Das Wahrheit über Bébé Donge

Georges Simenon

1940

1

Ein heißer Augustsonntag. Die wohlhabenden Brüder Donge sitzen mit ihren Familien nach dem Mittagessen im Garten ihres Landhauses. Plötzlich erhebt sich François Donge, stürzt ins Badezimmer. Übelkeit und Schmerzen haben ihn überfallen und —Todesangst. Denn er begreift sofort, was geschehen ist. François überlebt zwar, doch sein Wille zu Verstehen kommt zu spät.

»Die Leute begreifen nichts. Die Leute begreifen nie. Doch wenn sie begreifen würden, könnten sie dann überhaupt noch leben?«

»Simenons Geschöpfe sind die Protagonisten einer Krise, die meistens mit der Entdeckung einer grundlegenden, unerwarteten (oder ins Unterbewußtsein verdrängten) Wahrheit verbunden ist. Mit einer Entdeckung, die den Sinn eines Lebens verändert, indem sie aus diesem Leben ein Schicksal macht.« Gilbert Sigaux

Inhaltsverzeichnis

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Kann eine winzige Fliege die Oberfläche einer Pfütze mehr aufrühren als ein großer Kieselstein? An jenem Sonntag auf La Châtaigneraie war es so. Andere Sonntage waren für die Donges sozusagen Geschichte geworden, zum Beispiel der Sonntag des Gewitters, als die Buche umstürzte, »drei Minuten, nachdem Mama vorbeigegangen war«. Oder auch der Sonntag des großen Streits, nach dem sich beide Familien ein paar Monate aus dem Weg gingen.

Jener Sonntag dagegen, den man den Sonntag des großen Dramas nennen könnte, floß so klar und ruhig dahin wie ein Bach in der Ebene.

François wachte morgens gegen sechs Uhr auf, wie immer, wenn er auf dem Land war. Seine Frau hörte nicht, wie er auf Zehenspitzen das Zimmer verließ, oder wenn sie es hörte, machte sie die Augen nicht auf.

Es war der 20. August. Die Sonne war schon aufgegangen, der Himmel zeigte das wäßrige Blau eines Aquarells, das Gras war naß und duftete. Im Bad fuhr sich François nur kurz durch die Haare und ging im Schlafanzug und in Sandalen in die Küche hinunter, wo Clo, die Köchin, die auch noch nicht recht angezogen war, langsam kochendes Wasser in die Kaffeekanne goß.

»Die Mücken haben mich schon wieder zerstochen!« sagte sie und zeigte auf ihre blassen Schenkel, die über und über mit roten Stichen besät waren.

Er trank seinen Kaffee und ging in den Garten. Um zehn Uhr war er immer noch dort. Was machte er eigentlich? Nichts Besonderes. Im Gemüsegarten mußten viele Tomatenstauden wieder angebunden werden. Nicht vergessen und es morgen Papau, dem Gärtner, sagen. Ihn auch dran erinnern, den Gartenschlauch nicht immer auf dem Weg herumliegen zu lassen. Und die grünen Bohnen wurden auch immer erst gepflückt, wenn sie schon zu dick waren.

Im ersten Stock wurden Jalousien hochgezogen. Der Kopf eines Jungen erschien am Fenster. François hob die Hand, um seinen Sohn zu begrüßen, das Kind auch. Es hatte einen weißen Morgenmantel an. Unter den dichten, verwuschelten Haaren sah das Gesicht noch kleiner und durchsichtiger aus, waren die Schatten unter den Augen noch tiefer. Von seinem Vater hatte der Junge die lange und schiefe Nase. Es war auffallend. Schon allein deswegen konnte François seinen Sohn nicht verleugnen. Sonst sah das Kind seiner Mutter ähnlich; es hatte deren Zartheit, deren Haut, so durchsichtig wie Porzellan. Sogar die blauen Augen der Mutter, die auch blau wie Porzellan waren.

Marthe, das Zimmermädchen, zog den Jungen an. Die Zimmer waren hell. Das Haus sah hübsch aus. Es war wirklich das Landhaus schlechthin, so, wie es sich die Städter vorstellen. Nichts erinnerte mehr an das Bauernhaus, das es vor dem Umbau gewesen war. Weiche Rasen. Sanfte Hänge. Ein Obstgarten, der im Frühling entzückend aussah. Ein kleiner Wald und ein munterer Bach.

Die Glocken läuteten. Durch die Apfelbäume konnte man den viereckigen Kirchturm von Ornaie sehen. Hinter einer Hecke führte ein steiler, holperiger Weg vorbei und François hörte die Schritte der Nachbarn, die zur Messe gingen. Man hörte den schweren Atem keuchender Frauen. Es war eigenartig, weil man sie nicht sah; bis zu diesem steilen Stück schwatzten sie miteinander, nach einigen Metern redeten sie schon weniger, hörten schließlich mitten im Satz auf und fingen erst oben wieder an.

François holte die Walze aus dem Schuppen und ebnete den Tennisplatz, dann spannte er das Netz. Es war vielleicht neun Uhr, als er sah, wie sein Sohn mit einer Angel in der Hand kam.

»Machst du mir meinen Angelhaken wieder an.« Jacques war acht Jahre alt, hatte lange dünne Beine und volle Lippen wie ein Mädchen.

»Ist deine Mutter schon aufgestanden?«

»Ich weiß nicht.«

Und der Junge ging hinunter zum Bach. Er hatte noch nie etwas gefangen. Der Zufall wollte es, daß an jenem Sonntag ein kleiner Fisch an der Angel hing. Er traute sich nicht, ihn anzufassen. Er rief atemlos, beinahe erschreckt:

»Papa! Ein Fisch … komm schnell!«

Als François, immer noch im Schlafanzug und mit feuchten Sandalen, schließlidr ins Gewächshaus gehen wollte, tauchte die Köchin am Ende des Weges auf.

»Was gibt es, Clo?«

»Sie haben die Champignons vergessen. Ich kann meine Hähnchen nach Hausfrauenart nicht ohne Champignons zubereiten und im Dorf gibt es keine.«

Jeden Sonntag war es dasselbe! François ging am Samstag immer auf den Markt, packte alles ins Auto, was man ihm aufgetragen hatte. Jeder gab ihm eine Liste mit, die Köchin schrieb immer mit Bleistift auf ein unförmiges Stück Papier.

»Sind Sie sicher, daß Sie sie aufgeschrieben haben?«

»Ich weiß bestimmt, daß ich sie auf die Liste geschrieben habe.«

»Und sie waren auch nicht im Auto?«

Seis drum! Er ging sich anziehen, hörte an der Tür zum Zimmer seiner Frau. Wenn seine Frau nicht mehr schlief, so hörte man sie auch nicht.

François Donge war nicht groß. Er war schlank, aber stark und kräftig, mit feinen Gesichtszügen, dieser langen, so charakteristischen schiefen Nase und ziemlich schelmischen Augen.

»Schau mich nicht so an, als ob du dich über alles lustig machtest«, sagte ihm seine Frau, Bébé Donge, oft.

Bébé! Was für eine Idee, sie Bébé zu nennen! Nach zehn Jahren Ehe hatte er sich noch nicht daran gewöhnt. Nun ja! … Weil ihre Familie sie immer so genannt hatte und ihre Freundinnen, und eigentlich jeder.

Das Auto aus der Garage fahren, das weiße Tor aufmachen und wieder schließen. Bis in die Stadt waren es nur fünfzehn Kilometer. Auf der Straße fuhren viele Fahrräder. Sie fielen vor allem am Hang von Bel-Air auf, denn dort mußten die Radfahrer laufen und ihre Räder schieben. Am Waldrand wurden schon Picknicks vorbereitet. François, der einen Jagdschein besaß, dachte daran, daß sie bei Eröffnung der Jagd noch über die Glasscherben stolpern würden.

Die Brücke. Die Rue du Pont-Neuf, schnurgerade, eine Straßenseite lag in der Sonne, die andere im Schatten; auf den über einen Kilometer langen Trottoirs sah man höchstens vier oder fünf Leute. Vor den Schaufenstern der Läden waren die Jalousien heruntergelassen, und die Ladenschilder fielen mehr als sonst auf, die große rote Pfeife des Tabakladens, die riesige Uhr des Uhrmachers, das Schild des Gerichtsvollziehers. Dieser war gerade dabei, sein Auto anzulassen.

Die Épicerie du Centre mit ihrem großen Sonnendach. Der Geruch von Lebkuchen. Der Lebensmittelhändler im Leinenkittel. Gleich würde auch er seine Familie ins Auto packen, mit dem er sonst seine Kunden belieferte.

»Noch eine kleine Tüte Bonbons für meinen Sohn!«

»Geht es Monsieur Jacques gut? Die Landluft wird ihm guttun. Und Madame Donge? Langweilt sie sich nicht so ganz allein?«

François vergaß, die Bonbontüte seinem Sohn zu geben, und erst viel später, mindestens nach drei Wochen, als er den Anzug wieder anziehen wollte, den er an diesem Tag getragen hatte, fand er sie ganz verklebt in seiner Tasche.

Drei Wochen später! Man sagt:

»In drei Wochen.«

Oder auch: ’

»Vor drei Wochen.«

Und kann sich nicht vorstellen, was in drei Wochen, in ein paar Stunden alles passieren kann. Wenn einer gesagt hätte, daß Bébé Donge in drei Wochen im Gefängnis sitzen würde … Die zarteste, hübscheste, graziöseste Frau. Man redete über sie nicht wie über jemand anders, wie zum Beispiel über ihre Schwester Jeanne.

Wenn man sagte:

»Gestern habe ich Jeanne bei der Modistin getroffen.«

Dann sagte man diesen Satz ganz normal. Man hatte ganz einfach Jeanne Donge getroffen, eine kleine, muntere, rundliche Frau, die immer in Bewegung war, die Frau von Félix Donge. Denn die beiden Schwestern hatten die beiden Brüder geheiratet.

»Ich habe gestern Jeanne gesehen…«

Das war weiter kein Ereignis. Sagte man aber: »Ich bin auf La Châtaigneraie gewesen und habe Bébé Donge gesehen.«

Dann meinte man hinzufügen zu müssen:

»Was für eine wunderbare Frau!«

Oder auch:

»Sie sieht verführerischer denn je aus.«

Oder:

»Es gibt niemand, der sich so anzieht wie sie!«

Bébé Donge! Ein Gemälde in Pastellfarben! Ein überirdisches, vergeistigtes Wesen wie aus einem Gedicht.

Bébé Donge im Gefängnis!

Und François stieg wieder ins Auto, wollte im Café du Centre einen Aperitif trinken, beschloß dann aber, es nicht zu tun, weil er fürchtete, er könnte mit den Champignons zu spät nach Hause kommen.

Am Hang überholte er das Auto seines Bruders. Félix saß am Steuer. Daneben ihrer beider korpulente und würdevolle Schwiegermutter, Madame d’Onneville (ihr verstorbener Mann schrieb sich vor ihrer Heirat Donneville), die wie immer duftig leichte Gewänder anhatte.

Hinten saß Jeanne mit den beiden Kindern. Bertrand, der zehnjährige Junge, hing am Fenster und winkte, als sein Onkel vorbeifuhr. Beide Autos kamen hintereinander vor dem Portal von La Châtaigneraie an. Madame d’Onneville bemerkte:

»Ich sehe nicht ein, warum du uns überholen mußtest.«

Dann, übergangslos, als sie die offenen Fenster des Hauses sah:

»Ist Bébé schon aufgestanden?«

Man wartete eine gute halbe Stunde auf Bébé Donge. Sie hatte wie gewöhnlich zwei Stunden auf ihre Toilette verwendet.

»Guten Tag, Mama. Guten Tag, Jeanne. Guten Tag, Félix. Hattest du etwas vergessen, François?«

»Die Champignons.«

»Ich hoffe, das Essen ist fertig? Marthe! Haben Sie auf der Terrasse gedeckt? Wo ist Jacques? Marthe! Wo ist Jacques?«

»Ich habe ihn nicht gesehen, Madame.«

»Er muß unten am Bach sein«, warf François ein. »Er hat heute morgen einen Fisch gefangen, und war ganz außer sich deswegen.«

»Wenn er nasse Füße bekommt, ist er wieder zwei Wochen krank.«

»Da kommt ja Monsieur Jacques. Es ist serviert, Madame.«

Es war heiß. Die Sonne war dick wie Sirup. Das Gras knisterte vor lauter Heuschrecken.

Worüber sprach man bei Tisch? Auf alle Fälle von Doktor Jalibert, der eine neue Klinik baute. Es war natürlich Madame d’Onneville, die die Rede auf Doktor Jalibert brachte und sie versäumte es nicht, dabei erst Bébé, dann François anzuschauen.

Beinahe hätte sie ihrer Tochter gesagt:

»Weißt du denn nicht, daß dein Mann und die schöne, Madame Jalibert…. Die ganze Stadt weiß es…. einige behaupten sogar, daß Jalibert es auch weiß, es aber duldet …«

Doch Bébé Donge fuhr bei dem Namen Jalibert nicht zusammen. Sie aß mit gezierten Bewegungen und spreizte dabei den kleinen Finger. Ihre Hände waren ein Kunstwerk. Hörte sie überhaupt zu? Überlegte sie? Alles, was sie während der Mahlzeit sagte, war:

»Iß ordentlich, Jacques.«

Da saßen zwei Brüder und zwei Schwestern, die zufällig zwei Familien gegründet hatten. In der Stadt pflegte man zu sagen:

»Die Brüder Donge.«

Dabei war es unwichtig, welchen der beiden man gesehen hatte, mit welchem von beiden man verhandelt hatte. François und Félix glichen sich wie Zwillinge, obwohl sie drei Jahre auseinander waren. Félix hatte wie sein Bruder diese berühmte Nase der Donges. Dieselbe Größe und dieselbe Statur. Sie konnten die Anzüge des anderen anziehen und kleideten sich genauso, beinahe immer in Grautönen.

Sie brauchten keine großen Worte zu machen: Man merkte, daß sie die ganze Woche hindurch zusammen waren, im gleichen Büro arbeiteten, die gleichen Leute sahen und die gleichen Sorgen hatten.

Vielleicht war Félix etwas labiler als François?

François war der Chef, das merkte man bei den geringsten Kleinigkeiten.

Félix hatte die lebhafte Jeanne geheiratet, die zwischen zwei Gängen schon eine Zigarette rauchen mußte, trotz des mißbilligenden Blicks ihrer Mutter.

»Ein schönes Vorbild für deine Kinder.«

»Glaubst du vielleicht, Bertrand raucht nicht heimlich? Vorgestern habe ich ihn dabei erwischt, wie er Zigaretten aus meiner Handtasche nahm.«

»Wenn ich dich gefragt hätte, hättest du mir ja doch keine gegeben.«

»Hör dir das an!«

Madame d’Onneville seufzte nur. Sie hatte überhaupt nichts gemein mit diesen Brüdern Donge! Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in Konstantinopel verbracht, wo ihr Mann Werftdirektor war.

Dort lebte sie in eleganter Umgebung unter Diplomaten und berühmten Leuten, die auf Durchreise waren. Auch an jenem Sonntag war sie wie für ein Essen in einer Botschaft von Therapia gekleidet.

»Marthe! Servieren Sie den Kaffee und den Likör im Garten.«

»Kann ich Tennis spielen?« fragte Bertrand. »Spielst du mit, Jacques?«

»Wenn er verdaut hat… geht erst ein bißchen spazieren. Es ist außerdem viel zu heiß.«

Korbsessel unter einem großen orangefarbenen Sonnenschirm. Der Weg aus Backsteinscherben war leuchtend rot. Jeanne suchte sich einen Liegestuhl und streckte sich lang aus, zündete sich wieder eine Zigarette an und blies den Rauch in den Himmel, der ins Lila ging.

»Bringst du mir einen Schlehenlikör, Félix?«

Für sie waren die Sonntage auch La Châtaigneraie mit Schlehenlikör verbunden, von dem sie nach dem Essen zwei oder drei Gläschen trank.

Bébé Donge goß den Kaffee in die Tassen und hielt jedem eine Tasse hin.

»Ein Stück Zucker, Mama? Und du, François? … Zwei? Ein Glas Fine, Félix?«

Es hätte ein beliebiger Sonntag sein können. Die Zeit für ein Mittagsschläfchen. Fliegen summten. Träge wurden Worte gewechselt. Madame d’Onneville würde von ihren Investitionen sprechen.

»Wo sind die Kinder? Marthe! Sehen Sie nach, wo die Kinder sind.«

Bald würden die beiden Brüder zum Tennisplatz hinübergehen und bis zum späten Nachmittag würde man den harten Ballaufschlag hören. Manchmal tauchten hinter der Hecke Köpfe auf, Leute, die auf dem Fahrrad spazierenfuhren, denn die Fußgänger konnte man nicht sehen, nur hören.

Nun war es aber ganz anders. Eine knappe Stunde, nachdem man den Kaffee genommen hatte, stand François auf und ging zum Haus hinüber.

»Wo gehst du hin?« fragte Bébé Donge, ohne sich umzudrehen.

»Ich komme …«

Je näher er ans Haus kam, desto schneller ging er. Man hörte Türen schlagen, Geräusche im Badezimmer.

»Ist ihm nicht gut?« fragte Madame d’Onneville.

»Ich weiß nicht. Gewöhnlich verträgt er alles.«

»Seit ein paar Minuten sah er blaß aus.«

»Wir haben eigentlich nichts Schweres gegessen.«

Die Kinder liefen vorbei. Einige Minuten vergingen, dann hörte man plötzlich François’ Stimme aus dem Haus, aber man sah ihn nicht:

»Félix!«

Seine Stimme klang so eigenartig, daß Félix mit einem Satz aufsprang und hinüberrannte. Madame d’Onneville schaute auf die offenen Fenster.

»Ich möchte wissen, was er hat.«

»Was soll er schon haben?« murmelte Jeanne, die immer noch ausgestreckt dalag und in die Betrachtung des Zigarettenrauchs versunken war, der sich im Violett des Himmels verlor.

»Es hört sich an, als ob jemand telefoniert …«

Die Geräusche aus dem Haus waren klar zu hören. Jemand drehte tatsächlich an der Kurbel des Telefons.

»Hallo! Fräulein, ich weiß, die Post ist geschlossen, aber es ist dringend … Verbinden Sie mich mit der 1 in Ornaie … Doktor Pinaud, ja … Sie meinen, er ist beim Angeln? Rufen Sie trotzdem an, ja … Hallo! … Bei Doktor Pinaud? … Hier La Châtaigneraie … Sie sagen, er ist schon zurück? Er möchte sofort kommen … Egal! … Ja, es ist dringend … Aber nein, Madame … Er soll kommen, wie er ist…«

Die drei Frauen schauten sich an.

»Willst du nicht nachsehen?« fragte Madame d’Onneville erstaunt und drehte sich zu Bébé Donge.

Diese stand auf und ging zum Haus. Sie blieb nur ein paar Minuten weg und als sie wiederkam, sah sie so ruhig wie sonst auch aus.

»Sie haben sich beide im Bad eingeschlossen. Sie wollten mich nicht hineinlassen, Félix behauptet, es sei nichts Ernstes …«

»Aber was hat er denn?«

»Ich weiß es nicht.«

Der Doktor kam auf dem Fahrrad in seinem braunen Leinenanzug, den er zum Angeln angezogen hatte. Je näher er auf dem roten Weg kam umso erstaunter war er, die drei Frauen ruhig unter dem Sonnenschirm liegen zu sehen.

»Ist etwas passiert?«

»Ich weiß nicht, Doktor. Mein Mann ist im Bad. Ich bringe Sie hin.«

Die Tür wurde halb aufgemacht, um den Doktor hereinzulassen, schloß sich aber wieder vor Bébé Donge, die regungslos auf dem Flur stehenblieb. Madame d’Onneville war vor Aufregung aufgestanden und lief in der prallen Sonne auf und ab.

»Ich weiß nicht, weshalb die beiden uns nichts sagen … Und Bébé? Was macht Bébé? Sie kommt auch nicht wieder!«

»Beruhige dich, Mama! Du wirst noch eine Kreislaufschwäche bekommen. Warum regst du dich so auf?«

Die Tür zum Bad ging wieder auf. Der Doktor, in Hemdsärmeln und mit geschäftiger Miene, wies Bébé, die im Halbdunkel stand, an:

»Lassen Sie abgekochtes Wasser bringen … soviel wie möglich!«

Bébé ging in die Küche hinunter. Sie trug ein Kleid aus hellgrünem Musselin. Ihre Haare waren blond gefärbt.

»Clo! Bringen Sie abgekochtes Wasser ins Bad hinauf.«

»Ich habe den Doktor gesehen. Ist Monsieur krank?«

»Ich weiß es nicht, Clo. Bringen Sie abgekochtes Wasser hinauf.«

»Viel?«

»Der Doktor sagte, soviel wie möglich.«

Als die Köchin die beiden Kannen Wasser hinaufbrachte, wurde auch sie nicht ins Bad gelassen, die Tür wurde nur einen Spalt geöffnet. Trotzdem sah sie einen Körper auf dem Boden liegen, oder vielmehr sah sie nur die Beine und die Füße, was sie mehr erschreckte, als wenn sie eine Leiche gesehen hätte.

Es war drei Uhr. Die Kinder, die nichts ahnten, hatten gerade den Tennisplatz in Beschlag genommen und man hörte, wie Jacques zu seiner Kusine sagte:

»Du spielst nicht mit … Du bist noch zu klein …«

Denn Jeannie war erst sechs Jahre alt. Bestimmt würde sie gleich weinen. Sie würde zu ihrer Mutter laufen, die dann wie gewöhnlich sagen würde:

»Macht das unter euch aus, meine Tochter! Das geht mich nichts an.«

Madame d’Onneville stand immer noch da und schaute hinauf zu den Fenstern im ersten Stock.

»Gibst du mir meine Zigaretten, Mama?«

In jedem anderen Augenblick wäre Madame d’Onneville entrüstet gewesen, daß ihre Tochter, die in einem Liegestuhl lag, sie, ihre Mutter, um die Zigaretten bat, die auf dem Tisch lagen.

Sie gab ihr das Etui, ohne es recht zu merken. Sie schaute auf Bébé, die gerade auf der Treppe erschien und deren Gang nichts Außergewöhnliches verriet.

»Nun?«

»Ich weiß nicht … Im Augenblick haben sich alle drei eingeschlossen.«

»Findest du das nicht sonderbar?«

Jetzt erst zeigte Bébé leichte Nervosität.

»Was soll ich dir denn sagen, Mama? Ich weiß auch nicht mehr als du.«

In diesem Augenblick hatte sich Jeanne in ihrem Liegestuhl umzudrehen versucht, um ihre Schwester anzusehen. Sie war erstaunt, Bébé lauter reden zu hören. Aber Bébé stand nicht in ihrem Blickfeld und so ließ sie es bleiben. Im grünen Rasen vor ihr standen rote Geranien. Eine Wespe brummte. Madame d’Onneville stieß einen langen, beunruhigten Seufzer aus.

Warum schlossen die Männer da oben die Fenster im Bad? Und hatte man nicht in dem Augenblick, in dem Félix die Fenster zumachte, François’ Stimme gehört:

»Ich will unter keinen Umständen, Doktor…«

Die Glocken läuteten zur Vesper.

2

Er war jetzt sicher, daß er sich nicht getäuscht hatte. Es war nur eine Vermutung gewesen, doch war sie beinahe greifbarer als ein Beweis. Als es geschehen war, hatte er nicht aufgepaßt! Er war in seinem Korbsessel sitzengeblieben, hatte die Augen halb geschlossen und war von der Sonne und vom Essen wohlig müde!

Er war überrascht, wie klar er sich erinnerte, als ob er die Bedeutung dieser Minute für die Zukunft geahnt und die Szene fotografiert hätte.

Es kam durch das Gegenlicht. François lehnte sich tief in seinen Gartensessel zurück, und der Widerschein der Sonne auf dem ziegelroten Weg tauchte alles in einen warmen Ton.

Seine Schwiegermutter saß links von ihm im Halbprofil, und ohne sie anzusehen, hatte er noch den violetten Fleck ihres Seidenschals im Auge. Etwas weiter weg lag Jeanne, ganz in Weiß, ausgestreckt in ihrem Liegestuhl.

Vor François standen der Tisch und der orange-farbene Sonnenschirm mit Fransen. Marthe, die gerade Kaffeekanne und Tassen abgestellt hatte, ging wieder zum Haus. Man hörte ihre Schritte auf dem Ziegelweg.

Bébé stand am Tisch. François betrachtete sie mit seinen kleinen listigen Augen, deren Ausdruck viele Leute hart fanden. Kam das daher, weil er die Dinge nur so sehen wollte, wie sie waren?

Zum Beispiel seine Frau, mit dem lächerlichen Beinamen Bébé! Sie stand mit dem Rücken zu ihm. Wie François an der Haltung ihrer Arme erkennen konnte, goß sie den Kaffee in die Tassen; was vor ihr war, konnte er nicht sehen. Sie wirkte in diesem Augenblick ausgesprochen graziös: eine biegsame, etwas lässige Gestalt, die das hellgrüne, in Paris bestellte Kleid nur noch vorteilhafter betonte.

François schaute in diesem Augenblick nur wegen dem Kleid auf seine Frau. Es fiel ihm auf, daß es ziemlich durchsichtig war. Im Gegenlicht zeichneten sich deutlich ihre dünnen Beine und die Schenkel ab, und man sah genau, wo die Unterwäsche aufhörte. Bébé trug hauchdünne Seidenstrümpfe, auf die sie auch auch dem Lande unter keinen Umständen verzichten wollte. Und diese Frau, die seit Monaten keine Gelegenheit gehabt hatte, sich vor einem Mann auszuziehen, trug raffiniertere Unterwäsche als eine große Kokotte.

Als praktisch veranlagter Mensch, der er war, fiel ihm das zuerst ein, ganz einfach, so, wie man eine Tatsache konstatiert. Er war weder entrüstet noch traurig darüber. Er war nicht geizig.

Als er bei diesem Gedankengang an das Nacktsein dachte, fiel ihm auch ein, daß Bébé zwar graziös war und ein hübsches Gesicht hatte, ihr Körper aber langweilig, passiv und nachgiebig und ihre Haut von wenig verführerischer Blässe war.

»Ein Stück Zucker, Mama?«

Nein: Vorher hatte sie noch etwas gesagt, das François wieder einfiel und ihm hätte auffallen müssen. Jeanne lag da wie eine Odaliske, hatte sich eine Zigarette angezündet und sagte:

»Bringst du mir einen Schlehenlikör, Félix?«

François konnte Félix nicht sehen. Er stand wahrscheinlich hinter ihm. Er hätte eigentlich an den Tisch kommen müssen. Aber Bébé hatte auffallend lebhaft gesagt:

»Bleib sitzen, Félix. Ich mache das schon.«

Warum, wo sie sich doch lieber bedienen ließ als selber bediente? Damit niemand sehen konnte, was auf dem Tisch vor sich ging! Dieser war so plaziert, daß alle Sessel auf einer Seite standen und Bébé niemand vor sich hatte. Gleich danach hatte sie gefragt:

»Ein Stück Zucker, Mama?«

François war nicht erschrocken. Er hatte auch nicht die Stirn gerunzelt. Er reagierte viel unauffälliger, beinahe überhaupt nicht. Nur seine Augen hatten sich bewegt, gerade so viel, um seine Schwiegermutter anzusehen. Noch jetzt hatte er den Eindruck, daß sie gerade den Mund aufmachen wollte, um etwas zu sagen, es aber nicht tat, weil sie merkte, es war nicht der Mühe wert! Wenn sie etwas gesagt hätte, dann bestimmt dies:

»Weißt du immer noch nicht, wieviel Stückchen Zucker ich nehme, wo du seit siebenundzwanzig Jahren meine Tochter bist?«

Sie sagte es nicht, es war unwichtig. Aber es wäre ihre Art gewesen.

Vermutlich hatte Bébé angefangen, Kaffee in die fünf Tassen einzugießen. Auf La Châtaigneraie nahm man nur Zuckerstückchen, die in Papier eingewickelt waren.

Deshalb hatte Bébé wohl gemeint, irgend etwas sagen zu müssen: um das Schweigen zu überbrücken, die Aufmerksamkeit nach Art der Taschenspieler von dem, was man gerade tut, abzulenken! Ob ihre Hände etwas zitterten? Ob ihr eng im Hals wurde?

François sah sie nur von hinten und konnte es nicht wissen. Jedenfalls hatte sie in ihrer Hand, die alle so bewunderten, bestimmt ein kleines Stück Papier, in dem ein weißes Pulver war.

»Ein Stück Zucker, Mama? Und du, François, zwei?«

Natürlich wußte sie, wieviel Stück Zucker ihr Mann nahm. Aber als sie allen den Rücken kehrte, mußte sie Gewißheit haben, daß jeder an seinem Platz saß, während sie das Papier von den zwei Zuckerstückchen abmachte und gleichzeitig das weiße Pulver aus dem anderen Papier hineinschüttete.

Der Beweis dafür war, daß sie danach weder ihre Schwester noch Félix deswegen gefragt hatte. Wenn man noch länger überlegte, hätte man noch hundert Beweise gefunden: Außerdem vergaß sie den Schlehenlikör für Jeanne, wo sie doch Félix daran gehindert hatte, ihn zu bringen.

François hatte diese Vorgänge zwar nicht in allen Einzelheiten beobachtet und in ihrer ganzen Bedeutung erfaßt, doch hatte er etwas Ungewöhnliches, Verdächtiges, ja sogar Bedrohliches gespürt.

Warum hatte er nicht reagiert? Weil es einem bei solchen Vorahnungen wahrscheinlich immer so geht.

Er hatte auch nichts gesagt, als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte und er ihm nicht geschmeckt hatte. Er wollte etwas sagen … Warum hatte er nichts gesagt? Weil er für gewöhnlich seine Gedanken für sich behielt. Weil es außer seinem Bruder Félix niemanden gab, mit dem er die geringste Gemeinsamkeit hatte.

Er machte sich nichts vor. Er war ein praktisch denkender Mensch ohne viel Phantasie. Er fühlte sich auf La Châtaigneraie nicht mehr zu Hause als in einem Hotelzimmer, und dort auf dem Land hatte nur die Nase seines Sohnes Ähnlichkeit mit ihm. Allerdings schien der Junge seit einiger Zeit verstört zu sein, wenn sein Vater da war.

Als sie sich endlich hinsetzen konnte, war Bébé sicher erleichtert, denn sie trank ihren Kaffee, ohne ein Wort zu sagen.

Wer hätte an Vergiftung gedacht! Es war ein Sonntagnachmittag im Familienkreis mit seinem ganzen wunderbaren Nichtstun und den langen Pausen, in denen jeder, vergraben in seinem Sessel, in seine Gedanken versunken war. Und wer zuerst etwas sagte, schien als erster von einer Reise ohne Erlebnis zurückgekommen zu sein.

François schlief nicht, war aber auch nicht mehr ganz wach, als er eine unbestimmte Übelkeit spürte, die allmählich auf den ganzen Körper übergriff.

»Verdauungsstörung«, dachte er zuerst. »Es ist der Kaffee. Soll ich aufstehen und mich übergeben?«

Diese Aussicht verdroß ihn, und gleich danach packte ihn eine Art Schauder im Nacken. Seine Schläfen klopften.

Er war nie krank gewesen. War er am Morgen zu lang in der Sonne geblieben, als er den Tennisplatz walzte?

Es wurde schlimmer. Er fing an zu schwitzen. Zum erstenmal in seinem Leben war ihm, als ob er sein Rückenmark in der Wirbelsäule spüre. Er wurde nicht gern von anderen gestört und störte seinerseits nicht gerne. Er stand, ohne etwas zu sagen, auf und hatte nur Angst, es nicht mehr bis zum Haus zu schaffen. Schon als er über das freie Gelände ging, dessen Rot ihm aggressiver denn je vorkam, sagte er sich:

»Das ist unmöglich.«

Symptome einer Arsenvergiftung. Er kannte sie. Er war Chemiker. In diesem Fall …

Im Eßzimmer rannte er beinahe Marthe um, die das Geschirr in den Schrank räumte. Er sagte nichts zu ihr, aber er sah ihren erstaunten Blick, als er an ihr vorbeiging. Er mußte schnell machen. Im Bad fand er gerade noch Zeit, seinen Kragen, seine Weste herunterzureißen und einen Finger in den Mund zu stecken.

Er übergab sich etwas, es brannte. Er erbrach sich auf die Fliesen, aber das war jetzt nicht wichtig. Dann erschrak er über die Kälte, die ihn ganz steif werden ließ und rief durch das Fenster:

»Félix!«

Er hatte Angst vor dem Sterben. Er hatte Schmerzen. Er wußte, daß es noch viel entsetzlicher werden würde und dachte währenddessen immer:

»Sie hat es also getan …«

Bébé hatte niemals gedroht, ihn zu töten. Er hatte nie daran gedacht, daß sie ihn eines Tages vergiften würde. Trotzdem war er kaum erstaunt. Er war auch nicht empört. Im Grunde war er seiner Frau nicht einmal böse.

»Was hast du?«

»Hol zuerst den Doktor. Ganz dringend.«

Armer Félix! Lieber hätte er selber Schmerzen gehabt, als seinen Bruder leiden zu sehen!

»Kommt er? Gut. Hol Milch aus dem Kühlschrank. Sag den Mädchen nichts.«

Er war zufrieden mit sich. Dachte er nicht an alles? Tat er nicht alles Erforderliche, ohne dabei den Kopf zu verlieren? Und die drei Frauen saßen noch immer draußen unter dem orangefarbenen Sonnenschirm!

Was dachte Bébé, wenn sie zum offenen Fenster hinaufsah?

So war es also … All die Jahre … Und niemand hatte etwas geahnt, nicht einmal er! Er hatte sich getäuscht wie alle anderen oder vielmehr hatte er nichts gesehen …

Das stimmte nicht. Hatte er nicht auch, wie bei den Zuckerstückchen, manchmal eine Vorahnung gehabt … Er hatte aber nicht begreifen wollen und …

Er blieb bei Bewußtsein, aber trotzdem verschwamm alles, der Doktor, der entsetzte Félix, das Auspumpen des Magens, die kalten Fliesen im Bad, seine Arme, die gleichmäßig bewegt wurden, und jemand, der wie ihm schien, auf seiner Brust saß.

Der Doktor sagte zu Félix:

»Ihr Bruder wurde mit einer starken Dosis Arsen vergiftet. Er kommt vielleicht …«

»Das ist unmöglich! Wer hätte es tun sollen?« schrie Félix. »Wir haben den Tag im Kreis der Familie verbracht, niemand war da …«

François machte sich selbst etwas vor, denn er versuchte, ein ironisches Lächeln zustande zu bringen.

»Sie müssen einen Krankenwagen rufen. In welche Klinik soll er gebracht werden?«

Krämpfe peinigten ihn. Feuer rann in seinen Eingeweiden und während sich sein Gesicht vor Schmerzen verzerrte, mühte er sich ab:

»Nicht in die Klinik.«

Wegen Doktor Jalibert. Seine Klinik war noch nicht fertig. Wenn François woanders hinginge, wäre Jalibert verärgert, denn das würde bedeuten, er ließe sich von einem seiner Kollegen behandeln. Die Leute in der Stadt würden das nicht verstehen.

»Ins Krankenhaus Saint-Jean.«

Der Doktor, ein tüchtiger, gewissenhafter Mann, sagte:

»Ich bin verpflichtet, die Staatsanwaltschaft zu benachrichtigen. Am Sonntag ist das Gericht zwar geschlossen. Aber ich kenne den stellvertretenden Staatsanwalt und werde … Er hat, glaube ich, die Nummer 18–80. Monsieur Donge, können Sie mich mit 18–80 verbinden lassen?«

Da hatte François gesagt oder glaubte, gesagt zu haben:

»Ich will unter keinen Umständen, Doktor …«

___________

Eine Familie war gerade hinter dem Zaun vorbeigegangen. Der Vater trug einen Jungen auf den Schultern. Die Mutter zog den anderen hinter sich her. Es roch nach Straßenstaub, nach Schweiß, nach warmgewordenen Schinkensandwichcs und verdünntem Wein in Kürbisflaschen.

