle, die≪ ich dort hörte, niederzumetzeln.

Statt dessen ging ich also, die Keule in der einen Hand und Weena an der anderen, aus dieser Galerie in eine andere, noch größere, die mich auf den ersten Blick an eine Armeekapelle voller zerfetzter erbeuteter Fahnen gemahnte. Die vergilbten und zerschlissenen Fetzen, die von den Wänden herabhingen, identifizierte ich als vermoderte Reste von Büchern. Sie waren längst zerfallen, und jede Spur von Druck war verschwunden. Hier und da aber lagen verbogene Buchdeckel und zerbrochene Metallbeschläge, die eine deutliche Sprache sprachen. Wäre ich ein Literat, so hätte ich vielleicht Erwägungen über die Nichtigkeit allen dichterichen Ehrgeizes angestellt. So aber überwältigtemich in erster Linie der Gedanke an die ungeheuerliche Arbeitsverschwendung, von der dieses trostlose Wirrsal verrottender Papiere zeugte. Ich muß gestehen, daß ich dabei hauptsächlich an die Philosophical Transactions und an meine eigenen siebzehn Veröffentlichungen über die physikalische Optik dachte.

Wir stiegen danach eine breite Treppe empor und kamen in eine Galerie, die offenbar einmal der technischen Chemie gewidmet gewesen war. Hier durfte ich auf nützliche Funde hoffen. Abgesehen von einem Teil, über dem das Dach eingefallen war, befand sich der Raum in guterhaltenem Zustand. Eifrig musterte ich jede unbeschädigte Vitrine. Schließlich fand ich in einem dieser tatsächlich luftdichten Behälter eine Schachtel Streichhölzer. Gespannt probierte ich sie aus. Sie waren vollkommen in Ordnung. Ich wandte mich zu Weena. ‘Tanz!’ rief ich ihr in ihrer Sprache zu. Jetzt besaß ich ja eine Waffe gegen die schrecklichen Geschöpfe, die wir so fürchteten! Und so begann ich in dem verlassenen Museum auf einem dicken Staubteppich zu Weenas ungeheurer Belustigung eine Art Tanz aufzuführen und pfiff dazu, so aufmunternd, wie ich konnte, ‘The land of the leal’. Es war teils ein einfacher Cancan, teils ein Step, teils ein Schleiertanz (soweit dies mit meinem Anzug zu vereinbaren war) und zum Teil freie Erfindung. Denn ich bin ja, wie Sie wissen, ein geborener Erfinder.

Noch jetzt bin ich der Meinung, daß die Tatsache, daß diese Schachtel Streichhölzer undenklich lange Jahre dem Zahn der Zeit Widerstand geleistet hatte, ein sehr merkwürdiger und für mich vor allem ein sehr glücklicher Zufall war. Doch unglaublicherweise fand ich auch eine noch unwahrscheinlichere Substanz, und zwar Kampfer. Ich fand ihn in einem versiegelten Behälter, der durch Zufall wirklich hermetisch verschlossen war. Zuerst glaubte ich, es sei Wachs oder Paraffin, und brach den Behälter auf. Doch der Kampfergeruch war nicht zu verkennen. In dem allgemeinen Verfall hatte durch Zufall ge- rade diese so flüchtige Substanz vielleicht Tausende von Jahrhunderten überdauert. Dies erinnerte mich an eine Sepiazeichnung, die ich einmal gesehen hatte: Sie war mit der Tinte eines fossilen Belemniten ausgeführt, der Millionen Jahre zuvor zugrunde gegangen und versteinert sein mußte. Ich war schon im Begriff, den Kampfer wegzuwerfen als ich mich daran erinnerte, daß er leicht entzündbar ist und mit großer heller Flamme brennt — also eine ausgezeichnete Kerze darstellte —, und so steckte ich ihn ein. Leider fand ich jedoch weder irgendwelche Sprengstoffe noch sonstige Mittel, um die bronzenen Türen aufzubrechen. Bis jetzt war mein Eisenhbel noch das Beste, was mir der Zufall geschickt hatte. Trotzdem verließ ich diese Galerie in heiterster Stimmung.

Ich kann Ihnen nicht die ganze Geschichte dieses langen Nachmittags erzählen. Ich müßte mein Gedächtnis sehr anstrengen, um meine Entdeckungen in genauer Reihenfolge wiederzugeben. Ich erinnere mich an eine lange Galerie rostender Rüstungen und an mein Zögern, ob ich nicht meine Eisenstange gegen eine Streitaxt oder ein Schwert eintauschen sollte. Beides hätte ich nicht tragen können, und meine Eisenstange schien mir für die Bronzetüren dann doch am besten geeignet. Es gab eine Unzahl von Gewehren, Pistolen und Flinten. Die meisten hatten sich in Rosthaufen verwandelt, aber es gab auch welche aus einem neuartigen Metall, die noch gut erhalten waren. Doch was immer an Patronen oder Pulver vorhanden gewesen sein mochte, war zu Staub zerfallen. In einer Ecke war alles zerschmettert und verkohlt, wahrscheinlich, nahm ich an, durch die Explosion einiger der Ausstellungsobjekte. In einem anderen Saal befand sich eine große Sammlung von Götzenbildern — polynesische, mexikanische, griechische, phönizische — aus aller Herren Länder. Hier konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, meinen Namen einem Ungeheuer aus Speckstein — südamerikanischer Herkunft — das mir besonders gefiel, auf die Nase zu schreiben.

Als es Abend wurde, ließ mein Interesse nach. Ich durchstreifte eine Galerie nach der anderen. Alle waren staubig, still, meistens verfallen, die Exponate oft nur noch ein Haufen Rost und Braunkohle, manche dagegen recht gut erhalten. In einem der Räume stand ich plötzlich vor dem Modell einer Zinnmine, und daneben entdeckte ich durch puren Zufall in einem luftdichten Behälter zwei Dynamit-patronen!

‘Heureka!’ rief ich und zerschmetterte voll Freude den Behälter. Dann kamen mir aber Zweifel. Ich zögerte. Dann suchte ich eine kleine Seitengalerie auf und machte einen Versuch. Nie habe ich eine solche Enttäuschung erlebt wie damals, als ich fünf, zehn, fünfzehn Minuten auf eine Explosion wartete, die sich nicht ereignete. Natürlich waren das alles Attrappen, wie ich aus ihrem Aufbewahrungsort hätte schließen können. Ich glaube wirklich, daß ich, wäre es anders gekommen, unverzüglich losgerannt wäre und Sphinx, Bronzetüren und damit auch (wie sich später herausstellte) die einzige Chance, meine Zeitmaschine wiederzufinden mit einem Schlag in die Luft gesprengt hätte.

Gleich danach, glaube ich, gelangten wir in einen kleinen offenen Innenhof des Palastes. Auf seinem Rasen standen drei Obstbäume. Dort ruhten wir aus und erfrischten uns. Kurz vor Sonnenuntergang begann ich unsere Lage zu überdenken. Die Nacht drohte über uns hereinzubrechen, und mein unzugänglicher Zufluchtsort mußte erst gefunden werden. Aber das bekümmerte mich jetzt nur wenig. Ich besaß ja nun etwas, das vielleicht die beste aller Waffen gegen die Morlocken darstellte — ich hatte Streichhölzer! Außerdem hatte ich noch den Kampfer in der Tasche, falls eine Fackel nötig sein sollte. Es schien mir in unserer Lage das vernünftigste zu sein, im Schutz eines Lagerfeuers, die Nacht im Freien zu verbringen. Am Morgen wollte ich dann an die Rückeroberung der Zeitmaschine gehen. Dazu hatte ich zwar bisher nichts als meine Eisenstange, aber mit meinen erweiterten Kenntnissen hatte sich meine Einstellung diesen Bronzetüren gegenüber jetzt sehr gewandelt. Bisher hatte mich hauptsächlich meine Scheu vor dem dahinter verborgenen Geheimnis daran gehindert, sie gewaltsam zu stürmen. Sie hatten mich niemals durch ihre besondere Stabilität beeindruckt, und ich hoffte zuversichtlich, daß die Eisenstange meinem Vorhaben gewachsen sein würde.

