Dick Francis
Handicap
Prolog
Ich träumte, daß ich ein Rennen ritt.
Daran war an sich nichts Ungewöhnliches. Ich war schon in ungezählten Rennen geritten.
Es war ein Hindernisrennen. Da waren Pferde und Jok-keys in den verschiedensten Farben und das Grün der Rennbahn. Da waren dichtgedrängte Reihen von Menschen mit rosaroten Gesichtern, die für mich, der ich in den Steigbügeln hockte und in gestrecktem Galopp an ihnen vorbeischoß, zu ununterscheidbaren rosa Farbklecksen verschwammen.
Die Münder der Menschen waren geöffnet, und obgleich ich keinen Laut hören konnte, wußte ich doch, daß sie schrien.
Sie schrien meinen Namen, um mich zum Sieg zu treiben.
Der Sieg allein zählte. Siegen, das war meine Aufgabe. Das war mein Daseinszweck, das war’s, was ich erstrebte, wozu ich auf die Welt gekommen war.
In meinem Traum gewann ich das Rennen. Die Anfeuerungsrufe verwandelten sich in Jubelgeschrei, und das Jubelgeschrei hob mich auf seinen Flügeln empor wie eine Woge. Aber allein der Sieg zählte, nicht dieser Jubel.
Wie so oft, wachte ich um vier Uhr morgens auf, noch vor Tagesanbruch.
Alles war still. Kein Jubel, nur Stille.
Ich konnte noch immer spüren, wie ich mich zusammen mit dem Pferd dahinbewegt hatte, fühlte noch das Spiel der Muskeln, das unsere beiden in der Anstrengung eins gewordenen Körper durchzitterte. Ich konnte noch die sich um meine Füße schließenden Steigbügel spüren, die angedrückten Waden, das Gleichgewicht, den braunen Pferdehals nahe an meinem Kopf, die Mähne, die mir in den Mund geweht wurde, die Zügel in meinen Händen.
Dann kam der Augenblick meines zweiten Erwachens. Das wirkliche Erwachen. Der Moment, in dem ich mich bewegte, die Augen öffnete und wieder wußte, daß ich keine Rennen mehr reiten würde, nie wieder. Erneut durchfuhr mich der Schmerz des Verlustes. Der Traum — das war ein Traum für unversehrte Männer gewesen.
Ich träumte diesen Traum sehr oft.
Verdammt sinnlos.
Das Leben — das war natürlich etwas ganz anderes. Man löste sich von seinen Träumen, zog sich an und versuchte, das Beste aus dem vor einem liegenden Tag zu machen.
Kapitel 1
Ich nahm die Batterie aus meinem Arm, steckte sie in das Aufladegerät und merkte erst zehn Sekunden später, daß ich es getan hatte, als sich nämlich meine Finger nicht mehr bewegten.
Sehr seltsam, dachte ich. Das Wiederaufladen der Batterie und die damit verbundenen Handgriffe waren mir derart in Fleisch und Blut übergegangen, daß ich das alles schon ganz automatisch und ohne Einschaltung meines Willens erledigte, etwa so, wie man sich die Zähne putzt. Mir wurde zum ersten Mal bewußt, daß sich mein Unterbewußtsein — jedenfalls wenn ich wach war — endlich mit der Tatsache abgefunden hatte, daß meine linke Hand nicht mehr aus Muskeln, Knochen und Blut bestand, sondern aus Metall und Plastik.
Ich nahm den Schlips ab und warf ihn achtlos auf mein Jackett, das über der Armlehne des Ledersofas hing, streckte mich, seufzte erleichtert, weil ich endlich wieder zu Hause war, lauschte der vertrauten Stille meiner Wohnung und verspürte einmal mehr, wie der mich umfangende Friede all die kräftezehrenden Anspannungen der Außenwelt löste. Meine Wohnung war in meinen Augen eher so etwas wie ein Ort der Zuflucht als ein richtiges Zuhause. Komfortabel, gewiß — aber nicht mit Ruhe, Zeit und Liebe eingerichtet. Das hatte ich an einem Nachmittag und in nur einem Geschäft getan, energisch und sachlich:»Ich nehme das… das… das… und das… Liefern Sie die
Sachen bitte so schnell wie möglich. «Das Mobiliar war mehr oder weniger ansprechend, aber ich besaß nun nichts mehr, dessen Verlust mich hätte schmerzen können, und wenn dies meinem Bedürfnis nach Selbstschutz entsprungen sein sollte, so war mir das wenigstens bewußt.