Wieder läuteten die Glocken, vielleicht zum Ende der Vesper, als das Auto kam, weiß mit einem roten Kreuz und kleinen Milchglasfenstern an den Seiten. Das Tor stand offen. An den drei Frauen vorbei fuhr das Auto bis an die Freitreppe, und ein Krankenwärter in weißem Kittel sprang heraus.

Es war nichts Besonderes und doch schnürte es einem die Kehle zu. Mit einem Schlag nahm die Tragödie Besitz vom Haus, wurde greifbar in Form eines Autos, seiner Farbe, eines Zeichens und eines Krankenwärterkittels.

Der mächtige Busen Madame d’Onnevilles hob sich. Die Mutter schaute ihre Tochter streng an, die dastand, ohne sich zu bewegen.

»Man könnte meinen, es rührt dich überhaupt nicht, was hier vor sich geht …«

Sie fand die Ruhe Bébés entsetzlich. Sie schaute sie mit großen Augen an, als ob sie sie noch nie gesehen hätte.

»François und ich haben schon lange nichts mehr gemein.«

Jetzt war es an Jeanne, ihre Schwester anzusehen mit einem scharfen, durchdringenden Blick, der Bébé in Verlegenheit brachte. Dann stürzte Jeanne zur Treppe und erklärte:

»Ich will wissen, was hier vorgeht.«

Der Krankenwärter und der Doktor stützten François, der leichenblaß war und dessen Kopf auf die Schulter fiel.

»Félix«, rief Jeanne und packte ihren Mann am Arm.

»Laß mich …«

»Was hat er?«

»Willst du es wissen? Sag! Willst du es wissen?«

Félix brüllte und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen oder seine Frau zu schlagen, sondern den beiden anderen zu helfen, François in den Wagen zu heben.

»Deine Kröte von Schwester hat ihn vergiftet!«

Noch nie in seinem Leben hatte er ein so gemeines Wort gesagt, denn er haßte jede Art von Brutalität.

»Félix … Was sagst du da? Hör zu …«

Bébé Donge stand höchstens fünf Schritte weiter weg, ganz gerade. Die Sonne schien in ihre blonden Haare, die sie noch künstlich blondieren ließ, sie wirkte ätherisch in ihrem grünen Kleid; eine Hand hing herunter, die andere lag auf ihren kleinen, wenig festen Brüsten. Sie sah zu.

»Bébé! Hast du gehört, was Félix…«

»Jeanne … Bébé …«

Madame d’Onneville hatte es auch gehört. Ihre ganze hauchdünn bekleidete Fülle schwankte. Sie würde gleich umfallen, aber sie hielt sich aufrecht, so gut es ging, denn sie merkte, daß sich keiner um sie kümmern würde. Félix war in den Wagen gestiegen.

»Félix! Laß mich mitfahren.«

Er schaute sie so hart, so haßerfüllt an, als ob sie Bébé sei und versucht hätte, ihn.zu vergiften, wie ihre Schwester es getan hatte.

Das Auto fuhr an. Doktor Pinaud war auf den Sitz gestiegen. Er gab dem Chauffeur ein Zeichen, noch einmal anzuhalten, und beugte sich zu Jeanne hinunter.

»Es wäre besser, wenn Sie auf Ihre Schwester aufpassen und warten, bis…«

Das Ende des Satzes konnte man nicht verstehen, denn der Chauffeur, der glaubte, das Gespräch sei zu Ende, war wieder angefahren und schitt die Kurve.

Als Jeanne sich umsah und wieder etwas erkennen konnte, hatte sich im Garten alles verändert. Madame d’Onneville hatte sich in einen Korbsessel fallen lassen und weinte leise vor sich hin und tupfte ihr Gesicht mit einem Spitzentaschentuch ab.

Die Kinder kamen vom Tennis. Jacques war ein paar Schritte neben seiner Mutter stehengeblieben. Hatte er etwas gehört? Hatte ihn der Anblick des Ambulanzwagens so erschreckt?

»Mama, was ist mit Onkel?«

Bertrand zog seine Mutter am Kleid; die kleine Jeanne hatte sich ins Gras gesetzt.

»Marthe!« rief Bébé Donge. »Marthe! Wo bleiben Sie denn?«

»Hier bin ich, Madame.«

Sie wischte sich mit dem Schürzenzipfel die Augen. Wahrscheinlich wußte sie nichts, aber sie weinte einfach, weil gerade ein Krankenwagen dagewesen war.

»Kümmern Sie sich um Jacques! Gehen Sie mit ihm bis zu den Quatre-Sapins.«

»Ich habe aber keine Lust«, erklärte der Junge.

»Haben Sie verstanden, Marthe?«

»Ja, Madame.«

Bébé Donge war immer noch so ruhig, daß es einem unbegreiflich schien, und ging zur Treppe.

»Eugénie …«

Zum erstenmal seit vielen Jahren redete Jeanne ihre Schwester mit ihrem richtigen Vornamen an, denn Bébé hieß wie ihre Mutter Eugénie.

»Was willst du?«

»Ich muß mit dir reden.«

»Ich habe dir nichts zu sagen.«

Sie ging langsam die Stufen hinauf. War sie in Wirklichkeit verstörter, als sie aussah, und zitterten ihr die Knie unter dem grünen Kleid? Jeanne ging ihr nach. Sie trafen im Eßzimmer zusammen, in dem die Jalousien während der heißen Stunden des Tages heruntergelassen waren.

»Du mußt mir wenigstens sagen…«

Bébé drehte sich müde nach ihr um. In ihrem Blick lag schon die tragische Gelassenheit jener, die wissen, daß sie von nun an niemand mehr versteht.

»Was willst du wissen?«

»Stimmt das?«

»Daß ich ihn vergiften wollte?«

Sie sagte das einfach so, ohne Abscheu.

»Er hat es gesagt, nicht wahr?«

Dahinter verbarg sich eine Absicht; Jeanne hörte sie zwar heraus, durchschaute sie aber nicht. Es war ihr auch später nicht gelungen, es herauszubekommen. Er hatte einen großen Anfangsbuchstaben. Bébé redete nicht von irgendeinem Mann, auch nicht von ihrem Mann. Sie redete von Ihm.

Und sie war Ihm nicht böse, daß er sie beschuldigte. Vielleicht täuschte sich Jeanne. Sie hielt sich in psychologischen Dingen nicht für besonders begabt. Aber diese Befriedigung … Ja. Bébé schien befriedigt zu sein, daß François sie des versuchten Giftmordes anklagte. Sie wartete auf eine Antwort ihrer Schwester. Mit einem Fuß stand sie schon auf der Treppe. Die Eidechsenschuhe in einem dunkleren Grün waren auf die Farbe des Kleides abgestimmt.

»Ist es wahr?«

»Warum soll es nicht wahr sein?«

Sie ging, da sie die Unterhaltung für beendet hielt, ohne Eile die Treppe hinauf und hielt dabei mit einer sehr weiblichen Handbewegung ihren halblangen und sehr weiten Rock hoch.

»Bébé!«

Sie ging weiter.

»Bébé, ich hoffe, du wirst nicht …«

Bébé war schon oben angelangt, ihr Kopf lag im Halbdunkel. Sie hielt ein, drehte sich um.

»Hab keine Angst, meine arme Jeanne. Wenn jemand nach mir fragt, ich bin in meinem Zimmer.«

Dieses Zimmer war mit Satin bespannt und glich dem Innern einer luxuriösen Bonbonniere. Bébé betrachtete sich unwillkürlich in dem dreiteiligen Spiegel, in dem sie sich von oben bis unten besehen konnte. Mit einer ihr gewohnten Bewegung hob sie ein wenig die Haare hoch, dabei waren ihre ausrasierten Achselhöhlen zu sehen. Ein absichtlich offengelassener Spalt zwischen den Fensterladen ließ nur wenig Sonne hinein, die ein Dreieck auf einen kleinen lackierten Sekretär zeichnete. Ein Wecker auf dem Nachttisch zeigte zehn Minuten nach vier Uhr.

Bébé Donge setzte sich an den Sekretär, öffnete ihn wie jemand, der sehr müde ist, und holte einen Block mit bläulichem Papier heraus.

Es sah aus, als ob sie einen schwierigen Brief zu schreiben hätte. Mit dem Ende des Federhalters am Kinn schaute sie geistesabwesend auch die Fensterladen, hinter denen in der Sonne Fliegen herumschwirrten.

Endlich fing sie an, zu schreiben, in der langen schrägen Schrift einer Internatsschülerin:

jeden Morgen seinen Lebertran nicht vergessen. Dosis allmählich erhöhen, wenn es kühler wird.

Jeden dritten Tag Porridge anstatt Kakao zum Frühstück, aber nicht soviel zuckern wie letztes Mal (drei Stücke genügen).

Ihm nicht mehr seine Wildlederschuhe anziehen, die nicht mehr dicht sind. Anfpassen, daß er nicht im nassen Gras herumläuft. Vor allem im September sehr darauf achten! Ihn auch nicht bei Nebel hinauslassen.

Aufpassen, daß keine Zeitungen im Haus herumliegen, auch keine Zeitung, in die Lebensmittel eingewickelt waren. Nicht leise reden in den Ecken oder hinter der Tür. Kein bestürztes Gesicht machen.

Im linken Schrank in seinem Zimmer ist

Manchmal hob sie den Kopf und lauschte. Obwohl sie niemanden hatte heraufkommen hören, vernahm sie einmal ihre Schwester auf dem Flur draußen:

»Bist du da?«

»Laß mich … Ich habe zu tun…«

Jeanne wartete noch ein bißchen, hörte bestimmt, wie die Feder auf dem rauhen Papier kratzte und ging wieder hinunter.

12. Aufpassen, daß Clo, die ziemlich geschwätzig ist, nicht im Dorf einkauft. Alles per Telefon bestellen. Die Lieferanten selber empfangen, und niemals in Jacques’ Gegenwart

Ein Auto … Nein, es war noch nicht … Es fuhr auf der Hauptstraße vorbei und hielt nicht bei La Châtaigneraie. Der Wind hatte mit Sonnenuntergang gedreht, denn man hörte manchmal das Grammophon aus der Wirtschaft unten aus Ornaie. Der Sonnenstrahl auf dem Sekretär war nun dunkler.

»Aber nein, Mama, sie ist nicht verrückt. Es gibt bestimmt Dinge, die wir nicht wissen … Bébé war immer verschlossen…«

»Sie war nie gesund.«

»Das ist keine Entschuldigung. Wenn du sie nicht so verwöhnt hättest …«

»Sei still, Jeanne. Man muß nicht gerade heute … Glaubst du wirklich, sie … Aber dann …«

Madame d’Onneville nahm ihre Kraft zusammen, richtete sich auf und schaute zum weißen Portal hinunter, das offenstand.

»Sie werden kommen und sie verhaften. Das ist doch nicht möglich … Denk an die Schande …«

»Beruhige dich, Mama. Kann ich etwas dafür?«

»Ich kann es einfach nicht glauben, daß soeben, in Anwesenheit meiner Tochter, hier …«

»Aber doch, Mama.«

»Du bist also auch gegen sie?«

»Aber nein, Mama.«

»Du hast ja auch einen Donge geheiratet! Ich würde mich nicht unter die Leute wagen. Morgen steht es sicher in der Zeitung.«

»Übermorgen, weil heute Sonntag ist und …«

Die Ankunft eines Taxis aus der Stadt war beinahe genauso beeindruckend wie das plötzliche Auftauchen des Krankenwagens vorher. Es fuhr zuerst am Portal vorbei. Doktor Pinaud saß drinnen und gab dem Fahrer ein Zeichen. Dieser glaubte, er dürfe nicht auf das Anwesen fahren, fuhr kurz rückwärts und hielt an.

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Das Krankenhaus war ein stattliches Gebäude aus dem 16. Jahrhundert mit hohen, spitzen Dächern, mit Ziegeln, die sich im Lauf der Zeit bunt gefärbt hatten, mit weißen Mauern, großen Fenstern mit kleinen Scheiben und einem schattigen Innenhof mit Platanen. Alte Männer in graublauer Anstaltskleidung liefen langsam von einer Bank zur andern, der eine mit einem Verband am Bein und einem Stock in der Hand, der andere mit verbundenem Kopf, der andere gestützt von einer Schwester mit Haube.

Man hatte François in den Operationssaal gebracht, der Einfachheit halber. Doktor Levert, der telefonisch gerufen werden war, stand schon da und hatte bereits seine Gummihandschuhe an. Alles war vorbereitet, um den Magen auszupumpen und die anderen Behandlungen durchzuführen.

François hatte sich geschworen, nicht zu jammern. Zwei Morphiumspritzen hatten ihn nicht völlig betäubt, und er schämte sich, nackt wie eine Leiche vor einer jungen Krankenschwester zu liegen. Gern hätte er auch Félix beruhigt, der die Nerven verlor und dem der Arzt drohte, ihn hinauszuwerfen.

Er hatte die Augen geschlossen, als er plötzlich das Stückchen Papier sah. Er entdeckte es buchstäblich. Er lag nicht mehr im Krankenhaus Saint-Jean in der Nähe des Kanals, sondern im Park von La Châtaigneraie, und der rote Weg löste sich auf in eine riesige sonnenbeschienene Pfütze. Die Füße des Gartentisches warfen Schatten. Und dort, zwischen zwei Schatten, lag ein Städtchen zerknülltes Papier. Er hatte es gesehen. Der Beweis dafür war, daß er es wieder sah und nicht im Delirium lag. Wohin sollte Bébé es auch stecken, nachdem sie das Gift in die Tasse geschüttet hatte? Sie hatte keine Tasche an ihrem Kleid. Sie hatte auch keine Handtasche dabei. Sie hatte es in der feuchten Hand zu einer Kugel zusammengerollt und fallen lassen, wobei sie sich wahrscheinlich sagte, daß ein Stückchen Papier im Garten nicht weiter auffiel.

Ob das Papier noch dort lag? Ob sie es geholt und verbrannt hatte?

»Versuchen Sie, einen Augenblick stillzuhalten…«

Er biß die Zähne zusammen und schämte sich, daß er trotzdem schreien mußte. Im gleichen Augenblick stöhnte auch Félix.

___________

»Ist Madame Donge zu Hause?«

Er war sehr groß und hager, trug einen grauen Anzug aus schlechter Wolle, der offensichtlich von der Stange gekauft war. Er hielt seinen Hut in der Hand, während der Doktor den seinen auf dem Kopf behielt.

»Sie wollen meine Schwester sprechen? Sie ist auf ihrem Zimmer. Wenn Sie es wünschen, werde ich ihr Bescheid sagen …«

»Sagen Sie ihr, Inspektor Janvier von der Brigade Mobile ist da.«

Es war ja Sonntag. Der Kommissar nahm im Nachbardorf an einem Billardwettbewerb teil. Auch der stellvertretende Staatsanwalt war wegen der unmittelbar bevorstehenden Niederkunft seiner Frau unabkömmlich und telefonierte andauernd.

»Hast du dich eingeschlossen?«

»Aber nein … Dreh am Türknopf.«

Es stimmte. Jeanne drehte in der Aufregung den Knopf in die verkehrte Richtung. Bébé Donge saß noch immer da und las durch, was sie geschrieben hatte.

»Wieviel sind es?«

»Nur einer.«

»Will er mich gleich mitnehmen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Schick Marthe zu mir, ja?«

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»Meine Schwester kommt gleich.«

Der Doktor sprach leise mit dem Inspektor, auf den das tadellos gebohnerte Parkett sichtlich Eindruck machte. Jeanne merkte, daß seine Schuhe geflickt waren, obgleich man es kaum sah.

»Nehmen Sie den schweinsledernen Koffer, Marthe … Nein, lieber den Flugkoffer, der ist leichter. Packen Sie Unterwäsche für einen Monat ein, zwei Morgenrödse, meine … Warum weinen Sie?«

»Es ist nichts, Madame.«

»Kleider …«

Sie öffnete einen Schrank und suchte die Kleider aus, die sie mitnehmen wollte.

»Für alles andere habe ich Ihnen Anweisungen hinterlassen. Schreiben Sie mir alle zwei Tage und berichten Sie, was hier vor sich geht. Schreiben Sie mir auch die kleinsten Kleinigkeiten … Wo haben Sie Monsieur Jacques gelassen?«

»Er ist mit seinem Kusin und seiner Kusine zusammen.«

»Was haben Sie ihm gesagt?«

»Daß Monsieur einen Unfall hatte und daß es nichts Schlimmes sei …«

»Was machen sie gerade?«

»Jacques zeigt ihnen, wie er heute morgen den Fisch gefangen hat.«

»Ich gehe hinunter. Wenn der Koffer gepackt ist, bringen Sie ihn.«

Als sie auf das Bett schaute, wollte sie sich am liebsten, wenn auch nur für ein paar Minuten, ausstrecken.

»Marthe … Da fällt mir ein … Ich hätte es beinahe vergessen … Wenn Monsieur vor mir nach Hause kommen sollte …«

Das Zimmermädchen brach in Schluchzen aus.

»Kann man Ihnen nicht einmal zwei Worte sagen? Passen Sie auf, daß sich, was Jacques betrifft, nichts ändert. Befolgen Sie meine Anweisungen. Verstehen Sie? Es gibt Dinge, auf die Monsieur überhaupt nicht achtet.«

___________

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie warten ließ, Herr Kommissar.«

»Inspektor. Ich bin hier, bis die Staatsanwaltschaft kommt.«

Er zog eine silberne Uhr aus der Tasche.

»Sie werden bald da sein. Wenn Sie erlauben, könnte ich Sie in der Zwischenzeit schon einmal vernehmen …«

»Soll ich draußen warten?« fragte der Doktor, der immer noch seinen Angelanzug anhatte und dessen genagelte Schuhe Spuren auf dem Parkett hinterließen.

»Wenn Sie so gut sein wollen. Die Herren werden Sie als Zeugen brauchen.«

Der große Inspektor hatte ein lächerlich kleines Heft aus seiner Tasche geholt, mit dem er nichts anzufangen wußte.

»Wenn Sie schreiben wollen, gehen wir besser in das Büro meines Mannes … Wenn Sie mir folgen wollen …«

Wenn nun plötzlich ihr Herzscblag ausgesetzt hätte und sie auf den Boden gefallen wäre? Dann hätte es bestimmt keine Bébé Donge mehr gegeben.

3

Nach den erbärmlichen Ängsten, dem Klingeln, den Behandlungen, den nächtlichen Schweißausbrüchen, nach der ekligen Unordnung und dem üblen Geruch in den frühen Morgenstunden tat es gut, in einem endlich ruhiger gewordenen Krankenhaus in einem sauberen Bett zu liegen, nur Sauberkeit um sich zu sehen, weiße Laken, einen Fliesenfußboden ohne Flecken, die Medizinfläschchen in einer Reihe auf dem Glastischchen.

Das laute Hin und Her der Krankenwärter, das Stöhnen der Kranken, deren Wunden man untersuchte, wurde abgelöst von dem gedämpften Schritt der Schwestern auf dem Gang und dem Klappern ihres Rosenkranzes.

François fühlte sich so leer wie noch nie, so leer und sauber wie ein Tier, dem der Metzger seine Eingeweide, all seine Weichteile gerade herausgenommen und danach sorgfältig die Haut abgewaschen und geschabt hat.

»Darf man hereinkommen? Ich habe gerade Doktor Levert getroffen, und er sagte mir, daß Sie außer Lebensgefahr sind …«

Schwester Adonie war eingetreten und wollte sich mit einem Lächeln nach dem Zustand ihres Patienten erkundigen. Sie war klein, rundlich und redete mit starkem Cantaler Akzent, soweit François das beurteilen konnte. Er sah sie nicht anders an wie alles andere auch, ohne sich zu bemühen, ohne das Bedürfnis, sie anzulächeln, und Schwester Adonie legte das, wie schon viele andere vor ihr, falsch aus.

Sie meinte, er sei verzweifelt über die Tat seiner Frau, oder dachte sie, er mag keine Nonnen? Sie gab sich Mühe, sein Zutrauen zu gewinnen.

»Soll ich das Fenster ein bißchen aufmachen? Von Ihrem Bett aus können Sie ein Stückchen vom Garten sehen. Man hat Ihnen das schönste Zimmer gegeben, Nummer 6. Sie sind für uns der Herr von Nummer 6. Denn wir nennen unsere Patienten nie mit Namen. Sehen Sie, die Nummer 3, die gestern entlassen wurde, lag mehrere Monate hier, aber ich habe ihren Namen nie erfahren …«

Arme Schwester Adonie! Sie tat, was sie konnte, ahnte aber nicht, daß François, als er sie so anschaute, sie sich unwillkürlich ohne ihre graue härene Kutte vom Orden des heiligen Joseph vorstellte. Es war nicht seine Absicht gewesen. Als sie hereingekommen war, hatte er sich überlegt, wie sie wohl ohne die Tracht aussähe, ohne die Haube, ohne dieses rosige, frische Gesicht: sie wäre eine stämmige Bäuerin, die wenigen Haare zu einem Knoten zusammengebunden, mit einem vorstehenden Bauch unter der blauen Schürze, einem zu kurzen Rock und Wollstrümpfen.

Er stellte sich vor, wie sie mit den Händen in den Hüften unter der Tür eines Bauernhauses, mitten unter Hühnern und Gänsen stehen würde.

Und Schwester Adonie, die merkte, wie gleichgültig er ihre Anwesenheit hinnahm, täuschte sich immer mehr in seinem Verhalten.

»Mein guter Mann, Sie dürfen nicht zu schnell den Stab brechen … Sie dürfen ihr nicht böse sein … Wenn Sie wüßten, was manchmal in den Köpfen der Frauen vorgeht! Sehen Sie, wir hatten eine, im Zimmer nebenan. Sie hatte versucht, aus dem Fenster zu springen. Sie behauptete, sie sei eine Mörderin, die ihr Kind erstickt habe, weil es nachts schrie. Sie mögen es glauben oder nicht … Ihr Kind war bei der Geburt gestorben. Sie hatte es nie gesehen. Ein paar Monate danach, nachdem sie in der ganzen Zeit normal zu sein schien, hatte sie sich eines Morgens beim Aufwachen eingebildet, sie hätte dieses Verbrechen begangen…«

»Ist sie geheilt worden?« fragte er ruhig.

»Sie bekam ein zweites Kind. Sie besucht uns manchmal, wenn sie hier in der Gegend spazierenfährt. Pst! Ich glaube, ich höre Schritte … Das wird jemand für Sie sein…«

»Es ist mein Bruder«, sagte er.

»Der arme Junge! Er hat die ganze Nacht auf dem Gang zugebracht. Es ist eigentlich nicht erlaubt, aber der Doktor hatte Mitleid mit ihm. Er ist erst um sechs Uhr gegangen, als man ihm versicherte, Sie seien außer Lebensgefahr. Geben Sie mir Ihre Hand.«

Sie fühlte seinen Puls, schien zufrieden zu sein.

»Ich werde ihn hereinlassen, aber er darf nur ein paar Minuten bleiben, und Sie müssen mir versprechen, vernünftig zu sein.«

»Ich verspreche es«, sagte er und lächelte endlich.

Félix hatte kein Auge zugetan. Um sechs Uhr, wie Schwester Adonie gesagt hatte, hatte man ihn förmlich zwingen müssen, das Krankenhaus zu verlassen. Er hatte ein Bad genommen, sich rasiert und umgezogen. Jetzt war er schon wieder da. Er stand am Ende des Ganges und war ungeduldig und gereizt, daß er wie ein Fremder warten mußte, bis er seinen Bruder François sehen durfte …

»Kommen Sie herein. Fünf Minuten, nicht länger! Und sagen Sie ihm nichts, was ihn aufregen könnte!«

»Ist er ruhig?«

»Ich weiß es nicht … Er ist kein Patient wie die anderen.«

Die beiden Brüder gaben sich nicht die Hand. Das brauchte es nicht zwischen ihnen.

»Wie fühlst du dich?«

Er zwinkerte mit den Augen, um zu sagen, daß alles gut ging. Dann kam die Frage, auf die Félix gewartet hatte:

»Hat man sie verhaftet?«

»Noch gestern abend. Fachot kam nach La Châtaigneraie. Ich fürchtete, es könnte peinlich werden. Aber sie hielt sich sehr gut.«

Der stellvertretende Staatsanwalt war einer ihrer Freunde, sie trafen sich beinahe jede Woche beim Bridge.

»Er war sehr verlegen … Er stotterte … Du weißt ja, wie er ist, wenn er nicht weiß wohin mit seinen langen Armen und einen Platz sucht, wo er seinen Hut ablegen kann.«

»Jacques?«

»Man hatte ihn woanders hingebracht. Jeanne ist auf La Châtaigneraie geblieben mit den Kindern…«

Félix log, François merkte es. Doch sagte er nichts und ließ sich nichts anmerken. Was verbarg man vor ihm?

Beinahe nichts. Nur eine Kleinigkeit. Es stimmte, daß alles ganz gut gelaufen war. Die Voruntersuchung war eigentlich nur eine Formalität gewesen. Fachot war mit seinem Privatwagen gekommen, zusammen mit dem Gerichtsschreiber und dem Gerichtsmediziner. Der Untersuchungsrichter — er war noch nicht lange in der Stadt — kam mit dem Taxi nach, denn er hatte selber kein Auto. Die Herren hatten vor dem Portal aufeinander gewartet und sich abgesprochen, bevor sie in den Park gingen.

Bébé Donge hatte schon Hut, Mantel und Handschuhe an und ging sofort auf sie zu; ihr Koffer stand schon fertig gepackt auf der Treppe:

»Guten Abend, Monsieur Fachot.« (Gewöhnlich sagte sie einfach Fachot, denn sie kannten sich ziemlich gut.) »Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereite. Meine Schwester und meine Mutter sind hier mit den Kindern. Ich glaube, es wäre das einfachste, wir gehen gleich. Ich leugne nichts. Ich habe versucht, François mit Arsen zu vergiften. Ach! Ich sehe von hier aus das Papier, in das es eingewickelt war.«

Sie war ruhig an den Tisch unter dem Sonnenschirm gegangen und hatte auf dem Ziegelweg, der in der untergehenden Sonne eine ganz dunkle Farbe bekam, ein ganz kleines Stückchen Seidenpapier, das zu einer Kugel zusammengeknüllt war, aufgehoben.

»Ich glaube, Sie können die Vernehmung meiner Mutter, meiner Schwester und des Personals auf morgen verschieben.«

Sie redeten untereinander. Der Polizeiinspektor wollte sein Entgegenkommen zeigen.

»Ich habe Madame Donge schon vernommen«, sagte er. »Ich schreibe das Protokoll noch heute abends ins Reine.«

»Haben Sie ein Taxi?« fragte Fachot den Inspektor. »Können Sie Madame Donge mitnehmen?«

Bei den vielen geparkten Autos konnte man meinen, auf La Châtaigneraie werde ein Cocktail gegeben, wie es schon oft vorgekommen war.

Es war schon vorbei. Man mußte nur noch in die Autos steigen.

Niemand in Ornaie ahnte etwas von dem Drama.

»Nehmen Sie meinen Koffer, Marthe!«

Sie ging als erste zum Portal, als Jacques angerannt kam. Die Haare hingen ihm in die Stirn. Man hatte es für besser gehalten, wenn er nichts erfahren würde. Seine Tante sollte sich um ihn und die anderen Kinder kümmern. Trotzdem fragte er und schaute seine Mutter mit ehrfürchtigem Staunen an:

»Stimmt es, daß du ins Gefängnis kommst?«

Er war eher neugierig als entsetzt. Sie lächelte ihn an, beugte sich hinunter, um ihm einen Kuß zu geben.

»Kann ich dich besuchen?«

»Aber ja, Jacques. Wenn du vernünftig bist …«

»Jacques! Jaques! Wo bist du?« rief Jeanne beunruhigt.

»Geh schnell zu Tante Jeanne. Und versprich mir, daß du nicht mehr angeln gehst.«

Das war alles. Sie verschwand im Taxi; die Herren hatten den Hut vor ihr gezogen, bevor sie in ihre Autos stiegen. Félix war etwas später ebenfalls im Auto gekommen. Er war immer noch sehr angespannt. François’ Zustand war noch ungewiß. Als er ins Haus kam, wo seine Schwiegermutter und seine Frau mit roten Augen saßen, hatte er schroff gefragt:

»Wo ist sie?«

Die Kinder waren beim Essen. Jeanne war aufgestanden und hatte zu ihm mit sanfter Gewalt gesagt:

»Komm in den Garten.«

Sie kannte diesen Ausdruck und das Zucken um den Mund.

»Hör zu, Félix. Es ist besser, wir reden jetzt darüber. Ich weiß nicht, was im Kopf meiner Schwester vorgegangen ist. Ich frage mich, ob sie nicht plötzlich verrückt geworden ist … Bébé war noch nie wie die anderen. Du weißt, wie sehr ich François mag. Geh wieder zu ihm. Übernachte ein paar Tage allein bei uns zu Hause. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mit den Kindern hierbleibe…«

Sie hatte ihn sanfter angesehen:

»Ich glaube, es ist besser so, nicht wahr?«

Sie hätte ihn gern umarmt, aber es wäre nicht der rechte Augenblick gewesen.

»Geh! Sag François, ich kümmere mich mit Marthe um Jacques. Gute Nacht, Félix.«

Etwa eine Stunde später telefonierte Madame d’Onneville nach einem Taxi. La Châtaigneraie bedrücke sie, gab sie vor; sie könne an nichts anderes mehr denken als an diese Vergiftung und würde nachts sicher kein Auge zutun.

»Ganz abgesehen davon habe ich meine Toilettensachen nicht dabei.«

Sie fuhr nach Hause. In einem der schönsten Häuser in der Stadt bewohnte sie eine Etage mit acht Zimmern.

»Nicole … Wir reisen morgen früh nach Nizza.«

»Sehr wohl, Madame.«

Nicole war ein boshaftes Frauenzimmer, und die beiden stritten sich wie zwei gleichaltrige Mädchen, obwohl sie erst neunzehn Jahre alt war.

»Hat Madame daran gedacht, daß ihr weißer Wollmantel noch in der Reinigung ist?«

»Geh morgen früh hin und hole ihn ab.«

»Und wenn er nicht fertig ist?«

»Hol ihn so wie er ist. Hilf mir beim Packen.«

So endete für Madame d’Onneville der Sonntag in großem Durcheinander von Kleidern und Wäsche.

»Fürchtet Madame nicht, es könnte zu heiß sein um diese Jahreszeit in Nizza?«

»Du sagst das wegen diesem Metzgerbengel, nicht wahr? Metzgerbengel hin oder her, du kommst mit nach Nizza, meine Liebe.«

Am nächsten Morgen schickte sie ein Telegramm an Madame Berthollat, die auf der Promenade des Anglais eine Pension besaß und bei der sie jedes Jahr ein paar Wochen logierte.

___________

Félix, dessen Nerven völlig überreizt waren, weil er nicht geschlafen hatte, ging in dem kleinen Zimmer hin und her:

»Ich frage mich, warum sie das getan hat. Ich kann es einfach nicht begreifen. Außer…«

Und François, der immer noch ruhig war, schaute ihn ungefähr so an wie vorhin Schwester Adonie:

»Außer …«

»Du weißt, was ich meine … Wenn sie erfahren hat, daß Lulu Jalibert …«

Félix wurde rot. Zwischen den beiden Brüdern gab es keine Geheimnisse. Sie arbeiteten zusammen. Sie hatten zusammen das Geschäft aufgebaut, das in der Stadt »die Firma Donge« hieß. Sie hatten zusammen geheiratet und die beiden Schwestern zur Frau genommen. Schließlich hatten sie bei gemeinsamer Kostenbeteiligung La Châtaigneraie umgebaut, wo beide Familien abwechselnd den Sommer über lebten. Es mußte erst zu einer Katastrophe kommen, daß Félix den Namen Lulu Jalibert auszusprechen wagte, die, wie beinahe die ganze Stadt wußte, François’ Geliebte war.

Dieser murmelte ohne die geringste Gemütsbewegung:

»Bébé ist nicht eifersüchtig auf Lulu Jalibert.«

Félix zuckte zusammen. Heftiger als beabsichtigt drehte er sich nach seinem Bruder um. Die Ruhe und Sicherheit in François’ Stimme verblüfften ihn:

»Wußte sie es?«

»Seit langem…«

»Hast du es ihr gesagt?«

François’ Gesicht verzog sich. Wieder durchfuhr ihn ein brennender Schmerz und kündigte eine neue Blutung an.

»Es war zu kompliziert«, stammelte er trotzdem.

»Entschuldige. Rufe die Schwester, ja?«

»Kann ich hierbleiben?«

Und François fand nur noch die Kraft, ihm ein Nein zu bedeuten.

Schmerzen und Behandlungen begannen von neuem. Die Atempause war nur kurz gewesen. Nach dem Wärter kam der Doktor. Eine Spritze und relative Beruhigung. Levert hatte etwas auf dem Herzen und wußte nicht, wie er anfangen sollte.

»Sie haben gerade keine Schmerzen, und deshalb will ich Ihnen eine etwas heikle Frage stellen … Es wäre mir lieber, ich müßte es nicht … Heute morgen bekam ich Besuch von meinem Kollegen Jalibert. Er hat von Ihrem … Ihrem Unfall erfahren. Er stellt sich Ihnen voll zur Verfügung. Er bot mir seine Dienste für den Notfall an … Wenn Sie also lieber in seine Klinik wollen …«

»Ich danke Ihnen.«

Sonst nichts. François hatte natürlich alles verstanden und wußte, was er sagen wollte. Aber es interessierte ihn nicht. Er war gerade ganz woanders mit seinen Gedanken.

Er war eigentlich ein realistisch denkender Mensch. Darüber waren sich alle einig. Einige hielten ihm vor, er sei zu nüchtern, es fehle ihm an Phantasie und Einfühlungsvermögen. Innerhalb weniger Jahre hatte er die kleine Gerberei des Vaters am Rande der Stadt, wo die Ufer des Flusses nur noch grasbewachsene Böschungen waren und von Anglern bevölkert wurden, zum Zentrum von zehn im Departement verteilten Unternehmen gemacht, die Hunderte von Arbeitern und Arbeiterinnen beschäftigten.

Diese Unternehmen waren scheinbar äußerst verschiedenartig, und vielleicht kannten nur er und Félix ihren inneren Zusammenhang: wegen der Gerberei mußte er Häute und Felle auf dem Land aufkaufen, wegen der Häute und Felle mußte er sich mit Tieren befassen und Kasein verwenden, das bis dahin nur als Abfallprodukt angesehen wurde und baute deshalb eine Fabrik für Plastikgegenstände. Man staunte, als er auch Becher, Salatbestecke, Fingerhüte, ja sogar Puderdosen herstellte.

Um an mehr Kasein zu kommen, mußte mehr Milch verarbeitet werden. Also hatte er einen Fachmann aus Holland kommen lassen, und ein Jahr später errichtete er am Rand der Stadt eine Fabrik für Käse aus Holland.

Käse …

Alles geschah planmäßig und überlegt, ohne jede Verbissenheit und ohne sich als Geschäftsmann aufzuspielen; doch konnte er dadurch La Châtaigneraie komfortabel einrichten und das Leben genießen.

Doch plötzlich, wie jetzt auch, als der Doktor mit ihm ernste Angelegenheiten besprach, schweiften seine Gedanken ab.

Trotzdem ging nicht die Phantasie mit ihm durch, und es war auch kein poetischer Gedankenflug. Er dachte ganz klar.

Félix hatte, als er von Fachot erzählte, der lächerlich gewirkt haben mußte, gesagt:

»Sie hat ihm gleich aus der peinlichen Situation herausgeholfen …«

Er hatte die Szene besser als Félix vor Augen, in all ihren Einzelheiten, sogar die violette Farbe der Schatten, denn er kannte La Châtaigneraie in jedem Tageslicht.

» … aus der peinlichen Situation herausgeholfen …«

Genauso hatte sich Bébé verhalten, als sie sich kennenlernten. La Châtaigneraie und die schwüle Luft über der fruchtbaren Landschaft verschwammen.

An deren Stelle rückte Royan, sein riesiges, weißes Kasino, sein heller Strand, der übersät war mit Badeanzügen und bunten Sonnenschirmen.