Kapitel 12

Im Dunkel

Wir traten aus dem Palast, als ein Teil der Sonnenscheibe noch über den Horizont ragte. Ich war entschlossen, die weiße Sphinx früh am nächsten Morgen zu erreichen und wollte daher noch vor Einbruch der Dunkelheit den Wald durchqueren, der mich auf dem Hinweg aufgehalten hatte. Ich hatte geplant, an diesem Abend so weit wie möglich zu kommen, dann ein Feuer zu machen und in seinem Schutz zu schlafen. Also sammelte ich unterwegs, was ich an trockenem Holz oder Gras finden konnte, und hatte bald beide Arme voll Brennmaterial. Derart beladen, kamen wir langsamer vorwärts, als ich erwartet hatte, und außerdem war Weena schläfrig. Auch mich hatte die Müdigkeit überfallen, es würde daher schon Nacht sein, noch bevor wir den Wald erreicht hatten. Auf dem”mit Buschwerk bewachsenen Hügel am Waldrand wollte Weena haltmachen, denn sie hatte Angst vor der bevorstehenden Dunkelheit; aber eine sonderbare Ahnung von drohendem Unheil, die mir besser als Warnung dienen hätte sollen, trieb mich vorwärts. Ich hatte eine Nacht und zwei Tage lang nicht geschlafen, war weit gewandert, hatte eine Ruine durchforscht und fühlte mich fiebrig und überreizt. Ich fürchtete, der Schlaf und mit ihm die Morlocken würden mich überfallen.

Während ich noch zauderte, sah ich zwischen den schwarzen Büschen hinter uns drei kauernde Gestalten, die sich schwach gegen das Dunkel abhoben. Rings um uns wuchsen Sträucher und hohes Gras, und ich fühlte mich nicht sicher vor ihrem heimtückischen Anschleichen. Der Durchmesser des Waldes, schätzte ich, betrug weniger als eine Meile. Wenn wir durch ihn hindurch auf den freien Hügelhang auf der andern Seite gelangen könnten, fänden wir dort, so schien es mir, einen viel sichereren Rastplatz. Ich dachte , daß es mir mit dem Kampfer und den Streichhölzern gelingen müßte, den weg durch den Wald zu erleuchten. Es war mir aber klar, daß ich, um die Streichhölzer anreißen zu können, die Hände frei haben mußte — mein Feuerholz also nicht mitnehmen konnte. So ließ ich es denn, ziemlich widerstrebend zurück. Dann aber kam ich auf den Gedanken, ich könnte unsere Freunde da hinten verblüffen, indem ich es anzündete. Allzubald sollte mir der völlige Wahnsinn dieses Vorhabens bewußt werden, doch zu diesem Zeitpunkt hielt ich es noch für ein kluges Manöver, um unseren Rückzug zu decken.

Ich weiß nicht, ob Sie je darüber nachgedacht haben, was für ein seltenes Phänomen die Flamme in einer Gegend sein mußte, in der es keine Menschen gibt und wo ein gleichmäßig warmes Klima herrscht. Die Sonnenstrahlung ist selten stark genug, um einen Brand zu erzeugen, auch wenn ihr Tautropfen als Brenngläser dienen, wie es manchmal in tropischen Breiten der Fall ist. Ein Blitzschlag mag versengen und schwärzen, aber er ruft selten ein ausgedehntes Feuer hervor. Modernde Pflanzen mögen manchmal durch die Gärungshitze ins Schwelen geraten, doch entsteht daraus selten ein Brand. Noch dazu war in jener Zeit des Verfalls die Kunst des Feuermachens in Vergessenheit geraten. Die roten Feuerzungen, die an meinem Holzhaufen leckten, waren für Weena ein völlig neuer und ungewohnter Anblick.

Sie wollte hinlaufen und damit spielen. Ich glaube, sie hätte sich ins Feuer geworfen, wenn ich sie nicht zurückgehalten hätte. Aber ich fing sie ein, und ungeachtet ihres Sträubens drang ich unerschrocken geradewegs in den Wald vor. Über eine kurze Strecke erleuchtete noch der Schein meines Feuers den Weg. Als ich mich umdrehte, sah ich durch die dichten Baumstämme hindurch, daß die Flammen auf einige nahe gelegene Büsche übergegriffen hatten und eine bogenförmige Feuerlinie über das Gras des Hügels kroch. Ich lachte darüber und wandte mich wieder den dunklen Bäumen vor mir zu. Es war stockfinster, und Weena klammerte sich krampfhaft an mich, doch als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, war es hell genug, um den Stämmen auszuweichen. Über mir war das Dunkel undurchdringlich; nur hie und da schimmerte durch eine Lücke ëin winziges Stück nachtblauen Himmels. Ich entzündete kein Streichholz, weil ich keine Hand frei hatte. Auf dem linken Arm trug ich meine Kleine, in der rechten Hand hielt ich die Eisenstange.

Eine Zeitlang hörte ich nichts als das Knacken der Zweige unter meinen Tritten, das leise Rauschen des Windes über mir, meinen eigenen Atem und das Pochen des Pulses in meinen Ohren. Dann glaubte ich, rings um mich ein Getrippel zu hören. Mit zusammengebissenen Zähnen rannte ich weiter. Das Getrippel wurde immer deutlicher, und jetzt hörte ich auch dieselben Laute und Stimmen, die ich schon in der Unterwelt vernommen hatte. Es waren offenbar mehrere Morlocken, und sie umzingelten mich von allen Seiten. Tatsächlich fühlte ich etwa eine Minute darauf, wie jemand an meinem Rock zupfte, dann wie etwas meinen Arm berührte. Weena erschauerte heftig und wurde vollkommen still.

Es war höchste Zeit für ein Streichholz. Aber um zu einem zu gelangen, mußte ich sie niederlegen. Ich tat es; und während ich meine Tasche durchsuchte, entspann sich in der Dunkelheit in Höhe meiner Knie ein Kampf, bei dem sie völlig stumm blieb und nur die sonderbar gurrenden Laute der Morlocken zu hören waren. Kleine weiche Hände krochen mir über den Rock den Rücken hinauf und berührten schon meinen Hals. Da blitzte das angestrichene Hölzchen auf. Ich hielt es hoch und sah in seinem Schein noch die weißen Rücken der fliehenden Morlocken zwischen den Bäumen verschwinden. Rasch zog ich ein Stück Kampfer aus meiner Tasche, bereit, es anzuzünden, sobald das Hölzchen zu verlöschen drohte. Dann blickte ich auf Weena. Sie lag da, an meine Füße geklammert, völlig bewegungslos, das Gesicht zur Erde gekehrt. In plötzlicher , Angst beugte ich mich über sie. Sie schien kaum noch zu atmen. Ich zündete den Kampferbrocken an, warf ihn zu Boden, und als er aufflammte, die Morlocken vertreibend und die Schatten zerstreuend, kniete ich nieder und hob sie auf. Der Wald ringsum schien von dem Lärmen und dem Gemurmel einer ganzen Horde erfüllt zu sein!

Weena war offenbar ohnmächtig geworden. Ich legte sie mir vorsichtig über die Schulter, stand auf und wollte eben weitergehen, als ich eine fürchterliche Entdeckung machte. Während ich die Streichhölzer gesucht und mich mit Weena beschäftigt hatte, hatte ich mich mehrmals umgedreht, so daß ich jetzt nicht mehr die leiseste Ahnung hatte, in welche Richtung mein Weg führte. Soviel ich wußte, war es ebensogut möglich, daß ich nun wieder in Richtung des Palastes aus grünem Porzellan stand. Kalter Schweiß brach mir aus allen Poren. Ich mußte mich rasch zu etwas entschließen. Ich entschied, ein Feuer anzuzünden und an Ort und Stelle zu kampieren. Ich bettete Weena, die sich immer noch nicht regte, auf einen Baumstumpf und begann in rasender Eile, da mein erstes Kampferstück schon herunterbrannte, Äste und Laub zu sammeln. Hier und dort leuchteten mir aus dem Dunkel die Augen der Morlocken entgegen wie Karfunkelsteine.