Ich wanderte zufrieden in Hemd und Socken umher, knipste die warmen Lichtkreise der Tischlampen an, sprach dem Fernseher mit einem geübten Faustschlag Mut zu, schenkte mir einen beruhigenden Scotch ein und beschloß, den Abwasch des Vortages stehenzulassen. Ein Steak lag im Kühlschrank und Geld auf der Bank, was brauchte man noch mehr im Leben?
Seit neuestem tat ich die meisten Dinge nur noch mit einer Hand, weil es einfach schneller ging. Meine so geniale Kunsthand, in der Magnetspulen die aus dem Rest meines Unterarmes kommenden elektrischen Impulse in Bewegung übersetzten, ließ sich zwar — wie ein Schraubstock — fest schließen und auch wieder öffnen, dies aber nur mit einer ihr eigenen Geschwindigkeit. Gleichwohl sah diese Hand ganz wie eine echte aus, so sehr, daß Leute manchmal überhaupt nicht merkten, wie wenig sie es war. Sie hatte richtige Fingernägel und Erhebungen, die Sehnen und Knochen darstellten, und bläuliche Linien als Adern. Wenn ich allein war, benutzte ich sie immer seltener, wobei ich es aber immer noch angenehmer fand, wenn ich sie aufgesteckt hatte.
Ich gedachte, diesen Abend so zu verbringen wie viele andere zuvor, saß mit angezogenen Knien auf dem Sofa, ein klobiges Glas in der Hand und glücklich, mit Hilfe des kleinen Bildschirms ein Ersatzleben führen zu können. Ich war deshalb ein wenig irritiert, als es mitten in eine einigermaßen unterhaltsame Komödie hinein an der Wohnungstür klingelte.
Mehr zögernd als neugierig erhob ich mich, stellte das
Glas ab, suchte in meinen Jackentaschen nach der Ersatzbatterie, die ich dort hineingesteckt hatte, und drückte sie in den Sockel meiner Kunsthand. Dann ging ich, während ich die Manschette über das Plastikgelenk schob und zuknöpfte, hinaus in den kleinen Flur und spähte durch den Spion in der Wohnungstür.
Davor erwartete mich keine Unannehmlichkeit, es sei denn, diese hätte die Gestalt einer Dame mittleren Alters mit blauem Kopftuch angenommen. Ich öffnete und sagte höflich:»Guten Abend, Sie wünschen bitte?«
«Darf ich hereinkommen, Sid?«fragte sie.
Ich sah sie an. Meines Wissens kannte ich sie nicht. Aber andererseits gab es einen Haufen Leute, die ich nicht kannte und die mich trotzdem Sid nannten, was ich immer als Kompliment aufgefaßt hatte.
Unter dem Kopftuch schauten dichte, dunkle Locken hervor, getönte Brillengläser verbargen die Augen, und leuchtend roter Lippenstift lenkte alle Aufmerksamkeit auf ihren Mund. In ihrem Verhalten drückte sich Verlegenheit aus, und sie schien in ihrem weitgeschnittenen, braunen Regenmantel zu frösteln. Ich gewann den Eindruck, als erwarte sie noch immer, daß ich sie wiedererkennen würde, aber das tat ich erst, als sie sich ängstlich umschaute und mir dabei ihr Profil zeigte.