Am Roulette stand Madame d’Onneville, damals kaum weniger korpulent als heute, damals schon in duftigem Gewand, in einem weißen Kleid mit hauchdünnem Schleier oder Batistschal.

François kannte sie nur flüchtig. Er wußte nur, daß sie im gleichen Hotel wie er wohnte, im Royal, und daß sie, wenn sie verlor, die Croupiers mißtrauisch anschaute, weil sie überzeugt war, daß deren Tricks auf sie gemünzt waren.

Wie hieß die kleine Maus? Betty oder Daisy … Eine Tänzerin aus Paris, die jeden Abend in einer Bar in Royan auftrat. Sie hatte auch Roulette spielen wollen. François hatte ihr Geld geliehen, eine kleine Summe nach der andern.

»Verflixt! Jetzt habe ich aber genug vom Verlieren. Trinken wir etwas an der Bar … Kommst du, Liebling?«

Es wimmelte von Menschen, denn es war um den 15. August. Betty oder Daisy hatte eine schrille Stimme und trug einen berückenden Strandanzug.

»Gibt es wenigstens Chips? Ober … Einen Manhattan.«

Félix stand ebenfalls an der Bar in Begleitung zweier Mädchen, die François zu kennen glaubte. Erst nach einer Weile fiel ihm ein, daß es die beiden Töchter der Roulettespielerin mit den hauchdünnen Kleidern waren.

Félix, schüchtern wie er war, wußte nicht, ob er …

»Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Bruder François vorstelle? Fräulein Jeanne d’Onneville. Ihre Schwester, Mademoiselle … Ich muß gestehen, daß ich tatsächlich Ihren Vornamen vergessen habe.«

»Ich habe keinen mehr. Jeder nennt mich Bébé.«

Dies waren die ersten Worte, die François aus ihrem Munde hörte.

»Stellst du mich nicht vor? Du bist vielleicht höflich! …«

»Eine Bekannte, Mademoiselle Daisy …« (oder Betty …).

Die Menge drückte die kleine Gruppe an die hohe Theke aus Mahagoni. Félix war etwas verlegen und machte seinem Bruder durch Blicke die Situation klar: er machte Jeanne d’Onneville den Hof, einem pummeligen und gutmütigem Kind.

»Was meinen Sie? Sollen wir einen kleinen Spaziergang auf der Mole machen? Es ist so heiß hier drin!«

Eine banale und lächerliche Situation am Ende eines schönen Nachmittags. Der Zufall wollte es, daß Félix mit Jeanne vorausging. François lief hinter ihnen mit Daisy und Bébé, die noch nicht achtzehn Jahre alt war. Daisy wurde ungeduldig. Sie kam sich vor wie auf einem Familienspaziergang.

»Findest du das nicht komisch?«

»Dieser Sonnenuntergang ist wunderbar«, antwortete François ruhig.

»Am Abend gibt es Lustigeres …«

Sie war noch etwa hundert Meter mit ihnen gegangen, schwieg aber verstimmt.

»Verflixt nochmal! Ich mag nicht mehr! Bye, bye!«

Worauf sie in der Menge verschwand.

»Achten Sie nicht weiter auf sie, Mademoiselle!«

»Warum entschuldigen Sie sich! Das ist doch verständlich, oder?«

»Ach!«

Sie hatte es verstanden. Sie half ihm aus der Verlegenheit.

»Hat Ihr Bruder auch eine kleine Freundin?«

»Warum fragen Sie mich das?«

»Weil ich glaube, daß er meiner Schwester ernsthaft den Hof macht…«

Damals war sie noch dünner, ihre Beine noch länger, ihre Taille noch biegsamer, aber sie ließ sich durch nichts ablenken. Sie ließ einen nicht los mit ihrem Blick, ohne aber dabei zu lächeln, bis man verlegen wurde.

»Ihre Freundin wird Ihnen heute abend eine Szene machen. Entschuldigen Sie. Es ist wegen Ihres Bruders und meiner Schwester. Wenn ich meine Schwester nicht begleite, schimpft Mama mit mir.«

___________

Die Szene blieb nicht aus. Und vielleicht wäre ohne ein Wort von Daisy …

»Wenn du jetzt anfängst, dich nach kleinen Mädchen umzudrehen…«

Am nächsten Tag schaute François Bébé anders, irgendwie schüchterner an. Er benahm sich noch ungeschickter, als er merkte, daß auch ihr sein verändertes Benehmen auffiel. Ein Anflug von Ironie und Genugtuung lag in ihrem Blick. Auch in der Art, wie sie seinen Händedruck erwiderte.

»Ist Ihre Freundin sehr böse?«

»Das ist nicht so wichtig.«

»Wissen Sie, daß Ihr Bruder und meine Schwester, die sich jeden Tag sehen, sich bereits schreiben wollen? Wohnen Sie in Paris?«

»Nein, in der Provinz.«

»Ah! Wir haben bis jetzt in Konstantinopel gelebt. Weil mein Vater gestorben ist, gehen wir nicht mehr zurück. Mama besitzt ein Anwesen im Aube.«

»Wo?«

»In Maufrand. Eine gottverlassene Ecke. Ein alter Familienbesitz. Eine Art Landhaus, das restauriert werden muß.«

»Das liegt fünfzehn Kilometer von uns weg«, konstatierte er befriedigt.

Drei Monate später heirateten die beiden Brüder die beiden Schwestern in der Kirche von Maufrand. Im Winter zog Madame d’Onneville in die Stadt, weil sie sich in ihrem großen Haus, in dem es schimmelte, langweilte, und verbrachte jede Woche einen Tag bei ihren beiden Töchtern.

Es wäre nun aber alles nicht so gekommen, wenn Bébé François nicht auf der Hafenmole von Royan aus der peinlichen Situation geholfen hätte. Sie hatte es nicht ohne Absicht gemacht. Seitdem sie sich an der Bar des Kasinos begegnet waren, war sie zielstrebig vorgegangen. Davon war er überzeugt.

Vor ihnen lief ein Paar, das schon ganz wie ein Ehepaar aussah: Jeanne und Félix.

Sobald sie, Bébé und er, allein waren, hatte auch Bébé ihren Gang geändert. Es gibt eine Art, neben einem Mann herzugehen, sich bei der Unterhaltung ihm zuzuwenden und seinem Blick standzuhalten … Es gibt eine Art, sich ungezwungen zu geben, auch mitten unter vielen Leuten.

Bébé hatte es so gewollt.

War sie nicht enttäuscht, als er erklärte, er wohne nicht in Paris?

Sie wollte heiraten, wie ihre Schwester.

Sie wollte ihr Haus, ihre Dienstmädchen haben …

Das hatte er in seiner nüchternen Denkweise zehn Jahre lang angenommen. Nahm er es ihr übel? Das war vielleicht zuviel gesagt. Trotzdem schaute er sie manchmal genauso kritisch an, wie sie ihn in Royan angeschaut hatte. Und seit er sie das erste Mal besessen hatte, machte er sich keine Illusionen mehr.

»Ihr Körper ist zu nachgiebig«, hatte er festgestellt.

Er mochte ihren Körper nicht. Er mochte ihre zu weiße Haut nicht, auch nicht ihre passive Art sich hinzugeben und dabei die Augen offenzulassen und klare Pupillen zu behalten.

Sie hatte Bébé Donge werden wollen …

Zehn Jahre lang hatte er nichts anderes geglaubt. Sein ganzes Verhalten wurde von dieser Gewißheit bestimmt. Er war ein Mann, der, wenn er einmal die Wahrheit erkannt hatte, den logischen Ablauf mit allen Konsequenzen akzeptierte.

___________

»Der Untersuchungsridater hat mich heute früh angerufen und wollte wissen, wann er Sie vernehmen kann …«

François sah den Doktor an seinem Bett, der ein Thermometer in der Hand schüttelte.

»Ich glaube, es war gut, daß ich ihm sagte, Sie brauchten noch ein paar Tage Ruhe. Die Spülungen werden Sie erheblich schwächen. Der Richter bestand nicht weiter darauf. Wie er mir am Telefon erklärte, ist in dem Augenblick, in dem sie sich schuldig bekennt …«

Der Blick des Patienten verwirrte den Doktor, und er fragte sich, ob er gerade etwas Falsches gesagt hatte. Levert las in den Augen von Donge eine Art unschuldiges Erstaunen bei dem Wort »schuldig«.

»Entschuldigen Sie, daß ich davon gesprochen habe. Aber ich dachte, bei unseren freundschaftlichen Beziehungen …«

»Sie haben recht, Doktor.«

Es war genauso wie bei Schwester Adonie. Man täuschte sich in seiner Ruhe, in dieser beinahe glücklichen Heiterkeit, die François ausstrahlte, während jeder glaubte, er werde von quälenden Gedanken heimgesucht.

»Ich komme am frühen Nachmittag noch einmal vorbei. Nach der Spritze, die ich Ihnen gebe, werden Sie ein paar Stunden schlafen.«

Er schloß die Augen noch bevor der Doktor gegangen war. Er nahm nur undeutlich wahr, wie die Schwester das Fenster öffnete und die Markise aus grobem Segeltuch herunterließ. Er hörte Vögel zwitschern. Manchmal knirschte es auf dem Kiesweg, wenn ein Auto hielt. Patienten gingen spazieren und unterhielten sich, aber zu ihm drang nur undeutliches Stimmengernurmel. Die hellen Glocken der Kapelle. Dann, wahrscheinlich am Mittag, die tieferen Glocken des Refektoriums.

Er mußte den Faden in der Hand behalten, sehr weit zurückdenken und sich nicht über die kleinste Kleinigkeit hinwegtäuschen.

Und andauernd schoben sich Dinge dazwischen, die ihn am Nachdenken hinderten: Jacques mit seinem Fisch an der Angel, die gleißende Sonne auf dem roten Sand des Tennisplatzes, die Champignons, die er in der Stadt holen mußte, und das gestreifte Sonnendach des Café du Centre, im Schatten darunter die kleinen runden Marmortische mit ihrer Kupfereinfassung …

Als Jacques in der Klinik Doktor Péchins geboren wurde, der sich damals noch nicht nach Südfrankreich zurückgezogen hatte …

Die Atmosphäre war ähnlich wie hier im Krankenhaus. Am Morgen ließ man ihn im Garten warten, in dem lauter Tulpen blühten, denn es war April. Die Unruhe in den Zimmern und auf den Gängen drang bis zu ihm. Fenster wurden aufgemacht, und er erriet das Ende der morgendlichen Unordnung, alles war bereit für den kommenden Tag, die sauberen Laken, die abgeräumten Tabletts, die Babies, die man ihren Müttern brachte …

Sie saßen etwas blaß auf der Bettkante, und die Schwestern liefen von einem Zimmer ins andere.

»Sie können kommen, Monsieur Donge.«

So, wie Félix heute hereingekommen war, als er am Ende des Ganges ungeduldig hatte warten müssen. Man ahnt nichts von den Stunden vorher. Alles ist hell und sauber. Die Spuren des Leidens waren sorgfältig entfernt werden.

Das besorgte Lächeln Bébés… Denn es lag Besorgnis in ihrem Lächeln. Warum fiel ihm erst jetzt auf, daß es Besorgnis war?

Damals hatte er sich eingebildet…. Sie nahm ihm übel, daß er ein Mann war, daß er keine Schmerzen aushalten mußte, daß das Leben für ihn weiterging wie bisher, daß er, bevor er kam, ins Büro gegangen war und seine Geschäfte erledigt hatte. Wer weiß? Vielleicht hatte er die Freiheit ausgenutzt, die ihm…

Schwester Adonie kam auf Zehenspitzen zu ihm. Sie beugte sich über ihn, sah ihn ruhig daliegen und meinte, er schlafe. Täuscht man sich nicht immer notgedrungen in dem, was andere denken?

»Mama hat mich gestern besucht. Sie behauptet, der Kleine sei ein Donge und habe nichts von unserer Seite.«

Was hätte er sagen sollen, das er nicht gesagt hatte?

»Kümmert sich Clo einigermaßen um dich? Ist im Haus keine zu große Unordnung?«

Es war das Haus seines Vaters neben der Gerberei am Fluß. Er hatte es neu herrichten lassen, aber es sah immer noch altmodisch aus. Es hatte verwinkelte Flure, unzweckmäßige Wände, Zimmer, die tiefer lagen als andere … »Ich verirre mich dauernd in diesem Labyrinth!« sagte Madame d’Onneville immer wieder, die an die modernen Wohnungen in Pera gewöhnt war, deren Fenster auf das Goldene Horn gingen. »Ich frage mich, warum ihr nicht baut.«

Félix und Jeanne wohnten zwei Straßen weiter in einem etwas moderneren Haus, aber Jeanne mochte sich nicht um den Haushalt und auch nicht um die Kinder kümmern. Sie las und rauchte im Bett, spielte Bridge und nahm an Wohltätigkeitsveranstaltungen teil, weil es ihr Spaß machte.

»Wenn ich um acht nicht zu Hause bin, bringe bitte die Kinder ins Bett.«

Félix machte es.

Was war das für ein Lärm, für ein plötzliches Stimmengewirr, wie am Ende der Sonntagsmesse? Es war Besuchstag. Man hatte gerade die Türen geöffnet. Die Angehörigen der Patienten strömten in die Gänge und Säle, mit Weintrauben, Orangen und Süßigkeiten …

»Pst! Hier liegt ein Schwerkranker, der schläft.«

Schwester Adonie bezog Wache vor Nummer 6. Hatte François geschlafen? Er hatte das Büro des Untersuchungsrichters nie gesehen, doch stellte er es sich vor mit schlechter Beleuchtung und einer Lampe mit grünem Schirm auf dem Schreibtisch. Mit einem Aktenschrank in der Ecke. Warum einem Aktenschrank? Er wußte es nicht. Er sah einen Aktenschrank und ein Waschbecken aus Email zum Händewaschen. An einem Nagel hing ein Handtuch.

Er hatte den Richter, der vor knapp einem Monat ernannt werden war, einmal gesehen. Ein langweiliger, blonder, dicklicher Mann mit beginnender Glatze und einer Frau mit einem ziemlichen Pferdegesicht.

Die Angeklagten mußten wohl auf Korbstühlen sitzen. Was für ein Kleid hatte Bébé an? Ihr grünes Kleid vom Sonntag? Sicher nicht. Es war nämlich ein Nachmittagskleid, das für das Land gedacht war. Er glaubte sich zu erinnern, daß es Weekend hieß.

Bébé hatte bestimmt ein Kostüm ausgesucht. Sie hatte Sinn für Nuancen. Als sie ein junges Mädchen war…Aber was soll’s! Wozu sollten diese Vernehmungen gut sein? Sie würde nichts aussagen. Sie war unfähig, über sich zu sprechen.

Aus Scham? Aus Stolz?

Als er eines Tages zufällig wütend war, hatte er ihr ins Gesicht gesagt — es mußte sie treffen wie ein Peitschenhieb:

»Du bist genau die Tochter deiner Mutter, die meint, sie müßte ihren Namen getrennt schreiben! Ihr in eurer Familie strotzt vor Dünkel…«

Die Donnevilles — Verzeihung: die d’Onnevilles. Und auf der anderen Seite die Donges, die beiden Brüder Donge, die Söhne des Gerbers Donge, mit ihrem Fleiß und ihrem Eigensinn, die mit Geduld und Ausdauer …

Und ihr Kosename Bébé! Dieser türkische Kaffee, der manchmal in einem dieser billigen Kupferkesselchen zubereitet wurde, um sich Konstantinopel in Erinnerung zu rufen!

Basar … Flitter … Räucherfässer …

Die Brüder Donge dagegen gerbten Felle, verarbeiteten Kasein, stellten Käse her, züchteten seit einem Jahr auch Schweine, denn die Abfälle der Käseherstellung gaben Futter zur Mast ab.

War der Lohn solcher Anstrengungen nicht La Châtaigneraie, Bébés Seidenstrümpfe, das Paar zu achtzig Francs, die in Paris bestellten Kleider und diese Unterwäsche, die …

Und diese gewaltige Madame d’Onneville mit ihrem selbstzufriedenen, dummen Dünkel, ihren Seidenschals, ihren Haaren, die mit Gottweißwas für einem Mittel gespült wurden, damit es malvenfarbig aussah!

Eine Frau, die unfähig war, zu lieben! Denn Bébé war unfähig zur Liebe. Sie ließ es über sich ergehen, mehr nicht. Danach hatte man den Wunsch, sich bei ihr zu entschuldigen.

»Langweilt es dich?«

»Aber nein!«

Resigniert und seufzend über ihre bedauernswerte Lage ging sie ins Bad, um jede Spur der Umarmung zu beseitigen.

Wenn aber François sich bereits am Anfang, das heißt schon in Royan getäuscht hatte? Wenn sie nicht eiskalt beschlossen hatte, ihn zu heiraten? Wenn …

Dann mußte alles nachgeprüft und korrigiert werden. Sie würde nichts aussagen, diesmal jedoch nicht aus Stolz, sondern aus …

»Sie Armer! Man hat Ihnen doch gesagt, Sie sollen klingeln … Jetzt ist Ihr Bett schon wieder ganz voll Blut.«

Später bereute er es, aber er konnte nicht anders. Er sah Schwester Adonie an, als ob sie ein Baum, ein Portal oder sonst etwas wäre, nur keine Schwester, die sich um das körperliche und seelische Wohl anderer sorgte, und er fuhr sie an:

»Was geht Sie das an?«

4

Nicht nur eine, gleich zwei Putzfrauen hatten das Zimmer saubergemacht. Der Krankenwärter hatte mitgeholfen, und Schwester Adonie, aufgeregt wie vor dem Besuch des Bischofs selber, hatte höchstpersönlich alles überwacht.

»Stellen Sie den kleinen Tisch in die Nähe des Fensters… Nein, den Stuhl auf die andere Seite, sonst sieht er nicht genug beim Schreiben.«

Alles nur, weil ein Glatzkopf mit dickem Bauch und verlegener Miene die Gänge entlangschlich. Ihm folgte ein junger Mann, geschniegelt und gebügelt.

»Ja, Schwester … Danke, Schwester … Ich bitte Sie, Schwester … Es geht gut so, Schwester …«

Es war Monsieur Giffre, der Untersuchungsrichter. Er kam aus Chartres, was alles andere als eine Beförderung bedeutete. Politisch gehörte er zur äußersten Rechten, und man munkelte, er habe ein einflußreiches Mitglied der Loge verurteilt. Jedenfalls spottete man über ihn wegen seiner Baskenmütze und seinem Fahrrad, vor allem aber wegen seiner sechs Kinder, die er so ernst und feierlich wie in einer Prozession ausführte.

Er war seit einem Monat hier, hatte aber immer noch keine passende Wohnung finden können; ein Arzt aus der Umgebung, der acht Kilometer entfernt wohnte, hatte ihm ein baufälliges Haus ohne Wasser und Strom zur Verfügung gestellt, mit einigen Möbeln, die nicht zusammenpaßten.

Vielleicht hatte Monsieur Giffre François schon einmal auf der Straße gesehen? Jedenfalls hatte er bestimmt von ihm gehört, doch waren die beiden Männer einander noch nicht vorgestellt worden.

Als er eintrat, verbeugte er sich kurz und ging dann auf den kleinen Tisch zu, der in der Nähe des Fensters aufgestellt werden war. Als er seine Tasche aufmachte und der Schreiber Platz nahm, sagte er:

»Doktor Levert sagte mir, ich dürfe Sie ungefähr eine halbe Stunde beanspruchen; es ist natürlich selbstverständlich, daß ich mich beim kleinsten Anzeichen von Ermüdung zurückziehe. Erlauben Sie, daß ich mit der Vernehmung beginne? Sie heißen?«

»Donge, François Charles Émile, Sohn von Donge Charles Hubert Chrétien, Gerber, gestorben, und von Fillâtre Émilie-Hortense, ohne Beruf, gestorben…«

»Sind Sie vorbestraft?«

Der Richter fragte dies undeutlich, machte dabei eine Bewegung, als ob er eine Fliege verscheuchen würde und hüstelte. Er hatte noch nicht zum Bett hinübergesehen, in dem François mit mehreren Kissen im Rücken lag. Von draußen (man hatte die Markise heruntergélassen, die ein großes goldgelbes Viereck bildete) hörte man die langsamen Schritte der Patienten auf dem Kies, denn es war Zeit für ihren Spaziergang.

»Als Sie sich am Sonntag, dem 20. August, in Ihrem Haus auf La Châtaigneraie, Gemeinde Ornaie, aufhielten, wurden Sie das Opfer eines Vergiftungsversuchs?«

Schweigen. Der Richter hob den Kopf und sah François an, der ihn aufmerksam anschaute.

»Ich höre …«

»Ich weiß es nicht, Herr Richter…«

»Doktor Pinaud, der Sie behandelt, erklärt, daß kein Zweifel besteht und Sie an jenem Tag gegen zwei Uhr nachmittags eine starke Dosis Arsen, wahrscheinlich in Ihrem Kaffee, zu sich genommen haben.«

Wiederum Schweigen.

»Leugnen Sie die Tatsachen?«

»Ich war sehr krank, ich gebe es zu …«

»Mit anderen Worten, Sie weigern sich, Strafantrag zu stellen? Sie müssen wissen, daß wir in einem solchen Fall die Angelegenheit auch verfolgen müssen, wenn das Opfer keine Klage einreicht!«

François sagte noch immer nichts. Er sah den Richter an, wie er immer alle Leute ansah. Wie konnte dieser Mann, mit seinen Kindern, seiner provisorischen Unterkunft, den acht Kilometern, die er auf dem Fahrrad zurücklegen mußte, um zu Hause Mittag zu essen, den Intrigen, die sich schon um ihn zu bilden begannen, wie konnte er plötzlich, indem er einfach eine Akte aufschlug, auch nur das kleinste Körnchen Wahrheit über Bébé Donge herausfinden, während ihr Mann, der zehn Jahre mit ihr zusammen gelebt hatte …

»Ich werde Ihnen, obwohl das gegen die Vorschrift verstößt, das Protokoll der ersten Vernehmung von Madame Donge vorlesen. Es handelt sich dabei eher um eine Erklärung, die sie Inspektor Janvier gegenüber abgegeben hat, am 20. August, um fünf Uhr nachmittags:

Ich, Eugénie-Blanche-Clémentine, 27 Jahre alt, verheiratete Donge, erkläre hier unter Eid folgendes: Als ich mich heute auf La Châtaigneraie aufhielt, dem Besitz, der meinem Mann und seinem Bruder gemeinsam gehört, habe ich versucht, François Donge mit Gift umzubringen, indem ich in seinen Kaffee eine bestimmte Dosis Arsen gab.

Ich habe dem nichts hinzuzufügen.«

Der Untersuchungsrichter blickte auf und sah gerade noch ein flüchtiges Lächeln über François’ Lippen huschen:

»Wie Sie sehen, gibt Ihre Frau den Tatbestand zu.«

Monsieur Giffre hatte selten das unangenehme Gefühl gehabt, sich in Angelegenheiten zu mischen, die ihn nichts angingen — wie an diesem Krankenbett. Nicht einmal bei Bébé Donge …

»Ich gebe Ihnen Kenntnis vom Protokoll der Vernehmung, der ich gestern die Angeklagte unterzogen habe …«

Im selben Augenblids bedauerte er das Wort »Angeklagte«, aber es war schon zu spät, und François hatte auch gleich die Stirn gerunzelt. Ob Bébé bei dieser Vernehmung ein Kleid oder ein Kostüm getragen hatte? Er mußte sie sich plastisch vorstellen können in einem ganz bestimmten Rahmen, bevor er ihre Aussage anhören konnte. Er schloß halb die Augen und hatte unwillkürlich die Mole von Royan vor Augen und von hinten das Paar Jeanne und Félix.

»Ich erspare Ihnen die üblichen Redewendungen und lese Ihnen nur die wichtigsten Fragen und Antworten vor.

Frage: Wann haben Sie den Plan gefaßt, Ihren Mann umzubringen?

Antwort: Ich weiß es nicht genau.

Frage: Ein paar Tage vor dem Mordversuch? Ein paar Monate?

Antwort: Wahrscheinlich ein paar Monate.

Frage: Warum sagen Sie wahrscheinlich?

Antwort: Weil der Plan ziemlich vage war.

Frage: Was verstehen Sie unter einem ziemlich vagen Plan?

Antwort: Ich hatte das undeutliche Gefühl, daß wir dahin kommen würden, aber ich war nicht sicher…«

François seufzte. Der Richter sah ihn an, aber es war schon zu spät: Sein Gesicht verriet nur gespannte Aufmerksamkeit.

»Kann ich fortfahren? Ermüde ich Sie nicht?«

»Bitte.«

»Ich fahre also fort …

… aber ich war nicht sicher …

Frage: Was meinen Sie mit: daß wir dahin kommen würden? Sie verwenden den Plural, den ich mir nicht erklären kann.

Antwort: Ich auch nicht.

Frage: Verstanden Sie sich schon länger nicht mehr mit Ihrem Mann?

Antwort: Mein Mann und ich haben uns immer gut verstanden.

Frage: Was werfen Sie ihm vor?

Antwort: Ich werfe ihm nichts vor.

Frage: Hatten Sie Grund zur Eifersucht?

Antwort: Ich weiß es nicht, aber ich war nicht eifersüchtig.

Frage: Wenn Ihre Tat nichts mit Eifersucht zu tun hat, welches Motiv haben Sie dann gehabt?

Antwort: Ich weiß nicht.

Frage: Gab es in Ihrer Familie Geisteskrankheiten? Woran ist Ihr Vater gestorben?

Antwort: An Amöbenruhr.

Frage: Und Ihre Mutter ist körperlich und geistig gesund? Doktor Bollanger, der Sie diesbezüglich untersucht hat, bestätigt, Sie seien voll verantwortlich für Ihre Tat. Wie waren Ihre Beziehungen zu Ihrem Mann?

Antwort: Wir lebten im selben Haus und hatten einen Sohn.

Frage: Gab es oft Streit?

Antwort: Nie.

Frage: Konnten Sie gewissen Anzeichen entnehmen, daß Ihr Mann anderweitig liiert war?

Antwort: Ich habe mir darüber keine Gedanken. gemacht.

Frage: Wenn es der Fall gewesen wäre, hätten Sie sich dann auf irgendeine Weise rächen wollen?

Antwort: Es hätte mir nichts ausgemacht.

Frage: Kurz, Sie behaupten, daß Sie seit mehreren Monaten entschlossen waren, Ihren Mann aus dem Weg zu räumen, nicht aber den Grund für eine solch schwerwiegende Tat angeben können.

Antwort: So ist es.

Frage: Wo oder wann haben Sie sich das Gift besorgt?

Antwort: Das genaue Datum kann ich Ihnen nicht sagen, aber es war im Mai …

Frage: Also drei Monate vor dem Verbrechen? Reden Sie weiter …

Antwort: Ich war in die Stadt gefahren, um verschiedene Besorgungen zu machen, unter anderem auch in der Parfümerie.

Frage: Entschuldigen Sie: Sie wohnten also meistens auf La Châtaigneraie?

Antwort: Seit drei Jahren fast das ganze Jahr über wegen der Gesundheit meines Sohnes. Er ist eigentlich nicht krank, aber sehr anfällig und braucht frische Luft.

Frage: Ihr Mann wohnte auch auf La Châtaigneraie?

Antwort: Nicht ständig. Er kam mal für zwei, mal für drei Tage in der Woche. Manchmal kam er abends und fuhr am nächsten Morgen wieder …

Frage: Danke. Reden Sie weiter. Wir waren bei einem Tag im Mai …

Antwort: Mitte des Monats. Ich erinnere mich. Ich hatte zu wenig Geld dabei. Ich bin in der Fabrik vorbeigegangen …

Frage: In der Fabrik Ihres Mannes? Gingen Sie öfter dort vorbei?

Antwort: Selten. Seine Geschäfte interessierten mich nicht. Er war nicht in seinem Büro. Ich bin ins Labor gegangen, weil ich glaubte, ihn dort anzutreffen. Mein Mann ist Chemiker und macht verschiedene Experimente. In einem kleinen Glasschrank sah ich einige Fläschchen mit Etiketten…

Frage: Hatten Sie bis zu jenem Tag nie an Gift gedacht?

Antwort: Ich glaube nein … Das Wort Arsen ist mir aufgefallen. Ich nahm das Fläschchen, in dem nur noch wenig weißgraues Pulver war und steckte es in die Handtasche.

Frage: Ab jetzt mit dem Gedanken, es zu benutzen?

Antwort: Vielleicht …Es läßt sich schwer sagen … Mein Mann kam dann herein und gab mir Geld …

Frage: Mußten Sie ihm Rechenschaft ablegen über Ihre Ausgaben?

Antwort: Er gab mir immer soviel Geld wie ich brauchte.

Frage: So haben Sie das Gift drei Monate versteckt und warteten auf den Augenblick, in dem Sie es brauchen würden. Warum haben Sie diesen Sonntag ausgesucht und nicht irgendeinen anderen Tag?

Antwort: Ich weiß nicht. Ich bin etwas müde, Herr Richter, und wenn Sie erlauben …«

Monsieur Giffre hob wieder den Kopf. Er war ernst und verlegen. Beinahe wäre er sich mit der Hand durch seine spärlichen Haare gefahren.

»Das ist alles, was ich herausbekam«, gab er zu. »Ich hoffte, Sie könnten mir einige Erklärungen dazu abgeben.«

Er vergaß, daß er Untersuchungsrichter war, und schaute François Donge von Mann zu Mann an. Er stand auf, ging in dem kleinen, mit Ölfarbe gestrichenen Zimmer auf und ab und vergrub sogar die Hände in den Taschen seiner zu weiten Hose.

»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, Monsieur Donge, daß jeder in der Stadt von einem Eifersuchtsdrama spricht und gewisse Namen genannt werden … Ich weiß, daß diese Gerüchte die Justiz nicht beeinflussen dürfen. Gibt es irgendwelche Anzeichen, daß Ihre Frau Bescheid wußte über eine Liaison, die Sie vielleicht gehabt haben?«

Wie schnell er hin und her huschte! Und er blieb plötzlich verblüfft stehen, als er François’ Antwort hörte:

»Meine Frau wußte Bescheid über alle meine Abenteuer.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie ihr Ihre Abenteuer erzählten?«

»Wenn Sie mich danach fragte …«

»Entschuldigen Sie, wenn ich hartnäckig bin. Es ist so erstaunlich, daß ich Genaueres wissen muß. Sie hatten also mehrere Abenteuer?«

»Ziemlich viele. Die meisten waren belanglos, ohne jede Konsequenz.«

»Und wenn Sie nach Hause kamen, erzählten Sie Ihrer Frau…«

»Ich betrachtete sie als Kameraden. Sie selbst hatte mir aus einer peinlichen Situation herausgeholfen.«

Dieser Ausdruck, der François herausgerutscht war, fiel ihm auf, und er hielt einen Augenblick nachdenklich inne.

»Erzählten Sie Ihrer Frau schon länger von diesen Intimitäten?«

»Ein paar Jahre. Ich kann es nicht genau sagen.«

»Und Sie blieben Mann und Frau. Ich meine, Sie hatten normale eheliche Beziehungen?«

»Ziemlich selten. Die Gesundheit meiner Frau, vor allem nach der Entbindung, erlaubte nicht …«

»Ich verstehe. Kurz, sie ließ es zu, daß Sie woanders hingingen, um das zu bekommen, was sie Ihnen nicht geben konnte.«

»So ungefähr, wenn auch nicht genau so.«

»Und Sie haben bei ihr nie die geringste Eifersucht gespürt?«

»Nicht die geringste.«

»Sie sind bis zuletzt, also bis zum Sonntag, Kameraden geblieben?«

François schaute den Richter langsam von Kopf bis Fuß an. Er sah ihn im Kreis seiner Familie in der Behausung des Doktors, den er kannte. Er sah ihn auf dem Fahrrad auf der Straße, mit Klammern an den Hosenaufschlägen. Er sah ihn Sonntag beim Hauptgottesdienst mit seinen sechs Kindern und seiner immer abgehetzt wirkenden Frau.

Dann sagte er etwas von oben herab ja. Der Gerichtsschreiber schrieb immer noch eifrig mit, und die Sonne, die durch den Vorhang nur gedämpft hereinfiel, schien auf seine eingefetteten Haare.

»Erlauben Sie mir, daß ich noch bei diesem Punkt bleibe, Monsieur Donge.«

Und der Richter warf ihm einen kläglichen Blick zu, wie jemand, der weiß, daß er zu Unrecht darauf besteht, aber doch seine Pflicht tun muß.

»Ich versichere Sie, daß ich Ihnen nichts weiter zu sagen habe, Monsieur Giffre.«

Dieses »Monsieur Giffre« kam so unerwartet, daß beide Männer sich anschauten in dem Gefühl, für einen Augenblick nicht Untersuchungsrichter und Zeuge, sondern einfach zwei Männer zu sein, die durch Zufall in eine peinliche Lage geraten waren. Der Richter hustete, drehte sich zu seinem Gerichtsschreiber, um ihm zu bedeuten, daß er dieses »Monsieur Giffre« nicht aufschreiben solle, was der Gerichtsschreiber schon verstanden hatte.

»Ich möchte dem Gericht die Akte so schnell wie möglich vorlegen, um der ganzen Aufregung zuvorzukommen, die derlei Affären in einer Kleinstadt immer auslösen.«

»Hat meine Frau einen Anwalt genommen?«

»Sie wollte zuerst nicht. Auf mein Drängen nahm sie Maître Boniface.«

Der beste Anwalt bei Gericht, ein Mann um die sechzig, mit Bart, eine bedeutende Persönlichkeit, der über die nähere Umgebung hinaus in weitem Umkreis befühmt war.

»Er hat seine Klientin gestern aufgesucht. Er besuchte mich danach, und soviel ich verstanden habe, ist er nicht weiter vorangekommen als ich.«

Umso besser! Was mischten sich diese Leute überhaupt ein! Was wollten sie denn herausfinden? Ja, was? Und warum? Was würden sie denn mit der Wahrheit anfangen können, wenn sie sie wie durch ein Wunder finden würden?

Die Wahrheit!

»Hören Sie, Herr Richter…«

Nein! Es war noch viel zu früh. Die Zeit war noch nicht gekommen.

»Ja, bitte.«

»Entschuldigen Sie, ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte… Sie sagten, wenn ich müde sei…«

Es stimmte nicht. Er war noch nie so wach wie jetzt gewesen. Diese Unterhaltung hatte ihm richtig gutgetan. Er hatte eine Art geistiger Gymnastik getrieben, die ihn in Form gebracht hatte.

»Ich verstehe. Wir werden uns also zurückziehen.

___________

Ich bitte Sie, darüber nachzudenken, und Sie werden einsehen, dessen bin ich sicher, daß es Ihre Pflicht ist, im Interesse Ihrer Frau und auch der Justiz…«

Aber ja, Herr Untersuchungsrichter! Sie sind ein ausgezeichneter Mann, ein vorbildlicher Staatsbürger, ein bewundernswerter Familienvater, ein integrer und sogar intelligenter Beamter. Sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen werde, will ich Ihnen helfen, eine kleine bezaubernde Wohnung zu finden, denn ich kenne die Stadt besser als jeder andere und habe einen gewissen Einfluß. Sie sehen, ich nehme Ihnen nichts übel und verstehe Sie in Ihrer Situation.

Aber rühren Sie bitte nicht an Bébé Donge! Versuchen Sie nicht, Bébé Donge zu verstehen.

»Entschuldigen Sie noch einmal, wenn ich Sie angestrengt habe.«

»Aber nicht doch … Aber nicht doch …«

»Guten Tag.«

Er grüßte und ging hinaus, trach im Gang Schwester Adonie, die ihn bis zur Glastür brachte. Sein Gerichtsschreiber folgte ihm, geblendet von der Sonne.

Und François saß auf seinem Bett und starrte auf den Tisch, der nun nicht mehr gebraucht wurde, und sagte sich, daß Bébé sich genauso verhielt, wie er es erwartet hatte.

Nie hatte er sich ihr eigentlich näher gefühlt. Sie hatte Antworten gegeben, die er ihr eingesagt haben, könnte. Als der Richter vorlas, hätte er manchmal am liebsten mit zufriedenem Lächeln zugestimmt.