Der Kampfer flackerte auf und erlosch. Ich entzündete ein Hölzchen. Als es aufflammte, sah ich zwei weiße Gestalten, die sich Weena genähert hatten, schnell davonhuschen. Einer der Wichte war so geblendet von dem Licht, daß er mir direkt in die Arme lief , und ich fühlte seine Knochen unter meinem Faustschlag krachen. Er stieß einen Schmerzensschrei aus, taumelte zur Seite und fiel hin. Ich zündete einen neuen Brocken Kampfer an und fuhr fort, Feuerholz zu sammeln. Dabei bemerkte ich, wie trocken das Blattwerk über mir war, denn seit meiner Ankunft mit der Zeitmaschine vor ungefähr einer Woche war kein Regen gefallen. So riß ich einfach Zweige von den Bäumen, statt zwischen den Stämmen nach Fallholz zu suchen. Bald hatte ich ein rauchendes Feuer aus noch grünen Zweigen und trockenem Holz und brauchte meinen Kampfer nicht mehr zu verschwenden. Dann beugte ich mich über Weena, die neben meiner Eisenstange am Boden lag. Ich versuchte alles, was in meiner Macht stand, um sie zu Bewußtsein zu bringen, aber sie lag da wie tot. Ich konnte nicht einmal feststellen, ob sie atmete.

Jetzt schlug der Rauch des Feuers zu mir herüber, und das muß mich plötzlich irgendwie betäubt haben. Zudem lag noch der Kampferdunst in der Luft. Mein Feuer bedurfte für die nächste Stunde keiner neuen Nahrung. Ich fühlte mich todmüde nach all den Anstrengungen und setzte mich hin. Aus dem Wald drang ein einschläferndes, unverständliches Gemurmel. Mir schien es, als sei ich soeben erst eingenickt, als ich die Augen wieder Öffnete. Aber alles war dunkel, und am ganzen Körper fühlte ich die Hände der Morlocken. Ich schüttelte ihre zudringlichen Finger ab und suchte in meiner Tasche hastig nach den Streichhölzchen. Sie waren weg! Wieder griffen Morlocken nach mir und drangen auf mich ein. Schlagartig begriff ich, was geschehen war: Ich war eingeschlafen, und das Feuer war ausgegangen! Die Bitterkeit des Todes legte sich über meine Seele. Der ganze Wald schien vom beißenden Geruch brenenden Holzes erfüllt zu sein. Ich wurde am Hals, an den Haaren, an den Armen gepackt und zu Böden gezerrt. Es war unbeschreiblich grauenhaft, im Dunkeln diesen Haufen weicher Kreaturen über mir zu fühlen. Ich kam mir wie in einem ungeheuren Spinnennetz gefangen vor. Dann wurde ich überwältigt und fiel zu Boden. Ich spürte, wie sich kleine Zähne in meinem Hals verbissen. Ich rollte mich herum und stieß dabei mit der Hand an meine Eisenstange. Das machte mir wieder Mut. Ich richtete mich auf , schüttelte diese menschenartigen Ratten ab, packte die Stange und schlug dorthin, wo ich ihre Gesichter vermutete. Ich spürte, wie Fleisch und Knochen unter meinen Schlägen nachgaben; einen Augenblick später war ich frei.

Ich befand mich in jenem seltsamen Rauschzustand, der erbitterte Kämpfe häufig zu begleiten scheint. Ich wußte, daß Weena und ich verloren waren, aber ich hatte beschlossen, daß die Morlocken ihren Braten diesmal teuer bezahlen sollten. Ich stand mit dem Rücken an einen Baum gelehnt und ließ die Eisenstange kreisen. Der Wald hallte von ihrem Getümmel und Geschrei wider. Eine Minute verstrich. Ihre Stimmen schienen nun noch höher und durchdringender zu schrillen, und ihre Bewegungen wurden schneller. Aber keiner kam in meine Reichweite. Ich stand und starrte in die Finsternis. Dann erwachte plötzlich ein Hoffnungsschimmer in mir. War es möglich, daß ich die Morlocken in Schrecken versetzt hatte? Und gleich darauf geschah etwas sehr Seltsames. Die Nacht schien sich zu erhellen. Undeutlich und verschwommen begann ich die Morlocken um mich herum zu sehen — drei von ihnen lagen erschlagen zu meinen Füßen —, und dann erkannte ich in ungläubiger Verwunderung, daß die übrigen in einem endlosen Strom, wie es schien, an mir vorüberliefen und im Wald gegenüber verschwanden. Ihre Rücken schimmerten nicht mehr weiß, sondern rötlich. Ich stand starr vor Staunen, als ich einen kleinen roten Funken durch das sternklare Stück Himmel über einer Lichtung fliegen und zwischen den Baumkronen verschwinden sah. Da begriff ich plötzlich: Daher also der Geruch nach schwelendem Holz, das einschläfernde Rauschen, das jetzt zu einem stürmischen Brausen anwuchs, der rotglühende Schein und die überstürzte Flucht der Morlocken!

Als ich hinter meinem Baum hervortrat und zurückblickte, sah ich durch die schwarzen Stämme der nächsten Bäume hindurch die Flammen des brennenden Waldes. Niemals zuvor war ich vom Feuer eingeschlossen gewesen. Ich suchte Weena, aber sie war verschwunden. Das Knistern und Prasseln hinter mir, der donnernde Knall berstender Stämme ließen mir kaum Zeit zur Besinnung. Meine Eisenstange fest in der Hand, verfolgte ich die fliehenden Morlocken. Es war ein knappes Rennen. Einmal überholten mich die Flammen so rasch von rechts, daß ich mich umzingelt sah und eine scharfe Wendung nach links machen mußte. Endlich aber erreichte ich eine kleine Lichtung und im selben Augenblick kam ein Morlocke auf mich zugerstolpert und rannte an mir vorbei direkt in die Flammen!

Und nun bot sich mir das unheimlichste und grauenvollste Schauspiel, das ich während meines gesamten Aufenthaltes in der Zukunft erlebt habe. Die ganze Lichtung war vom Feuerschein taghell erleuchtet. In ihrer Mitte erhob sich eine Art von Grabhügel, überragt von einem versengten Weißdornbusch. Dahinter zeigte sich ein weiterer Streifen brennenden Waldes, aus dem schon helle Feuerzungen schlugen und einen Flammenring um die ganze Lichtung zogen. Um den Hügel scharten sich dreißig oder vierzig Morlocken, die von Feuer und Hitze geblendet hin und her stolperten und in ihrer Verwirrung gegeneinanderstießen. Zuerst dachte ich nicht daran, daß sie ja blind waren, und schlug, sobald mir einer nahe kam, halb verrückt vor Angst wild um mich, so daß ich noch einen totschlug und mehrere andere schwer verletzte. Aber als ich dann beobachtete, wie einer von ihnen tastend unter den Weißdornbusch kroch und ihr Jammern und Stöhnen zum geröteten Himmel aufsteigen hörte, begriff ich, daß sie dem Feuerschein hilflos ausgeliefert waren; ich schlug nicht weiter auf sie ein.

Dann und wann taumelte aber doch einer von ihnen irrtümlich auf mich zu und erweckte in mir einen solchen Schauder und Widerwillen, daß ich ihm eilends auswich. Einmal wurde das Feuer etwas schwächer, und ich fürehtete schon, die scheußlichen Geschöpfe würden mich nun erblicken. Ich war fest dazu entschlossen, als erster den Kampf zu beginnen und rasch einige von ihnen zu töten, bevor es dazu kam; aber das Feuer flamrnte bald wieder hell auf, und ich hielt mich zurück. Ich wich ihnen aus und gingüm den Hügel herum, verzweifelt nach einer Spur von Weena suchend. Aber Weena war verschwunden.

Schließlich ließ ich mich auf dem Gipfel des Hügelchens nieder und beobachtete diese sonderbar unwirkliche Schar blinder Geschöpfe, die da hin und her krochen und sich unartikulierte Warnlaute zuriefen, wenn dasFeuer ihnen zu nahe kam. Glühende Rauchschwaden zogen über den Himmel, und durch die seltenen Risse dieses roten Baldachins blinkten von ferne, als gehörten sie einer anderen Welt an, die Sterne. Noch zwei oder drei Morlocken prallten mit mir zusammen, und immer noch zitternd, vertrieb ich sie mit Faustschlägen.