Selbst da war ich noch nicht ganz sicher und fragte vorsichtig:»Rosemary?«
«Hören Sie«, sagte sie und schob sich an mir vorbei, als ich die Tür ein wenig weiter öffnete,»ich muß unbedingt mit Ihnen reden.«
«Nun ja… dann kommen Sie halt herein.«
Während ich die Tür wieder schloß, blieb sie vor dem kleinen Spiegel stehen, der im Flur hing, und begann am Knoten des Kopftuchs zu nesteln.
«Du lieber Himmel, wie sehe ich bloß aus!«
Ich bemerkte, daß ihre Finger viel zu heftig zitterten, um ihn lösen zu können, und sie griff schließlich mit frustriertem Aufstöhnen nach hinten, packte den Zipfel des Tuches und zog es ruckartig nach vorne. Zusammen mit dem Kopftuch kam auch die ganze schwarze Lockenpracht herunter, und die sehr viel vertrautere kastanienbraune Haarfülle von Rosemary Caspar, die mich schon seit fünfzehn Jahren Sid nannte, zum Vorschein.
«Du lieber Himmel!«sagte sie noch einmal, steckte die Sonnenbrille in ihre Handtasche und zog ein Papiertaschentuch daraus hervor, um sich zunächst einmal das allerschlimmste Rot von den Lippen abzuwischen.»Ich mußte Sie unbedingt sprechen, ich mußte!«
Ich sah das Zittern ihrer Hände, hörte das Schwanken ihrer Stimme und dachte bei mir, daß ich eigentlich schon einer ganzen Menge Menschen in ebendiesem Zustand begegnet war, seit ich es mir zur Aufgabe gemacht hatte, mich mit den Problemen und Verhängnissen anderer zu befassen.
«Kommen Sie herein und trinken Sie was«, sagte ich, wohl wissend, daß sie dies ebenso brauchte wie erwartete, und beklagte dabei im stillen den ruinierten ruhigen Abend.»Whisky oder Gin?«
«Gin… Tonic… irgendwas.«
Ohne den Regenmantel abzulegen, folgte sie mir ins Wohnzimmer und ließ sich abrupt aufs Sofa fallen, als hätten ganz plötzlich ihre Beine unter ihr nachgegeben. Ich sah ihr kurz in die unruhigen Augen, stellte das Gelächter im Fernseher ab und schenkte ihr ein beruhigendes Quantum Seelentröster ein.
«Hier, bitte«, sagte ich und reichte ihr das Glas.»Was gibt’s denn für Probleme?«
«Probleme!«sagte sie mit einem Anflug von Entrüstung.
«Wenn das alles wäre!«
Ich holte mir mein eigenes Glas und setzte mich ihr gegenüber in einen Sessel.
«Ich habe Sie heute beim Rennen gesehen, von weitem«, sagte ich.»War das Problem da schon vorhanden?«
Sie nahm einen großen Schluck.»Ja, das kann man wohl sagen! Warum, glauben Sie, sollte ich sonst mit dieser schäbigen Perücke auf dem Kopf durch die Nacht schleichen und Ihre verdammte Wohnung suchen, wenn ich schon beim Rennen geradewegs auf Sie hätte zugehen können?«
«Nun. warum?«
«Weil der letzte Mensch, mit dem man mich auf einem Rennplatz oder sonstwo sprechen sehen darf, Sid Halley heißt.«
Vor langer Zeit war ich auch ein paarmal für ihren Mann geritten. In den Tagen, als ich noch Jockey gewesen war. Als ich noch leicht genug für Flachrennen gewesen war und mich noch nicht der Steeplechase zugewandt hatte. In den Tagen vor dem Erfolg und dem Ruhm, den Stürzen und der zerschmetterten Hand… und was nicht noch allem. Mit dem Ex-Jockey Sid Halley hätte sie an jedem Ort und zu jeder Zeit sprechen können. Aber zu dem Sid Halley, der sich vor kurzem zu einer Art Allzweck-Detektiv gewandelt hatte, war sie bei Dunkelheit und voller Furcht gekommen.