War er glücklich? Er stellte sich diese Frage nicht, aber er fühlte sich beschwingt und sein Herz war übervoll.

»Das ist nett von Ihnen, Schwester … Ja, machen Sie das Fenster auf. Allmählich mag ich diesen schattigen Hof und die Patienten, die dort langsam herumspazieren. Gestern habe ich einen gesehen, er war schon alt, der heimlich hinter einem Baum rauchte.«

»Seien Sie still! Wenn Sie mir sagen, wer es ist, bin ich gezwungen, streng vorzugehen…«

»Was würden Sie mit ihm machen?«

»Ich würde ihm seinen ›Sonntag‹ streichen. Den Alten, für die kaum eine Chance besteht, entlassen zu werden, geben wir am Sonntag ein bißchen Taschengeld …«

»Für ihren Tabak, nicht wahr?«

In seinen Augen blitzte es.

»Meine Brieftasche muß irgendwo in meiner Jacke sein. Nehmen Sie, was drin ist. Sie können es sicher brauchen für den Sonntag der Alten…«

»Ich vergaß Ihnen zu sagen, daß Sie noch Besuch bekommen. Ich frage mich …«

»Ich schwöre Ihnen, Schwester, ich bin nicht müde. Wer ist es?«

»Doktor Jalibert …«

Also auch Schwester Adonie wußte Bescheid, das sah man an ihrer übertrieben verschämten Miene.

»Lassen Sie ihn herein, Schwester. Er ist sicher schrecklich nervös.«

»Seit einer halben Stunde geht er im Flur auf und ab und raucht eine Zigarette nach der andern. Ich traute mich nicht, ihm etwas zu sagen, weil er ein Doktor ist, aber …«

Jalibert stürzte ins Zimmer, mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen.

»Wie geht es, lieber Freund? Nicht zuviel Schmerzen gehabt? Levert sagte mir, daß Sie alles gut überstanden hätten.«

Schwester Adonie ging verärgert hinaus.

»Ich sah gerade den Untersuchungsrichter weggehen … Ich war zufällig im Krankenhaus, wo ich einen Patienten liegen habe… Ich hätte Sie nicht gestört, wenn man mir nicht versichert hätte, daß es Ihnen heute morgen ausgezeichnet geht… Sie erlauben?«

Er zündete sich eine Zigarette an, ging hin und her, blieb stehen, ging wieder zum Fenster; er war mager und häßlich anzusehen, abstoßend an Leib und Seele.

»Ich nehme an, daß dieser arme Richter, der unter uns gesagt keine Leuchte zu sein scheint und über den in der Gegend ziemlich schlecht geredet wird, versucht hat, Ihnen die Würmer aus der Nase zu ziehen?«

»Er war sehr anständig.«

»Diskret?« fragte Jalibert und lächelte unsicher.

»Er tut sein möglichstes, um die Wahrheit herauszufinden, die ich selber noch nicht kenne.«

Worauf Jalibert grob anwortete:

»Machen Sie keine Witze!«

Wenn er daran dachte, daß er hundertmal die Hand des Doktors hatte schütteln müssen, an seinem Tisch essen und mit ihm Bridge spielen müssen, und alles wegen Olga Jalibert, deren Körper glatt und fest wie eine Pflaume war und die sich mit umwerfender Energie in die Liebe und in das Leben gleichermaßen stürzte!

»Sagen Sie mal! Eigentlich… Sie müssen doch jetzt wissen, wie Ihre Frau ihre Verteidigung zu führen gedenkt. Sie soll Maître Boniface als Anwalt genommen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie dieser strenge und langweilige Mensch einen solchen Fall verteidigen will.«

Gewisse Befürchtungen ließen ihm keine Ruhe. Er wartete auf ein Wort, und dieses Wort sprach François absichtlich nicht aus.

Was würde Jalibert noch alles einfallen, um ihn zum Reden zu bringen?

»Boniface, mit seinem viereckigen Bart und seinem Bürstenschnitt, seinen buschigen Brauen und seiner speckigen Rebe spielt den Tugendwächter. Er würde es fertig bringen, wegen eines aufsehenerregenden Plädoyers und im Namen der Moral eine ganze Stadt in Mißkredit zu bringen. Ein Affektverbrechen einem solchen Anwalt anzuvertrauen, das…«

Immerhin sagte François jetzt ganz vorsichtig:

»Es gibt kein Affektverbrechen.«

Der andere mußte sich zusammennehmen, um nicht vor Freude einen Luftsprung zu machen, um den Erstaunten zu spielen.

»Was will Ihre Frau dann vorbringen?«

»Sie bringt nichts vor…«

»Sie leugnet? Die heutige Zeitung behauptet…«

»Was behauptet sie?«

»Daß sie alles gestanden hat, auch die Vorsätzlichkeit.«

»Das stimmt.«

»Also?«

»Nichts also!«

Jalibert, der zehn Patienten getötet hätte, wenn er dadurch seine Klinik vergrößern oder ein größeres Auto hätte kaufen können, konnte sich immer noch nicht fassen, schaute Donge beunruhigt an, fragte sich, ob er sich nicht über ihn lustig mache.

»Sie muß sich aber doch verteidigen. Und dabei kann sie gezwungen sein, Dritte zu beschuldigen …«

»Sie wird sich nicht verteidigen.«

»Sie war immer eine rätselhafte Frau«, sagte Jalibert mit gezwungenem Lächeln. »Ich sprach gestern, ich weiß nicht mehr mit wem, darüber. Ich sagte: Nie hat jemand gewußt, was Bébé Donge dachte. Ich weiß nicht, ob es mit ihrer Erziehung in Konstantinopel zusammenhängt. Man muß zugeben, daß ihre Mutter reichlich eigenartig ist. Was sie betrifft … Aber warum hat sie es dann getan?«

»Sie gibt kein Motiv an.«

»Plädiert sie auf Unzurechnungsfähigkeit? Vom medizinischen Standpunkt aus wäre das zu vertreten, und wenn ich aussagen müßte … Ich habe mit Doktor Levert darüber gesprochen. Er würde es notfalls bescheinigen. Sagen Sie, alter Freund…«

François schaute ihn an und gab sich Mühe, nicht zu lachen.

»Wenn es Ihnen gelänge, Boniface weich zu bekommen, oder vielmehr, da es nicht gerade den Vorschriften entspricht, ihn durch jemand zuverlässigen gewinnen könnten? Wenn er auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert, kann er seiner Sache sicher sein; ich würde die Sache mit den Ärzten abmachen, die als Sachverständige bestimmt werden.«

»Bébé ist nicht verrückt. Machen Sie sich keine Sorgen, Jalibert. Sie werden sehen, es geht alles in Ordnung. Gehen die Bauarbeiten voran? Steht der Anbau schon? Seien Sie mir nicht böse, aber die Schwester wird gleich kommen…«

Er streckte den Arm aus und läutete. Schwester Adonie klopfte fast unhörbar und trat, ohne abzuwarten, ein.

»Sie haben gerufen?«

»Sie können anfangen, Schwester. Wenn der Krankenwärter Zeit hat…«

Er hatte es eilig, die Behandlung hinter sich zu bringen, eilig, wieder allein zu sein in dem sauberen Zimmer mit dem Fenster zum Hof, in den gestärkten Laken zu liegen, mit leerem Körper und leicht betäubt von der Spritze, die er zweimal täglich bekam.

Er hatte es so eilig, Bébé wiederzufinden, daß er nicht wartete, bis Jalibert gegangen war. Er hörte kaum, wie er sich verabschiedete. Er hatte die Augen geschlossen. Er spürte, daß man ihn auszog, ihn umdrehte, abtastete …

»Tue ich Ihnen weh?«

Er antwortete nicht. Er war weit weg. Es tat ihm vielleicht weh, aber es war unwesentlich.

Ein Hotelzimmer oder vielmehr ein Zimmer in einem Palast, mit breiten Fenstern und blendend weißem Balkon, von dem aus man über der Croisette den ganzen Hafen von Cannes sehen konnte. Seine verwirrend vielen Masten, die schlanken Schiffe, die nebeneinander lagen und eine riesige lavendelblaue Fläche, auf der Motorboote brummten …

Félix und Jeanne hatten sich für Neapel entschieden. Es geschah wohl eher aus Rücksicht, aus einer Art Respekt vor dem anderen, daß die beiden Brüder ihre Hochzeitsreise getrennt unternahmen. Wer weiß, ob das nach allem nicht ein Fehler war?

Die Reise im Schlafwagen dauerte eine Nacht, der Bahnhof war voller Mimosen. Der Hoteldiener des Palastes erwartete sie.

»Monsieur und Madame Donge? Wenn Sie mir bitte folgen wollen …«

François hatte sein ironisches Lächeln aufgesetzt, wie immer, wenn er nicht sehr stolz auf sich war. In Wahrheit hatte er Lampenfieber und kam sich außerdem lächerlich vor. Gibt man nicht eine komische Figur ab als Frischverheirateter, wenn das Abteil noch voller Blumen und Geschenke ist, die in letzter Minute überreicht wurden, und das junge Mädchen darauf wartet, eine Frau zu werden, und weiß, daß dies bald geschehen wird, und einen mit einer Mischung aus Ungeduld und Erschrecken ansicht?

»Wissen Sie, François, worauf ich Lust habe?«

Damals siezten sie sich noch. Auch jetzt, nach zehn Jahren, kam es noch oft vor, daß sie sich siezten.

»Sie werden mich sicher auslachen… Ich möchte gern eine Bootsfahrt machen… Das erinnert mich an die Yalis auf dem Bosporus… Sind Sie böse?«

Nein! Ja! Schließlich war es albern. Und es war umso peinlicher, als sie kein Ruderboot fanden. Den ganzen Kai entlang gab es nur Motorboote, deren Besitzer auf sie stürzten:

»… eine Bootsfahrt… Insel Santa Margarita?«

Bébé, die gegenüber Lächerlichem unempfindlich war, drückte François am Arm und flüsterte ihm ins Ohr:

»Ein kleines Boot nur mit uns beiden.«

Schließlich hatten sie ein kleines Boot gefunden. Es war schwer. Die Ruder waren so eingehängt, daß sie dauernd heraussprangen. Es war heiß, Bébé saß im Heck und tauchte die Hände ins Wasser wie auf einer Postkarte. Seeigelfischer schauten ihnen amüsiert zu und beinahe hätte eine einlaufende Yacht sie gerammt.

»Sind Sie böse? Auf dem Bosporus nahm ich mir abends manchmal ganz allein ein Yali und ließ mich von der Strömung treiben, bis es ganz dunkel war.«

Ja, natürlich! Auf dem Bosporus!

»Wenn Sie müde sind, rudern wir zurück.«

Er wollte etwas an der Bar trinken, aber sie stand schon im Aufzug. Sogar der Liftboy grinste spöttisch. Es war zehn Uhr morgens.

»Macht Ihnen das Licht überall nichts aus, François? Mir kommt es vor, als ob uns das Meer zusieht …«

Das Meer sieht zu!

Gut! Er hatte die Jalousien heruntergelassen. Dadurch wurde alles in kleine Streifen unterteilt, auch Bébés Körper.

Sie konnte nicht küssen. Ihre Lippen blieben passiv. In Wahrheit kam ihr die Berührung der Lippen vor wie ein vielleicht notwendiges, aber barbarisches Ritual.

Sie hielt die ganze Zeit die Augen offen, schaute an die Decke, und manchmal ging über ihr etwas blasses Gesicht etwas wie ein schmerzhaftes Zucken.

Was hatte er eigentlich gesagt? So etwas wie:

»Sie werden sehen, später, in ein paar Tagen…«

Sie hatte mit ihren feuchten Fingern seine Hand gedrückt und geflüstert:

»Aber ja, François …«

So spricht man mit jemand, um ihn aufzumuntern, damit er nicht so unglücklich ist. Ihre kleinen Brüste, die nicht weich und auch nicht fest waren, die Vertiefungen an ihrem Hals …

Weil er nicht recht wußte, was er tun sollte, war er aufgestanden, und im Schlafanzug zum Fenster gegangen. Er hatte die Jalousien hochgezogen und sich eine Zigarette angezündet. Wenn er gekonnt hätte, wenn er sich in diesem Augenblick getraut hätte, er selbst zu sein, hätte er dem Pagen geklingelt und einen Port oder einen Whisky bestellt.

Die Sonne schien auf das Bett. Bébé hatte sich zugedeckt. Weil sie ihr Gesicht im Kissen vergraben hatte, konnte er nur ihre blonden Haare sehen. An einem bestimmten Zucken glaubte er…

»Weinst du?«

Er hatte gerade zum erstenmal du gesagt, in einem väterlichen und mürrischen Ton zugleich. Er haßte Tränen, haßte alles, was einfache und normale Dinge komplizierte, haßte diese alberne Bootsfahrt, diese Augen, die an die Decke schauten und jetzt diese Tränen.

»Hör zu, Kleines … Ruhe dich aus … Du kommst in ein oder zwei Stunden herunter und wir essen auf der Terrasse …«

Als sie heruntergekommen war in einem cremefarbenen Kleid mit Volants, in dem sie wie eine junge Frau und ein junges Mädchen zugleich aussah, wirkte sie schlanker denn je, noch ernster in ihrem Gesichtsausdruck und in ihren Bewegungen. Sie gab sich Mühe, zu lächeln, als sie ihren Mann an der Bar traf, wo er sich gerade einen Cocktail bestellt hatte.

»Hier waren Sie!« sagte sie.

Warum meinte er, in diesen drei Worten einen Vorwurf zu hören? Warum schaute sie auf die Zigarette?

»Ich wartete auf Sie. Haben Sie geschlafen?«

»Ich weiß nicht …«

Der Hotelchef wartete respektvoll in einiger Entfernung.

»Wünscht Madame in der Sonne oder im Schatten zu speisen?«

»In der Sonne«, sagte sie.

Dann lebhaft:

»François, wenn Sie lieber…«

Er hätte lieber im Schatten gegessen, sagte aber nichts.

»Ich habe Sie enttäuscht …«

»Aber nein …«

»Entschuldigen Sie …«

»Warum wollen Sie unbedingt darüber sprechen?«

Er hob den Kopf. Er aß mit gesundem Appetit verschiedene Vorgerichte.

»Ich habe keinen Hunger. Aber lassen Sie sich beim Essen nicht stören, doch zwingen Sie mich nicht. Sind Sie böse?«

Und was noch?

»Aber nein, ich bin nicht böse!«

Unwillkürlich antwortete er gereizt.

»Wir sind fertig, Monsieur Donge. Haben wir Sie nicht zu sehr malträtiert? Sie können sich nun zwei oder drei Stunden ausruhen. Einen Augenblick, Ihre Spritze.«

Während ihm die Augen zufielen, sah er das Häubchen und das rundliche gutmütige Gesicht von Schwester Adonie.

5

Er hatte, ohne in einen Spiegel schauen zu können, seine Krawatte gebunden (sicher gibt es keine Spiegel in den Krankenzimmern, um die Patienten nicht zu erschrecken?); das Fenster stand weit offen, im Schatten unter den Platanen war es kühl. Trotz der alten Männer in den blauen Anzügen auf den Bänken und trotz einer Bahre, die unauffällig vorbeigetragen wurde, stimmte es ihn traurig, sich noch einmal im Zimmer umzuschauen und sich zu sagen, daß er nun nicht mehr dazugehörte. Sogar die Laken waren heute morgen schon abgezogen worden!

Félix, der einen hellen Anzug anhatte, kam aus dem Büro der Klinik, steckte seine Brieftasche ein und lief freudig durch die Räume.

»Fertig?«

»Fertig. Ist alles geregelt? Hast du auch die Schwestern nicht vergessen?«

François vergaß nie etwas, ganz gleich unter welchen Umständen. Der Beweis dafür war, daß er die Toilettentasche in der Hand — die Stirn runzelte und sagte:

»Ich hätte dir sagen sollen, der kleinen braunen, die schielt, nichts zu geben. Sie hat mich an einem Abend allein gelassen, weil sie ein Stelldichein hatte.«

Sie gingen durch den Gang mit den gelben Fliesen.

»Also, Schwester Adonie? Diesmal verlasse ich Sie! Das heißt, wir haben noch etwas in Ordnung zu bringen. Erinnern Sie sich noch, wie ich Ihnen sagte, daß Sie etwas aus meiner Brieftasche nehmen sollten? Warum haben Sie es nicht gemacht?«

»Ich habe mich nicht getraut.«

»Wieviel alte Leute haben Sie ständig hier?«

»Etwa zwanzig.«

»Warten Sie … Zehn Francs pro Sonntag. Félix, gibst du Schwester Adonie bitte tausend Francs und schickst ihr jeden Monat die gleiche Summe. Unter der Bedingung, Schwester, daß Sie ein Auge zudrücken, wenn Sie Tabak in ihren Taschen finden, ja?«

Das Auto von Félix. Der Geruch der Straße, der ihm fremd war.

»Du hast deinen Kotflügel reparieren lassen.«

»Übrigens …«

Félix überlegte sich genau, was er sagte, und beobachtete beim Fahren seinen Bruder manchmal im Rückspiegel.

»Jeanne hat sie gestern besucht.«

»Was hat sie gesagt?«

»Sie fragte nach Jacques. Als sie hörte, daß Jeanne sich mit Marthe um das Kind kümmert, schien es ihr nicht sehr recht zu sein.

›Ich habe Marthe ausführliche Anweisungen hinterlassen‹, hat sie gesagt. ›Sie soll mich bitte besuchen.‹

Sie war anscheinend so ruhig wie immer.

›Ist Mama bei Madame Berthollat?‹ hat sie gefragt.«

»Vorsicht« sagte François und warf das Steuer herum. Denn Félix hatte, abgelenkt durch die Unterhaltung, einen Kippkarren gestreift.

»Beim Gehen sagte Jeanne noch:

›Hör zu, Bébé. Mir kannst du es doch sagen …‹

Und deine Frau antwortete:

›Dir weniger als jedem anderen, meine arme Jeanne. Ist dir noch nie aufgefallen, daß wir nichts gemeinsam haben. Sag Marthe, sie soll mich besuchen. Du brauchst dich nicht um Jacques zu kümmern.‹«

Es war zehn Uhr morgens. Sie überholten die großen Lieferwagen. Am Ende einer Straße war kurz der Marktplatz zu sehen.

»Ist das alles?«

»Ja. Auf La Châtaigneraie ist alles in Ordnung. Jeanne ist natürlich nicht gerade glücklich. Vor allem wegen Jacques. Es sieht beinahe so aus, als ob sie keine Kinder erziehen könne. Ich weiß wohl, daß … Langweile ich dich?«

»Nein.«

Der Quai des Tanneurs und ganz am Ende das weiße Haus, das holprige Pflaster, auf dem François mit Murmeln gespielt hatte. Er stieg allein aus, ging hinein, aber nicht durch den Vordereingang, sondern durch das Büro.

»Guten Tag, Monsieur François.«

»Guten Tag, Madame Flament.«

Sie hatte er völlig vergessen! Sie stand da, ganz rosig, ganz gerührt, eine Hand auf der Brust und schaute ihn mit großen feuchten Augen an. Sicher hatte sie die Rosen auf den Schreibtisch gestellt!

»Wenn Sie wüßten, wie entsetzt die Leute waren, als das Unglück geschah! Fühlen Sie sich nicht zu schwach?«

Er drehte sich um und zuckte die Achseln. Der Geruch empfing ihn, der etwas fade Geruch, der dem Haus und besonders diesem Büro eigen war und mit keinem anderen Geruch zu vergleichen. Die Sonne schien so ganz anders durch die Fensterkreuze, und spiegelte sich auf den polierten Möbeln. Unter anderem hing an der Wand, genau unter der Louis-Philippe–Wanduhr mit ihrem schwarzgoldenen Rahmen, ein kleiner, flimmernder Fleck, der ihn schon als Kind fasziniert hatte. Am Nachmittag wechselte der Fleck auf die andere Wand und spielte auf dem Foto vom Kongreß der Meistergerber in Paris, auf dem sein Vater die Arme verschränkt hatte.

»Haben die Grands Bazars Nancéens bezahlt?«

»Es war ein ziemliches Stück Arbeit, aber es klappte…«

Es war das einzige Zimmer im Haus, in dem nichts verändert werden war. Die beiden Brüder Donge hatten anderswo moderne Büros, aber hier, im väterlichen Haus, war der Mittelpunkt all ihrer Geschäfte. Die Wände waren mit einer gestreiften, verbliebenen Tapete bespannt. Der Schreibtisch von François hatte schon dessen Vater gehört und war mit dunklem Leder überzogen, auf dem violette Tintenflecken zu sehen waren; er hatte auch einen Aufsatz mit verschiedenen Fächern.

An der Wand gegenüber hatte François das Bild seines Vaters aufgehängt, mit seinem dicken Schnurrbart, den dichten Haaren, dem steifen Kragen und der schwarzen Krawatte, wie sie die Handwerker am Sonntag anziehen. Früher hing das Foto neben dem der Mutter im Schlafzimmer. Als Bébé in das Haus zog und davon sprach, es zu modernisieren …

Jenes der Mutter hing jetzt auch im Büro — an der Wand gegenüber von Félix. Strohstühle, wie sie François von klein auf gekannt hatte …

Ein Geruch … Er war da, noch etwas geistesabwesend, und nahm langsam wieder Besitz von seinem Zuhause, seinem Platz, ließ die Atmosphäre auf sich wirken, und plötzlich überraschte ihn dieser Geruch …

»Ich habe einen Brief für Sie auf den Schreibtisch gelegt.«

Madame Flament, natürlich! Er hatte den Geruch seiner Sekretärin, Madame Flament, vergessen; einer üppigen Rothaarigen, mit lebhaftem Blick, feuchten Lippen, vollem Busen und wiegenden Hüften, die übermäßig stark transpirierte.

Geschah es nicht ihretwegen ganz am Anfang …

Der Brief kam aus Deauville und trug die Schriftzüge Olga Jaliberts; er hatte keine Eile, ihn zu lesen. Félix sichtete auf seinem Schreibtisch die Morgenpost.

Vielleicht zwei Monate nach ihrer Hochzeit war Bébé eines Morgens heruntergekommen in einem Kleid aus Tussorseide.

»Kann ich hereinkommen?«

Félix war hinausgegangen. Madame Flament saß an ihrem Platz. Sie war hastig aufgestanden — vielleicht etwas zu hastig —, um sie zu begrüßen, und war auf die Tür zugegangen.

»Wo gehen Sie hin?« hatte François gefragt.

»Ich glaubte …«

»Bleiben Sie. Was gibt es, meine Liebe?«

Bébé kannte dieses Büro kaum und besah sich alles genau.

»Ich wollte dir bloß guten Tag sagen … Ach! Hier hast du die Bilder aufgehängt …«

Er hatte gesehen, wie sie die Stirn runzelte, als sie an der Sekretärin vorbeiging, sicher wegen des Geruchs.

Als sie beide mittags am runden Tisch im Eßzimmer saßen, hatte sie gefragt:

»Ist es notwendig, daß dieses junge Mädchen in deinem Büro sitzt?«

»Sie ist verheiratet, Madame Flament. Sie ist seit sechs Jahren meine Sekretärin. Sie weiß in allen Dingen Bescheid.«

»Ich frage mich, wie du ihren Geruch aushalten kannst.«

Vielleicht kam das Übel zum großen Teil daher, daß sich in ihm der Gedanke festgesetzt hatte, seine Frau sei unfähig, etwas ohne Hintergedanken zu sagen oder zu tun. Sie redete verdächtig ruhig und sah ihm wie in Royan direkt in die Augen. Es beunruhigte ihn, als er hörte, wie sie zum Schluß sagte:

»Schließlich weißt du besser als ich, was du zu tun hast.«

Der beste Beweis dafür, daß sie einen Hintergedanken hatte. Aber jetzt, nach all den Jahren, bezweifelte er, ob es wirklich ein Beweis war. Zwei- oder dreimal ließ sie sich von Félix in allen Räumen herumführen. Ein paar Tage später kam sie an einem Sonntagmorgen herein, als er allein in seinem Büro saß und eine dringende Arbeit erledigte. Sie hatte ein Musselinkleid an.

»Störe ich dich nicht?«

Sie ging auf und ab. Manchmal sah er ihre lackierten Nägel glänzen, die sie jeden Morgen über eine halbe Stunde manikürte.

»Sag, François …«

»Ja …«

»Glaubst du nicht, daß ich dir auch helfen könnte?«

Er hatte sie stirnrunzelnd angeschaut.

»Was möchtest du denn machen?«

»In diesem Büro arbeiten, mit dir …«

»Anstelle von Madame Flament?«

»Warum nicht? Wenn du Angst vor dem Maschinenschreiben hast, das kann ich schnell lernen. In Konstantinopel hatte ich eine Reiseschreibmaschine. Es machte mir Spaß, meine Briefe zu tippen und …«

Sicher mit ihren lackierten Nägeln und ihren Kleidern, die so dünn wie Schmetterlingsflügel waren! Sie würde um zehn oder elf Uhr herunterkommen, nach Badesalz und Schönheitscremes duften …

So war sie also eifersüchtig auf Madame Flament!

»Das geht nicht, mein Liebes. Es würde Jahre dauern, um dich einzuarbeiten. Außerdem ist das nicht dein Platz.«

»Verzeih. Ich werde nicht mehr davon reden.«

Er hätte noch etwas Nettes sagen können; er hatte es nicht getan. Als sie etwas gezwungen und angespannt hinausging, wäre er beinahe aufgestanden um sie zurückzurufen …

Nein! Er durfte ihr diese Albernheiten nicht durchlassen, sonst wäre das Leben unerträglich.

Eine Viertelstunde später hörte er, wie sie in ihrem Zimmer umherlief. Was machte sie? Sicher nahm sie Maß, suchte Stoffe heraus. Damals war sie damit beschäftigt, einen Teil des Hauses neu einzurichten. Die beiden Fotos, von seiner Mutter und seinem Vater, waren schon hinuntergebracht werden. Abends breitete sie Kataloge und Muster vor ihm aus.

»Wie findest du das, François? Diese Seide ist sehr teuer, aber es ist die einzige in diesem Grün.«

Ein süßliches Mandelgrün, ihre Lieblingsfarbe.

»Wie du meinst. Du weißt, es ist mir gleich.«

»Ich möchte aber gern deine Meinung darüber hören.«

Seine Meinung! Nun, seiner Meinung nach hätte man das Haus besser so lassen sollen wie es war. War es nicht richtig gewesen, ihr das nicht klipp und klar zu sagen? Vielleicht, nach allem? Er hatte ihr, die Freude gemacht, wie einem kleinen Kind und hatte während dieser Zeit seine Ruhe. Er mochte es nicht, wenn sie nachdachte, denn dann war es manchmal schwierig, ihr zu folgen. Außerdem haßte er Komplikationen, und sie komplizierte alles ohne Grund.

Zwei oder drei Wochen zum Beispiel, nachdem sie aus Cannes zurückgekommen waren. An dem alten Mobiliar war noch nichts geändert worden. Sie schliefen in dem großen Nußbaumbett, das Zimmer war mit einem Blumenmuster tapeziert.

Eines Morgens, als sehr früh ein Hahn auf dem Nachbarhof krähte, war François wachgeworden und merkte, daß irgend etwas anders war als sonst. Er war eine ganze Weile unbeweglich, beinah ängstlich liegen geblieben, dann hatte er die Augen aufgemacht und sah Bébé, die auf dem Bett neben ihm saß und ihn betrachtete.

»Was machst du?«

»Nichts. Ich hörte dich atmen. Auf der linken Seite atmest du lauter als auf der rechten.«

Das versetzte ihn nicht gerade in gute Laune.

»Ich habe auf der linken Seite immer schon schlechter geschlafen.«

»Weißt du, woran ich dachte, François? Daß wir von nun an immer zusammen leben, zusammen alt werden, zusammen sterben.«

Sie war ernst und sah ganz schmal aus in ihrem Nachthemd; er wollte schlafen, denn es war noch nicht einmal fünf Uhr morgens.

»Ich dachte auch daran, daß es schade ist, daß ich deinen Vater nicht gekannt habe.«

Das war nicht schade, sondern gut so, denn der bärbeißige Vater Donge hätte eine Schwiegertochter wie sie nicht gerade freundlich aufgenommen. Ob sie sich darüber nicht klar war? Hatte sie das Foto des Gerbers mit dem dicken Schnurrbart, der auf allen seinen Bildern die Arme verschränkte und unnahbar wirkte, nicht angeschaut?

»Schläfst du?«

»Nein.«

»Langweile ich dich?«

»Nein.«

»Ich möchte gern, daß du mir etwas versprichst. Aber du sollst es nur tun, wenn du das Versprechen auch halten willst. Versprich mir, daß, ganz gleich, was passiert, du immer ehrlich zu mir bist. Verstehst du, François? Es wäre entsetzlich, wenn wir ein Leben lang nebeneinander lebten und uns anlügten. Wenn du enttäuscht bist, mußt du es mir sagen. Wenn du mich eines Tages nicht mehr lieben solltest, mußt du es auch sagen, und wir gehen auseinander. Wenn du mich betrügst, werde ich nicht böse sein, aber ich muß es wissen. Versprichst du mir das?«

»Du hast komische Ideen morgens.«

»Ich denke schon lange darüber nach. Seit wir verheiratet sind. Willst du es nicht versprechen?«

»Aber ja.«

»Schau mich an. Damit ich spüre, ob es ein echtes Versprechen ist und ich mich auf dich verlassen kann.«

»Ich verspreche es. Schlaf jetzt …«

Sie war vielleicht nicht gleich wieder eingeschlafen. Um zehn Uhr morgens schlief sie noch immer, aber gelöster als sonst.

___________

»Madame Flament?«

»Monsieur …«

»Rufen Sie den Lagerverwalter. Sagen Sie ihm, er soll Ihr Büro nebenan einrichten.«

»Im Abstellraum?«

»Er soll seine Besen und Eimer woanders hinstellen. Es ist genug Platz in dem Schuppen am Ende des Hofes.«

Er sah, wie sich die Unterlippe seiner Sekretärin vorschob. Er sah auf die Blumen auf seinem Schreibtisch, und als er aufblickte, waren seine Augen noch abweisender als sonst.

»Sofort?«

»Ja sofort.«

»Habe ich etwas falsch gemacht?«

Wenn er so mit leiser Stimme, mit ausdruckslosem Gesicht und beinahe durchsichtigen Pupillen redete, konnte man Angst vor ihm bekommen.

»Ich habe Ihnen nicht gesagt, daß Sie etwas falsch gemacht haben. Rufen Sie den Lagerverwalter, er soll sich beeilen.«

Er stand auf und lehnte sich mit der Stirn ans Fenster, sah auf die Uferstraße, wo er als Kind gespielt hatte. Nach so langer Zeit wußte er nicht mehr, in welcher Reihenfolge sich das abgespielt hatte: zuerst die Szene am Bett und das berühmte Versprechen; dann Madame Flament und ihr Geruch … Dann diese abwegige Idee, als Sekretärin ihres Mannes zu arbeiten …

Sie war nicht nur eifersüchtig auf Frauen, sondern auch auf die Arbeit, auf alles an ihm, was nicht mit ihr zu tun hatte. So hatte er sie eingeschätzt!

Und das Bedauern, den alten Donge nicht gekannt zu haben! Wozu denn auch, du lieber Gott! Um den Stammbaum der Familie besser studieren zu können?

Was hatte sie ihm ein paar Wochen später gesagt? Nein! Es waren mindestens zwei Monate, wenn nicht sogar drei Monate danach, denn Jeanne hatte gerade laut und ungeniert verkündet, daß sie Nachwuchs erwarte.

»Ich hoffte, in der Ehe meine schlanke Linie wiederzubekommen!« scherzte Jeanne gutgelaunt. »Und Mama ist wütend …«

Félix war zufrieden. In seinem Leben ging alles glatt. Seine Schwiegermutter hatte eine Schwäche für ihn, während sie François immer mit einem gewissen Mißtrauen begegnete.

An einem Herbstabend gingen.François und Bébé auf dem Kai vor dem Haus spazieren. Auch die Nachbarn, in Gruppen oder Paaren. Die Sonne war untergegangen. Solange François zurückdenken konnte, gingen die Anwohner des Kais vor dem Schlafen noch einmal am Wasser entlang, um frische Luft zu schnappen. Nach einer langen Pause hatte Bébé, die sich bei ihm eingehängt hatte, geseufzt:

»Bist du mir nicht böse?«

»Warum?«

»Weil ich dich gebeten habe…«

»Worum hast du mich gebeten?«

Seltsam, er dachte, es handle sich um Madame Flament, und er bekam wieder schlechte Laune.

»Erinnerst du dich nicht? Noch zwei oder drei Jahre zu warten, bis …«

Und sie, die immer so klar und kontrolliert war, schien verwirrt. In diesen Augenblicken war sie ein ganz kleines Mädchen …

»Bis wir ein Kind haben, meinst du das?«

War es nur das?

»Aber nein, mein Liebes.«

»Ich muß dir sagen … Es ist nicht, weil ich so egoistisch bin und diese Jahre noch für mich haben will. Aber ich habe Angst, François.«

»Angst wovor?«

»Ich glaube, es wird danach nie mehr so wie früher sein. Wenn es dir aber nicht recht ist, wenn du lieber früher eins haben willst …«

Er hatte ihre Fingerspitzen mit spontaner Zärtlichkeit gedrückt:

»Armes Kleines.«

Sie machte sich Gedanken. Wenn er auch Kinder haben wollte, so hatte er es doch nicht eilig damit.

»So gibst du mir noch zwei Jahre?«

Gibst du mir! War er denn Gottvater? Schließlich …

»Aber ja … Zwei Jahre, vier Jahre … Soviel du willst. Was hast du?«

»Ich glaube, es wird kühl.«

»Du hast auch nie etwas an.«

»Entschuldige.«

Es stimmte auch! Sie wußte doch, daß es abends am Wasser kühl wurde. Sie wußte, daß er diese Stunde genoß, in der er sich entspannen konnte und nichts tun mußte. Warum also zog sie so ein lächerliches Spitzenkleid an und legte über die Schultern nur ein Seidenfetzchen, das sie nicht wärmte?

Eine andere Marotte war ihm eingefallen: wenn sie von da an zufällig ins Büro kam, um ihn um Geld zu bitten oder aus irgendeinem anderen Grund, so klopfte sie an. Sogar Madame Flament hatte es bemerkt und warf François jedes Mal einen verständnisvollen Blick zu.

Es war umso lächerlicher als …

Und der Rest geschah dann einfach so. Es war an einem Winterabend. Sie waren ins Theater gegangen und sahen sich eine Gastvorstellung an. Madame d’Onneville und Félix mit Jeanne waren auch da. Hinterher hatten sie noch im Café du Centre gesessen. François und Bébé waren zu Fuß nach Hause gegangen, und das Pflaster auf dem Gehsteig hallte unter ihren Schritten.

In einer Ecke in der Nähe der Brücke waren sie an einem Pärchen vorbeigekommen, das an die Mauer gedrückt stand und sich so eng umarmte, daß beide Körper zu einem zu verschmelzen schienen und man den leichten Schweißgeruch ahnen konnte.

Bébé hatte sich enger an ihren Mann gedrückt. Etwas weiter auf dem Kai, hundert Meter vor ihrem Haus, hatte sie sich so zu ihm hinübergebeugt, daß er sie in seine Arme genommen und zärtlich geküßt hatte.

Plötzlich hatte sie sich losgerissen, stand ganz abweisend vor ihm.

»Was hast du?«

»Nichts …«

»Aber mein Liebling … Vor einem Augenblick…«

Sie ging schnell. Sie wartete vor der Haustür, bis er sie aufgeschlossen hatte. Sie stürzte in ihr Zimmer.

»Willst du mir nicht sagen, was du hast?«

Ein kurzer, scharfer Blick.

»Willst du nicht?«

Er hatte seine Jacke ausgezogen, um es sich bequem zu machen.

»Hör zu, François. Erinnerst du dich an das Versprechen, das du mir an jenem Morgen gegeben hast? Mir alles zu sagen, ganz gleich, was geschieht? Bist du bereit, es zu halten?«

Er hatte plötzlich Angst bekommen.