Während eines Teils der Nacht war ich überzeugt, daß alles nur ein Alptraum sei. Ich zwiekte mich und schrie laut, in dem verzweifelten Wunsch, zu erwachen. Ich trommelte mit den Fäusten auf den Boden, stand auf , warf mich nieder, rannte hin und her und setzte mich wieder hin. Zwischendurch rieb ich mir die Augen und flehte zu Gott, er möge mich erwachen lassen. Dreimal sah ich, wie Morlocken in Todesangst die Köpfe senkten und sich in die Flammen stürzten. Endlich aber stieg über dem verglimmenden Rot des Feuers, über den hinziehenden Schwaden von schwarzem Rauch, über den aschgrauen, verkohlten Baumstümpfen und dem verschwindenden Rest der blassen Kreaturen das weiße Licht des Tages herauf. Ich nahm meine Suche nach Weena wieder auf, doch ich fand keine Spur von ihr. Es war klar, daß sie ihren armen kleinen Körper im Wald zurückgelassen hatten. Ich kann gar nicht beschreiben, welche Erleichterung mir der Gedanke bereitete, daß dieser kleine Körper wenigstens nicht dem schrecklichen Schicksal anheimgefallen war, zu dem er vorbestimmt zu sein schien. Bei dem Gedanken an Weena kam ich wiederum in Versuchung, ein Massaker unter den hilflosen Scheusalen ringsum anzurichten. Aber ich beherrschte mich. Die hügelige Lichtung war, wie ich schon sagte, eine Insel im Wald. Von der Anhöhe aus konnte ich durch einen Rauchschleier den grünen Porzellanpalast erkennen und wußte nun auch, in welcher Richtung die weiße Sphinx lag. So ließ ich die letzten dieser armen Seelen, die noch immer jammernd umherwankten, zurück, und als es heller wurde, wickelte ich Gras um meine Füße und machte mich, über rauchende Asche und verkohlte, noch glühende Baumstämme steigend, auf den Weg zum Versteck meiner Zeitmaschine. Ich kam nur langsam vorwärts, denn ich war völlig erschöpft und hinkte stark. Vor allem aber hatte mich der Tod der kleinen Weena zutiefst erschüttert. Tiefer Kummer überwältigte mich. Hier und jetzt, in diesem altgewohnten Raum, kommt es mir wie ein böser Traum vor, nicht wie ein wirklicher Verlust. An jenem Morgen aber fühlte ich mich so unendlich verlassen, so schauerlich einsam. Ich begann an dieses mein Haus zu denken, an manche von Ihnen, an diese Kaminecke — und diese Erinnerungen riefen eine Sehnsucht hervor, die mir körperlich weh tat.

Als ich jedoch unter dem heiteren Morgenhimmel durch die rauchende Asche dahinschritt, machte ich eine Entdeckung. In meiner Hosentasche waren noch einige lose Streichhölzer. Sie mußten aus der Schachtel gefallen sein, bevor diese verlorenging.

Kapitel 13

Die Falle der weißen Sphinx

Gegen acht oder neun Uhr morgens kam ich zu jenem Sitz aus gelblichen Metall, von dem aus ich am Abend meiner Ankunft diese Welt zum erstenmal betrachtet hatte. Ich dachte an meine voreiligen Schlußfolgerungen an jenem Abend und konnte ein bitteres Lachen über meine Vertrauensseligkeit nicht unterdrücken. Vor mir lag dieselbe herrliche Landschaft, dasselbe üppige Grün, dieselben prächtigen Paläste und Ruinen, derselbe silberne Strom, der zwischen fruchtbaren Ufern dahinfloß. Die bunten Gewänder der hübschen Leute schimmerten hier und dort durch die Bäume. Einige badeten an jener Stelle des Flusses, wo ich Weena gerettet hatte, und dieser Anblick versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Wie Kleckse über die Landschaft verstreut, erhoben sich die kleinen Kuppeln über den Schächten, die in die Unterwelt hinabführten. Jetzt wußte ich, was sich unter der trügerischen Schönheit der Oberwelt verbarg. Angenehm war das Leben dieser Leute, so angenehm wie das von Tieren auf der Weide. Wie diese kannten sie keine Feinde und brauchten sich um nichts zu sorgen. Doch auch ihr Ende war das von Schlachtvieh.

Bekümmert dachte ich daran, wie kurz der Traum vom menschlichen Geist gewesen war. Dieser Geist hatte Selbstmord begangen. Unaufhaltsam hatte er zu immer mehr Wohlleben und Bequemlichkeit geführt, zu einer ausgewogenen Gesellschaft, deren Parole Sicherheit und Dauerhaftigkeit war, und er hatte sein Ziel erreicht — um am Ende das hier hervorzubringen. Irgendeinmal mußten Leben und Eigentum den Zustand fast absoluter Sicherheit erreicht haben. Der Reiche war seines Besitzes und seines Standes sicher; der Arbeiter seines Lebens und seines Arbeitsplatzes. Ohne Zweifel hatte es in dieser vollkommenen Welt weder ein Arbeitslosenproblem noch ungelöste soziale Fragen gegeben. Und eine Periode vollkommener Ruhe war gefolgt.

Wir neigen dazu, das Naturgesetz zu übersehen, nach dem dauernde Veränderung, Gefahr und Bedrängnis die Voraussetzung für geistige Regseimkeit sind. Das Tier, das in vollkommenem Einklang mit seiner Umgebung lebt, ist ein vollkommener Mechanismus. Die Natur bedient sich erst dann der Intelligenz, wenn Gewohnheit und Instinkt nicht mehr ausreichend sind. Wo keine Veränderung und keine Notwendigkeit zur Veränderung bestehen, dort gibt es auch keine Intelligenz. Intelligenz entwickeln nur jene Lebewesen, die einer Vielfalt von Bedürfnissen und Gefahren ausgesetzt sind.

Auf diese Art, nehme ich an, hatten sich’die Oberweltler zu ihrer schwächlichen Schönheit entwickelt und die Unterweltler zu rein mechanischen Lebewesen. Aber dieser vollkommene Zustand hatte, eben wegen seiner mechanischen Vollkommenheit, eines Elements entbehrt: der absoluten Dauer. Offenbar war im Lauf der Zeit die Ernährung der Unterwelt, wie immer sie auch organisiert gewesen sein mag, aus den Fugen geraten. Mutter Not, die man tausend Jahre lang verbannt hatte, kehrte zurück; und sie kam von unten. Da die Unterweltler sich mit Maschinen befaßten, die, wie perfekt sie auch sein mochten, immerhin doch ein wenig Denken erforderten, besaßen sie wahrscheinlich zwangsweise mehr Initiative — wenn sie auch sonst weniger menschliche Eigenschaften behalten hatten als die Oberweltler. Als sie kein anderes Fleisch mehr fanden, griffen sie zu dem, was ein alter Brauch bis dahin zu nehmen veiboten hatte. So, muß ich dazu sagen, sah ich die Dinge bei meinem letzten Blick auf die Welt des Jahres achthundertzweitausendsiebenhunderteins. Es mag sein, daß diese Erklärung absolut falsch ist; doch so stellten sich mir die Verhältnisse eben dar, und daher berichte ich sie Ihnen auch so.

Nach den Strapazen, Aufregungen und Schrecken der vergangenen Tage und trotz meines Kummers genoß ich diesen Sitz, die friedliche Aussicht und die warme Sonne sehr. Ich war zu Tode erschöpft, und bald ging mein Theoretisieren in Bösen über. Als ich ich mich dabei ertappte, sträubte ich mich nicht mehr dagegen, sondern streckte mich auf dem Rasen aus und fiel in einen langen, erquickenden Schlaf.

Ich erwachte kurz vor Sonnenuntergang. Ich fühlte mich nun sicher vor den Überfällen der Morlocken, streckte mich und stieg hinab zur weißen Sphinx. In einer Hand trug ich meine Brechstange, die andere spielte mit den Streichhölzern in meiner Tasche.

Nun aber geschah etwas völlig Unerwartetes. Als ich mich nämlich dem Piedestal näherte, fand ich die Bronzetüren offen. Sie waren durch eine Schienenvorrichtung in die Erde versenkt worden.

Bei diesem Anblick stutzte ich und zögerte, einzutreten.

Im Inneren befand sich ein kleiner Raum, und auf einer niederen Plattform in der Ecke stand meine Zeitmaschine. Die kleinen Starthebel hatte ich in der Tasche. Nach all den mühsamen Vorbereitungen zur Erstürmung der weißen Sphinx fand ich nun hier eine bedingungslose Übergabe vor! Ich warf meine Brechstange fort und bedauerte fast, sie nicht zur Anwendung bringen zu können.

Als ich auf das Portal zuging, schoß mir plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Einmal wenigstens durchschaute ich die Denkweise der Morlocken!

Meine Lachlust unterdrückend, trat ich durch den Bronzerahmen und ging zur Maschine. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß sie sorgfältig gereinigt und geölt war. Ich nehme an, daß die Morlocken sie sogar teilweise zerlegt hatten, um auf ihre primitive Art hinter den Sinn dieser Maschine zu kommen.