So um die Fünfundvierzig, vermutete ich — und es wurde mir jetzt erst bewußt, daß ich mir, obwohl ich sie schon seit Jahren mehr oder weniger gut kannte, ihr Gesicht noch nie lange oder genau genug angesehen und seine einzelnen Züge registriert hatte. Da war immer nur der allgemeine Eindruck schlanker Eleganz gewesen. Die fallenden Linien der Augenbrauen und Lider jedoch, die kleine Narbe am Kinn und der leichte, kaum sichtbare Flaum auf ihren Wangen — das alles war Neuland für mich.
Sie hob plötzlich die Augen und unterzog mich der gleichen prüfenden Betrachtung, als habe auch sie mich noch nie wirklich wahrgenommen — und ich nahm an, daß ihre Neueinschätzung weitaus radikaler ausfiel als die meine. Ich war nicht mehr der junge Bursche, dem sie damals in recht barschem Ton taktische Anweisungen zum Rennen gegeben hatte, sondern ich war ein Mann, zu dem sie gekommen war, weil sie Schwierigkeiten hatte. Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt, daß dieses Bild von meiner Person an die Stelle älterer und unbeschwerterer Beziehungen getreten war, und wenn ich das auch oftmals bedauerte, gab es doch ganz offensichtlich kein Zurück mehr.
«Alle sagen…«, fing sie zweifelnd an,»ich meine… seit einem Jahr schon höre ich andauernd…«Sie räusperte sich.»Es heißt, daß Sie gut sind. sehr gut sogar. was Sachen dieser Art angeht. Aber ich weiß nicht… jetzt, wo ich hier bin… scheint es doch nicht… ich meine… Sie sind doch Jockey.«
«War«, sagte ich lakonisch.
Sie warf einen schnellen Blick auf meinen linken Arm, sagte aber nichts dazu. Sie wußte Bescheid. Auch in der Welt des Pferdesports wurde getratscht, und es war die Neuigkeit des vergangenen Jahres gewesen.
«Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was Sie von mir wünschen?«fragte ich.»Sollte ich Ihnen nicht behilflich sein können, werde ich es Ihnen sagen.«
Die Vorstellung, daß ich ihr vielleicht gar nicht würde helfen können, ließ ihre alten Befürchtungen zurückkehren und sie wieder in ihrem Regenmantel zittern.
«Es gibt niemanden sonst«, sagte sie.»Ich kann mich an keinen anderen wenden. Ich muß mich darauf verlassen… ich muß… daß Sie all das auch können… was Sie angeblich können sollen.«
«Ich bin nicht Superman«, wandte ich ein.»Ich schnüffle nur ein bißchen rum.«
«Nun ja… o Gott…«Das Glas schlug klirrend gegen ihre Zähne, als sie es bis zum letzten Tropfen leerte.»Ich hoffe zu Gott…«
«Ziehen Sie erst mal den Mantel aus«, redete ich ihr zu.»Nehmen Sie noch einen Gin, setzen Sie sich bequem hin und erzählen Sie der Reihe nach, von Anfang an.«
Sie erhob sich wie benommen, knöpfte den Mantel auf, warf ihn neben sich und nahm wieder Platz.
«Es gibt keinen Anfang.«
Sie nahm das wieder gefüllte Glas und drückte es an ihre Brust. Die jetzt sichtbare Garderobe bestand aus einer cremefarbenen Seidenbluse unter einem nach Kaschmir aussehenden, rostroten Pullover, einer schweren Goldkette und einem gut sitzenden, schwarzen Rock — all dies der alltägliche Ausdruck materieller Sorgenfreiheit.