»Ich verstehe nicht…«

»Warum lügst du? Es ist zwischen uns abgemacht, daß wir uns nicht anlügen, nicht wahr?«

Sie wirkte sehr ruhig und beherrscht.

»Weißt du wirklich nicht, warum ich dich gerade zurückgestoßen habe, als du mich geküßt hast? Nimm deine Jacke. Du hattest keine Zeit, dich vor dem Theater umzuziehen.«

Er konnte kaum ahnen, daß in diesem Augenblids ihre ganze Ehe auf dem Spiel stand. Er saß auf der Bettkante. Er überlegte, wog das Für und Wider ab, beobachtete Bébé und bewunderte ihre Beherrschung.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich nicht eifersüchtig bin. Was ich nicht sein will. Verstehst du? Ich bin danach deine Frau so gut wie vorher auch, weil ich deine Frau bin. Außerdem kannst du mir alles erzählen wie einem Kameraden, wie Félix.«

Er starrte auf den silbern angestrichenen Heizkörper, der vor kurzem aufgestellt worden war. Es blieben ihm nur ein paar Sekunden, um eine wichtige Entscheidung zu treffen.

»Ist Madame Flament schon lange deine Geliebte?«

Er wischte sich mit der Hand über die Stirn, dann fuhr er sich gegen den Strich durch die Haare, stand auf, blieb so regungslos mitten im Zimmer stehen.

»Antworte.«

»Ich schlafe schon jahrelang mit ihr, aber sie ist nicht das, was man eine Geliebte nennt.«

Schweigen. Er konnte sie nicht sehen und drehte sich nach ihr um. Sie hatte sich nicht gerührt und nicht mit der Wimper gezuckt. Sie beantwortete seinen Blick mit einem leichten Lächeln.

»Siehst du!«

»Was soll ich sehen?«

»Nichts. Ich dachte immer schon, sie sei eine Frau wie du sie magst.«

»Es kommt darauf an, wofür«, erwiderte er ungerührt.

»Eben. Ich habe es ganz genau gespürt vom ersten Tag an, und deswegen klopfte ich an, wenn ich in dein Büro kam.«

»Wenn du es wünschst, trenne ich mich von ihr.«

»Warum? Erstens ist es nicht ihre Schuld. Zweitens brauchst du dann eben eine andere.«

Es war ein eigenartiges Gefühl. François war erleichtert, doch zugleich lag etwas Ungewohntes in der Luft, das ihn beunruhigte wie ein schwankender Boden unter den Füßen.

Bébé war so ruhig! War nicht sie es, die ihn heiraten wollte? Wußte sie nicht …?

»Weiß Félix davon?« fragte sie und fing an, sich für die Nacht zurechtzumachen.

»Er ahnt es wohl. Wir reden nicht über solche Dinge.«

»Ach so!«

Warum dieses »Ach so«?

»Ihr Mann weiß von nichts?«

Da wurde François verlegener. Der Mann war Telefonmonteur. Ein rechtschaffener Mann mit Schnauzbart wie Vater Donge. Zwei- oder dreimal hatte er die Leitung in der Gerberei repariert und im Büro gearbeitet, als seine Frau und François auch da saßen.

»So, Monsieur Donge … Ich glaube, jetzt gibt es keine Störungen mehr …«

Und er streckte ihm seine große Hand hin, vermied es aus Scheu, sich von seiner Frau zu verabschieden, und sah nur einfach zu ihr hinüber.

»Er weiß nichts, nein.«

»Und dir, macht es dir nichts aus, wenn du daran denkst, daß abends … in dem Bett dieses Mannes…«

»Das ist viel weniger wichtig als du glaubst. Wenn ich dir sagte…«

»Was?«

»Nichts. Es ist zu lächerlich.«

»Du kannst es mir sagen, denn von nun an sind wir Kameraden.«

»Ich habe sie nie mit ihrem Vornamen angeredet. Ich kenne ihn nicht. Gleich danach, ohne Atempause, diktiere ich ihr:

In Beantwortung Ihres Schreibens vom Haben Sie’s, Madame Flament? Das Datum steht auf dem Brief. Ich muß Ihnen mitteilen, daß es uns unmöglich ist, Ihnen unter den gegebenen Umständen den Rabatt zu bewilligen.‹«

Sie lachte. Er sah ihr Gesicht nicht, weil sie sich über ihren Frisiertisch beugte, aber er hörte wie sie lachte, und er lächelte zufrieden und zog seine Schuhe aus.

»Siehst du, mein Liebling, so unwichtig ist das. Vor allem bin ich nicht dein Typ Frau. Gib es zu!«

»Es hängt davon ab wofür. Sicher ist, daß du niemals gewußt hast, und es wahrscheinlich nie wissen wirst, wie man liebt. Es ist übrigens nicht das einzige, was im Leben zählt. Bist du mir böse?«

»Warum sollte ich dir böse sein? Du warst offen.«

»Du wolltest es so, nicht wahr?«

»Ja.«

Er fragte sich in diesem Augenblick, ob er nicht Unrecht gehabt hatte. Und wenn? In Gottes Namen, denn hatte sie es nicht gewollt?

»Woran denkst du?« fragte er, als er sich schlafen legte.

Sie hatten schon neue Betten, ganz moderne Doppelbetten, die Bébé bestellt hatte. Das Zimmer war freundlich. Nichts erinnerte mehr an das Haus, wie es früher war.

»An nichts … Daran, was du mir soeben gesagt hast …«

»Bist du traurig?«

»Es gibt nichts, worüber ich traurig sein müßte.«

»Wenn du darauf bestehst, soll es nicht wieder vorkommen. Manchmal rühre ich sie Tage und Wochen nicht an. Dann, ohne besonderen Grund…«

»Ich verstehe.«

»Du kannst es nicht verstehen, weil du kein Mann bist.«

Sie ging ins neu eingerichtete Badezimmer. Man mußte eine Stufe hinuntergehen. Immer mußte man in diesem Haus über irgendwelche Stufen und gewundenen Gänge gehen.

Sie blieb lange. Er wurde unruhig. Es fiel ihm ein, sie könnte vielleicht weinen. Er wollte nachsehen, zögerte, schreckte vor einer eventuellen Szene zurück.

Er hatte recht gehabt, denn sie kam zurück mit trockenen Augen und einem ausdruckslosen Gesicht …

»Gute Nacht, François. Schlafen wir.«

Sie küßte ihn auf die Stirn, und als sie im Bett lag, machte sie das Licht aus.

___________

Als er sich umdrehte, trugen der Lagerverwalter und Madame Flament den Aktenschrank und die Schreibmaschine hinaus. Er schaute sie an wie leblose Gegenstände, dem fragenden Blick von Félix hielt er aber weniger gut stand.

»Der Vertrag mit der Gesellschaft der Grands Hôtels Européens?« fragte er, um sich zu fassen.

»Ich habe ihn letzte Woche unterzeichnet. Ich mußte dem Geschäftsführer zehntausend Francs geben, weil …«

»Fünftausend hätten auch gereicht«, sagte er kurz, als ob er sich an jemand rächen wollte, auch wenn es sein Bruder war.

Geistesabwesend öffnete er den Brief Olga Jaliberts.

Mein lieber François,

ich schreibe Dir aus dem Hotel Royal, Zimmer 133 … Erinnert Dich das an etwas? Wenn meine Tochter Jacqueline nicht bei mir wäre

Denn Olga Jalibert hatte eine dreizehnjährige Tochter, verschlossen und spitz, die Donge haßerfüllt ansah, als ob sie Bescheid wüßte.

Wer wußte übrigens, ob sie nicht Bescheid wußte? Ihre Mutter verbarg kaum etwas vor ihr …

Als ich von der Katastrophe erfuhr, dachte ich sofort, ich würde am besten für einige Zeit verschwinden, und da gerade noch Ferien sind … Gaston war auch meiner Meinung. Wir haben selbstverständlioh über nichts gesprochen, aber ich spürte seine Unruhe und daß er versuchen würde, mit Dir zu reden. Ich habe gerade einen Brief von ihm bekommen, in dem er schreibt, daß es Dir den Umständen entsprechend gut geht und sich alles gut anläßt.

Ich kann die Tat Bébés immer noch nicht fassen. Erinnere Dich jedoch an das, was ich Dir gesagt habe, als Du mir sagtest, sie wüßte alles. Siehst Du, mein armer François, Du kennst die Frauen und vor allem die jungen Mädchen nicht, und sie ist eigentlich ein kleines Mädchen geblieben.

Nun! Es ist nichts mehr rückgängig zu machen. Ich hatte große Angst um Dich. Man weiß nie, wo in einer Kleinstadt der Skandal aufhört.

Wenn Du aus dem Krankenhaus entlassen wirst (nach dem, was Gaston schrieb, bist Du wahrscheinleich schon entlassen, wenn dieser Brief ankommt), wenn Du aus dem Krankenhaus entlassen wirst, hoffe ich, es wird Dir möglich sein, hierher zu kommen. Teile mir vorher telefonisch Deine Ankunft mit, damit ich Jacqueline zum Tennis oder woandershin schicke mit ihren Freundinnen.

Ich habe Dir viel zu erzählen. Ich sehne mich nach Dir. Rufe am besten während der Essenszeit an, aber ohne Deinen Namen zu nennen, damit man ihn nicht im Speisesaal ausruft. Ich sehne mich danach, in Deinen Armen zu liegen. Ich bete Dich an.

Deine

Olga

»Félix!«

Sicher hatte Félix von weitem die Schrit auf dem Brief erkannt, den François immer noch in der Hand hielt.

»Du brauchst mich heute nachmittag nicht mehr, oder?«

Er merkte, daß Félix es falsch verstand. Zum ersten Mal vielleicht meinte er einen Vorwurf im Blick seines Bruders zu sehen.

Da lächelte er, so entspannt wie selten, mit einem kleinen Schuß Ironie, wie um den Schein zu wahren.

»Ich glaube, ich bleibe heute über Nacht auf La Châtaigneraie. Ich brauche noch etwas Ruhe. Soll ich deiner Frau etwas ausrichten?«

»Eigentlich nicht. Ich fahre Samstag hinaus und bleibe bis Sonntag abend. Warte … Ich glaube, sie hat mir aufgetragen ungesalzene Butter mitzubringen.«

»Ich bringe sie ihr mit.«

Plötzlich fuhr er sich mit der Hand über die Augen.

»Was hast du, François?«

Es sah aus, als ob er taumelte, als ob ihn die Kräfte verließen.

»Nichts … Laß mich …«

Er nahm die Hände vom Gesicht.

»Du bist noch geschwächt.«

»Ja … Ein bißchen…«

Doch hatte Félix eine leichte feuchte Spur auf der Wange gesehen.

»Bis morgen, Alter.«

»Du fährst ohne zu essen?«

»Dort wird es auch etwas zu essen geben.«

»Findest du es gut, daß du selber fährst?«

»Hab keine Angst, komm! Was die zehntausend Francs betrifft, die du bezahlt hast als Provision …«

»Ich dachte, es sei richtig so.«

»Genau. Das denke ich auch. Du hattest recht.«

Félix verstand nicht. François hätte auch Mühe gehabt, es zu erklären.

Beide horchten im selben Augenblick auf. Man hörte ein ungewöhnliches Geräusch, konnte aber nicht genau ausmachen, woher es kam. Schließlich drehten sie sich nach der Tür um, die zum Abstellraum ging.

Madame Flament saß ganz allein in ihrer Ecke und weinte in kleinen, gleichmäßigen Schluchzern, hatte beide Arme auf der Schreibmaschine und das Gesicht in den Armen.

6

Der Anblick eines kleinen weißen Autos, eines Zweisitzers, vor dem Portal von La Châtaigneraie stoppte seinen Flug. Denn von der Stadt, vom Quai des Tanneurs weg flog er wie zu seinem ersten Rendezvous.

Wer konnte auf La Châtaigneraie zu Besuch sein? Das Portal war geschlossen. Mit hochgezogenen Brauen stieg er aus dem Wagen, öffnete es und warf einen Blick in den Park. Unter dem orangefarbenen Sonnenschirm sah er seine Schwägerin Jeanne in einem Liegestuhl. Eine andere Frau mit einem Hut auf dem Kopf saß ihr in einem Korbstuhl gegenüber, aus der Entfernung war sie für François nur ein Farbfleck.

Um das Auto in die Garage zu fahren, mußte er auf der roten Ziegelallee an dem Sonnenschirm vorbei. Als er näherkam, richtete sich eine dänische Dogge auf dem Rasen auf, weiß mit schwarzen Flecken. François begriff. Es war Mimi Lambert, die von ihrem Sessel aufsprang und zu Jeanne sagte:

»Ich möchte ihm lieber nicht begegnen.«

François fuhr den Wagen in die Garage, ließ die Tür offen und ging hinüber zum Sonnenschirm. Er sah, wie sich seine Schwägerin mit den Ellbogen am Portal aufstützte und Mimi Lambert am Steuer ihres Wagens saß, mit dem Hund daneben, der einen Kopf größer als sie war.

Man hatte einen Aperitif serviert, und François’ Blick blieb automatisch an den Kristallgläsern hängen, deren bauchige Form ungewöhnlich und raffiniert war. Durch das Eis waren sie leicht beschlagen.

Die Zitronenschalen zitterten in einem Rest hübscher roter Flüssigkeit.

»Guten Tag, François! Wie geht’s?«

»Guten Tag, Jeanne. Die Kinder?«

»Ich habe sie mit Marthe zu den Quatre-Sapins geschickt. Sie werden bald zurück sein.«

Sie legte sich wieder in ihren Liegestuhl. Wenn sie stand, wirkte sie übermäßig aktiv, aber wenn sie sich ausruhte, nahm sie instinktiv die liegende Stellung ein, wie ein Tier, das sich entspannte.

»Wollte Mademoiselle Lambert mich nicht begrüßen?«

»Sie flüchtete, die Arme! Du scheinst ziemlich grob zu ihr gewesen zu sein.«

Er saß beinahe auf demselben Platz wie an dem Sonntag des Dramas, und er nahm sich einen Aperitif, trank ihn langsam aus, während er den Park, den Tisch, den Sonnenschirm mit einem beinahe wollüstigen Blick in sich aufnahm. Vielleicht lag es an seiner physischen Schwäche, daß er so empfindsam reagierte. Vorhin, auf der Landstraße, hatte er es kaum erwarten können, endlich da zu sein, den weißen Zaun, das rote Dach von La Châtaigneraie zu sehen, so daß er krampfhaft das Steuer umklammerte.

»Ich hätte ganz gern mit ihr gesprochen.«

Eine lange Hopfenstange, in der Stadt wurde sie »die lange Hopfenstange« genannt. Wie alt war sie jetzt? Ihr Alter ließ sich schlecht schätzen. Sie war immer genauso gewesen, zu groß, kräftig gebaut, mit einem fast männlichen Gesicht und einer tiefen Stimme. Sie trug nur Kostüme, die ihr männliches Aussehen betonten, und bei ihr zu Hause, Au Moulin, wo sie eine Zucht dänischer Doggen betrieb, lief sie in Reithosen und Stiefeln herum.

Wenn sich Fremde, die in La Vie & la Campagne die Anzeige von der Hundezucht Au Moulin gelesen hatten, nach dem Weg erkundigten, antworteten die Leute leicht ironisch:

»Das Haus mitten auf der Brücke. Sie können es nicht verfehlen.«

Alles an Mimi Lambert war originell, ihr Benehmen, dieses Haus, das merkwürdige Haus, das auf einer Brücke stand, etwas stromabwärts der Stadt, diese riesigen Hunde, die sie in viel zu kleinen Autos spazierenfuhr, ihre Inneneinrichtung …

»Darf ich fragen, was sie hier wollte?«

»Natürlich! Sie ist genauso wie alle anderen. Es ist unglaublich, wie dumm die Leute sein können. Die Lambert bildet sich ein, daß sie auch schuld ist an dem, was passiert ist.«

Sie schaute auf, um ihren Schwager anzusehen, der schwieg.

»Hörst du mir zu?«

»Laß dich nicht stören. Ich höre zu. Ich überlege.«

»Sie sagte mir ein paar Dinge, die ich nicht verstanden habe, weil ich nicht weiß, was gewesen ist. Unter anderem hätte sie dein Verhalten ignorieren und Bébé weiterhin besuchen sollen. Stimmt es, daß du ziemlich unhöflich zu ihr warst?«

Es stimmte. Mimi Lambert hatte an Bébé einen Narren gefressen. Das ging soweit, daß böse Zungen behaupteten, zwischen den beiden Frauen bestünden nicht nur freundschaftliche Beziehungen.

François war nicht eifersüchtig. Ihn regte auf, daß er jedesmal, wenn er zu seiner Frau kam, sicher sein konnte, die lange Hopfenstange dort anzutreffen, die sich wie zu Hause zu fühlen schien. Sie sagte kaum Guten Tag. Man ließ ihn spüren, daß er überflüssig war. Die Unterhaltung hörte abrupt auf. Die beiden Frauen warteten darauf, daß er wieder ging. Oder wenn er Anstalten machte zu bleiben, stand Mademoiselle Lambert auf und küßte Bébé auf die Stirn.

»Also! Bis morgen, meine Liebe. Ich bringe dir mit, was ich versprochen habe.«

Wenn François daraufhin fragte: »Was hat sie dir versprochen?« antwortete Bébé lediglich: »Nichts. Es ist belanglos.«

So ging das länger als vier Jahre. Fremdartiger Zigarettenduft lag in Bébés Zimmer.

Vor ungefähr einem halben Jahr war François eines Tages die Geduld gerissen. Oder er benahm sich so, wie es unter bestimmten Umständen seine Art war. Monate-, jahrelang ertrug er alles. Dann aber war er mit seiner Geduld am Ende, und er wurde ausfallend.

Damals — es war auf La Châtaigneraie, und er hatte nach einer Woche harter Arbeit den Wunsch, sich zu Hause zu fühlen —, damals hatte er Mademoiselle Lambert kühl und unfreundlich angeschaut, die sich in Bébés Zimmer häuslich niedergelassen hatte. Mit dieser unbewegten Miene, die seine Angestellten und Arbeiter fürc‘hteten, hatte er zu ihr gesagt:

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, Mademoiselle Lambert, mich ab und zu mit meiner Frau allein zu lassen?«

Sie war ohne ein Wort gegangen. Sogar ihre Handtasche hatte sie liegenlassen. Sie wurde am nächsten Tag abgeholt, und seitdem war Mimi Lambert nie wieder gekommen.

___________

»Kann ich weiterreden? Langweilt es dich auch nicht?«

»Aber nein.«

»Ich sagte, aber du hast mir nicht mehr zugehört, daß Mimi eigentlich nicht boshaft ist. Sie ist nur schrecklich überspannt wie die meisten alten Jungfern. Sie ist gekommen, um mir von ihrem Gewissenskonflikt zu erzählen, so sagte sie wenigstens. Für Bébé war ihre Freundschaft mehr als ein Halt. Wie sagte sie genau? Es war ihr gelungen, Bébés Leben einen Sinn zu geben. Und deshalb war es nicht richtig von ihr, aus Ärger, noch dazu Ärger mit einem Mann, sie sich selbst zu überlassen. Warum lächelst du?«

»Ich lächle nicht. Erzähl weiter.«

»Sie möchte Bébé gern besuchen und sie trösten. Sie will um eine Besuchserlaubnis bitten. Ich habe ihr geraten, meine Schwester im Augenblick lieber in Ruhe zu lassen. Es kommt zu einem regelrechten Wettstreit, wer über Bébé die größten Dummheiten sagt. Gestern zum Beispiel waren die Damen Lourtie hier, ganz zufällig … Du kennst doch Laurence Lourtie, die Frau des Bierbrauers?«

Flüchtig. Er kannte die ganze Stadt, aber ein paar Personen konnte er sich nur schemenhaft vorstellen. Eine beleibte Frau mit fliehendem Kinn …

»Wir treffen uns bei der Goutte de Lait. Sie wollte mich angeblich um Rat fragen wegen dieses Wohltätigkeitsvereins. Wie zufällig hatte sie in ihrem Auto die kleine Villard, die Nichte von Maître Boniface. Ich habe sie hier im Garten empfangen und mußte ihnen Tee anbieten. Ich hatte keine Kekse mehr.

›In bezug auf diese arme Bébé…‹

Seufzer und Andeutungen. Meiner Meinung nach hat Maître Boniface seine Nichte absichtlich hergeschickt, um herauszubekommen, was wir denken. Eine Art kleine Verschwörung.

›Es gibt Leute — Sie wissen ja, was so geredet wird —, die behaupten, sie hat aus der Türkei Rauschgift mitgebracht und hätte mit einer ihrer Freundinnen…‹

Sie spielten auf Mimi Lambert an! Gibt es denn so was! Bébé sollte sich mit 16 Jahren, denn so alt war sie als wir nach Frankreich zurückkehrten, an Rauschgift gewöhnt haben!

Trotzdem hättest du es gemerkt, wird gesagt, und hättest diesen Orgien ein Ende gemacht! Was haben Sie noch erzählt? Ach ja, Dominique, der Apotheker, gibt doch eine kleine Wochenzeitung heraus. Er behauptet überall, daß er an einem geharnischten Artikel schreibt, in dem er die ganze bürgerliche Gesellschaft der Stadt gehörig abkanzelt. Hörst du mir zu?«

Nein, François hörte nicht mehr zu. Er war traurig. Er hatte gerade die ruhige und milde Luft des Krankenhauses eingeatmet, erinnerte sich an sein weißes Bett, an Schwester Adonie mit den Händen auf dem Bauch, an das Klappern des Rosenkranzes und an die Gestalten der alten Leute in ihren blauen Anzügen im schattigen Hof, die langsam herumliefen. Kaum war er entlassen, hatte er schon Heimweh danach.

»Die Kinder kommen gar nicht«, bemerkte er und drehte sich unwillkürlich zur Hecke hinüber.

»Es ist noch nicht spät.«

Es war Mittag. Wenn Bébé da wäre, säßen die Kinder schon am Tisch. Aber bei Jeanne wurde der Haushalt einfach vernachlässigt.

»Wo gehst du hin, François?«

»Ich gehe kurz hinauf.«

Beinahe hätte er geantwortet:

»Ich gehe zu Bébé.«

Aber eigentlich war es so. Er wollte durch diesen Wust von Klatsch und Gerede die Verbindung zu ihr wieder neu aufnehmen. Fand er nicht schon im Eßzimmer, das immer noch abgedunkelt war und nach Bohnerwachs und reifem Obst roch, Bébés Ordnung und Klarheit wieder?

Sie hatte das Haus eingerichtet und geprägt. Diese hellen, in Pastelltönen gehaltenen Zimmer. Diese Seidenvorhänge, durch die auch der kleinste Sonnenstrahl dringen konnte …

Auch dieser zarte, etwas ätherische Charakter, der ihrem Tun eigen war und auch von ihrer Person auszugehen schien.

Zwischen der Zeit am Quai des Tanneurs, als sie das väterliche Haus modernisierte, und der Zeit, die man die Ära Mimi Lambert nennen konnte, lagen mindestens drei Jahre. An diese Jahre besaß er nur ganz wenige Erinnerungen.

Er stand auf der Höhe seiner Kraft, mitten in der Expansion. Damals ging er mit Schwung an seine geschäftlichen Unternehmungen heran. Er war viel gereist, mit oder ohne Félix. Heikle Kapitalfragen hatten geregelt werden müssen. Er ließ sich durch nichts beirren in dem Gefühl, daß ihm alles gelingen würde; und es gelang ihm tatsächlich alles.

Hatte Bébé nicht allen Grund zufrieden zu sein? Wenn er nach Hause kam, waren ihre Mutter oder ihre Schwester bei ihr. Er küßte sie. Es war alles in Ordnung so. Hatte sie nicht gesagt, sie wolle ihrem Mann ein Kamerad sein? Er hatte keine Zeit, sich um sie zu kümmern, und wenn sie melancholisch war, schob er diese Laune auf ihre Gesundheit.

»Ich möchte dich etwas fragen, François …«

Sie hatten gerade La Châtaigneraie gekauft, und die Bauarbeiten hatten begonnen.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir jetzt ein Kind bekommen würden?«

Er hatte zwar die Stirn gerunzelt. Er war auf diese Frage nicht gefaßt, vor allem wurde sie sehr kühl, Wie eine geschäftliche Angelegenheit vorgebracht.

»Willst du ein Kind?«

»Es würde mir Freude machen.«

»Dann …«

Nach einiger Überlegung war er einverstanden gewesen. Bébé hätte eine Aufgabe. Sie wäre weniger allein, wenn er mehrere Tage nicht da wäre.

Er sah sie wieder, als sie schon schwanger war, blasser als sonst, und von morgens bis abends die Bauarbeiten überwachte. Er hielt es für seine Pflicht, ihr Blumen und Bonbons mitzubringen. Und als im Herbst drei Zimmer fertig waren, hatte sie darauf bestanden, den Winter auf La Châtaigneraie zu verbringen.

___________

»Monsieur, es ist serviert.«

Er zuckte zusammen. Marthe stand in der Tür und sah ihn auf dem Bett seiner Frau sitzen.

»Ist Jacques zurück?«

»Alle sitzen am Tisch.«

Er ging hinunter. Sein Sohn stand nicht auf, sah ihn aber mit einer gewissen Neugier an; er hielt ihm die Wange hin und gab seinem Vater einen Kuß, der aber nur das Ohr streifte. Jeannes Kinder waren auch da, hatten die Servietten um den Hals gebunden.

»Sagt dem Onkel guten Tag.«

»Guten Tag, Onkel.«

Er mußte sich abwenden, um eine leichte Verwirrung zu verbergen. Dann setzte er sich seinem Sohn gegenüber. Er hatte soeben ein eigenartiges Gefühl gehabt. Als er sich über Jacques Gesicht beugte, hatte er für den Bruchteil einer Sekunde geglaubt, sich über Bébé zu beugen; sie war auch so blaß, hatte auch diese durchsichtige Haut und diese abwesende, in sich gekehrte Art.

Warum hatte er jahrelang, wenn er von dem Jungen sprach, unabsichtlich »dein Sohn« gesagt?

Doch konnte er ihn nicht verleugnen, wegen dieser Nase der Donges, dieser langen und schiefen Nase, die sein Gesicht so unsymmetrisch machte.

Wenn man ihn näher betrachtete, sah er nicht aus wie der Sohn eines Mannes; er war der Sohn einer Frau und hatte deren Anmut, Zartheit, Verschlossenheit.

Jacques schaute seinen Vater so ernst wie einen Fremden an. Es kam vor, daß er ihn im Garten oder in der Garage traf, aber eigentlich nur, wenn er seine Angelschur in Ordnung bringen oder ein Spielzeug reparieren sollte. Ohne Herzlichkeit. Niemals diese warme, vertrauensvolle, physische Verbundenheit, wie sie zwischen Jacques und seiner Mutter bestand.

Hatte sich François deswegen nicht um ihn gekümmert? Er mochte von Natur aus keine Schwächlinge, genauer, er ignorierte sie, überging sie und maß ihnen keine Bedeutung bei; er hatte lieber mit den aufgeweckten Kindern seiner Schwägerin als mit seinem eigenen gespielt.

»Iß, Jacques«, murmelte Jeanne nicht gerade überzeugend. »Du weißt, Mama wäre nicht zufrieden, wenn sie dich so trödeln sähe.«

Das Kind schaute sie finster an, beobachtete seinen Vater und fing dann mit verächtlichen Bewegungen zu essen an.

»Wo gehst du hin, François?«

Er stand vom Tisch auf, lange bevor alle fertig waren, und ging zur Treppe. Eine beinahe schmerzliche Ungeduld hatte ihn gerade ergriffen, und seine Finger zitterten. Er mußte allein sein, wollte wieder wie ein Besessener Bébé suchen.

Warum hatte er sie nicht verstehen können? Er ging oben im Zimmer umher und hätte beinahe wie ein Witwer den Schrank seiner Frau geöffnet, um die duftigen Kleider zu berühren und ein Ende vom Schal zu küssen.

Er hatte nichts begriffen, nie! Und das vom ersten Tag an! Von Royan an! Von Cannes an! Noch früher, in seiner Kindheit schon, als seine Mutter, die immer fleißig wie eine Ameise durchs Haus gelaufen war, respektvoll sagte:

»Gebt acht! Euer Vater kommt nach Hause.«

Mußte ein junges Mädchen, weil sie d’Onneville hieß (und das »de« nicht einmal echt war) und weil sie im elegantesten und weltstädtischsten Viertel Konstantinopels aufgewachsen war, anders behandelt werden wie die Frau des Gerbers Donge?

Wer hatte vorhin das Wort überspannt gesagt? Das Leben ist kein Roman, es besteht nicht aus Jungmädchenträumen, sondern aus der harten Wirklichkeit. Bébé sollte sich daran gewöhnen, wie alle anderen auch, dann würde sie ihn nicht mehr ansehen wie eine scheue Gazelle, sobald er auf sie zuging. Er stand im besten Mannesalter, mitten im Aufstieg. Er hatte keine Zeit, sich um die Launen eines Mädchens zu kümmern! Und wenn sie kein Temperament besaß, mußte er deswegen sein ganzes Leben auf Leidenschaft verzichten?

Hatte sie ihn endlich verstanden? Umso besser! Nach allem schien sie gar nicht so weltfremd zu sein. Er gab ihr alles, was ihr Herz begehrte. Sie mochte das Schlafzimmer seiner Eltern nicht am Quai des Tanneurs? Gut, richte es anders ein, meine Liebe! Wenn du nur nicht an mein Büro rührst …

Die Bilder von Mutter und Vater Donge auf beiden Seiten der Betten störten sie! Sie kannte sie schließlich nicht. Einverstanden! Er nahm sie in sein Reich mit hinunter.

Wenn sie sich nur nicht in seine Angelegenheiten einmischte und ihm das Leben schwer machte. Wie bei Madame Flament! Was konnte ihr das ausmachen, wenn sie überhaupt keine Ahnung hatte, was Sinnlichkeit war?

Nun! Sie würde sich daran gewöhnen! Sie würde genauso werden wie die anderen! Dann würde es ihr auch besser gehen.

Wenn es aber um die Geschäfte ging … Nein und nochmals nein! Keine Frau, die jeden Tag zwei oder drei Stunden für ihre Toilette braucht, sich Eigelb auf die Wangen streicht, um ihren Teint zu erhalten, sich mit Sehönheitscremes beschmiert und die Hände mit feuchten Tüchern umwickelt, damit sie weiß bleiben!

»Wie geht es, mein Kleines?«

»Es geht.«

»Hattest du einen guten Tag?«

»Nicht zu schlecht.«

Warum sagte sie nicht gut, wenn es ihm Freude machte? Und all die andern Komplikationen:

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir erst in zwei oder drei Jahren ein Kind bekommen?«

»Bist du böse über das, was ich dir neulich gesagt habe?«

Um dann eines Morgens im Geschäftsston zu erklären:

»Ich möchte sofort ein Kind haben!«

Jeanne hatte ihre Kinder bekommen wie andere Leute Kekse essen. Und Félix wurde nie mit diesen zweideutigen Blicken belästigt, die Bébé ihm immer zuwarf, wenn er nach Hause kam.

Manchmal sah es so aus, als ob er ihr Feind war, zumindest ein Störenfried. Wenn sie schrieb, richtete sie es so ein, daß er nicht lesen konnte, was sie geschrieben hatte.

»Was hast du gemacht?«

»Nichts.«

»Langweilst du dich?«

»Nein. Und du? Hast du viel arbeiten müssen?«

»Ziemlich.«

»Hast du viele Leute getroffen?«

»Alles geschäftlich.«

Ein langes dünnes Lächeln. In jenen Augenblicken hatte er manchmal den Wunsch verspürt, sie zu ohrfeigen. Oder wegzugehen und zu sagen: »Ich komme erst wieder, wenn du mich anders begrüßt.«

Es sollte noch schlimmer kommen. Plötzlich wurde er rot, als er daran dachte. An dem Tag, an dem sie sich das Kind gewünscht hatte … Er fand dies so aufreizend, daß er sie auf der Stelle genommen hatte. Sie hatte sich auch nicht gewehrt. Sondern nur ganz normal gefragt:

»Bist du sicher, daß du gesund bist?«

Weil er ja Geliebte hatte! Weil er ja ab und zu mit Madame Flament schlief! Weil er auf seinen Geschäftsreisen kein Abenteuer ausließ!

»Ich bin völlig gesund, du brauchst keine Angst zu haben!«

Was hatte sie dann mit der gleichen eintönigen Stimme, die ihn so störte, geantwortet?

»Dann ist es ja gut!«

So wurde ihr Kind gezeugt! An jenem Tag wollte François ihr sagen:

»Da hast du es, dein Kind. Vielleicht wirst du jetzt eine Frau wie alle andern. Du wolltest doch Madame Donge sein.«

Als er so in dem mandelgrünen Schlafzimmer auf und abging, schlug er plötzlich mit der Faust an die Wand, als wollte er sie einschlagen und schrie mit einer an Raserei grenzenden Wut:

»Idiotisch! Idiotisch! Idiotisch!«

Er! Sie! Das Leben!

Es war idiotisch, sich so lange — wie lange? Zehn Jahre! — wehzutun. Die zehn besten Jahre des Lebens! Idiotisch sich von morgens bis abends nur wehzutun. Idiotisch, im selben Zimmer Seite an Seite zu schlafen, ein Kind zu zeugen und einander doch nicht verstehen können.

Er war auf La Châtaigneraie gekommen, um zur Ruhe zu kommen, um Bébé wiederzufinden, aber vor ihrem Bild, wie er es überall antraf, packte ihn eine riesige Empörung sich selber gegenüber.

Warum, ja warum, wegen welcher Verirrung hatte er nicht begriffen? War er ein Ungeheuer, wie seine Frau annehmen mußte? War er egoistischer, blinder als jeder andere?

War er ganz einfach nur ein Mann?

An manchen Tagen hatte er sie gehaßt, wie ihm jetzt klar wurde. Viele Abende hätte er nach La Châtaigneraie fahren können, hatte aber in letzter Minute gezögert, nicht um zu irgendeiner Geliebten zu gehen, sondern um ihr nicht zu begegnen, ihr, mit ihrem kalten Blick, der urteilte und verurteilte. An solchen Abenden legte er sich ganz allein am Quai des Tanneurs ins Bett und las, bis er einschlief.

»Hattest du gestern viel Arbeit?«

»Ja, Ziemlich.«

Sie glaubte ihm nicht. Sie war überzeugt, daß er ein neues Abenteuer hatte. Und jetzt war er sicher, daß sie an ihm roch, an seinen Kleidern, seinem Atem, um einen fremden Geruch festzustellen. Er kam von draußen, brachte frische Luft mit, Leben in dieses wie ein Kloster so stille und friedliche Haus, in dem Bébé lebte und für ihr kränkliches Kind sorgte.

»Sie nimmt mir meine Vitalität übel!« hatte er mehrmals gedacht. Sie ist wütend, daß die Gesundheit des Kleinen sie auf dem Land festhält. Geht es nicht vielen Frauen so? Meine Mutter … Ist es, weil sie eine d’Onneville ist? Niemals ein Vorwurf. Sie war zu stolz, um ihm Vorwürfe zu machen. Im Gegenteil: je mehr sie ihn haßte, desto mißtrauischer und vorwurfsvoller wurde sie ihm gegenüber und desto mehr achtete sie auf kleinste Details seines Benehmens. Sicher wollte sie, daß man in der Stadt sagte:

»Bébé Donge ist wirklich die ideale Gattin und Mutter.«

Kam er im Auto nach Hause? Sie kam ihm bis zur Garage entgegen und hielt Jacques an der Hand.

»Sag deinem Vater guten Tag.«

»Guten Tag, Papa.«

Sie lächelte, aber es war ein freudloses Lächeln.

»Hattest du viel zu tun?«

»Ziemlich.«

Für ihn hatten ihre Sätze schließlich eine doppelte Bedeutung bekommen. »Hattest du viel zu tun«, hieß das nicht:

»Du hast dich gut amüsiert, während ich hier…«

War es seine Schuld, wenn sie eine so zarte Konstitution hatte und ihr Kind blaß und lang wie eine Bohnenstange war? Sollte er darauf verzichten zu leben, etwas zu unternehmen, aufzubauen, das Leben zu führen, für das er sich geschaffen fühlte?