Als ich nun vor ihr stand, um sie zu untersuchen, und schon am bloßen Berühren des Metalls Vergnügen fand, trat genau das ein, was ich erwartet hatte. Die bronzenen Türen glitten plötzlich nach oben und schlugen klirrend gegen den Rahmen. Ich saß im Dunkeln — in der Falle, wie die Morlocken glaubten. Bei der Idee kicherte ich stillvergnügt in mich hinein.

Schon vernahm ich ihr spöttisches Gemurmel, als sie sich an mich heranschlichen. Ganz ruhig versuchte ich ein Streichholz anzuzünden. Ich brauchte nur die Hebel einzusetzen, um wie ein Gespenst zu verschwinden. Aber ich hatte leider eine Kleinigkeit übersehen: Die Hölzchen waren von jener greulichen Sorte, die sich nur an der eigenen Schachtel entzünden läßt!

Sie können sich vorstellen, wie rasch meine Gemütsruhe verflogen war! Die kleinen Ungeheuer rückten mir auf den Leib. Eines berührte mich. Ich schlug im Dunkeln aufs Geratewohl mit den Hebeln nach ihnen und versuchte in den Sattel der Maschine zu klettern. Da spürte ich, wie eine Hand nach der anderen nach mir griff. Ich mußte meine Hebel gegen ihre zudringlichen Finger verteidigen und gleichzeitig nach den Zapfen tasten, in die ich sie einsetzen wollte. Einen hätten sie mir beinahe entrissen. Als er mir aus der Hand glitt, mußte ich im Finstern mit dem Kopf zustoßen — ich hörte den Schädel des Morlocks krachen —, um ihn zurückzuerobern. Bei diesem letzten Handgemenge, glaube ich,kam ich mit noch knapperer Not davon als bei dem Kampf im Wald.

Endlich aber waren die Hebel doch montiert und festgeschraubt. Die zudringlichen Hände glitten von mir ab. Die Dunkelheit fiel wie Schuppen von meinen Augen, und ich tauchte wieder in dasselbe graue Licht und den Geräuschwirbel ein, die ich Ihnen schon anfangs geschildert habe.

Kapitel 14

Zukunftsvisionen

Ich habe Ihnen auch die Übelkeit und die Verwirrung schon geschildert, die einen auf dieser Reise durch die Zeit überkommen. Diesmal saß ich noch dazu nicht sicher im Fahrersitz, sondern schief und unbequem. Eine unbestimmte Zeit lang klammerte ich mich krampfhaft an die schwingende und vibrierende Maschine, ohne darauf zu achten, wohin ich fuhr, und als es mir endlich gelang, die Zifferblätter wieder ins Auge zu fassen, war ich verblüfft, zu sehen, wohin ich gelangt war. Eines der Zifferblätter zeigt die Tage einzeln an, das zweite zählt sie nach Tausenden, das dritte nach Millionen und das vierte nach tausend Millionen. Nun hatte ich aber in meiner Verwirrung die Hebel irrtümlich nicht auf die Rückfahrt, sondern auf die Weiterreise eingestellt, und als ich auf die Zeiger blickte, sah ich, daß der Tausenderzeiger so schnell rotierte wie der Sekundenzeiger einer Uhr — der Zukunft entgegen.

Als ich weiterfuhr, ging mit dem Aussehen der Dinge eine merkwürdige Veränderung vor sich. Das pulsierende Grau wurde erst dunkler, und dann — obwohl ich noch immer mit rasender Geschwindigkeit fuhr — stellte sich jener blitzartige Wechsel von Tag und Nacht wieder ein, der eigentlich das Kennzeichen verringerter Geschwindigkeit ist, und zwar immer deutlicher. Dies erschien mir zunächst rätselhaft. Der Wechsel von Tag und Nacht wurde zunehmend seltener, und zugleich verlangsamte sich auch die Wanderung der Sonne über den Himmel, bis sie sich schließlich über Jahrhunderte zu erstrecken schien. Zum Schluß brütete ein unveränderliehes Zwielicht über der Erde, ein Zwielicht, das nur dann und wann von einem aufblitzenden Kometen durchbrochen wurde, der seine Bahn über den dämmernden Himmel zog. Der Lichtstreifen, der die Sonne angezeigt hatte, war längst verschwunden, denn die Sonne ging nicht mehr auf und unter — sie stieg und fiel nur im Westen und wurde immer größer und röter. Vom Mond war keine Spur mehr zu sehen. Der Umlauf der Gestirne hatte sich allmählich verlangsamt bis nur noch kriechende Lichtpunkte zu erkennen waren. Zuletzt, kurze Zeit, bevor ich anhielt, blieb die Sonne, rot und ungeheuer groß, unbeweglich über dem Horizont stehen wie eine ungeheure Kuppel, die eine dumpfe Hitze ausstrahlte und dann und wann für einen kurzen Augenblick völlig erlosch. Einmal leuchtete sie eine Weile heller, verblaßte dann aber sehr bald wieder zu ihrer matten Rotglut. Ich begriff auf Grund dieser Verlangsamung ihres Auf- und Untergangs, daß der Gezeitenwechsel zum Stillstand gekommen war. Die Erde war zur Ruhe gekommen und kehrte der Sonne immer nur eine Seite zu, genau wie sich heutzutage der Mond der Erde zuwendet. Mit äußerster Vorsicht — denn ich hatte noch meinen jähen Sturz bei der vorigen Landung in Erinnerung — begann ich meine Bewegungsrichtung zu ändern. Langsamer und langsamer kreisten die Zeiger, bis endlich der Tausenderzeiger stillstand und die nebelhafte Rotation des Tageszeigers wieder unterscheidbar wurde. Ich bremste meine Maschine weiter, bis die verschwommenen Umrisse einer einsamen Bucht vor mir auftauchten.

Vorsichtig hielt ich an und sah mich von meinem Sitz in der Zeitmaschine aus um. Der Himmel war nicht mehr blau. Im Nordosten war er schwarz wie Tinte, und aus diesem Dunkel leuchteten still und hell blaßweiße Sterne. Über mir war er tief dunkelrot und ungestirnt, gegen Südwesten zu hellte er sich zu einem leuchtenden Scharlachrot auf, in dem über dem Horizont glühend und bewegungslos der riesige Sonnenball stand. Die Felsen rings um mich waren von grell rötlicher Farbe, und das einzige Anzeichen von Leben, das ich zunächst wahrnehmen konnte, war das intensive Grün einer Vegetation, die jeden Vorsprung der Südosthänge bedeckte; es war dasselbe satte Grün, das man von Waldmoos oder Höhlenflechten kennt: von Pflanzen also, die wie diese in einem ewigen Zwielicht gedeihen.

Die Maschine war auf einem leicht abfallenden Strand gelandet. Das Meer erstreckte sich nach Südwesten, und sein heller Horizont hob sich scharf gegen den bleichen Himmel ab. Es gab weder Brandung noch Wellen, denn kein Windhauch regte sich.

Nur eine leichte, ölige Dünung stieg und fiel wie ein ruhiger Atem und zeigte an, daß der ewige Ozean noch lebte und sich regte. Das Ufer, an dem sich dieses leise Wegen brach, war von einer dicken Salzkruste bedeckt und glitzerte rosig unter dem gespenstisch erleuchteten Himmel. Ich fühlte einen eigenartigen Druck im Kopf und bemerkte, daß mein Atem sehr rasch ging. Dieses Gefühl erinnerte mich an die Erfahrungen bei meiner einzigen Hochgebirgstour, und ich schloß daraus, daß die Luft dünner als heute sein mußte.

Aus weiter Ferne, von einer Anhöhe des einsamen Abhangs, vernahm ich einen heiseren Schrei und sah einen riesenhaften weißen Schmetterling schräg zum Himmel emporflattern, kreisen und hinter einer Hügelkette verschwinden. Der Ton seiner Stimme war so gräßlich, daß ich schauderte und mich ängstlich in meiner Maschine zurechtsetzte. Als ich mich umsah bemerkte ich, daß sich in meiner nächsten Nähe etwas, das ich für einen rötlichen Felsbrocken gehalten hatte, langsam auf mich zubewegte. Da erkannte ich, daß der Fels in Wirklichkeit ein riesengroßes krabbenartiges Ungeheuer war.