«George ist bei einem Abendessen«, sagte sie.»Wir bleiben über Nacht hier in London… Er denkt, daß ich im Kino bin.«
Ihr Mann George gehörte zu den drei Spitzentrainern Großbritanniens und international wahrscheinlich zu den zehn besten. Er wurde auf den Rennplätzen zwischen Hongkong und Kentucky als einer der Großen seiner Zunft verehrt. In Newmarket aber, wo er lebte, war er der absolute König. Wenn seine Pferde das Derby, das Arc de Tri-omphe oder das Washington International gewannen, überraschte das niemanden. Jahr für Jahr gelangte ein Großteil vom Besten, was die Vollblutzucht zu bieten hat-te, in seinen Stall, und es genügte schon, ein Pferd bei ihm stehen zu haben, um dem Besitzer ein gewisses Ansehen zu verleihen. George Caspar konnte es sich leisten, jedes Pferd und jeden Besitzer abzuweisen. Gerüchte wollten wissen, daß er Frauen dagegen nur selten zurückwies — und wenn das Rosemarys Problem war, so würde ich ihr ganz bestimmt nicht helfen können.
«Er darf’s nicht erfahren«, sagte sie nervös.»Sie müssen mir versprechen, ihm nicht zu erzählen, daß ich hier war.«
«Ich verspreche es unter Vorbehalt«, sagte ich.
«Das ist mir nicht genug.«
«Das muß es aber sein.«
«Sie werden ja sehen«, sagte sie.»Sie werden sehen, warum…«Sie nahm einen Schluck.»Er gibt es vielleicht nicht zu, aber er macht sich entsetzliche Sorgen.«
«Wer. George?«
«Natürlich George, wer denn sonst? Stellen Sie sich doch nicht so dämlich an. Für wen sonst würde ich es wohl auf mich nehmen, in dieser blödsinnigen Verkleidung hierher zu kommen?«
Der Zornesausbruch ließ ihre Stimme schrill werden, was sie zu überraschen schien. Ich konnte sehen, wie sie ein paarmal tief Luft holte, bevor sie weitersprach:»Was halten Sie von >Gleaner<?«
«Hm«, sagte ich.»Eine Enttäuschung.«
«Die reinste Katastrophe«, sagte sie,»das wissen Sie ganz genau.«
«So etwas ist immer mal drin«, entgegnete ich.
«Nein, so etwas ist ganz und gar nicht drin. Einer der besten Zweijährigen, die George je hatte. Hat die drei großen Rennen für Zweijährige alle brillant gewonnen. Galt dann den ganzen Winter über als der Favorit für die 2000 Guineas und das Derby. Alle waren sich einig, daß er ganz groß rauskommen, ein Spitzenpferd werden würde.«
«Ja«, sagte ich,»ich erinnere mich.«
«Und was war dann? Im vergangenen Frühjahr lief er bei den Guineas und war eine große Pleite. Totaler Flop. Und kam fürs Derby auch nicht annähernd in Frage.«
«So etwas kommt vor«, sagte ich.
Sie sah mich ungeduldig an, preßte die Lippen zusammen.
«Und >Zingaloo<?«fragte sie dann.»War das auch so was, was halt mal vorkommt? Die beiden besten Fohlen im ganzen Land, beide als Zweijährige einfach hervorragend, beide in unserem Stall. Und beide gewannen als Dreijährige im vergangenen Jahr nicht einen Penny. Standen schlicht in ihren Boxen rum, sahen gesund und munter aus, fraßen sich einen an und waren, verdammt noch mal, zu rein gar nichts gut.«
«Schon ein bißchen rätselhaft«, räumte ich ohne große Überzeugung ein. Pferde, die den in sie gesetzten Erwartungen nicht entsprachen, waren so normal wie verregnete Sonntage.
«Und schließlich >Bethesda<, im Jahr davor!«Sie starrte mich aufgebracht an.»Beste zweijährige Stute, monatelang Favorit für die 1000 Guineas und die Oaks. Bei den Guineas ging sie an den Start, als wäre sie eine Million Dollar wert, und wurde Zehnte. Zehnte, ich bitte Sie!«
«George hat die Pferde doch sicherlich alle untersuchen lassen«, sagte ich begütigend.