Er sah klar. Schon als Kind sagte man von ihm: »Er hat kleine, schreckliche Augen, die den Dingen auf den Grund sehen.«

Nun! Sie war also eifersüchtig, eifersüchtig auf alles, auf Frauen, auf sein Büro, auf seine Geschäfte, auf die Cafés, in die er sich setzte, auf das Auto, das er fuhr, auf die Freiheit, die er hatte, zu kommen und zu gehen, wie er wollte, auf die Luft, die ihn umgab, auf seine Gesundheit, auf …

Als er eines Tages wütend in die Stadt zurückfuhr und am Steuer Selbstgespräche führte, hatte er es noch klarer erkannt. Bébé hatte ihn geheiratet, weil sie eifersüchtig war auf ihre Schwester, eifersüchtig auf das Paar Félix und Jeanne, wie sie in Royan vor ihnen liefen und schon in der Zukunft lebten.

Warum sollte sie nicht auch einen Mann haben? Auch zu einem Paar gehören? Sollte sie allein bei ihrer Mutter bleiben? Sollte sie sie noch lange von Strand zu Strand und von Ball zu Ball begleiten, bis …

Er würde es genauso machen wie sie. Sie hatte ihr Leben auf ihre Art eingerichtet. Sie spielte in ihrem Zimmer mit ihren Schminksachen und ihren Cremes so wie ein kleines Mädchen mit ihrer Puppe, sie spielte mit ihrem Sohn, sie spielte mit dem Haus, in dem sie dauernd etwas veränderte.

Sie benahm sich korrekt zu ihm, redete aber mit ihm nie über sich selbst oder über sie beide.

Er würde es genauso machen. Er würde nun nach La Châtaigneraie kommen, sich umziehen, in den Garten gehen, den Tennisplatz in Ordnung bringen, auf Félix warten, um mit ihm eine Partie zu spielen. War sie nicht auch eifersüchtig auf Félix? Waren sie nicht die Donges, im Gegensatz zu den d’Onnevilles?

Olga Jalibert hatte es durchschaut; sie war zwar nicht intelligent, besaß aber Einfühlungsvermögen.

»Das Schlimme für dich ist, daß deine Frau keine Frau, sondern ein junges Mädchen ist. Ach! Sie wird es immer bleiben! Sie ist unfähig, dir zu folgen. Sie träumt davon, sich ihr Leben lang in einem poesievollen Rahmen von der Strömung eines Flusses treiben zu lassen und dem Mann, der ihr gegenüber rudert, Liebesworte zuzuflüstern.«

Olga hatte Sinn für Realitäten. Sie hatte Sinn für die Liebe. Sie hatte vor allem ein Gefühl für den Mann.

»Wenn du so weitermachst, und ich weiß, daß du weitermachst, bist du nach einiger Zeit der mächtigste Mann in der Stadt. Dann kannst du, wenn du willst, noch weiter kommen. Erinnere dich daran, was ich dir heute sage.«

Als sie so redete, lag sie nackt auf dem Bett, rauchte eine Zigarette und streichelte dabei ihre kleinen Brüste, die er gerade liebkost hatte.

»Wir hätten uns früher begegnen sollen. Gaston bringt nichts auf die Beine, wenn man ihn nicht antreibt. Du und ich zusammen …«

Ob Bébé den Geruch von Olga Jalibert an ihm bemerkt hätte? Es war anzunehmen. Auch, daß sie, wenn er schlief, an seiner Haut roch.

»Ich möchte dir einen Rat geben, François. Glaube nicht, daß ich eifersüchtig bin. Du solltest auf der Hut sein vor Madame Jalibert. Es kann sein, daß ich mich täusche, aber ich habe den Eindruck, daß man dich zu sehr antreibt.«

Sieh an! Sieh an! Hatte sie zu allem Überfluß auch noch Geschäftssinn und fürchtete um ihr Vermögen? Ausgerechnet am Abend vorher hatte ihm Olga von einem Klinikprojekt erzählt, einer Klinik, bei der er einer der Hauptaktionäre sein könnte und …

»Hab keine Angst. Ich weiß, was ich tue.«

Er hatte das Geld beinahe aus Trotz in die Klinik gesteckt!

Was konnte man ihm denn vorwerfen? Er gab seiner Frau so viel Geld, wie sie wollte. Sein Geschäft ging besser denn je. Auch kam er, so oft es ging, nach La Châtaigneraie. Er war anspruchslos. Er gab beinahe nichts für sich selber aus. Seine Liebesgeschichten oder Affären hatten bisher nicht den geringsten Skandal verursacht.

Sollte sie es doch jemandem in der Stadt erzählen. Man würde ihr antworten:

»Die Donges wissen, was sie wollen. Sie werden es noch weit bringen.«

Und alles trotz eines jungen Mädchens mit zuviel Phantasie, das in Paris Kleider im Wert von mehreren tausend Francs bestellte, um damit allein in einem abgeschiedenen Park auf dem Land spazierenzugehen, und das zusammen mit einer Mimi Lambert versuchte, englische Dichter zu übersetzen.

Das machten die beiden! Mit soviel Eifer, als ob das Schicksal der Welt davon abhängen würde! Und wenn François nach Hause kam, um sich ein paar Stunden in der frischen Luft zu erholen, geriet Clo, die Köchin, außer sich:

»Sie haben die Champignons vergessen!«

Oder die Butter oder das Salz oder irgend etwas anderes, das man in Ornaie nicht bekam.

»Könnten Sie nicht mal nach dem Wasserhahn in der Waschküche sehen?«

Im Schlafanzug reparierte er den Wasserhahn, walzte den Tennisplatz. Während dieser ganzen Zeit blieben die Vorhänge im Schlafzimmer zugezogen. Bis zehn oder elf Uhr morgens. Schließlich kam Bébé herunter, hergerichtet wie für einen Ball, geschmeidig und gelockt, mit der Unterwäsche einer großen Kokotte und sagte mit starrem Lächeln:

»Bist du noch nicht angezogen, François? Wir essen gleich…«

___________

»Was machst du?«

Er blieb überrascht stehen, merkte, daß er mitten im Zimmer stand, konnte sich aber nicht erinnern, daß er kurz vorher wütend auf und ab gegangen war.

»Was hast du?«

Jeanne stand da und war etwas erschrocken; er betrachtete sich in dem dreiteiligen Spiegel und sah ein verstörtes Gesicht, fiebrige Augen und wirre Haare. Er hatte seine Krawatte aufgemacht, die nun rechts und links vom Hals herunterhing.

»Ich frage mich, ob es gut war, daß du hierherkamst, um dich auszuruhen. Meiner Meinung nach wärst du besser bei Félix am Quai des Tanneurs geblieben. Du denkst zuviel nach.«

Er schaute sie an und lächelte bitter, wie sie so verwirrt dastand und immer bemüht war, den Frieden und die Ruhe in ihrer Umgebung wiederherzustellen.

»Wenn du vielleicht ein bißchen wegfahren würdest. Wir haben Bébé nie verstanden, weder die einen noch die anderen. Ich glaube, sie geht nach ihrem Vater, der … Aber das erzähle ich dir ein andermal. Mama wäre wütend …«

»Sag mal, Jeanne …«

Sie war überrascht, wie unerwartet schroff er sie anredete.

»Sage mir offen … Hast du den Eindruck, daß ich ein Ehemann wie jeder andere bin … daß ich ein guter Ehemann bin?«

»Aber …«

»Antworte.«

»Natürlich …«

»Du bist überzeugt, daß ich ein guter Ehemann bin?«

»Abgesehen von einigen kleinen Geschichten, die man sich so erzählt … Aber das ist nicht so wichtig! Ich bin überzeugt, Félix … Wenn ich es nicht weiß, wenn es nicht in meinem Haus geschieht …«

»Nun! Meine arme Jeanne, ich bin ein Ungeheuer. Ich bin ein Dummkopf. Ich bin ein Idiot, ein armer Idiot! Hörst du? Ich bin an allem schuld!«

»Beruhige dich, François … ich bitte dich … Die Kinder sitzen unten und vespern. Jacques ist in den letzten Tagen so nervös. Gestern erst hat er mich gefragt …«

»Nun?«

»Er fragte mich … Du erschreckst mich ein bißchen … Nun! Was solls! Er fragte mich, welches Verbrechen seine Mutter begangen hätte. Ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte…«

»Was man ihm antworten muß! Daß seine Mutter das Verbrechen beging, seinen Vater zu sehr zu lieben. Hast du verstanden?«

»François!«

»Hab keine Angst. Ich bin nicht verrückt geworden. Ich weiß, was ich sage. Geh jetzt! Laß mich noch einen Augenblick allein. Ich komme gleich hinunter und bin dann ruhiger. Sag aber nichts zu Jacques. Ich werde ihm das irgendwann erzählen. Wenn du wüßtest, meine arme Jeanne, wie dumm die Männer sein können!«

Und er wiederholte, nahm sich dabei aber zusammen, um nicht wieder mit der Faust an die Wand zu klopfen:

»Dumm! Dumm! Dumm!«

7

»Liegt dir wirklich etwas daran? Es ist uninteressant, weißt du! Sie haben versucht, glücklich zu sein, wie ihr, wie wir. Sie haben getan was sie konnten. Jetzt ist Vater tot. Und jetzt …«

Die frische Nachtluft kam durch das offene Fenster. Der Mond ging gerade hinter der schwarzen Silhouette der Bäume auf. Die Kinder schliefen. Die Mädchen in der Küche spülten ab.

Von Jeanne sah man nur helle Umrisse im Sessel und den glühenden Punkt der Zigarette, deren Aroma sich mit der kräftigen Nachtluft vermischte.

»… um diese Zeit kommt Mama in ihrem weiten weißen Mantel aus der Pension Berthollat und geht würdevoll die Promenade des Anglais entlang, auf der alle Bänke besetzt sind, zum Casino de la Jetée. Wenn ihr Rheuma sie wieder gepackt hat, wie es im Süden beinahe immer der Fall ist, geht sie am Stock; dann sieht sie, ich weiß nicht warum, wie eine große Dame im Exil aus. Manchmal, wenn sie nicht Roulette spielt, sieht Mama wie eine Königin aus …«

François bewegte sich nicht, tauchte nicht, gab überhaupt keinen Laut von sich; wegen seiner dunklen Kleidung erriet man seine Anwesenheit nur an dem undeutlichen milchigen Fleck seines Gesichts.

»Ich glaube, es ist besser, wir machen das Fenster zu. Du bist noch so schwach.«

»Ich friere nicht.«

Wie ein richtiger Kranker hatte er sich außerdem in eine Decke eingewickelt. Als Jeanne vorhin oben neben ihm stand, war er ohnmächtig geworden. Nur ganz kurz. Jeanne wollte gerade Doktor Pinaud anrufen, als er schon wieder zu sich gekommen war.

»Es ist nicht nötig.«

Levert hatte ihm im Krankenhaus Tabletten für diese kleinen Pannen verschrieben, es reichte, wenn er eine nahm. Er fühlte sich sehr reduziert, wie ein Genesender. Er wollte dieses halbdunkle Zimmer, dieses offene Fenster in der Dunkelheit, neben den Bäumen, diesen Geruch von Erde und das ausdauernde Zirpen der Grillen.

»Wenn du Stambul kennen würdest, könntest du es leichter verstehen. Alle Ausländer wohnen auf dem Hügel, in Pera; dort entstand eine ganz moderne Stadt. Wir hatten eine große Wohnung in einem siebenstöckigen Haus, ganz neu, ganz weiß, und von unseren Fenstern ging der Blick über die Altstadt zum Goldenen Horn… Hat dir Bébé nie Fotos gezeigt?«

Früher vielleicht, aber er hatte nicht aufgepaßt. Bei den ersten Worten Jeannes fing er zu grübeln an. Hatte ihm Bébé nicht ganz am Anfang ihrer Ehe gesagt:

»Ich hätte gern deinen Vater kennengelernt.«

Nun verspürte er nach zehn Jahren eine ähnliche Neugier.

»Ich glaube, das Leben in der Türkei ist heute ganz anders. Zu unserer Zeit war es ein glänzendes Leben. Mama war schön. Sie galt als eine der schönsten Frauen in Pera. Papa war groß und schlank; er hatte einen aristokratischen Gang, zumindest wurde es immer gesagt.«

»Als was hatte er angefangen?«

»Er ist als Ingenieur hinuntergegangen. Wenn meine arme Mutter wüßte, daß ich das alles erzähle! Nun! Soll ich nicht doch lieber das Fenster zumachen? Soll ich Clo sagen, sie soll dir etwas Heißes zum Trinken bringen? Papa hat in Konstantinopel schnell Karriere gemacht. Man behauptet, und ich glaube zu Recht, daß es in Wirklichkeit Mama war, die sie gemacht hat. Der damalige französische Botschafter war Junggeselle. Wir waren häufig in der Botschaft, wo andauernd Diners oder Essen gegeben wurden. Der Botschafter fragte Mama wegen diesem und jenem um Rat. Am Ende war sie die Herrin des Hauses. Verstehst du?«

»Und dein Vater?«

»Da fällt mir ein lustiges Detail ein. Mama hat ihn gezwungen, ein Monokel zu tragen, als er zum Werftdirektor ernannt wurde. Papa bekam deswegen nervöse Zuckungen. Du möchtest gern wissen, ob Papa die Wahrheit wußte. Ich weiß es nicht. Ich war zu klein. Ich war mehr mit dem Personal zusammen. Wir hatten drei oder vier Angestellte. In unserem Haus herrschte dauernde Unordnung. Mama zog sich an, rief nach allen, lief durch alle Zimmer; man telefonierte, es kam andauernd Besuch, man fand ihren Ring nicht mehr, oder das Kleid war nicht rechtzeitig geliefert worden …

›Wann ist Monsieur ausgegangen? Rufen Sie in seinem Büro an!‹

›Hallo, hallo! Ist Monsieur d’Onneville dort? Hier Madame d’Onneville … Er ist noch nicht da? Ich danke Ihnen.‹

Denn Mama war eifersüchtig, rasend eifersüchtig. Per Telefon konnte sie meinen Vater auf seinem Weg durch die Stadt verfolgen.

›Hallo! Haben Sie Monsieur d’Onneville schon gesehen? Er ging gerade bei Ihnen weg? Nein, nichts, danke.‹

Und mein armer Vater sagte nie etwas. Er war wie ein großer gelehriger Windhund, und wenn er in zu große Verlegenheit geriet, putzte er ausführlich sein Monokel, während sein Augenlid nervös zuckte.

›Wenn du ausgehst, kannst du wenigstens eins der Mädchen mitnehmen.‹

Zuerst hat er mich mitgenommen; als ich dann ins Internat kam, hat Bébé mich als Anstandsdame abgelöst …«

»Gib mir eine Zigarette, ja?«

»Schadet dir das auch nicht?«

»Aber nein!«

Er war entspannt. Seine Schwäche wirkte gleichsam beruhigend und er atmete in vollen Zügen die Nachtluft ohne zu wissen, ob es nun die Nacht auf La Châtaigneraie, an der Baie des Anges oder am Bosporus war.

»Erzähle weiter.«

»Was soll ich sagen? Papa nahm die eine oder andere von uns beiden mit, manchmal alle beide, weil ihm nichts anderes übrigblieb. Bald kam er dadurch in Verlegenheit.

›Ich muß schnell etwas erledigen, Kinder. Ich lasse euch solange in der Konditorei. Ihr dürft es aber nicht eurer Mutter erzählen.‹

Das war manchmal etwas schwierig, denn Mama fragte uns aus, wenn wir zurückkamen. Wir mußten ihr alles haarklein erzählen, wohin wir gegangen waren, wen wir getroffen hatten …

›Wie kommt es, daß du schon wieder dreihundert Francs in zwei Tagen ausgegeben hast?‹

›Ich versichere dir …‹

Währenddessen zogen sie sich zum Diner um. Beinahe jeden Tag wurde eins gegeben, in einer Botschaft, in einer Gesandschaft, bei einem Bankier oder irgendeinem reichen Juden. Wir blieben bei den Hausmädchen.

Schließlich wurde es mit Mama ganz schlimm, aber ich war da nicht mehr zu Hause. Ich war bei den Ursulinerinnen in Therapia. Bébé…«

»Bist du nun zufrieden?«

»Papa mußte sein ganzes Leben lang lügen, von morgens bis abends, sich verstecken, abwägen, sich große und kleine Lügen ausdenken, sich Mitwisserschaft erkaufen, auch bei den Hausangestellten.

›Sagen Sie Madame nicht, daß …‹

Dann ist er gestorben … Alle dachten, Mama würde die Frau des Botschafters werden, aber dazu kam es nicht, und wir kehrten nach Frankreich zurück. Verstehst du jetzt, daß meine arme Mama sich hier verloren vorkommt? Sie war die schöne Madame d’Onneville. Sie gab den Ton an. Sie befahl. Und dann ist sie von heute auf morgen nur noch eine beleibte Person in reiferem Alter in einem Provinznest. Ich wollte ihr einen Hund kaufen, der ihr Gesellschaft leisten sollte. Weißt du, was sie mir geantwortet hat?

›So ist das also! Auch du! Damit ich aussehe wie eine alte Frau. Danke, meine Tochter. Wenn es so weit mit mir gekommen ist, möchte ich, glaube ich, lieber sterben.‹«

Über ihnen drehte sich Jacques in seinem Bett um, er schlief selten ruhig.

»Jeder wird in eine Familie hineingeboren, nicht wahr?« schloß Jeanne mit gespielter Gleichgültigkeit. »Jede Familie hat ihre eigene Art zu leben. Bei uns lebte jeder für sich. Man traf sich wie zufällig. ›Ach, du bist’s!‹ Man traf sich wie Kugeln beim Billardspiel und ging dann wieder auseinander. Wenn die Unordnung jeden Tag genauso ist, fällt sie einem gar nicht mehr auf, und man ist darüber nicht unglücklich.«

François schaute sie an. Er sah nur einen weißlichen Fleck von ihrem Kleid. Es kam ihm vor, als ob er seine Schwägerin gerade erst kennenlernte. Er hatte sie nie weiter beachtet. Beachtete er überhaupt etwas, das nicht ihn direkt anging? Er hatte sie immer für ein liebes, lebhaftes Mädchen gehalten, das Zigaretten rauchte und mit etwas schriller Stimme zuviel redete.

»War Bébé damals schon so verschlossen?« fragte er nach kurzem Zögern.

»Sie ist sich immer gleich geblieben. Eigentlich kenne ich sie kaum. Sie war zu klein für mich. Sie stibitzte meine Puderdosen, meine Parfums, meine Cremes. Sie zog sich schon als kleines Mädchen leidenschaftlich gern an und um. Wenn von ihr nichts zu sehen und zu hören war, konnte man sicher sein, daß sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte und vor dem Spiegel Kleider und. Hüte anprobierte, die sie von Mama oder mir genommen und nach ihrem Geschmack zurechtgesteckt hatte. Abgesehen davon habe ich sie, glaube ich, nie spielen sehen. Sie hatte keine Puppen. Sie hatte keine Freundinnen wie ich zum Beispiel.

Sie hat nur die schlimmste Zeit mitbekommen, als es so oft zu Szenen zwischen Mama und Papa kam, daß es einem Angst werden konnte. Deshalb überließ man sie auch meistens den Dienstmädchen.«

»Was ist?« fragte François.

Er hatte in der Stimme seiner Schwägerin ein Zögern bemerkt.

»Es ist ja egal, wenn ich nun schon am Erzählen bin. Ich frage mich, wie sie das solange für sich behalten konnte. Ich frage mich sogar, ob … Stell dir vor, eines Tages, vor vier oder fünf Jahren, länger nicht … Jacques konnte schon laufen, kam sie uns besuchen mit ihrem Sohn, als ich gerade alte Fotos einklebte. Natürlich zeigte ich sie ihr der Reihe nach.

›Erinnerst du dich an den? Ich dachte, er sei viel größer.‹

Dann habe ich ein Foto von ihr gefunden, als sie etwa dreizehn war. Auf dem Bild war auch ein Dienstmädchen, eine Griechin, ich weiß nicht mehr, wie sie hieß.

›Wenn ich mir vorstelle, wie du damals ausgesehen hast‹, sagte ich zu Bébé.

Ich sah, wie sie rot wurde. Sie nahm das Foto und zerriß es erregt.

›Was fällt dir ein?‹

›Ich will mich nicht an dieses Mädchen erinnern.‹

›War sie nicht nett zu dir?‹

›Wenn du wüßtest …‹

Und ich sehe Bébé noch auf und ab laufen mit einem bitteren Zug um den Mund.

›Hör zu, heute kann ich es dir sagen.‹

Arme Bébé! Sie zitterte immer noch, wenn sie nur daran dachte.

Gib mir noch eine Zigarette. Soll ich nicht doch das Fenster zumachen? Der Nebel steigt auf.«

Ein Dunst stieg aus dem feuchten Gras und lag wie ein feines Tuch knapp einen Meter über dem Boden und bildete zerrissene Schwaden.

»Ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle getan hätte, aber ich glaube, ich hätte nicht den Mund gehalten. Sie war zwar erst zwölf. Man hatte sie einmal allein zu Hause gelassen mit einem der Dienstmädchen, eben dieser Griechin. Aus Spaß oder aus einem anderen Grund hatte sich Bébé in der Wäschekammer versteckt. Etwas später kam die Griechin herein mit ihrem Liebhaber, einem Polizisten, wie ich es verstanden habe. Ich kann mir vorstellen, wie das auf sie gewirkt haben muß. Sie wagte nicht zu schreien oder sich zu bewegen. Irgendwann hat der Mann gesagt:

›Ich glaube, hier ist jemand.‹

Und das Dienstmädchen anwortete:

›Wenn es die Kleine ist, macht es auch nichts. Sie hat schon genug davon mitgekriegt, vor der brauchen wir uns nicht zu schämen.‹

Bébé war ein paar Tage krank gewesen. Doch hat sie weder meiner Mutter noch sonst jemand etwas davon erzählt …«

Warum kam François dabei die Szene in Cannes in Erinnerung, als er zum Fenster gegangen war und sich eine Zigarette angezündet hatte?

»Mir fällt nichts mehr ein«, stöhnte Jeanne. »Ich glaube, wir gehen schlafen.«

»Bleib noch ein bißchen, ja?«

François’ Stimme klang herzlich. Nie hatte er sich seiner Schwägerin so eng verbunden gefühlt. Es kam ihm vor, als ob er sie jetzt erst kennenlernen würde, als ob er von nun an eine Freundin hätte.

»Hat sie dir nie von mir erzählt?«

»In welcher Beziehung?«

»Ich weiß nicht. Sie hätte sich beklagen können. Sie hätte …«

»Habt ihr euch manchmal gestritten?«

»Nie.«

Jetzt wurde Jeanne nachdenklich.

»Eigenartig, wie verschieden zwei Brüder sein können. Man könnte das gleiche zwar auch von zwei Schwestern sagen. Ihr beide, Bébé und du, saht aus, als ob ihr glückliche Menschen seid, die sich das Leben leicht machen. Wozu auch schwer machen? Schau Félix und mich an. Er kommt, er geht. Ich komme, ich gehe. Wir sind zusammen und wir sind zufrieden. Was wäre, wenn man versuchen würde …«

»Was?« fragte er vorsichtig, als sie nicht weiterredete.

»Ach! Was weiß ich …«

Sie war aufgestanden. Es sah aus, als ob sie sich schüttle, die Feuchtigkeit der Nacht abschüttle, die beide wie eine rätselhafte Angst durchdrungen hatte.

»Warum sich dauernd selbst befragen? Wir tun! was wir können, wie unsere Eltern es getan haben und unsere Kinder es tun werden. Komm! Steh auf! Ich glaube, es ist besser, ich bringe dich ins Bett.«

»Bébé war sehr unglücklich«, murmelte François und blieb unbeweglich sitzen.

»In Gottes Namen! Jeder ist für sein Glück oder Unglück selber verantwortlich.«

»Oder auch die anderen.«

»Was meinst du? Hast du sie unglücklich gemacht? Redest du wegen Olga so? Glaubst du, sie hat es getan, weil sie dahintergekommen ist?«

»Nein.«

»Also? Frage ich Félix, was er gemacht hat, wenn er von einer Geschäftsreise zurückkommt? Ich will es nicht wissen! Ich habe ihm einmal erklärt: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.«

»Du lügst.«

»Nein, ich lüge nicht!«

Sie schrie diese Worte beinahe.

»Du weißt genau, daß du lügst.«

»Und wenn schon? Wozu sollte es gut sein zu … Sage mir, François, ihr wart euer ganzes Leben so, Bébé und du. Ihr habt Stunden damit verbracht, euch über euch selbst zu befragen und euch zu fragen, wenn und wenn …«

»Nein, eben nicht!«

»Warum, eben nicht?«

»Bébé war immer allein.«

»Ist nicht jeder allein? Also, komm! Sonst wirst du wieder ohnmächtig!«

Sie schloß. energisch das Fenster, knipste das Licht an. Vom Licht geblendet vermieden sie es, sich anzusehen.

»Mußt du keine Tabletten vor dem Schlafen nehmen? Meinst du nicht, ein heißer Kräutertee würde dir guttun? Na ja. Die Mädchen sind schon schlafen gegangen.«

Sie ging hin und her, bemühte sich, gutmütig dreinzuschauen.

»Auf, François! Morgen…«

Morgen was? Warum hatte er, als Bébé kaum im Haus am Quai des Tanneurs eingezogen war, so ablehnend reagiert, als sie beinahe demütig, jedenfalls schüchtern gemurmelt hatte: »Ich hätte gern deinen Vater kennengelernt«, und dabei das Porträt von Vater Donge mit dem Schnauzbart angeschaut hatte?

Das war nicht einfach so hingesagt. Bébé sagte nie etwas einfach so wie ihre Schwester, bei der man den Eindruck hatte, sie würde ins Blaue reden. Sie hatte es aber auch nicht aus Höflichkeit gesagt.

Bébé war sich bewußt, daß sie von weit her kam und in sich etwas von ihrem Vater trug, der um das Einverständnis seiner Töchter buhlte, und etwas von ihrer Mutter mit ihrer herrlichen Leichtfertigkeit — von einem Pera voller Feste und Schwärmereien.

Achtzehn Jahre lang hatte sie in ihrem Kopf alles allein verarbeitet und war auch ganz allein, hatte sie versucht, die häßliche Erinnerung an die Griechin und an den Polizisten zu verdrängen, die sich so schamlos auf dem Bügeltisch in der Wäschekammer geliebt hatten.

Deshalb hatte sie ihm in Royan aus der Verlegenheit geholfen! Sie hatte sofort die Rolle der kleinen Tänzerin, Betty oder Daisy, durchschaut! Sie hatte es ihm gesagt …

Sie hatte nicht einfach heiraten wollen, wie er in seinem Hochmut angenommen hatte. Denn das abschreckende Beispiel einer Ehe hatte sie miterlebt. Sie sehnte sich auch nicht nach körperlicher Vereinigung; der bloße Gedanke daran ließ sie heute noch blaß werden.

Steif und starr vor Angst war sie in das Haus am Quai des Tanneurs gekommen. Sie war mit dem Mann hineingegangen, der von nun an für immer mit ihr zusammenleben würde. Sie hatte die Wände angeschaut, sich mit der Atmosphäre und dem Geruch des Hauses vertraut gemacht und vor den Porträts gemurmelt:

»Ich hätte gern deinen Vater kennengelernt.«

Vielleicht wäre es dann leichter gewesen, sich zu verstehen.

Sie war ins Büro heruntergekommen und hatte liebevoll den Platz angeschaut, an dem François jeden Tag saß und auf den Kai hinausschauen konnte.

»Möchtest du nicht, daß …«

Und er hatte nichts begriffen! War der Platz seiner Frau nicht oben in der Wohnung? Sollte sie doch die Wohnung nach ihrem Geschmack einrichten! Sie sollte die Pflichten einer Ehefrau erfüllen, die Lieferanten, Maler, Dekorateure und Tischler hereinlassen, der Köchin Anweisung geben und versuchen, in der Stadt Leute kennenzulernen.

Er hatte ihr dazu geraten.

»Wenn du ein paar Freundinnen hast, was nicht lange dauern wird, wirst du dich auch nicht mehr langweilen.«

»Ich langweile mich nicht.«

Fürsorglich machte Jeanne die Nachttischlampe an, schaute, ob Wasser in der Karaffe und das Deckbett zurückgeschlagen war.

»Versprichst du mir, gleich zu schlafen? Kann ich dich allein lassen?«

Er hätte sie gern auf beide Wangen geküßt. Zehn Jahre lang hatte er sie für ein pummeliges uninteressantes Mädchen gehalten! Deshalb also kümmerte sie sich um so viele Wohltätigkeitsvereine, wo sie eigentlich als Wirrkopf angesehen wurde!

»Denk nicht zuviel nach, es ist besser so! Gute Nacht, François!«

Sie ging in Jacques Zimmer hinüber, um nachzusehen, ob er schlief und sich nicht aufgedeckt hatte, dann in das der Kinder, und schließlich hörte er, wie sie sich in ihrem Zimmer auszog und ins Bett fallen ließ, wo sie vor dem Schlafen noch eine Zigarette rauchte.

Mußte er bis auf Madame Flament zurückgehen? Bei diesem Gedanken trat François der Schweiß auf die Stirn. Es erschien ihm unmöglich, ungeheuerlich. Wenn es so war, mußte er an allem verzweifeln. Wenn er sich sagen mußte: Nur, weil es Augenblicke gab, in denen ich ein rein körperliches Verlangen spürte, das mich übermannte …

In Cannes, als er so ungeschickt ruderte, und ihn die spöttisehen Blicke der Matrosen von den Yachten so verlegen machten? Es war doch so verständlich! Die Müdigkeit nach einer Nacht im Eisenbahnwagen, nach den Hochzeitsfeierlichkeiten und dem traditionellen Festessen … Der legitime Wunsch, endlich seine Frau zu besitzen … Ein traditionelles Relikt …! War es klug gewesen, diese Bootsfahrt machen zu wollen? Sogar Bébés Gestalt war in diesem Augenblick zu romantisch …

Und wenn das nun ausreichte…

Er konnte nicht einschlafen. Er wälzte sich im Bett und dachte, daß Jeanne es hören würde in ihrer Sorge vor einer neuen Ohnmacht. Heute nachmittag war er aus Wut ohnmächtig geworden, weil…

Er war nicht mehr wütend. Er gab sich Mühe, ernsthafte Mühe, alles mit beinahe wissenschaftlicher Genauigkeit zu verstehen. Er haßte Unklarheiten, halbe Lösungen. Er wurde immer für einen Tatsachenmenschen gehalten.

Er dachte nicht an Bébé. Bébé war nicht mehr das Problem, sondern er.

Warum, durch welche Verblendung hatte er so lange neben ihr gelebt, ohne sie zu verstehen? Wie konnte er sie so mißverstehen, daß er sie sogar haßte?

»Ich hätte gern deinen Vater kennengelernt.«

Bewies das nicht, daß sie sich ihrerseits bemüht hatte? Jetzt fand er hundert Beweise, die er damals nicht verstanden hatte.

Wie sie zum Beispiel neben einem eingeschlafenen François saß, der schwer atmete …

Er war der Mann. Er war von nun an ihr Lebensgefährte. Sie wußte nichts oder beinahe nichts von ihm. Und er schlief neben ihr. Er atmete. Er hatte die Augen geschlossen und träumte vielleicht, und sie wußte nichts von seinen Träumen. Konnte sie seine Gedanken lesen, wenn er die Augen offen hatte?

»Ich denke daran, daß wir unser ganzes Leben zusammenbleiben.«

Sie hatte erlebt, wie zwei Menschen, ihr Vater und ihre Mutter, zusammen lebten. Sie war ihr Zeuge, beinahe ihr Komplize gewesen.

»Versprich mir, daß du immer, ganz gleich, was passiert, die Wahrheit sagst.«

Er wälzte sich immer noch in den naßgeschwitzten Laken, als wollte er sich ein letztes Mal dagegen aufbäumen.

»Wozu das alles aufrühren?« seufzte Jeanne philosophisch im Halbdunkel. »Jeder tut, was er kann. Wenn Félix von einer Geschäftsreise zurückkommt …«

Warum hatte nicht Jeanne recht? War sie unglücklich? War Félix unglücklich? Wuchsen ihre Kinder nicht so natürlich wie die Pflanzen auf?

Hatte nicht Bébé unrecht, weil sie das Unmögliche erreichen wollte, unrecht, weil …

Unwillkürlich streckte er die Arme aus, und er hätte in dieser Minute alles darum gegeben, wenn er den schlanken Körper seiner Frau hätte fühlen können, dessen Nachgiebigkeit ihn zutiefst enttäuscht hatte. Er stellte sich vor, daß, wenn sie dagewesen wäre, er sie an sich gedrückt hätte und sie einander umarmt hätten, wie man es sonst nur im Traum erlebt, ein Aufschwung der Seelen, die sich von allem Irdischen gelöst haben …

Er schwitzte. Seit seinem Unfall schwitzte er stärker und sein Schweiß roch stark. Am Quai des Tanneurs roch es auch ziemlich stark, unter anderem nach Tannin, ein Geruch, der ihm von jeher vertraut war, so sehr, daß er nach einer Reise die vertrauten Gerüche wohlig einatmete wie auf dem Lande den Geruch von Mist und von knisternden Holzscheiten.

Vielleicht hätte es genügt, sie einfach an der Hand zu nehmen. Aber hatte Félix Jeanne an der Hand nehmen müssen? Oder sein Vater seine Mutter? Waren sie deswegen unglücklich gewesen? Kann man gleichzeitig als Mann etwas leisten, Fabriken bauen, eine Käserei, eine Schweinezucht, und …

Nein. Er hatte nicht recht. Er fand zwar gute Gründe, aber er hatte nicht recht. Man kann nicht ein junges Wesen, ein junges, unbekümmertes Mädchen vom Strand in Royan mitnehmen in ein Haus und es dort plötzlich sich selber überlassen.

Nicht einmal ihrer eigenen Einsamkeit! Der Einsamkeit in einer fremden und vielleicht feindselig wirkenden Umwelt!

Wie hatte er annehmen können, daß Bébé damit zufrieden wäre, seine Frau zu sein!

Noch eine Erinnerung. Noch ein Hinweis, der ihm entfallen war, und nicht Bébés, sondern seine Mentalität betraf. Sie war in der Klinik. Sie erwartete jeden Augenblick ihr Kind. Er hätte sich vorgenommen, wenigstens die ersten beiden Stunden bei der Niederkunfi dabei zu sein. Er hielt ihre Hand. Er saß unbequem. Es gelang ihm nicht, das Leben draußen völlig hinter sich zu lassen. Zwischen zwei Wehen hatte sie ihn beinahe flehentlich gefragt:

»Liebst du mich trotzdem ein bißchen, François?«

Und er hatte ohne Zögern, in der Überzeugung, daß er recht hatte, geantwortet:

»Wenn ich dich nicht lieben würde, hätte ich dich nicht geheiratet.«

Sie hatte den Kopf weggedreht, und gleich danach verzog sich ihr Gesicht wieder unter einer Wehe. Als sie ein paar Stunden später noch etwas benommen von der Narkose die Augen aufgemacht hatte, aber noch nicht alles klar erkennen konnte, hatte man ihr das Kind gezeigt und ihr erstes Wort war:

»Sieht es dir ähnlich?«

Er hatte Tränen in den Augen. Als er zehn Minuten später die Klinik verließ, verspürte er ein unbestimmtes Gefühl in der Brust. Er hatte dann den Autoschlüssel aus der Tasche genommen, den Wagen gestartet und war in die Sonne hineingefahren, die die Straße überflutete.

Hundert Meter weiter war es vorbei und vergessen. Er war wieder François Donge. Er faßte wieder Fuß in dem, was er als seine Realität betrachtete.

Wie lange hatte sie so in einem luftleeren Raum gekämpft?

Sie erinnerte ihn jetzt an eine Fliege, die eines Abends in den Bach von La Châtaigneraie gefallen war. Zuerst hatte die Fliege nicht an das Unvermeidliche geglaubt. Sie hatte die Beine bewegt, mit den Flügeln geschlagen, als ob diese Anstrengung reichen würde, wieder herauszukommen. Dabei drehte sie sich im Kreis (ein Eichenblatt lag wie eine schwimmende Insel auf dem Wasser und François dachte, sie würde es schaffen, sich daraufzusetzen).