Können Sie sich eine Krabbe von der Größe des Tisches da drüben vorstellen, die langsam und unsicher ihre vielen Beine in Bewegung setzt, ihre großen Scheren schwingt, mit ihren langen Fühlern, die Kutscherpeitschen ähneln, wedelt und umhertastet und einen aus den Stielaugen zu beiden Seiten der gepanzerten Stirn fixiert? Ihr Rücken war zerfurcht und voll häßlicher Buckel, die stellenweise mit grünlichen Verkrustungen bedeckt waren. Ich konnte die vielen Tastorgane um ihre komplizierten Freßwerkzeuge zitternd und suchend umhertasten sehen, als sie sich voranschob.

Während ich noch auf dieses Ungeheuer starrte, das drohend auf mich zukroch, fühlte ich ein Kitzeln auf der Wange, als ob sich eine Fliege dort niedergelassen hätte. Ich versuchte sie mit der Hand zu verscheuchen, aber einen Augenblick später war sie wieder da, und gleichzeitig spürte ich dieselbe Empfindung auch am Ohr. Ich schlug danach und erwischte etwas Fadenähnliches, das sich jedoch schnell aus meiner Hand zurückzog. Erschrocken und angeekelt drehte ich mich um und sah, daß ich den Fühler einer zweiten Monsterkrabbe ergriffen hatte, die dicht hinter mir stand. Die bösen Augen drehten sich auf ihren Stielen, das Maul wässerte ihr vor Gier, und ihre abscheulichen Riesenscheren, schlüpfrig von Algenschleim, senkten sich auf mich herab. Blitzschnell schloß sich meine Hand um den Hebel, und in Sekundenbruchteilen trennte mich eine zeitliche Distanz von einem Monat von diesen Bestien. Doch ich befand mich immer noch an demselben Strand und sah sie jetzt genau, sobald ich anhielt. Zu Dutzenden krabbelten sie im Zwielicht über die grünbewachsenen Flächen.

Ich kann Ihnen die Atmosphäre abgrundtiefer Trostlosigkeit nicht beschreiben, die über dieser Welt lag. Der rote Himmel im Osten, die Schwärze im Norden, das, salzige tote Meer, der steinige Strand, auf dem diese ekelhaften Ungeheuer mit langsamen Bewegungen umherkrochen, dazu das gleichmäßige giftige Grün der moosartigen Pflanzen, die dünne Luft, die in den Lungen schmerzte: alles trug zu dem niederdrückenden Eindruck bei. Ich bewegte mich etwa hundert Jahre weiter, und da war immer noch dieselbe rote Sonne — ein wenig größer und ein wenig gedämpfter vielleicht —, dieselbe kühle Luft und dieselbe Unzahl von Landkrustentieren, die zwischen den roten Felsen und dem grünen Unkraut hin und her krabbelten. Am westlichen Himmel sah ich eine blasse Kurve, die einer riesenhaften Mondsichel glich.

So reiste ich, immer wieder anhaltend, in Etappen von tausend oder mehr Jahren weiter, unwiderstehlich angezogen von dem Geheimnis des Erdenschicksals. Es war faszinierend mitanzusehen, wie die Sonne am westlichen Himmel immer größer und matter wurde und das Leben der alten Erde allmälich verebbte. Zuletzt, mehr als dreißig Millionen Jahre von heute an gerechnet, verdeckte der rotglühende Sonnenball bereits mehr als ein Zehntel des dämmrigen Himmels. Da hielt ich nochmals an, denn die wimmelnden Krabbenscharen waren verschwunden, und der rötliche Strand schien, abgesehen von dem blaßgrünen Leberkraut und den Flechten, völlig leblos zu sein. Jetzt aber zeigten sich darauf weiße Flecken. Eisige Kälte überkam mich. Vereinzelte Flocken fielen vom Himmel. Gegen Nordosten glänzte Schnee im Sternenlicht des blassen Himmels, und ich unterschied auch eine wellige Kette rosigweißer Hügel. Eisränder säumten die Meeresufer, weiter draußen trieben Eisschollen auf dem Wasser; aber der größte Teil des Salzmeeres, das in dem ewigen Sonnenuntergang blutrot leuchtete, war noch nicht gefroren.

Ich sah umher, um festzustellen, ob noch Spuren tierischen Lebens vorhanden seien. Eine ungewisse Angst hielt mich noch immer auf dem Sitz der Maschine fest. Ich sah aber nichts, das sich regte, weder auf der Erde noch am Himmel, noch auf dem Meer. Nur die grüne Schicht auf den Felsen bewies, daß das Leben noch nicht ganz erloschen war. Eine flache Sandbank war aus dem Meer aufgetaucht, und das Wasser war etwas zurückgewichen. Mir war, als hätte ich einen dunklen Gegenstand auf dieser Sandbank umhertorkeln gesehen, doch als ich genauer hinsah, regte er sich nicht mehr, und ich nahm an, einer optischen Täuschung erlegen zu sein. Der dunkle Gegenstand war wohl doch nur ein Felsbrocken. Die Sterne am Himmel leuchteten sehr hell und fast ohne zu flimmern.

Plötzlich bemerkte ich, daß sich der westliche Kreissektor der Sonnenscheibe verändert hatte; an seinem Rand war eine Einbuchtung entstanden. Ich bemerkte, daß sie größer wurde. Eine Minute lang vielleicht starrte ich entgeistert auf diese Finsternis, die über das Licht zu kriechen begann, und dann erfaßte ich, daß dies der Beginn einer Sonnenfinsternis war. Entweder der Mond oder der Planet Merkur zog an der Sonnenscheibe Vorbei. Natürlich dachte ich zuerst an den Mond, aber vieles läßt mich vermuten, daß es der Durchgang eines der inneren erdnahen Planeten war, den ich damals beobachtete.

Die Dunkelheit nahm rasch zu; ein kalter Wind begann in steifen Böen aus dem Osten zu blasen, und die weißen Flocken fielen dichter vom Himmel. Von der Meeresküste her ertönte ein Plätschern und Säuseln. Abgesehen von diesen leblosen Geräuschen lag die Welt in tiefem Schweigen. Schweigen? Es ist beinahe unmöglich, die Tiefe dieses Schweigens zu beschreiben. Die verschiedenen menschlichen Laute, das Blöken von Schafen, die Rufe der Vögel, das Summen der Insekten — diese Geräuschkulisse, die den gewohnten Hintergrund unseres Lebens bilden —, all das gab es nicht mehr. Die Dunkelheit wurde immer undurchdringlicher, die Schneeflocken tanzten immer schneller und dichter vor meinen Augen, und die Kälte nahm merkbar zu. Bald verschwanden die Gipfel der fernen Hügel, einer nach dem anderen, in der Finsternis. Die Brise verwandelte sich in einen heulenden Sturm. Ich sah, wie der Zentralschatten der Eklipse auf mich zukam. Einen Augenblick darauf waren nur noch die blassen Sterne sichtbar. Alles sank in lichtlose Finsternis. Der Himmel war vollkommen schwarz.

Entsetzen vor dieser tiefen Dunkelheit überwältigte mich. Die Kälte, die mir bis ins Mark drang, und die Schmerzen, die mir das Atmen verursachte, wurden unerträglich. Ich schauderte, und mir wurde sterbensübel. Endlich tauchte der Rand der Sonnenscheibe wie ein rotglühender Bogen am Himmel wieder auf. Ich stieg aus der Maschine, um mich ein wenig zu erholen. Mir war schwindlig, und ich fühlte mich unfähig, in diesem Zustand die Rückreise anzutreten. Als ich so krank und verwirrt dastand, sah ich wieder das sich bewegende Ding auf der Sandbank — denn daß es sich bewegte, stand nun außer Zweifel — gegen den Hintergrund der rötlichen See. Es war rund, etwa von der Größe eines Fußballes oder etwas größer, und Fangarme hingen von ihm herab. Es hob sich schwarz von den blutroten Wogen ab und hüpfte zuckend umher. Plötzlich fühlte ich mich einer Ohnmacht nahe. Aber die fürchterliche Angst davor, hilflos in diesem kalten und grauenvollen Zwielicht liegenzübleiben, hielt mich aufrecht, bis ich meinen Sitz in der Maschine wieder erklommen hatte.