«Selbstverständlich. Wochenlang krochen die verdammten Viehdoktoren bei uns rum. Dopingkontrollen, alles. Alle Tests negativ. Drei großartige Pferde und alle drei zu nichts nütze. Und keine Erklärung dafür… Nichts!«
Ich seufzte leise. Das klang in meinen Ohren eher nach dem Schicksal der meisten Trainer als nach dem Anlaß zu melodramatischen Besuchen im Schutze von Perücke und Sonnenbrille.
«Und jetzt«, sagte sie und ließ die Bombe ganz beiläufig platzen,»haben wir da auch noch >Tri-Nitro<.«
Ganz gegen meine Absicht stieß ich die Luft hörbar aus, so daß es fast wie ein Aufstöhnen klang.»Tri-Nitro «füllte gerade die Sportseiten der Zeitungen, wurde als der beste Hengst des ganzen Jahrzehnts gepriesen. Im vergangenen Herbst hatte er als Zweijähriger alle Kontrahenten in den Schatten gestellt, und was seine Vormachtstellung im herannahenden Sommer anging, so wurde sie kaum in Frage gestellt. Ich hatte ihn im September die Middle Park Stakes in Newmarket in Rekordzeit gewinnen sehen, und mir war der weitausholende Schritt, der dieses Pferd in unglaublicher Schnelligkeit über den Turf jagen ließ, noch in lebhafter Erinnerung.
«Bis zu den 2000 Guineas sind es nur noch zwei Wochen«, sagte Rosemary.»Ja, genau noch vierzehn Tage. Stellen Sie sich mal vor, es passiert was… stellen Sie sich vor, es wird wieder genauso schlimm. und er versagt wie die anderen…?«
Sie zitterte wieder, aber als ich den Mund öffnete, um ihr zu antworten, fuhr sie schnell und mit erhobener Stimme fort:»Heute abend war die einzige Möglichkeit. ich konnte nur heute abend herkommen. und George würde fuchsteufelswild werden. Er meint, dem Pferd könne nichts passieren, niemand komme an es heran, sie hätten alles für seine Sicherheit getan. Aber er hat Angst, das weiß ich. Ist nervlich äußerst angespannt, fix und fertig. Ich habe ihm vorgeschlagen, Sie zu bitten, die Bewachung des Pferdes zu übernehmen, aber da ist er fast durchgedreht. Ich weiß nicht, warum. Ich habe ihn noch nie so wütend gesehen.«
«Rosemary«, setzte ich an und schüttelte den Kopf.
«Hören Sie«, schnitt sie mir das Wort ab,»ich möchte Sie bitten, dafür Sorge zu tragen, daß >Tri-Nitro< vor den 2000 Guineas nichts zustößt, das ist alles.«
«Alles…«
«Es wäre nicht sehr sinnvoll, sich hinterher zu wünschen… wenn da irgend jemand was versuchen würde… daß man Sie doch um Hilfe gebeten hätte. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen. Deshalb mußte ich herkommen. Ich konnte nicht anders. Sagen Sie schon ja. Sagen Sie mir, wieviel Sie dafür haben wollen, und ich zahl’s Ihnen.«
«Es geht mir nicht ums Geld«, sagte ich.»Sehen Sie… es ist doch ganz unmöglich, >Tri-Nitro< ohne Wissen und Zustimmung von George zu bewachen. Das geht einfach nicht.«
«Sie schaffen das schon, da bin ich sicher. Sie haben doch schon öfter Dinge getan, von denen die Leute meinten, sie seien nicht machbar. Ich mußte kommen, ich halte das alles nicht mehr aus. George auch nicht… nicht drei Jahre hintereinander. >Tri-Nitro< muß gewinnen. Sie müssen dafür sorgen, daß nichts dazwischenkommt. Sie müssen.«
Sie zitterte plötzlich noch heftiger als zuvor und sah ganz so aus, als würde sie im nächsten Augenblick einen hysterischen Anfall bekommen. Weniger aus dem Gefühl heraus, zur Lösung der mir zugedachten Aufgabe in der Lage zu sein, sondern eher in dem Bemühen, sie zu beruhigen, sagte ich:»Also gut, Rosemary. Ich will es versuchen.«
«Er muß gewinnen«, sagte sie.