Eine Zeitlang rührte sie sich nicht. Aus Erschöpfung? Vielleicht auch aus Vorsicht? Wollte sie Kräfte sparen? Dann setzte ein verzweifelter Kampf ein, sie strengte sich ungeheuer an, die Kreise auf dem bewegten Wasser wurden immer größer.

Aber die Flügel waren schon durchnäßt, sie sank tiefer und bewegte sich nicht mehr an der Wasseroberfläche. Welch unendlicher Abgrund war das eiskalte dunkle Wasser für sie, das nur wie ein schwarzes Loch aussah?

François hatte sich an eine Weide gelehnt und rauchte eine Zigarette. Wenn jetzt ein Fisch …

Ob sie überhaupt ahnte, daß das Eichenblatt die Rettung bedeutete? Sie ruderte mit ihren winzigen Beinen, doch diese fanden, da sie aufgeweicht waren, keinen Halt mehr auf dem Wasser. François hätte einen Stock abbrechen können, um das Blatt zu der Fliege zu stoßen.

Er hatte es lieber bis zum Schluß mitangesehen. Am Ende war er übrigens nicht mehr dabei. Erschöpft bewegte sich die Fliege ein paar Minuten überhaupt nicht, und es sah aus, als ob sie tot wäre; dann fing sie wieder an zu rudern.

»François! François!« rief Jeanne, die an jenem Tag auf La Châtaigneraie war. »Wir essen!«

Hatte nicht auch Bébé hundertmal, tausendmal versucht…. Was er für Gleichgültigkeit gehalten hatte oder für Klugheit …

Sie hatte Madame Flament akzeptiert. Er war sicher, daß sie jeden Abend, wenn er sie geistesabwesend auf die Stirn oder auf die Wange küßte, tief atmete und sich fragte, ob er an jenem Tag …

Und er war froh, gelöst, schwungvoll. Er hatte viel gearbeitet. Die Geschäfte gingen gut. Auf Initiative der Donges wurde in der Stadt gebaut. Hundert, zweihundert, fünfhundert Leute lebten jetzt von den Donges, von dem Einsatz der Donges, dem Einsatz von François und seinem Bruder.

»Seit heute morgen sind wir die offiziellen Lieferanten der Intendantur.«

»Ach!«

Sie lächelte höflich und er nahm ihr übel, daß sie seine Begeisterung nicht teilte. Hatte sie nicht den ganzen Tag in dem eisigen Wasserloch ihrer Einsamkeit verbracht?

»Freust du dich nicht?«

»Aber doch. Gehst du heute abend weg?«

»Ich muß zu meinem Rechtsanwalt wegen dem Vertrag.«

»Ich wollte dir die Vorhänge zeigen, die ich für den kleinen Salon ausgesucht habe.«

Eine unbestimmte Bewegung. Das ging sie allein an. Wenn er sich auch nach um die Vorhänge im kleinen Salon kümmern mußte! Waren die früheren von seinen Eltern nicht gut genug für sie?

»Ich komme wahrscheinlich ziemlich spät. Warte nicht auf mich.«

Und immer brachte er, an sich, in seinem Anzug, im Duft seiner Haut die frische Luft von draußen mit herein, von der sie nur die spärlichen Reste einatmete.

»Schläfst du?«

Sie antwortete nicht. Er wußte, daß sie nicht schlief. Es ärgerte ihn, und wenn sie so tat, als ob sie schliefe, wollte sie ihn nicht merken lassen, daß sie wach geblieben war, um auf ihn zu warten und auf die geringsten Geräusche zu lauschen …

Er hatte nichts begriffen!

»Wenn ich dich nicht liebte, hätte ich dich nicht geheiratet!«

Also, wenn er sie geheiratet hatte …

Ein Lichtspalt in der Tür, der breiter wurde. Eine fließende Gestalt, mit Lockenwicklern in den Haaren.

»Hör zu, François«, schimpfte Jeanne. »Es wäre besser, du würdest ein Schlafmittel nehmen. Seit einer Stunde höre ich, wie du stöhnst und dich im Bett hin- und herwälzt. Ich gebe dir zwanzig Tropfen. Trink! Wenn das so weitergeht, ist bald die ganze Familie mit den Nerven fertig wie meine arme Schwester.«

8

»Setzen Sie sich, Monsieur Donge.«

Und Maître Boniface machte eine Pause wie im Gerichtssaal, nahm eine Prise Schnupftabak, schmierte sich damit die Nasenlöcher voll und schaute Donge so grimmig an wie ein Prüfer einen Prüfling.

»Ich glaube, wir sind uns bei meiner Schwägerin Desprez-Mouligne schon begegnet oder?«

»Das war mein Bruder Félix.«

Sicher hatte sich Maître Boniface das Schnupfen angewöhnt, weil im Gericht nicht geraucht werden durfte. Er schnupfte unappetitlich. Tabakkrümel fielen auf seinen grauen Bart und seinen Kragen. Im Gericht war sein Talar der speckigste überhaupt. Seine Fingernägel waren ungepflegt. Sein Schmutz wirkte beinahe aggressiv, wie ein äußeres Zeichen seiner Integrität.

François war von dem unfreundlichsten Dienstmädchen der ganzen Stadt eingelassen werden. Der weite Flur war in falschem Marmor ausgemalt, der die Farbe einer alten Billardkugel angenommen hatte. Im Haus roch es nach Abwaschwasser.

Maître Boniface war Witwer. Seine einzige Tochter hatte einen Buckel. Sicherlich aus Angst, sein Büro könnte trotz der dunklen Möbel noch zu freundlich aussehen, hatte er bemalte Scheiben bis zur halben Fensterhöhe anbringen lassen!

»Es versteht sich von selbst, daß ich Sie nicht gebeten hätte, zu mir zu kommen, wenn Sie Privatklage erhoben hätten oder vom Staatsanwalt vorgeladen worden wären.«

François fühlte sich eingeschüchtert und verloren wie am ersten Schultag. Zum erstenmal nahm er außerhalb der Familie wieder Kontakt mit der Außenwelt auf, und das Anwaltsbüro war düster wie das Vorzimmer im Gericht. Man fühlte sich dort als Rechtssache, eine Sache, die Maître Boniface mit ruhiger, aber erbarmungsloser Energie betrieb.

Der Teppich war abgenutzt, der Schreibtisch vollgepackt, es roch nach uraltem Papier.

Langsam und genauso bedeutungsvoll, wie er geschnupft hatte, faltete Maître Boniface ein großes Taschentuch auseinander, steckte seine Nase hinein und schneuzte sich geräuschvoll drei-, vier-, fünfmal, besah sich interessiert das Resultat und faltete das Taschentuch sorgfältig wieder zusammen.

Eine weitere Einzelheit versetzte François in einen Zustand der Unterlegenheit: Er hatte Maître Boniface weder als Berater noch in den Zivilprozessen, die sich manchmal bei seinen Geschäften ergaben, zu Rate gezogen, sondern einen jungen Rechtsanwalt, den der Herr und Meister sicher verächtlich ansehen würde. Er wollte sich deswegen entschuldigen. Es war unverzeihlich. Maître Boniface war der einzige Anwalt in der Stadt, der diesen Namen zu Recht trug, der Anwalt aller Familien, die etwas auf sich hielten und deren Geheimnisse er besser als der Beichtvater kannte.

»Ihre Schwiegermutter ist, glaube ich, eine geborene Chartier? Stellen Sie sich vor, ich habe sie kurz gekannt, als ich jung war. Sie hatte einen Bruder, Fernand, er war Leutnant der Kavallerie in Saumur, wo ich einen Kusin hatte. Dieser Kusin hatte einen kleinen Besitz geerbt, ein paar Kilometer von den Chartiers entfernt. Vater Chartier war Zahlmeister. Ich erinnere mich, daß er Gicht hatte. Was Fernand Chartier betriff, so hatte er eine ziemlich unsaubere Spielaffäre in Monte Carlo und ist jung in den Kolonien gestorben. Wußten Sie das?«

»In etwa.«

Vor Maître Boniface, unter seiner schweren behaarten, schmutzigen Hand lag ein lachsfarbener Aktendeckel, auf dem in Rundschrift stand: Akte Donge. Darin wurde Bébé Donge …

»Als dieser Donneville, den Ihre Schwiegermutter geheiratet hat … Wenn ich mich nicht irre, kam er aus dem Norden, aus Lille oder Roubaix. Ein Ingenieur, der gleich nach der Hochzeit eine Stellung in der Türkei angenommen hat… Eugénie Chartier war zu jener Zeit eines der schönsten Mädchen in der Gegend.«

Seine Hand öffnete, schloß die Akte wieder. François fragte sich, warm Maître Boniface endlich zum Thema kommen würde. Plötzlich fing der Anwalt ganz unvermittelt an:

»Sehen Sie, Monsieur Donge, das bedauerlichste an unserer Angelegenheit ist die Waffe, die meine Klientin gewählt hat. Die Geschworenen zeigen sich manchmal nachsichtig gegenüber einem Schuß oder einem Messerstich, auch wenn die Geschworenengerichte auf dem Lande strenger sind als in Paris. Sie sind aber unerbittlicb bei Giftmischerinnen! Einerseits haben sie nicht unrecht. Es ist beinahe unmöglich, auf ein Verbrechen aus Leidenschaft zu plädieren, wenn es mit Gift ausgeführt wurde. Unter dem Eindruck einer heftigen Gemütsbewegung kann man schießen, sogar ein Beil in die Hand nehmen und zuschlagen. Es ist aber kaum anzunehmen, daß diese Gemütsbewegung so lange anhält, bis das Gift beschaft, der günstigste Moment abgewartet und all die kleinen, aber notwendigen Vorkehrungen getroffen werden sind.«

Noch eine Prise, ohne François dabei aus den Augen zu lassen, der noch nie so unbequem auf einem Stuhl saß. Sicher war es das erstemal im Leben von Donge, daß er sich so wenig in der Gewalt hatte. Er fühlte sich nicht mehr als er selbst. Er erkannte weder das Drama noch sich, noch Bébé in dieser Akte Donge, auf der die schwere Franke des Anwalts lag.

»Darüberhinaus war meine Klientin so unvorsichtig und gab zu, daß sie das Gift schon drei Monate vor dem Verbrechen besorgt hat. Kennen Sie Monsieur Roy, unseren Generalstaatsanwalt? Ich kann mir jetzt schon ausmalen, welche Vorteile er aus dieser Tatsache ziehen wird. Darf ich fragen, Monsieur Donge, welche vertraglichen Bindungen Sie schlossen, als Sie heirateten?«

»Wir haben keinen Heiratsvertrag unterzeichnet.«

Er antwortete gehorsam, mit ausdrucksloser Stimme wie in der Schule. Er hatte Lampenfieber. Er wäre nicht imstande gewesen, sich in diesem Büro mit den schwarzen Möbeln, mit den vergilbten Nippsachen, mit dem bunten Glas, das das Licht dämpfte, sich auch nur die Gestalt, das Gesicht, das Haar seiner Frau vorzustellen!

»Also Gütergemeinschaft. Das erleichtert meine Aufgabe nicht gerade. Wie hoch schätzen Sie Ihr Vermögen?«

»Das ist schwer zu sagen.«

»Grosso mode…«

»Wenn wir plötzlich verkaufen müßten… Die Gerberei bringt nicht viel. Aber die Käserei, das Gelände, das Gebäude, Material, hat über 1 200 000 Frames gekostet. Bezüglich …«

»Welches Einkommen beziehen Sie daraus? Aus dem ganzen.«

»Ungefähr 600000 Frames, für meinen Bruder und mich.«

»Sie sind ja beide Teilhaber. Schätzen wir also Ihren Kapitalanteil auf etwas über zwei Millionen. Der Generalstaatsanwalt wird sagen drei Millionen.«

»Ich verstehe den Zusammenhang nicht«, wendete François schüchtern ein.

»Den Zusammenhang zwischen diesen Zahlen und der Tat meiner Klientin? Es wird Ihnen nicht bekannt sein, Monsieur Donge, daß Giftmorde in neun von zehn Fällen, in fünfundneuzig Prozent der Fälle, Verbrechen sind, die aus Gewinnsucht begangen werden. In den fünf andern Fällen handelt es sich um eine Frau, die ihren Mann loswerden will, um ihren Liebhaber zu heiraten. Wie wir es beispielsweise auf den Bauernhöfen haben: Eine Bäuerin will ihren Knecht heiraten und greift zum Maulwurfgift, um sich zur Witwe zu machen.«

Wieder wurde das Taschentuch auseinandergefaltet, der Rüssel schneuzte, Maître Boniface seufzte befriedigt, schwieg einen Augenblick und sah seinen Gesprächspartner an.

»Ich sage gleich dazu, daß ich nicht glaube, daß dies hier der Fall ist. Trotzdem müssen wir, da wir nicht wissen, auf welcher Basis die Staatsanwaltschaft die Verhandlung führen wird, alles berücksichtigen. Ich könnte Ihnen einen Prozeß nennen, die Affäre Martineau, bei der einer meiner berühmten Pariser Kollegen seinen Fall genau vorbereitet hatte. Nun aber stellte der Generalstaatsanwalt am Gerichtstag die Fragen so, daß …«

François schwitzte. Wenn man ihn plötzlich gefragt hätte, wo er war, hätte er vielleicht Mühe gehabt, etwas darauf zu antworten. Er fühlte sich nirgends, nicht in der Zeit, nicht im Raum. Dies war schlimmer als die Qualen in einem Wartesaal und noch dazu verwirrend. Und die etwas gutturale Stimme des schmuddeligen und bärtigen Rechtsanwalts redete zufrieden und unbarmherzig weiter:

»Zwei Millionen, das ist doch eine ansehnliche Summe, Monsieur Donge! Ich kenne die Geschworenen nicht, die durch das Los bestimmt werden. Es sind sicher kleine Ladenbesitzer, die ein paar hundert Francs in Verlegenheit bringen, kleine Angestellte, Rentner mit bescheidener Pension. Wenn man ihnen eine Summe von zwei Millionen Francs nennt … Es gibt da noch eine Kleinigkeit, an die Sie vielleicht nicht gedacht haben. Wie wollen Sie nachweisen, daß Sie am Sonntag, dem 20. August, zum ersten Mal Arsen in Ihrem Kaffee eingenommen haben?«

»Aber …«

»Lassen Sie mich ausreden!«

Wie er es sagte, sah er aus wie ein Menschenfresser, der mit den Zähnen, dem Bart, mit seiner ganzen Masse, die der Appetit in Bewegung gesetzt hatte, fraß.

»Meine Klientin hat gestanden, daß sie das Arsen drei Monate zuvor aus Ihrem Labor entwendet hat. Nun weiß aber jeder, auch wenn er in der Zeitung nur die Rubrik ›Vermischtes‹ liest oder die Berichte der Gerichtsverhandlungen, daß Arsen, wenn mehr oder weniger der Schein eines natürlichen Todes gewahrt werden soll, in allmählich zunehmender Dosis verabreicht werden muß, zuerst nur ganz kleine Mengen. Diese ganz kleinen Dosen haben Sie vielleicht geschluckt, ohne es zu wissen?«

François öffnete den Mund, aber er kam nicht zu Wort. Eine kategorische Bewegung der Hand mit den schwarzen Fingernägeln schnitt ihm das Wort ab. »Überlegen wir nüchtern, wie es sich gehört. Lassen wir für den Augenblick das Motiv beiseite. Wir wissen, daß diese Motive, egal welche, seit drei Monaten existieren, da meine Klientin in diesem Moment das Fläschchen Arsen aus Ihrem Labor verschwinden ließ, auf die Gefahr hin, dabei ertappt zu werden. In diesen drei Monaten waren Sie regelmäßig auf La Châtaigneraie.«

Dieses Wort »Châtaigneraie« aus dem Mund dieses Maître Boniface … Unmöglich, sich dieses helle und so ordentliche Haus vorzustellen.

»Sie haben dort geschlafen, gegessen, Kaffee getrunken. Manchmal waren Sie mit Ihrer Schwiegermutter, Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin im Park zusammen, in dem das Drama geschah. Es gibt also seit drei Monaten die gleichen Umstände, die wir als günstig bezeichnen wollen. Dieselben Beweggründe, dieselben Voraussetzungen. Warum hätte meine Klientin so lange warten sollen? Lassen Sie mich ausreden, Monsieur Donge! Meine Aufgabe ist es, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, und Sie dürfen mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß Monsieur Roy, der Generalstaatsanwalt, sich diese Gelegenheit auch nicht entgehen lassen wird.«

»Brachte Ihre Frau eine Mitgift in die Ehe?«

Hätte François zum Beispiel in Unterhosen im Büro von Maître Boniface gesessen, hätte er sich nicht unbehaglicher fühlen können.

»Nein … Ich …«

»Hat Ihre Schwägerin, die am gleichen Tag geheiratet hat, eine Mitgift eingebracht?«

»Mein Bruder steht auf dem gleichen Standpunkt wie …«

»Nein, Monsieur Donge! Entschuldigen Sie, wenn ich beruflich gezwungen bin, mich einzumischen, aber Gefühlsfragen sind hier nicht am Platz. Die Fräulein d’Onneville konnten beide keine Mitgift einbringen, weil ihre Mutter ziemlich ohne Vermögen, wenn nicht sogar mittellos dasteht. Wenn nicht gewisse politische Ereignisse eingetreten wären, würde Madame d’Onneville in überdurchschnittlichem Wohlstand leben. Leider haben sich in der Türkei viele Dinge geändert, seit sie nach Frankreich zurückgekehrt ist, und die Aktien, die ihr Mann hinterließ, sind heute beinahe wertlos. Das ging so weit, daß sie sich sofort bemüht hat, auf das Haus ihrer Eltern in Maufrand eine Hypothek aufzunehmen.«

François dachte plötzlich an die Fliege, die sich auf der schwarzen Wasseroberfläche verzweifelt wehrte, aber er verglich sie nicht mehr mit Bébé, sondern mit sich selber. Er schwitzte am ganzen Leib, er wollte bitten, man möge das Fenster öffnen, um Luft zu holen, normale Menschen auf der Straße vorbeigehen zu sehen, andere Stimmen zu hören als diese selbstzufriedene Stimme des Anwalts.

»Kurz, Sie und Ihr Bruder kommen seit zehn Jahren für den Unterhalt von Madame d’Onneville auf.«

Warum brüllte er nicht:

»Lassen Sie mich doch zufrieden mit Ihren Geschichten! Das hat überhaupt nichts mit Bébé, mit uns, mit La Châtaigneraie zu tun.«

Seine Hände zitterten. Er hatte eine trockene Kehle. Es wurde ihm übel, als er zusah, wie sich Maître Boniface mit dem Daumen Tabak in die Nasenlöcher stopfte, aus denen schwarze Härchen hervorstanden.

»Sehen Sie, jede Sache, die kleinste wie die größte, ein Streit um eine Brandmauer wie ein Verbrechen, muß von allen Seiten betrachtet werden.«

»Meine Frau brauchte kein Geld.«

»Sie gaben ihr, was sie brauchte, das stimmt. Aber sind Sie sicher, daß Ihre Anwesenheit, die Tatsache, daß Sie lebten, sie nicht daran hinderte, es für ihre Zwecke zu verwenden? Sind Sie sicher, daß das Leben, das sie neben Ihnen führte, das Leben war, das sie wollte?«

Beinahe lächelte er, der bärtige Alte. Für ihn waren Menschen nebensächlich: Er sah nur Taten und die möglichen Beweggründe für diese Taten.

»Madame d’Onneville war immer sehr mondän. Sie hat ihre Kinder in diesem Sinn erzogen. Es ist offenkundig, daß sie sich über die muffige Atmosphäre unserer Stadt beklagte. Die Toiletten Ihrer Frau verursachten, ich möchte nicht sagen, Skandale, aber erregten Aufsehen, ebenso ihr fehlendes Interesse, wenn nicht sogar ihre Verachtung für unsere kleine Gesellschaft. Sie sind ein Geschäftsmann, Monsieur Donge …«

»Ich kann Ihnen versichern …«

»Ach was!«

François war völlig verblüft, so überraschten ihn diese Worte aus diesem Mund.

»In solchen Dingen sollten Sie lernen, nichts zu versichern. Ich habe also festgestellt…«

Er wollte schreien:

»Sie haben gar nichts festgestellt!«

»Ich habe festgestellt, daß ein Verbrechen aus materiellen Interessen nicht a priori auszuschalten war. Wir haben die Zahlen nachgeprüft. Kommen wir zu den Tatsachen, zu den reinen Tatsachen. An jenem Sonntag hat sich nichts Außergewöhnliches ereignet. Ihre Frau hat keinen anonymen Brief erhalten. Am Vorabend hat es keine Auseinandersetzung zwischen Ihnen gegeben.«

»Woher wollen Sie das wissen?« fand er den Mut, einzuwenden.

Die Hand des Anwalts legte sich flach auf die Akte und schien sie förmlich zu streicheln.

»Hier steht es drin. Wir haben die offiziellen Erklärungen meiner Klientin. Ebenso wissen wir, daß sie Sie an jenem Morgen nicht einmal vor dem Essen gesehen hat. Dem entnehme ich, daß an jenem Sonntag kein anderer Grund verlag, Sie zu vergiften, wie an jedem anderen Tag auch.

Ich fahre fort…«

François konnte sich nicht mehr beherrschen. Er sprang auf, aber Maître Boniface ließ ihn wieder Platz nehmen mit einer keinen Widerspruch duldenden Handbewegung.

»Ich höre mir Ihre Einwände nachher an. Ich fahre fort. An jenem Sonntag gab es mindestens drei Zeugen. Und unter diesen Zeugen hatte Ihre Frau Ihren Bruder am meisten zu fürchten, dessen enge Beziehung zu Ihnen jedem bekannt ist.

Ihre Frau weiß, daß Sie Chemiker sind, Monsieur Donge. Ihr Bruder besitzt kein Diplom, geht aber wie Sie Tag für Tag in Ihrer Fabrik mit Gift um.

Nun ist es aber unmöglich, auf einmal eine tödliche Dosis Arsen zu verabreichen, ohne dabei Symptome zu provozieren, die die meisten Leute, vor allem natürlich Chemiker, kennen.«

Er lächelte nicht, betrachtete aber zufrieden seinen Gesprächspartner, während er über seinen Bart strich.

»Warum verabreicht Ihnen Ihre Frau, die intelligent ist, an jenem Tag, ausgerechnet an jenem Tag, eine solche Dosis? Ich werde es Ihnen sagen. Wenn es Ihnen lieber ist, nehmen wir an, der Generalstaatsanwalt spricht. An jenem Sonntag macht Ihre Frau einen Fehler. Bis dahin schüttete sie in Ihren Kaffee nur winzige Mengen, gerade soviel, um Sie zu schwächen und den Körper allmählich vorzubereiten. In dem hellen Sonnenlicht im Garten ist ihre Hand etwas unsicher und…«

»Aber ich schwöre Ihnen, das ist alles …«

Maître Boniface seufzte bedauernd:

»Aber ich bitte Sie, Monsieur Donge. Wir untersuchen die Tatsachen, nichts als die Tatsachen. Und es ist nicht meine Schuld, wenn die Hypothesen, die sich daraus logisch ergeben… Ich bin nicht der Richter. Jene, die darüber urteilen, sind zum großen Teil einfache Menschen, die von Ihnen und meiner Klientin nicht mehr wissen als das, was im Gerichtssaal zur Sprache kommt.«

Da verhielt sich François wie die Fliege auf dem eiskalten Wasser. Er rührte sich nicht mehr. Er merkte, daß er nicht mehr die Kraft hatte, weiterzukämpfen. Hörte er noch zu? Die Worte von Maître Boniface kamen von weit her, aber so klar, daß sie grausam und unversöhnlich klangen.

»Die Voruntersuchung ist gestern abgeschlossen worden. Heute früh wird die Akte an die Anklagekammer weitergeleitet. Diese Akte ist leider nicht von mir, sondern von Ihrer Frau erstellt werden, die nicht auf meinen Rat hören wollte.

Vielleicht wäre es möglich gewesen, auf Verbrechen aus Leidenschaft zu plädieren, ohne dritte Personen in die Anklage zu verwickeln. Sie haben Verhältnisse zu Frauen, die genügend bekannt sind, daß sie vor Gericht mit der nötigen Diskretion behandelt werden können.«

Dies sagte er ganz schnell. Natürlich verurteilte Maître Boniface jeden Angriff auf die Moral. Seine bucklige Tochter … Das unmögliche Dienstmädchen. Seine schmutzigen Fingernägel und sein Büro, das so düster war wie der Laden eines Apothekers, wo an Stelle der Glasbehälter abgegriffene Bücher auf ebenso schwarzen Regalen standen.

»Monsieur Giffre, der Untersuchungsrichter, für den es der erste bedeutende Fall hier in der Gegend ist, hat seine Untersuchungen mit solcher Umsicht und Klugheit geführt, daß ich ihn nur bewundern kann. Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen einige Antworten meiner Klientin vorlesen.«

Ob Bébé endlich zum Vorschein kommen würde, wenn auch ihr Bild verzerrt wurde durch diesen schrecklichen Anwalt und durch den Richter auf dem Fahrrad? Das lachsfarbene Dossier wurde etwas geöffnet und ein paar mit Schreibmaschine beschriebene Seiten herausgenommen.

»Frage: Sie haben gestern erklärt, daß Sie auf Ihren Mann nicht eifersüchtig waren und ihm ein paar Wochen nach der Hochzeit jede Freiheit in bezug auf Frauen gegeben haben.

Antwort: Unter der Bedingung, daß er mir nichts verheimlicht.«

François schloß für eine Sekunde die Augen. Er meinte, Bébé zu hören, wie sie antwortete, klar, aufrecht, mit scharfen Gesichtszügen. Maître Boniface schaute ihn nur kurz an und las weiter.

»Frage: Wurde diese Übereinkunft von da an von beiden Seiten eingehalten?

Antwort: Immer.

Frage: Liebten Sie Ihren Mann?

Antwort: Ich weiß nicht.

Frage: Anders gesagt, lebten Sie wie Mann und Frau zusammen oder, wie es aus Ihren früheren Erklärungen hervorgeht, wie zwei Kameraden?

Antwort: Wie Mann und Frau.«

Maître Boniface schaute wieder zu François hinüber, diesmal etwas neugieriger, aber dieser blieb unbeweglich. Maître Boniface konnte offensichtlich nicht verstehen, daß man leben konnte wie …

»Frage: Kommen Ihnen diese beiden Verhaltensweisen nicht widersprüchlich vor?

Antwort: Ich glaube nicht.

Frage: Und jetzt?

Antwort: Ich weiß nicht.

Frage: Sie bleiben also dabei, daß Sie Ihren Mann nicht aus Eifersucht töten wollten?

Antwort: Ja.«

»Das ist doch einleuchtend!«

Diesmal schaute Maître Boniface in seiner Überraschung und Verblüffung François mit beinahe komischem Erstaunen an. Und da François sich nicht rührte, beeilte er sich, Tabak in die Nase zu stopfen, und fuhr fort:

»Frage: Ich werde die Frage genauer formulieren. Wenn nicht Eifersucht als Motiv für Ihre Tat in Frage kommt, darf ich dann annehmen, daß es Haß oder Liebe war?

Antwort: Haß.

Frage: Sie haben an anderer Stelle erklärt, Sie liebten Ihren Mann. Wann war es nicht mehr Liebe, sondern Haß?

Antwort: Das kann ich nicht genau sagen.

Frage: Seit mehreren Jahren?

Antwort: Ich glaube nicht.

Frage: Seit einem Jahr?«

François erinnerte sich an den Beichtstuhl in seiner Kindheit, wenn der Pfarrer unbedingt wissen wollte, ob er mit Vorsatz, in Gedanken, Taten und Blicken gesündigt habe.

»Antwort: Ich weiß nicht.

Frage: Seit sechs Monaten?

Antwort: Wahrscheinlich länger.

Frage: Aber der Gedanke, ihn aus dem Weg zu räumen, kam Ihnen erst, als Sie das Gift aus seinem Labor entwendeten?

Antwort: Ich hatte nicht die Absicht, ihn aus dem Weg zu räumen.

Frage: Was hatten Sie dann vor?

Antwort: Ich weiß nicht. Es konnte nicht mehr so weitergehen. Entweder er oder ich. Ich hatte nicht den Mut, Selbstmord zu begehen, vielleicht wegen Jacques. Ein Kind braucht die Mutter mehr als den Vater.

Frage: So standen Sie also vor der Frage, wer von Ihnen beiden eher beseitigt werden könnte?

Antwort: Ja.

Frage: Hat es lange gedauert, bis Sie diese Frage gelöst hatten?

Antwort: Ein paar Monate.

Frage: Wo wurde das Arsen so lange aufbewahrt?

Antwort: In meinem Frisiertisch. Ganz unten drin in einer Reisepuderdose.

Frage: Und jedesmal, wenn Ihr Mann nach La Châtaigneraie kam, sahen Sie ihn an, aßen mit ihm, schliefen in demselben Zimmer und wußten, daß Sie ihm irgendwann nach dem Leben trachten würden?

Antwort: Es war nicht ganz klar, aber ich dachte daran.

Frage: Waren Ihre Vorwürfe demnach gravierend?

Antwort: Ich konnte nicht mehr mit ihm leben.

Frage: Könnten Sie diesen Vorwurf näher erklären?

Antwort: Nein.

Frage: Verweigerte er Ihnen das Lebensnotwendige? War er in Ihren Augen grausam? Machte er Ihnen Vorwürfe? Schlug er Sie? Zeigte er sich eifersüchtig, mißtrauisch?

Antwort: Er kümmerte sich nicht um mich.

Frage: Haben dritte Personen Sie bestärkt in dem Weg, den Sie gingen?

Antwort: Niemand.

Frage: Welches Verhältnis bestand zwischen Ihrer - Mutter und Ihrem Mann?

Antwort: Das von Schwiegersöhnen zu Schwiegermüttern generell, nehme ich an. François ertrug sie geduldig und gab ihr Geld.

Frage: Ohne jemals darüber ein Wort zu verlieren?

Antwort: Ohne groß darüber zu reden.

Frage: Hätten Sie Ihrer Mutter lieber mehr gegeben, wenn Sie über das Vermögen hätten bestimmen können?

Antwort: Vielleicht.

Frage: Sie geben also zu, daß Sie Ihren Mann aus Haß umbringen wollten, sind aber nicht in der Lage, die Gründe für diesen Haß genauer anzugeben.

Antwort: Ich mußte zuviel ertragen.

Frage: Die amerikanischen Richter lassen bei der Scheidung ein Motiv gelten, das unsere Gesetze nicht anerkennen und das sie ›seelische Grausamkeit‹ nennen. Beschuldigen Sie Ihren Mann der seelischen Grausamkeit?

Antwort:

Frage: An jenem Sonntag, dem 20. August, haben Sie kaltblütig seinen Tod vorbereitet. Sie sind aus Ihrem Schlafzimmer gekommen mit dem Papier, in dem das Arsen eingewickelt war. Kannten Sie die genaue Wirkung von Arsen?

Antwort: Ich wußte, daß es tödlich ist.

Frage: Und Sie haben sich nicht die Konsequenzen überlegt, die diese Tat für Sie nach sich ziehen könnte?

Antwort: Nein! Es mußte ein Ende haben.

Frage: Ein Ende haben womit?

Antwort: Ich weiß nicht. Es würde zu lang dauern.

Frage: Versuchen Sie es.

Antwort: Sie würden es nicht verstehen.

Frage: Sie hatten das Tütchen in der Hand, als Sie den Zucker in den Kaffee gaben?

Antwort: Ich hatte es bei mir, seit ich auf der Terrasse saß. Ich hatte es in meinem Taschentuch.

Frage: Hatten Sie nicht etwas Hemmungen oder Gewissensbisse?

Antwort: Nein.

Frage: Wann haben Sie endgültig den Entschluß gefaßt?

Antwort: Als ich morgens aufstand. Mein Mann walzte den Tennisplatz. Er war im Schlafanzug und in Pantoffeln.

Frage: Und dieser Anblick genügte, um seinen Tod zu beschließen?

Antwort: Ja.

Frage: Empfanden Sie keine Reue, als er den Kaffee trank?

Antwort: Nein. Ich fragte mich, ob er es merken würde.

Frage: Er hat aber nichts gemerkt?

Antwort: Ich glaube, er schmeckte ihm nicht gut. Darauf aber kommt es François nicht an.«

Der Anwalt hob den Kopf. Er fragte sich, warum sein Gegenüber sich gerade bewegt hatte. Es war dieses unerwartete »François«.

»Machen Sie weiter«, sagte Donge angespannt.

»Sie werden bemerkt haben, daß die Vernehmung meisterhaft geführt wurde. Sie ist nicht die erste, die mir unterkommt, aber ich kann Ihnen versichern … Nun … Wo waren wir?«

»…nicht an…«

»Frage: Sie haben dann auf die Wirkung Ihrer Tat gewartet?

Antwort: Ja.

Frage: Woran dachten Sie?

Antwort: Ich dachte nichts. Ich sagte mir, daß es nun endlich ein Ende hatte.

Frage: Kurz, Sie waren erleichtert?

Antwort: Ja.

Frage: Warum fühlten Sie sich erleichtert?

Antwort: Ich weiß nicht.

Frage: Sie fühlten sich erleichtert, weil Sie nicht mehr eingeengt wurden von einer störenden Bevormundung, nicht wahr? Endlich konnten Sie das Leben führen, wie Sie es sich vorgestellt hatten?

Antwort: Das ist es überhaupt nicht.

Frage: Und als er aufstand, weil die Schmerzen anfingen ihn zu quälen und er sich stolpernd ins Bad begab?

Antwort: Wünschte ich, daß es bald vorbei sei.

Frage: Hatten Sie keine Angst, daß Ihr Verbrechen bald entdeckt werden könnte?

Antwort: Daran habe ich nicht gedacht.

Frage: Was hätten Sie gemacht, wenn er gestorben wäre?

Antwort: Nichts. Ich hätte mit meinem Sohn weitergelebt.

Frage: Auf La Châtaigneraie?

Antwort: Nein. Ich glaube nicht … Ich weiß nicht … Ich hatte mir über solche Einzelheiten keine Gedanken gemacht. Er oder ich mußten es sein. Ich konnte es nicht mehr aushalten.«

Als Maître Boniface von der Akte aufblickte, die er gerade zugeklappt hatte, war er überrascht von der triumphierenden Miene François’. Dieser seinerseits fühlte sich ernüchtert durch den strengen Blick, den der Anwalt ihm zuwarf.

»Nun«, rief Donge, »sehen Sie!«

»Was sehe ich?«

»Aber … ich meine …«

»Ich meine, Monsieur, daß wir es mit einem Fall von Zynismus zu tun haben, wie ich ihn im Lauf meiner langen Karriere noch nicht erlebt habe. Einen Augenblick hatte ich gehofft, auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren zu können. Leider sind die drei Experten, die bestellt wurden und deren Gutachten ich respektiere, nicht dieser Meinung. Ihre Frau ist voll verantwortlich für ihre Tat! Man könnte allerdings eine gewisse Exaltiertheit anführen infolge der Einsamkeit, in der sie in den letzten Jahren gelebt hat.

Wenn sie wenigstens geschossen hätte…«

»Aber verstehen Sie denn nicht, daß gerade…«

Er hätte am liebsten vor Wut geweint vor soviel Unverständnis. Er befand sich nicht mehr im Büro von Maître Boniface, sondern in einem ausweglosen Gang mit kahlen glatten Wänden, wo er vergebens kämpfte und keinen Halt fand.

Hatten sie denn nicht gemerkt, alle wie sie da waren, der Richter mit den sechs oder sieben Kindern, Maître Boniface, der Generalstaatsanwalt, Gott weiß wer noch, hatten sie denn nicht gemerkt, in diesen klaren, offenen, ungeschminkten Antworten Bébés …?