Kapitel 15

Der Zeitreisende kehrt zurück

So reiste ich zurück. Lange Zeit muß ich besinnungslos in der Maschine gesessen sein. Die blitzschnelle Aufeinanderfolge von Tag und und Nacht setzte wieder ein, die Sonne war jetzt wieder golden und der Himmel blau. Ich atmete wieder leichter. Die fließenden Konturen der Erde veränderten sich unaufhörlich. Die Zeiger auf meinen Zifferblättern kreisten rückwärts. Endlich sah ich wieder die verschwommenen Umrisse von Bauten, Zeugnisse einer dekadenten Menschheit. Auch diese veränderten sich und vergingen und andere kamen. Dann, als der Millionenzeiger auf Null stand, verringerte ich meine Geschwindigkeit. Ich erkannte nun unsere eigene bescheidene und vertraute Architektur wieder, der Tausenderzeiger kehrte zum Ausgangspunkt zurück, Tag und Nacht wechselten langsamer und immer langsamer. Und endlich umschlossen mich wieder die guten alten Wände meines Laboratoriums. Ganz behutsam bremste ich nun die Maschine.

Da entdeckte ich etwas, das mir äußerst merkwürdig vorkam. Ich glaube, ich habe Ihnen erzählt, daß im Augenblick meiner Abfahrt, als meine Geschwindigkeit noch ziemlich gering war, Mrs. Watchett durch das Zimmer gegangen war, und zwar, wie mir vorgekommen war, mit der Geschwindigkeit einer Rakete. Als ich jetzt zurückkehrte, durchlief ich wieder jene Minute, in der sie das Laboratorium durchquert hatte. Diesmal aber sah ich jede ihrer Bewegungen in genau der entgegengesetzten Richtung ablaufen: Es öffnete sich die Ausgangstür, und sie glitt langsam durch das Laboratorium, mit dem Rücken voran, und verschwand dann durch die Tür, durch die sie damals eingetreten war. Kurz zuvor hatte ich einen Moment lang geglaubt, Hillyer zu erblicken; aber er schoß vorbei wie der Blitz.

Dann stellte ich die Maschine ab und sah um mich her wieder mein altgewohntes Laboratorium, meine Werkzeuge und meine Geräte, so, wie ich sie verlassen hatte. Am ganzen Leib zitternd, kletterte ich aus meinem Gefährt und setzte mich auf die Werkbank. Nach wenigen Minuten wurde ich ruhiger. Mich umgab wieder meine alte Werkstatt, alles war genau wie früher. Ich hätte hier eingeschlafen sein und die ganze Reise nur geträumt haben können.

Und doch nicht ganz! Die Maschine war aus der Südostecke des Laboratoriums gestartet. Gelandet aber war sie in der Nordwestecke, dort, wo Sie sie jetzt stehen gesehen haben. Daraus können Sie den genauen Abstand zwischen dem kleinen Rasenplatz und dem Piedestal der weißen Sphinx, in das die Morlocken meine Maschine verschleppt hatten, ersehen.

Eine Zeitlang konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Dann stand ich auf und kam durch den Korridor hierher. Ich hinkte, weil meine Ferse noch schmerzte, und fühlte mich außerdem furchtbar schmutzig. Auf dem Tisch neben der Tür sah ich die Pall Mall Gazette liegen. Ich erkannte darauf das heutige Datum, schaute auf die Uhr und sah, daß es fast acht war. Dann vernahm ich Ihre Stimmen und das Geklapper von Tellern. Zögernd blieb ich stehen ich fühlte mich so elend und schwach. Doch dann stieg mir der Duft von gutem, nahrhaftem Fleisch in die Nase, und ich öffnete die Tür. Den Rest wissen Sie. Ich wusch mich und aß und erzählte Ihnen hierauf meine Geschichte.”

Kapitel 16

Das Ende der Erzählung

≫Ich weiß≪, sagte er nach einer Pause, ≫daß Ihnen das alles völlig unglaubhaft erscheinen muß; für mich wiederum aber ist nur das eine unglaublich, daß ich heute abend in diesem vertrauten Raum sitze, Ihre freundlichen Gesichter wiedersehe und Ihnen alle diese sonderbaren Abenteuer erzählen kann.≪ Er blickte den Arzt an. ≫Nein — ich kann nicht erwarten, daß Sie mir Glauben schenken. Betrachten Sie es ruhig als eine Lüge — oder eine Prophezeiung. Denken Sie, ich hätte das alles in meiner Werkstatt geträumt. Nehmen Sie an, ich hätte mir so lange über die zukünftigen Geschicke unserer Gattung Gedanken gemacht, bis ich dieses Märchen ausgebrütet hatte. Behandeln Sie meinen Anspruch auf die Wahrheit der Geschichte einfach als, einen Kunstgriff, um das Interesse anzufachen. Und nur unter dem Aspekt der Dichtung betrachtet — was halten Sie davon?≪

Er griff nach seiner Pfeife und begann sie, seiner alten Gewohnheit getreu, nervös auf dem Rost des Kamins auszuklopfen. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann hörte man das Knarren von Stühlen und das Scharren von Schuhen auf dem Teppich. Ich löste meinen Blick vom Gesicht des Zeitreisenden und sah mich im Kreise der Zuhörer um. Sie saßen im Dunkel, nur kleine Lichtflecken fielen auf sie. Der Arzt schien in die Betrachtung unseres Gastgebers vertieft zu sein. Der Herausgeber starrte auf das Ende seiner Zigarre — der sechsten. Der Journalist tastete nach seiner Uhr. Die anderen saßen, soweit ich mich erinnere, regungslos da.

Der Herausgeber erhob sich mit einem Seufzer. ≫Wie schade, daß Sie kein Romanautor sind!≪ sagte er und legte dem Zeitreisenden die Hand auf die Schulter.

≫Sie glauben es also nicht?≪

≫Also…≪

≫Ich habe nichts, anderes erwartet.≪

Der Zeitreisende wendete sich zu uns. ≫Wo sind die Streichhölzer?≪ fragte er. Er entzündete eines und sagte, an seiner Pfeife ziehend: ≫Um Ihnen die Wahrheit zu sagen…ich kann es selber kaum glauben…und doch …≪

Sein Blick streifte einen Augenblick lang fragend die verwelkten Blumen auf dem Tischchen. Dann hob er die Hand, in der er die Pfeife hielt, und ich sah, daß er einige halbverheilte Wunden an seinen Fingerknöcheln betrachtete.

Der Arzt stand auf, ging zur Lampe und untersuchte die Blumen. ≫Das Gynäzeum ist höchst eigenartig≪, sagte er. Der Psychologe beügte sich neugierig vor und streckte ebenfalls die Hand nach einer Blume aus.

≫Der Teufel soll mich holen, wenn es nicht schon Viertel vor eins ist≪, sagte der Journalist. ≫Wie kommen wir jetzt nach Hause?≪

≫Am Bahnhof gibt es Droschken genug≪, sagte der Psychologe.

≫Es ist ganz merkwürdig≪, sagte der Arzt, ≫aber ich kann die Gattung dieser Blumen tatsächlich nicht genau bestimmen. Darf ich sie mitnehmen?≪

Der Zeitreisende zögerte. Dann sagte er plötzlich: ≫Nein, auf keinen Fall!≪

≫Wo haben Sie sie also wirklich her?≪ fragte der Arzt.

Der Zeitreisende legte die Hand auf die Stirn. Er sprach wie jemand, der einen entschwindenden Gedanken festhalten will. ≫Weena hat sie mir auf meiner Zeitreise in die Tasche gesteckt…≪ Er ließ seine Blicke durchs Zimmer schweifen. ≫Zum Teufel, alles verschwimmt mir. Dieses Zimmer und Sie und die Alltagsatmosphäre, das alles ist zuviel für meinen Verstand. Habe ich wirklich jemals eine Zeitmaschine oder auch nur ein Modell einer Zeitmaschine konstruiert? Oder ist alles nur ein Traum gewesen? Man sagt ja, das Leben sei ein Traum, ein reichlich armseliger Traum zuweilen; aber noch einen zweiten, der sich nirgends einordnen läßt, das ist zuviel für mich…Es ist heller Wahnsinn…Und woher kam dieser Traum? Ich muß die Maschine sehen — falls sie überhaupt existiert!≪

Er griff nach der Lampe und trug sie, so rasch, daß sie hoch aufflammte, hinaus in den Korridor. Wir folgten ihm. Dort, im Licht der Lampe, sahen wir die Maschine in ihrer ganzen Größe stehen; höchst wirklich, breit, häßlich und schräg, ein Gestell aus Metall, Ebenholz, Elfenbein und durchscheinendem Quarz. Greifbar nahe — denn ich streckte die Hand aus und berührte den Rahmen — mit erdigen Flecken und Schmutzspuren auf den Elfenbeinteilen, Grasbüscheln und Moos an den unteren Bestandteilen und einer total verbogenen Metallschiene.