Ich erwiderte besänftigend:»Warum sollte er auch nicht.«
Ihrem unfehlbaren Gespür entging der Unterton nicht, der sich ganz gegen meinen Willen in meine Worte eingeschlichen hatte: die Skepsis und eine selbstgefällige Neigung, ihr Drängen als Ergebnis der Hirngespinste einer nur allzu leicht erregbaren Frau abzutun. Ich konnte diese Nuancen selbst hören, hörte sie voller Unbehagen mit ihren Ohren.
«Du liebe Güte, ich verschwende nur meine Zeit, nicht wahr?«sagte sie bitter und stand auf.»Sie sind wie alle Männer. Sie glauben, mir sind die Wechseljahre aufs Gehirn geschlagen, und das erklärt dann alles.«
«Das stimmt nicht. Ich habe doch gesagt, daß ich’s versuchen will.«
«Ja. «Ihre ganze Verachtung lag in diesem einen Wort. Sie war dabei, ihren eigenen Zorn anzufachen, brauchte wohl eine Explosion. Genau genommen reichte sie mir ihr leeres Glas nicht, sondern warf es nach mir. Ich konnte es nicht auffangen, und es fiel auf die Kante des Couchtisches, wo es zerbrach.
Sie blickte auf die glitzernden Glassplitter hinab und rang um Beherrschung.
«Tut mir leid«, sagte sie kurz.
«Ist schon gut.«
«Schreiben Sie’s meiner Überanstrengung zu.«
«Ja.«
«Ich muß los und mir diesen Film ansehen. George wird danach fragen. «Sie schlüpfte in ihren Regenmantel und ging mit unsicheren Schritten zur Tür, da ihr ganzer Körper noch vor Anspannung zitterte.»Ich hätte nicht herkommen sollen. Aber ich dachte.«
Ich sagte mit Entschiedenheit:»Ich habe zugesagt, daß ich’s versuchen will, Rosemary, und mein Wort gilt.«
«Niemand weiß, wie das ist, was ich durchmache.«
Ich folgte ihr in den Flur hinaus und hatte fast das Gefühl, als versetze ihre schrille Verzweiflung die Luft regelrecht in Schwingungen. Sie nahm die schwarze Perücke von dem kleinen Garderobentischchen und setzte sie sich auf den Kopf, wobei sie ihr eigenes braunes Haar mit wilden, unwilligen Bewegungen darunterstopfte, voll Haß auf sich selbst, auf ihre Verkleidung und auf mich — sie haßte diesen Besuch, die Lügen, die sie George auftischen mußte, die miese Heimlichkeit ihres Tuns. Sie schminkte ihre Lippen wieder dunkelrot — mit unnötigem Kraftaufwand, als attak-kiere sie sich selbst. Dann zog sie mit heftigem Ruck den Knoten des Kopftuches fest und wühlte in ihrer Handtasche nach der Brille mit den dunkel getönten Gläsern.
«Vorhin habe ich mich auf der Toilette in der U-Bahn-Station umgezogen«, sagte sie.»Das Ganze ist widerlich. Aber ich möchte nicht, daß mich jemand von hier fortgehen sieht. Da ist was im Gange, ich weiß es. Und George hat Angst.«
Sie blieb vor der Wohnungstür stehen und wartete darauf, daß ich ihr öffnete — eine schmächtige, elegante Frau, die unbedingt häßlich aussehen wollte. Es wurde mir bewußt, daß sich wohl keine Frau ohne zwingende Gründe so verhielt — Gründe, die wichtiger waren als alle Selbstachtung. Ich hatte nichts getan, um ihre Sorgen zu verringern, und das lag wohl daran, daß ich sie viel zu lange in einer ganz anderen Rolle gekannt hatte. Sie hatte immer ganz selbstverständlich das Sagen gehabt, und ich war seit meinem 16. Lebensjahr respektvoll ihren Wünschen nachgekommen. Es ging mir durch den Kopf, daß ich ihr an diesem Abend wahrscheinlich mehr gedient hätte, wenn ich sie zum Weinen gebracht, ihr Wärme, menschliche Nähe, vielleicht sogar einen Kuß gegeben hätte. Aber die Sperre war da und ließ sich so leicht nicht lösen.