Er, er merkte es! Doch war er unfähig, es zu artikulieren. Dieses Ding, das klopfte … Der Puls klopfte und. klopfte… Dieses Leben, das mit aller Kraft …

Und um sich nur die kalte Leere des graugrünen Wassers, in dem es versank.

Das Bewußtsein, daß das einzige Wesen, der Mann, der … Jahrelang hatte er … Jahrelang, hundertmal, tausendmal hatte er Gelegenheit gehabt, es zu begreifen. Er hätte nur eine Geste machen müssen.

Sie wußte es. Sie beobachtete sein Verhalten genau. Er kam nach Hause voller Leben und Tatendrang. Er zog sich um. Er streckte sich aus. Diesmal, endlich.

Aber nein! Er war froh über die paar Stunden Ruhe, walzte den Tennisplatz, im Schlafanzug und mit Pantoffeln und struwweligen Haaren. Er reparierte den Wasserhahn in der Küche. Er holte in der Stadt Champignons. Er ließ keine Abwechslung aus, ohne dabei zu berücksichtigen …

Und als endlich ein kleines Blatt heruntergefallen war, an das sie sich klammern konnte … Mimi Lambert, die eine Vorstellung von Eigenleben ins Haus brachte… hatte er sie vor die Tür gesetzt! Warum? Er wußte es nicht. Weil es sein Zuhause war! Weil er der Herr im Hause war! Weil er der Mann war!

Nur er, selbst, wenn er gar nicht da war.

»Ach! Du wolltest doch geheiratet werden? Um so schlimmer für dich, meine Liebe. Denk dran, daß du einen Donge geheiratet hast und daß die Donges…«

Jeanne war dies erspart geblieben, denn sie liebte nicht so ausschließlich. Ausschüsse, Milchspenden, Babywäsche profitierten von ihrer Vitalität und stellten ihr Gleichgewicht wieder her.

Das ganze Unglück kam daher, weil Bébé ihn geliebt hatte, geliebt bis zur totalen Verzweiflung, unwiderruflich! Und er hatte es nicht gemerkt!

»Da Sie Ihrer Frau verziehen haben, Monsieur Donge, und ihren Freispruch wünschen, kann ich Ihnen als Anwalt nur sagen …«

Weil er sie beide als Mensch noch strenger verurteilte als es irgendein Geschworener getan hätte! Er schmierte sich die Nase mit Tabak voll.

»Ich kann Ihnen im Augenblick noch nicht sagen, worauf ich plädieren werde, denn das hängt von der Zusammensetzung der Geschworenen wie auch von der Anklage ab. Aber ich muß Ihnen doch gestehen, daß meine Aufgabe nicht leicht sein wird, und ich …«

François hätte nidit sagen können, wie er aus dieser Falle herausgekommen war. Maître Boniface hatte ihn wohl an die Tür gebracht. Als er hinaus ans Licht kam, eine andere Luft atmete, war François davongestürmt. Hatte er sich wenigstens verabschiedet?

Auf der Straße war es sonnig, in der Sonne tanzten Staubkörnchen, ein Gemüsehändler führte seinen kleinen Karren, den ein Hund zog, neben sich her.

In Amerika … hatte der Untersuchungsrichter gesagt, der nicht dumm war …

Welches Wort hatte er gebraucht?

Seelische Grausamkeit…

Er drückte drei- oder viermal auf den Anlasser, hatte aber vergessen, die Zündung einzustellen.

Bébé hatte erklärt:

»Es mußte er oder ich sein. Ich dachte, ein Kind braucht die Mutter mehr als den Vater.«

Er hatte vergessen, daß heute Markt war. Er hupte lange an einer verstopften Straßenecke.

»Sehen Sie denn nicht, daß die Durchfahrt verboten ist?« schrie ihn eine dicke Marktfrau an und zeigte auf ein Schild, das an diesen Tagen zwischen Pflastersteinen aufgestellt wurde. Er mußte mehrmals vor- und rückwärtsfahren, um aus dem Gedränge herauszukommen.

9

Er erkannte die Landschaft wieder. Er war einmal mit Félix auf der Straße gefahren. Sie hatten Millau bei Einbruch der Dunkelheit verlassen. Sie hatten dort Handschuhe eingekauft, denn Millau ist die Stadt der Handschuhe. Der Betriebsleiter der Käsefabrik hieß auch Millau.

Wenn man nach Cahors fährt, kommt man durch eine weite steinige Hochebene, auf der kein Haus und kein Baum steht, eine Steinwüste wie eine Mondlandschaft.

Warum hatte er es heute so eilig? Es war nicht seine Schuld, wenn er es vergessen hatte. Er tat sein Möglichstes, um sich daran zu erinnern. Sein Möglichstes tun! Wer hatte das gesagt? Es sah so aus, als ob das nicht ausreichte. Natürlich war er noch geschwächt. Nein! Er konnte sich mit dem allerbesten Willen nicht erinnern, warum er es eilig hatte!

Vermutlich dämmerte es noch, denn das Licht war genau wie neulich. Es war nicht mehr hell, aber auch noch nicht dunkel. Von nirgends kam Licht. Die Farbe der Steine war so kalt und grau wie der Himmel. Es gab keine Schatten, nur einige größere Steine, vielleicht Meteoriten.

Es war weder Tag noch Nacht, und ihm, François, war kalt und warm zugleich. Er schwitzte und fror. Er gab Vollgas, aber das Auto kam trotzdem nicht schneller als ein Skarabäus voran.

Sollte er vorbeifahren und sie nicht sehen oder vielmehr so tun, als ob er sie nicht sähe? Er wußte, daß Bébé dort war, auf der linken Seite stand, neben dem kleinen weißen Auto. Sie trug ein grünes, knöchellanges Musselinkleid, einen großen cremefarbenen Strohhut und einen Sonnenschirm. Was für eine Idee, im Auto einen Sonnenschirm mitzunehmen! Das Auto war zwar offen. Es sah aus wie das von Mimi Lambert.

Sollte sie zusehen, wie sie fertig wurde.

Natürlich gab Bébé ihm Zeichen mit dem Schirm. Aber warum fuhr sie in dem weißen Auto? Warum hatte sie sich ganz allein bis in diese Mondlandschaft gewagt? Warum war sie auf diesen Weg rechts der Straße gefahren, aus dem sie nicht mehr herauskam?

Bébé hatte eine Panne. Er konnte es auch nicht ändern! Er hatte es eilig. Mein Gott! Wie hatte er nur vergessen können, wohin er fuhr und was er so Dringendes zu erledigen hatte?

Sollte er an dem kleinen Weg vorbeifahren und so tun, als ob er seine Frau nicht sähe? Das wäre weder galant noch besonders höflich. Vater Donge war zwar nur ein Gerber gewesen, hatte seinen Söhnen aber Höflichkeit beigebracht.

»Hallo! Guten Tag, Bébé.«

Einfach so. Unbefangen, ohne anzuhalten, ohne langsamer zu fahren, so als ob er nicht gesehen hätte, daß sie eine Panne hatte. Sie gab immer noch Zeichen mit ihrem Sonnenschirm. Zu spät! Er war schon vorbeigefahren. Und er fühlte sich nicht verpflichtet, nach hinten zu schauen.

Wie lange würde sie dort wohl noch stehen? Er hatte keine Minute zu verlieren. Er hatte eine ganz wichtige Verabredung. Es stimmte, denn er wurde von vielen Leuten erwartet.

Es waren über hundert Menschen in dem Saal. Manche kannte er, manche nicht, Arbeiter aus seiner Fabrik, den Ober aus dem Café du Centre, der, der ihm zu Neujahr eine kleine Flasche Likör und einen Reklamebleistift geschenkt hatte …

»Setzen Sie sich.«

»Ich muß Ihnen erst erklären, Ihre Majestät…«

»Ach was, ich sage Ihnen, Sie sollen sich setzen.«

Ob alle Anwesenden Maître Boniface erkannt hatten? Im Kostüm eines Königs sah er zwar anders aus, doch war es sein Bart, der etwas gekämmt war, und es waren seine buschigen Brauen. Er war angezogen wie ein König, mit einem roten Mantel, einer Krone auf dem Kopf und einem Szepter in der Hand. Als er »Ach was!« sagte, schlug er François mit dem Szepter auf die Schulter und lachte über das ganze Gesicht, das so rot war wie das eines Königs auf einer Spielkarte.

Wahrscheinlich erkannten ihn die anderen nicht wegen dieses geröteten Gesichts und dieses breiten Lachens!

»Mein lieber Freund …«

»Verzeihung. Ich bin nicht Ihr …«

»Ach was!«

Und schwupp! Ein Schlag mit dem Szepter, diesmal auf den Kopf. Als François die Augen senkte, merkte er entsetzt, daß er Unterhosen anhatte. Er mußte sich anziehen. Er konnte doch nicht in Unterhosen vor dem König erscheinen. Dadurch verlor er seine Haltung.

»Ihre Majestät…«

»Ruhe! Ruhe, auch da unten, da hinten …«

François drehte sich um, sah nur Köpfe, Hunderte von Köpfen — es waren noch mehr als vorher. Der Saal war schwarz getäfelt und glich dem Büro von Maître Boniface.

»… seelische Grausamkeit. Sie leiden unter seelischer Grausamkeit, mein lieber Freund. Ha! Ha! Das Gericht verurteilt Sie zu zwanzig Jahren Krankenhaus. Schwester Adonie, führen Sie den Gefangenen ab!«

»Monsieur! Monsieur! Es ist acht Uhr!«

Das alte Dienstmädchen am Quai des Tanneurs war ganz aufgeregt.

»Welchen Anzug soll ich herauslegen? Ein Bad würde Ihnen guttun. Ihr Bett ist ganz verwühlt. Sie haben sich bestimmt die ganze Nacht herumgewälzt.«

»Wie ist das Wetter?«

»Es regnet.«

Ein schwarzer Anzug war vielleicht übertrieben. Es könnte so aussehen, als ob…. Ein grauer Anzug? Es war übrigens nicht gesagt, daß er vor Gericht erscheinen mußte. Maître Boniface hatte ihn inständig gebeten, zu Haus zu bleiben.

»Weder die Anklage noch die Verteidigung hat Sie vorgeladen. Ich möchte lieber, je nach Bedarf, auf frühere Äußerungen von Ihnen zurückgreifen, als Sie selber im Zeugenstand sehen. Wenn der Vorsitzende in seiner richterlichen Befugnis entscheidet, Sie anhören zu wollen, rufe ich Sie an. Bleiben Sie zu Hause.«

Es war ein bißchen wie auf einer Beerdigung. Im Haus zog es ganz ungewöhnlich. Das alte Dienstmädchen hatte geweint.. Sie redete mit ihm wie mit einem Mann in tiefer Trauer!

»Sie müssen etwas essen. Das wird Sie aufrichten.«

Er hatte der Belegschaft Urlaub gegeben. Man spürte die Leere in den Büros. Die gewohnten Geräusche aus der Fabrik waren nicht zu hören. Dann kam Félix mit Jeanne im Auto. Félix war ernst und besorgt, schaute François unruhig an, bevor er ihn auf beide Wangen küßte.

»Wie geht es, mein armer François?«

Er hatte sich sorgfältiger als sonst angezogen. Jeanne ebenfalls, die in Schwarz war. Beide waren vorgeladen und gingen zur Verhandlung.

»Du regst dich nicht auf, nicht wahr?« redete Jeanne ihm zu. »Ich versichere dir, es wird alles gut werden. Da fällt mir ein, ich habe ein Telegramm von Mama bekommen.«

Sie hielt ihm das blaue Papier hin.

Heftige Rheumaschmerzen stop Reise unmöglich stop Habe Boniface ärztliches Attest geschickt und Aussage stop Telegrafiert Ergebnis stop Küsse Mama

Man sah auf die Uhr. Es war zehn Minuten vor neun Uhr. Die Verhandlung begann um neun Uhr.

»Sobald sie dich angehört haben, rufst du mich an, ja, Félix?«

Marthe kam mit dem Bus von La Châtaigneraie. Sie war auch vorgeladen werden. Jacques blieb allein dort mit Clo.

»Bis gleich.«

Man versuchte zu lächeln, doch es gelang nicht. Ein feiner Regen ging auf die Fenster nieder. Nur noch ein paar gelbe Blätter hingen an den schwarzen Pisten der Bäume am Kai. Genau gegenüber dem Haus stand unbeweglich ein Angler in seinem unförmig wirkenden Ölzeug und schaute starr auf seinen Köder, um den sich Ringe bildeten.

»Monsieur sollte etwas tun, egal was, damit ihm die Zeit nicht lang wird.«

Er hatte schlecht geschlafen, zuviel geträumt, sein Kopf war leer und seine Lippen brannten. Er ging dauernd vor dem Telefon auf und ab, wartete auf einen Anruf, wartete, daß man ihm sagte, er solle sofort ins Gericht kommen.

»Zwei Verhandlungen werden ausreichen«, hatte Maître Boniface versichert. »Da meine Klientin ein volles Geständnis abgelegt hat, hat die Anklage auf die meisten Zeugenvernehmungen verzichtet. Ich meinerseits ebenfalls. Je weniger Zeugen aufgerufen werden, desto leichter hat es die Verteidigung, weil der Anwalt größeren Spielraum hat.«

François hatte vorgeschlagen, in einem kleinen Café in der Nähe des Gerichts zu warten.

»Sie sind zu bekannt in der Stadt. Es würde sich herumsprechen, und Sie würden keine gute Figur machen.«

Was hatte ihn Maître Boniface unter sein Diktat schreiben lassen? Er hatte dagegen protestiert. Er fand die Formulierungen lächerlich und weit entfernt von der Wahrheit: Nach bestem Wissen und Gewissen, vor Gott und den Menschen

»Meinen Sie nicht …«

»Schreiben Sie, was ich Ihnen sage. Es ist der Stil, den die Geschworenen hören wollen.«

Ich verzeihe meiner Frau, was sie mir angetan hat, und versucht hat, mir anzutun

»Hören Sie, Maître Boniface, ich habe nichts zu verzeihen, denn ich meine, daß …«

»Wollen Sie der Verteidigung helfen, ja oder nein?«

Ich weiß, daß die Einsamkeit und Untätigkeit, in der ich eine junge, an ein glänzendes Leben gewöhnte Frau ließ

»Glauben Sie nicht, daß ich, wenn ich als Zeuge aussage und wenn…«

»Sie würden ihnen dasselbe erzählen wie mir, und keiner würde Sie verstehen. Je mehr Sie Ihre Frau entlasten wollten, desto eher erreichten Sie damit das Gegenteil. Geben Sie mir Ihren Brief.«

Er zuckte zusammen, stürzte zum Telefon.

»Hier François Donge, ja … Aber nein, Monsieur! Die Büros sind heute geschlossen. Sie hätten es wissen müssen…. Nein, es ist mir völlig unmöglich, eine Bestellung entgegenzunehmen.«

Mit dem Hörer in der Hand schaute er auf die Uhr. Neun Uhr vierzig! Die Anklageschrift war sicher schon verlesen. François wußte, daß sie nur zehn Seiten lang war.

Man hatte Platzkarten ausgeben müssen. Alle Damen der Stadt waren anwesend, und Bébé saß bleich und würdevoll wie in der Kirche auf der Bank. Maître Boniface hatte ihr sicher gesagt, daß François nicht da sein würde, daß er selber es ihm verboten hatte, aber vielleicht suchte sie ihn trotzdem in der Menge?

Die Geschworenen auf der einen Seite, nebeneinander aufgereiht wie für eine Fotografie, wie auf dem Foto mit den Meistergerbern in ihren Sonntagsanzügen …

»Monsieur sollte etwas tun, egal, was.«

Halb elf Uhr, und immer noch kein Anruf! Er ging hinunter ins Büro, wieder hinauf in sein Zimmer, ging wieder hinunter und trat vor die Haustür.

»Monsieur weiß doch…«, keuchte das herbeieilende Dienstmädchen. Sie hatte gemeint, er ginge weg. Man hatte ihr aufgetragen, auf François aufzupassen. Er wollte einfach frische Luft schnappen. Es war Oktober. Es war frisch. Der Angler stand immer noch da. Kinder liefen vorbei und hatten Regenmäntel an, in denen sie wie Zwerge aussahen.

»Hat nicht gerade das Telefon geläutet?«

»Es war mein Wecker im Zimmer.«

Endlich, um Viertel nach elf Uhr hielt ein Auto am Gehsteig, das Auto von Félix.

Er hatte keinen Hut auf.

»Nun?«

»Nichts. Alles läuft sehr gut, nur… Es sieht so aus, als ob die Geschworenen ganz gut seien, außer dem Apotheker. Maître Boniface hatte schon fünf abgelehnt, so daß er sich nicht traute, ihn auch noch abzulehnen. Natürlich wurde der Apotheker dann zum Vorsitzenden der Geschworenen ernannt.«

Félix machte den Eindruck, als ob er aus einer anderen Welt kam.

»Und sie?«

»Hält sich ausgezeichnet. Sie hat sich nicht verändert. Sie ist eher ein bißchen dicker geworden. Als sie hereinkam, schienen alle den Atem anzuhalten.«

»Was hat sie an?«

»Ihr dunkelblaues Kostüm und einen kleinen dunklen Hut. Sie kam herein wie in einen Salon zu einer großen Zeremonie. Sie hat sich ruhig hingesetzt. Dann hat sie sich umgeschaut, als ob …«

Félix wurde die Kehle eng.

»Der Generalstaatsanwalt?«

»Er ist dick und hat Furunkel. Er war streng, aber doch nicht so, wie man erwartet hatte. Kurz, bis jetzt ist alles recht glatt gelaufen. Es sieht aus, als ob nur Formalitäten abgewickelt werden.

›Keine Fragen mehr an den Zeugen?‹

›Keine.‹

›Und Sie, Maître?‹

›Keine.‹

So daß die Zeugen beinahe enttäuscht sind, deswegen vorgeladen werden zu sein. Sie zögern, den Zeugenstand zu verlassen. Die Modistin hielt sich so sehr daran fest, daß der Saal schallend lachte, als der Präsident zweimal sagte:

›Man hat Ihnen gesagt, Sie können sich wieder setzen, Madame.‹

Als sie ging, brummelte sie irgend etwas vor sich hin.«

Bald darauf kam Jeanne mit dem Taxi.

»Wie fühlst du dich, François? Ich frage mich, ob es nicht alles in allem besser gewesen wäre, du wärest mitgekommen. Es ist viel einfacher, als man, es sich vorstellt. Ich hatte Angst, es würde mich zu sehr beeindrucken, und es ist überhaupt nicht beeindruckend. Als ich im Zeugenstand war, gab Bébé mir ein kleines Zeichen mit der Hand, das die anderen nicht sehen konnten. So…Sie hob nur zwei Finger hoch. So, wie wir es als Kinder machten, wenn wir uns bei Tisch unterhalten wollten. Ich könnte schwören, daß sie gelächelt hat. Zu Tisch, meine Kinder! Félix muß wieder ins Gericht. Die Sitzung wird um halb zwei Uhr wieder aufgenommen.«

Gabelgeklapper in der Stille, immer noch wie bei einem Leichenschmaus.

»Ist anzunehmen, daß sie heute fertig werden?«

»Das hängt vom Generalstaatsanwalt ab. Maître Boniface versicherte, er für seinen Teil würde nicht länger als eine Stunde reden. Es sieht so aus, als ob er immer das gleiche verspricht, was ihn nicht daran hindert, zwei oder drei Stunden zu reden, wenn er merkt, daß die Zuhörer von ihm eingenommen sind.«

Félix fuhr wieder, Jeanne blieb noch.

»Sag mir, François. Es wäre Zeit, an einige Sachen zu denken. Ich klopfe auf Holz. Im Falle ihres Freispruchs … Sie möchte Jacques gleich sehen. Glaubst du nicht auch, es wäre besser, sie nicht nach La Châtaigneraie zu bringen? Es wird Abend werden. Ich fürchte, es erinnert sie an zu vieles…. Weißt du, was ich vorschlage? Wir nehmen den Wagen. Ich fahre, denn ich fürchte, du bist zu nervös. Wir fahren hin und holen Jacques her mit allem, was er für die Nacht braucht. Wenn du willst, nehmen wir Clo auch mit. In einer Stunde sind wir wieder hier. Maître Boniface wird dich inzwischen sicher nicht brauchen.«

Es war noch nicht drei Uhr. Er willigte schließlich ein. Sie fuhren im Regen. Die Straße war leer, der Scheibenwischer ging schlecht und Jeanne mußte sich nach vorn beugen, um etwas zu sehen.

»Sobald Félix telefoniert hat, gehst du zum Gericht. Du stellst das Auto vor dem Nebeneingang an der Rue des Moines ab.«

Der weiße Zaun. Clo kam hastig angelaufen und glaubte schon, die große Neuigkeit zu hören, vielleicht Madame selbst!

»Ziehen Sie den Kleinen an, Clo! Packen Sie seine Toilettentasche und seinen Schlafanzug in einen Koffer.«

»Wo ist Mama?«

»Heute abend siehst du sie bestimmt, deine Mama.«

»Wird sie nicht verurteilt?«

Während man den Jungen anzog, ging François im Haus herum, das nicht mehr sein Haus war. Er hatte den Eindruck, es für immer zu verlassen, einen endgültigen Auszug mitzuerleben.

»Soll ich nicht telefonieren?«

»Wohin?«

»Nach Hause.«

Er tat es.

»Sind Sie es, Angéle? Hier ist Monsieur… Kam kein Anruf für mich? Sind Sie sicher? Sind Sie nicht weggewesen? Gut! Wir sind in einer halben Stunde zurück. Ist das Zimmer für den Jungen fertig? Machen Sie Feuer, denn es ist kühl.«

Eigentlich verging der Tag schneller, als man geglaubt hatte. Maître Boniface mußte mitten in seiner Verteidigungsrede sein, die Nase voller Schnupftabak und mit weit auseinandergebreiteten Armen; wenn er laut redete, hörte man seine Stimme bis in die hintersten Winkel des Gerichtssaales.

Junge Rechtsanwälte, Advokaten standen neben dem kleinen Zeugeneingang.

»Du solltest etwas trinken, François.«

Jacques saß in der Küche und schwatzte mit der alten Angéle.

»Weißt du, was Mama gemacht hat? Sie werden sich nicht trauen, sie zu verurteilen, oder, denn das wäre ein Jüstizirrtum. Marthe hat es mir gesagt.«

Marthe kam völlig durchnäßt vom Gericht zurück, sie hatte ihren Schirm im Zeugenraum stehenlassen.

»Maître Boniface redet«, sagte sie und schneuzte sich. »Viele Leute im Saal weinen. Monsieur Félix sagte mir, ich solle nach Hause gehen und Ihnen sagen, daß alles gut geht.«

»Nein, François. Geh noch nicht hin.«

Aber er hielt es nicht mehr aus. Er zog seinen Mantel über, suchte fieberhaft nach seinem Hut. Es war schon dunkel geworden. Er vergaß, die Scheinwerfer i am Auto einzuschalten und wurde in der Nähe der Brücke von einem Polizisten verwarnt.

Als er an der Place du Palais-de-Justice ankam, ging eine Menschenmenge auf dem Vorplatz auf und ab wie bei einer Theaterpause, und man diskutierte in kleinen Gruppen. Er merkte, daß die Geschworenen sich zur Beratung zurückgezogen hatten. Er blieb hinter dem Steuer sitzen. Er hatte Angst, erkannt zu werden. Er sah, wie Félix aus einem Tabakladen herauskam und den Wagen erkannte.

»Ich habe gerade bei dir angerufen. In ein paar Minuten werden wir erfahren… Du hättest nicht kommen sollen.«

»Was erwartet man?«

»Es steht nicht schlecht. Maître Boniface hielt ein großartiges Plädoyer. Es soll ein gutes Zeichen sein, wenn die Geschworenen lange beraten. Wenn sie dagegen in ein paar Minuten zurückkommen … Bleib im Wagen, François. Soll ich dir etwas zu trinken holen?«

»Nein … Bébé?«

»Immer die gleiche. Hat Marthe dir erzählt, daß die Frauen im Saal weinten? Maître Boniface hat ausführlich ihr Leben in Konstantinopel, ihre Familie geschildert, ihre …«

François klammerte sich an seinen Arm. Man sah, wie die Leute eilig ins Gericht zurückgingen. Gleich darauf erfuhr man, daß es falscher Alarm war. Die Geschworenen berieten sich noch immer.

Félix, der seinen Bruder ablenken wollte, redete und redete, reihte ohne Überzeugung einfach Sätze aneinander, nur um zu reden.

»Er hat sich lange verbreitet über die mangelnde Vorbereitung der Jugend von heute auf das wirkliche Leben und über die unvermeidlichen Rückschläge einer Erziehung, die systematisch vernachlässigt …«

Der Platz war regennaß, die Lichter spiegelten sich in den Pfützen. Journalisten gaben ihren Bericht im Café an der Ecke durch. Ein gutangezogener Mann in mittleren Jahren, der vielleicht das Auto von Donge erkannt hatte, schaute zynisch durch die Scheibe und ging erst weiter, als er die beiden Brüder sah, die ihn anschauten.

Kurz darauf erklärte er oben an der Treppe einer Gruppe irgend etwas und zeigte dabei auf den Wagen.

»Versprich mir, hierzubleiben, François. Wenn das Urteil verkündet wird …«

Jetzt klingelte die Glocke, es hörte sich wieder an wie im Theater. Die Leute drängelten. Man sah einzelne durch die Pfützen rennen.

»Du bleibst hier sitzen, ja?«

Hinter ihm hielt ein Auto. Jeanne hatte es nicht mehr ausgehalten.

»Das Urteil?«

François nickte.

»Fahre etwas weiter vor. Es wird gleich ein Gedränge geben. Ich zeige dir den Nebeneingang.«

Eine Tür in gotischem Stil, wie eine Sakristeipforte. Kein Wärter. Es ging über einige ausgetretene Stufen durch einen unbeleuchteten Flur. Es war wie in einem unterirdischen Gang. Sie waren hinter den Kulissen des Gerichts.

»Wo gehst du hin, François?«

Er ging unwillkürlich einige Schritte weiter die Treppen hoch. Beunruhigt folgte ihm Jeanne. Der Gang machte einen Bogen. Plötzlich spürte man Menschen. An einer Tür hing eine Menschentraube, vor der ein Polizist Wache hielt und unter der man Licht sah.

Hinter dieser Tür konnte man eine gespannte Menge erraten. Eine Stimme, die sicher klingen wollte, sagte plötzlich abgehackt:

Erste Frage: ja.

Die erste Frage lautete:

»Ist die Angeklagte der Tötungsabsicht überführt?«

Zweite Frage: ja.

Diese Frage betraf die Vorsältzlichkeit. François hatte die Erklärungen von Maître Boniface zu dieser Frage nur mit Mühe verstanden. Er hatte François erklärt:

»Selbst wenn die Geschworenen die erste Frage mit ja beantworten, ist es möglich, daß sie die zweite Frage mit nein beantworten.«

»Aber meine Frau gibt doch den Vorbedacht zu.«

»Das ist nicht ausschlaggebend. Es geht um das Ausmaß der Strafe. Wenn die Geschworenen die zweite Frage mit nein beantworten, fällt die Strafe niedriger aus.«

Unruhe im Gerichtssaal. Jeanne suchte in der Dunkelheit nach François’ Hand und drückte sie.

Ein Klingelzeichen. Es wurde zur Ruhe ermahnt.

Dritte Frage: ja.

Um sie herum wurden die Leute unruhig! Die Geschworenen hatten also mildernde Umstände gelten lassen!

»Bleib hier, François!«

Selbst wenn er versucht hätte, in den Saal zu gelangen, hätte ihn der Polizist daran gehindert.

Schweigen. Dann Schritte. Während der kurzen Zeit, die das Gericht zur Beratung brauchte, drängten die Leute zum Ausgang. Wenn die Sitzung zwei Stunden länger oder die ganze Nacht gedauert hätte, wäre keiner gegangen. Aber jetzt, da man die Entscheidung der Geschworenen gehört hatte …

»Bleib ruhig, François.«

Jeanne weinte leise vor sich hin. Sie sahen einander nicht. Sie sahen immer noch nur diesen Lichtschein unter der Tür und ahnten die silbernen Tressen des Polizisten.

»Das Gericht hat sich beraten.«

Das Scharren der Füße auf den Fliesen verstummte. Jeder blieb plötzlich unbeweglich stehen.

»… verurteilt …«

Ein Schluchzen. Es war Jeanne, obwohl sie sich geschworen hatte, gefaßt zu bleiben. Sie ließ die feuchte Hand von François nicht los.

»… zu fünf Jahren Zwangsarbeit …«

Ein seltsames Geräusch, etwa so, wie wenn das Meer sich auf den Kieseln am Strand zurückzieht. Die Menge tat ihren Unwillen kund. Einige gingen. Andere warteten im Gerichtssaal, in dem schon die Lampen ausgemacht wurden.

»Komm!«

Jeanne kannte den Weg schon. Sie ging schnell durch einen Gang, öffnete eine kleine Tür zu einem Zimmer, in dem nur eine Bank stand vor einer kahlen Wand. Eine Tür gegenüber stand offen. Man konnte sehen, wie sich die Richter wie in einer Prozession zurückzogen. Bébé erschien, kam drei Stufen herunter, gefolgt von zwei Polizisten und von Maître Boniface, der seine schwarzen Ärmel ausbreitete.

Alles verschwand aber wieder, die offene Tür, der Ausblick in den leeren Gerichtssaal, die Gesetzesvertreter und der Anwalt in der Rebe. War Jeanne da?

Nur Bébé stand noch da im Halbdunkel, mit einem geheimnisvollen Schleier an ihrem Hut, der die obere Gesichtshälfte verdeckte.

»Warst du da?« sagte sie.

Und dann gleich:

»Wo ist Jacques?«

»Er ist zu Hause … Ich glaubte…«

Seine Kehle war wie zugeschnürt. Die Worte kamen gepreßt und rauh wie Pfirsichkerne heraus.

Er streckte die Hände nach den weißen Händen seiner Frau aus, die aus den dunklen Ärmeln des Kostüms herausschauten.

»Verzeih, Bébé … Ich …«

»Du bist auch da, Jeanne?«

Die beiden Schwestern fielen sich in die Arme, oder vielmehr war es Jeanne, die schluchzend in die Arme ihrer Schwester sank.

»Du sollst nicht weinen. Sag Marthe… Aber sie besucht mich sicher morgen. Ich habe mindestens noch eine Woche Zeit, bevor ich nach Haguenau gebracht werde.«

François hörte zu. Ein Bild stieg in ihm auf, aus einem Film, den er mit… Warum mußte es mit Olga gewesen sein? Frauen in grauer Einheitskleidung und Holzschuhen marschierten in Reih und Glied, nahmen schweigend ihre Plätze ein an den Werkstattischen wie Gespenster. Sie hatten die Haare kurzgeschoren. Sobald sie aufschauten, kam eine Aufseherin …

Was hatte die Anwesenheit von Maître Boniface zu bedeuten? Und der beiden Polizisten? Respekt vor dem Menschen existierte nicht mehr.

»Ich bitte dich um Verzeihung. Ich glaube, ich habe begriffen … Ich hoffte…«

Er konnte ihre Augen hinter dem dünnen Schleier nur ahnen. Sie waren ruhig und ernst. Plötzlich schüttelte sie den Kopf. Sie war keine Frau wie die anderen mehr. Sie erschien ihm so unnahbar, wie die Heilige Jungfrau den ersten Christen erschienen sein mußte.

»Es hätte nichts genützt, François. Es ist zu spät, verstehst du? Es ist zerbrochen. Ich wußte selbst nicht, wie weit … Als du den Kaffee trankst … Ich schaute dich an. Ich betrachtete dich neugierig, einzig neugierig… Für mich warst du schon nicht mehr vorhanden. Und als du mit der Hand auf der Brust aufstandst und zum Haus hinüberranntest … hatte ich nur einen Gedanken:

Hoffentlich geht es schnell!

Zerbrochen.

Ich sollte dir das vielleicht nicht sagen, aber es ist besser so. Ich habe es Maître Boniface erklärt.

Ich glaube, ich habe zu lange gewartet, zu lange gehofft.

Ich bitte dich nur um eines: Laß Jacques bei Marthe. Sie kennt ihn. Sie weiß, was sie tun muß. Maître Boniface, ich danke Ihnen. Sie haben getan, was Sie konnten. Ich weiß, daß ich, wenn ich von Anfang an Ihrem Rat gefolgt wäre … Aber ich wollte nicht freigesprochen werden. Was ist das?«

Sie war zusammengezuckt. Es hatte gerade ein Blitzlicht aufgeleuchtet. Ein Fotograf hatte sich in das Zimmer schleichen können.

»Adieu, Jeanne. Adieu, François.«

Sie war bereit, zwischen den zwei Polizisten zum Polizeiwagen zu gehen, der im Hof bereitstand.

»Es wäre besser, du ließest dich scheiden und fängst ein neues Leben an. Nicht, weil wir beide gescheitert sind. Du hast so viel Lebenskraft!«

Das war das letzte, was er von ihr hörte.

»… so viel Lebenskraft!«

Sie sagte es neidvoll und bedauernd.

Eine Tür… Schritte….

»Komm.«

Aber Jeanne konnte plötzlich nicht mehr und warf sich verzweifelt François an den Hals.

»Es ist doch nicht möglich. Nein! Es ist doch nicht möglich! Bébé! Unsere Bébé! François! Laß sie nicht weg!«

Und François klopfte seiner Schwägerin geistesabwesend auf den Rücken.

Maître Boniface zog sich zurück und hüstelte.

»François! Bébé in Haguenau! Warum sagst du denn nichts? Warum läßt du das zu? François! Nein! Ich will nicht …«

Sie wehrte sich. Er zog sie zum Ausgang, wo Félix auf sie wartete, der ebenfalls völlig fassungslos war.

»Mein armer François!«

Aber nein! Aber nein! Nicht armer François! Es gab keinen armen François!

Es gab nur …

Es gab was? Es war unmöglich, zu erklären, weder Félix noch Jeanne konnte er es erklären.

Er war jetzt dran. Da oben in der Mondlandschaft war sie schon vorbeigekommen. Er gestikulierte. Er rief nach ihr.

»Zu spät, mein armer François.«

Sie hatte es eilig. Das Räderwerk zog sie mit sich fort.

Er konnte nur in seiner Einsamkeit dasitzen und darauf warten, bis sie wieder vorbeikäme, wenn sie überhaupt jemals wieder vorbeikam… Er konnte nur noch lauschen, auf Geräusche, auf Schritte, den Aufprall der Meteoriten. Und auf das Geräusch der Autos, die …

»Es ist besser, wenn du mit seinem Auto fährst.«

Es war Jeannes Stimme. Ein Trottoir, Regen, das Schaufenster eines kleinen Cafés, in dem russiches Billard gespielt wurde.

Als ob er nicht selber fahren könnte! Aber warum Ihnen Schwierigkeiten machen?

»Du hättest Jacques nicht herbringen sollen. Jetzt müssen wir …«

»Ich will auf La Châtaigneraie übernachten«, sagte François.

»Es ist acht Uhr …«

»Das macht doch nichts. Wir fahren mit Jacques und Marthe hin. Ich fahre vorsichtig.«

Er wollte sich mit seinem Sohn vertraut machen. Dann …

»Er hat sich verändert, seit Bébé …«

Die Leute begriffen nichts. Die Leute begreifen nie. Denn wenn sie begreifen würden, könnten sie dann überhaupt noch leben?

»Wenden Sie sich lieber an Monsieur Félix. Er wird von nun an…«

Maître Boniface, die Nase voller Schnupftabak und mit schmutzigem Hemd, hatte versichert:

»Fünf Jahre? Warten Sie ab! Drei Monate Untersuchungshaft gelten schon als sechs Monate der Strafe, die verbüßt werden muß. Nehmen wir außerdem gute Führung und eine Amnestie an…. Sagen wir drei Jahre, vielleicht noch weniger …«

François zählte die Tage. Und wenn die Bébé, die zurückkäme, dann auch …

Sie wäre da.

Sie wäre da!

Und selbst wenn sie, wie sie ganz ehrlich gesagt hatte …

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»Wenden Sie sich lieber an seinen Bruder Félix …«

Vouvant, 7. September 1940

1Deutsch von Renate Nickel (1978)