Der Zeitreisende stellte die Lampe auf der Bank ab und strich mit der Hand über die beschädigte Schiene. ≫Alles wieder in Ordnung≪, sagte er. ≫Die Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe, ist wahr. Es tut mir leid, Sie hier heraus in die Kälte geführt zu haben.≪ Er ergriff die Lampe, und in vollkommenem Schweigen folgten wir ihm.

Er begleitete uns hinaus in die Halle und half dem Herausgeber in den Mantel. Der Arzt sah ihm in die Augen und erklärte ihm dann nach kurzem Zögern, er leide an Überarbeitung, was unser Gastgeber mit einem schallenden Lachen quittierte. Ich erinnere mich noch genau, wie er in der offenen Haustür stand und uns ≫Gute Nacht!≪ nachrief.

Ich fuhr im selben Wagen mit dem Herausgeber, der die Erzählung als einen ≫gut erfundenen Schwindel≪ bezeichnete. Ich für mein Teil konnte zu keinem Schluß kommen. Die Geschichte war so phantastisch und unglaublich, die Erzählweise dagegen so anschaulich und nüchtern. Den größten Teil der Nacht lag ich wach und dachte darüber nach. Ich beschloß, den Zeitreisenden am nächsten Tag noch einmal zu besuchen. Man sagte mir, er sei im Laboratorium, und da ich mit den Örtlichkeiten des Hauses vertraut war, ging ich zu ihm hinauf. Im Laboratorium aber war niemand. Ich betrachtete eine Weile gedankenversunken die Zeitmaschine und berührte dann mit der Hand einen Hebel. Daraufhin begann die massive, so solid aussehende Apparatur zu schwanken wie ein Zweig im Wind. Diese Unstabilität versetzte mich gehörig in Schrecken, und plötzlich fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, als man mir noch verbot, etwas anzurühren, ohne zu fragen! Ich ging durch den Korridor zurück. Der Zeitreisende empfing mich im Rauchsalon. Er kam aus dem oberen Stockwerk und hielt in der einen Hand einen Fotoapparat, in der anderen einen Rucksack. Als er mich sah, lachte er und reichte mir anstelle der Hand einen Ellbogen zur Begrüßung. ≫Ich bin gerade sehr beschäftigt≪, sagte er, ≫— mit dem Ding da drinnen.≪

≫Sie haben uns also keinen Bären aufgebunden?≪ fragte ich. ≫Sie reisen wirklich durch die Zeit?≪

≫Wirklich und wahrhaftig!≪ antwortete er und sah mir dabei offen in die Augen. Dann zögerte er sekundenlang und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. ≫Ich brauche nur eine halbe Stunde≪, sagte er dann. ≫Ich weiß, warum Sie gekommen sind, und finde das furchtbar nett von Ihnen. Dort liegen ein paar illustrierte Zeitungen. Bleiben Sie doch zum Mittagessen hier, und danach werde ich Ihnen die Sache mit der Zeitreise unwiderleglich beweisen. Mit Proben und allem Drum und Dran. Doch darf ich Sie bitten, mich jetzt zu entschuldigen?≪

Ich erklärte mich mit diesem Vorschlag einverstanden, obwohl ich die Tragweite seiner Worte damals nur zur Hälfte begriff. Er nickte mir zu und verschwand über den Korridor. Ich hörte die Tür des Laboratoriums ins Schloß fallen, ließ mich nieder und nahm eine Tageszeitung zur Hand. Was mochte er bis Mittag wohl noch vorhaben? Plötzlich erinnerte mich eine Anzeige daran, daß ich um zwei Uhr mit Richardson, dem Verleger, verabredet war. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, daß ich zu dieser Verabredung mit knapper Not noch zurechtkommen könnte. Ich stand auf und ging durch den Korridor, um den Zeitreisenden zu verständigen.

Als ich die Hand auf die Klinke legte, hörte ich einen Schrei, der unerwartet plötzlich abriß, dann ein Knacken und einen dumpfen Schlag. Ein Luftzug wehte mir entgegen, als ich die Tür öffnete, und von drinnen hörte ich das Klirren zu Boden fallender Glasscherben. Der Zeitreisende war nicht da. Einen Augenblick lang glaubte ich eine verschwommene Gestalt in einer wirbelnden Wolke von Schwarz und Metallgelb zu sehen — so durchsichtig, daß das Arbeitspult, auf dem noch die Pläne lagen, dahinter deutlich zu erkennen war — über dieses Phantom verschwand, während ich mir noch die Augen rieb. Die Zeitmaschine war fort. Eine Staubwolke lag in der Luft, die rückwärtige Ecke des Laboratoriums aber war leer. Die Scheibe des Oberlichtes war offensichtlich eingedrückt worden.

Ich war starr vor Staunen. Ich war mir zwar bewußt, daß etwas höchst Seltsames geschehen sein mußte, hätte im Augenblick aber beim besten Willen nicht sagen können, was es gewesen war. Während ich noch fassungslos vor mich hin starrte, öffnete sich die Tür zum Garten, und der Diener trat ein.

Wir sahen einander wortlos an. Dann begann mein Verstand wieder zu arbeiten. ≫Ist Herr…in den Garten hinausgegangen?≪ fragte ich.

≫Nein, mein Herr. Ich habe niemanden hinausgehen sehen. Ich glaubte, ihn hier anzutreffen.≪

Da verstand ich. Auf die Gefahr hin, Richardson zu verfehlen, blieb ich, um auf den Zeitreisenden zu warten; ich wartete auf seine zweite, vielleicht noch merkwürdigere Erzählung und auf die Proben und Fotographien, die er mitzubringen versprach. Allmählich aber beginne ich zu fürchten, daß ich ein Leben lang darauf warten werde müssen. Der Zeitreisende verschwand vor nunmehr drei Jahren und ist, wie wir alle wissen, niemals zurückgekehrt.

Kapitel 17

Epilog

Über seinen Verbleib gibt es nur Mutmaßungen. Wird er jemals wiederkehren? Vielleicht hat er sich in die Vergangenheit zurückgeschwungen und ist unter die blutrünstigen Wilden der frühen Steinzeit geraten, in die Tiefen des Kreidemeeres oder unter die grotesken Saurier, diese Reptilienungeheuer der Jurazeit. Vielleicht wandert er eben jetzt — wenn ich mir diese Vermutung gestatten darf — über ein von Plesiosauriern bevölkertes oolithisches Korallefiriff oder am Ufer eines einsamen Salzsees der Triasperiode. Oder er ist in die Zukunft gereist, in eines der nächsten Jahrhunderte, in dem die Menschen noch Menschen sind, die Antwort auf die Rätsel unseres Zeitalters aber bereits gefunden und ihre schwerwiegenden Probleme schon gelöst haben? Eventuell sogar in das Mannesalter des Menschengeschlechtes? Denn ich, für meinen Teil, kann mir nicht vorstellen, daß unsere Zeit, diese Zeit unsicheren Experimentierens, fragmentarischer Theorien und allgemeiner Zwietracht, tatsächlich der Höhepunkt menschlicher Entwicklung sein soll! Ich spreche jetzt nur für mich. Denn er, wie ich weiß — wir hatten über diese Fragen ja schon diskutiert, lange bevor die Zeitmaschine überhaupt konstruiert wurde — er hielt herzlich wenig vom so genannten Fortschritt der Menschheit und sah in der fortschreitenden Zivilisation eigentlich nur eine Anhäufung von Torheiten, die unweigerlich einmal auf ihre Urheber zurückfallen und sie zuletzt zerstören müßten. Wenn dem wirklich so ist, dann bleibt uns nur übrig, so weiterzuleben, als ob dem nicht so wäre. Für mich jedoch ist die Zukunft noch dunkel und verhangen — eine große Unbekannte, nur an wenigen Stellen zufällig erhellt durch die Erinnerung an seine Erzählung. Und zu meinem Trost bewahre ich zwei fremdartige weiße Blumen auf — sie sind inzwischen verschrumpft, vergilbt, plattgedrückt und brüchig —, zum Zeugnis dafür, daß selbst dann, wenn es mit Intelligenz und Kraft vorbei sein wird, noch Dankbarkeit und Liebe zueinander in den Herzen der Menschen weiterleben werden.