«Ich hätte nicht herkommen sollen«, wiederholte sie.»Das ist mir jetzt klar.«
«Möchten Sie denn nun eigentlich… daß ich was unternehme?«
Ein Zucken verzog ihr Gesicht.»Ach Gott… Ja, doch, das möchte ich schon. Aber es war dumm von mir, und ich hab mir was vorgemacht. Schließlich und endlich sind Sie ja nur ein Jockey.«
Ich öffnete die Tür.
«Ich wünschte«, sagte ich leichthin,»ich wär’s.«
Sie sah mich an, ohne mich wahrzunehmen, war in Gedanken schon auf der Rückfahrt, bei ihrem Film, bei dem, was sie George darüber berichten würde.
«Ich bin nicht verrückt«, sagte sie.
Sie drehte sich abrupt um und schritt davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich beobachtete, wie sie zur Treppe ging und ohne sich aufzuhalten aus meinem Blickfeld verschwand. Mit dem anhaltenden Gefühl, ihr nicht gerecht geworden zu sein, schloß ich die Tür und kehrte ins Wohnzimmer zurück — und es schien mir, als ob auch dort die Luft von ihrer intensiven Ausstrahlung in Unruhe wäre.
Ich bückte mich und hob die größeren Glasscherben auf, aber es lagen zu viele kleine Splitter herum, um es dabei bewenden lassen zu können, weshalb ich Kehrbesen und Schaufel aus der Küche holte.
Die Kehrschaufel konnte ich gut mit der linken Hand halten. Wenn ich einfach versuchte, die echte Hand, die nicht mehr da war, nach hinten zu biegen, dann lösten sich die künstlichen Finger vom Daumen und öffneten sich. Wenn ich nun wie gewohnt die Botschaft an die Hand schickte, sie solle sich nach innen biegen, so schlossen sich die Finger wieder. Zwischen dem mentalen Befehl und der elektrischen Reaktion gab es stets ein Intervall von ungefähr zwei Sekunden, und es war für mich am schwersten gewesen, mich an diese Verzögerung zu gewöhnen.
Natürlich konnten die Finger nicht spüren, ob ihr Griff fest genug war oder nicht. Die Leute, die mir die Hand angepaßt hatten, hatten mir gesagt, daß der Gradmesser des Erfolges das Aufheben von Eiern sei, und ich hatte anfangs bei den entsprechenden Übungen wohl ein Dutzend und mehr zerdrückt.
Geistesabwesenheit hatte implodierende Glühbirnen und flachgequetschte Zigarettenschachteln zur Folge gehabt, was erklärte, warum ich dieses Wunderwerk der Technik weit weniger oft benutzte, als es möglich gewesen wäre.
Ich leerte die Glasscherben in den Mülleimer und schaltete den Fernseher wieder ein. Aber die Komödie war schon vorbei, und den nun laufenden Krimi störten Gedanken an Rosemary. Mit einem Seufzer schaltete ich den Apparat ab, briet mir das Steak und ging, nachdem ich es verzehrt hatte, zum Telefon, um Bobby Unwin anzurufen, der beim Daily Planet arbeitete.
«Informationen gibt’s aber nicht umsonst«, sagte er sofort, als er mitbekommen hatte, wer der Anrufer war.
«Was willst du haben?«
«Eine kleine Gegenleistung.«
«Geht in Ordnung«, sagte ich.
«Was suchst du denn?«
«Hm«, sagte ich.»Du hast mal vor ein paar Monaten für eure Wochenendbeilage einen langen Artikel über George Caspar geschrieben. Geradezu endlos.«
«Stimmt, ein Special Feature. Analyse seines Erfolges. Der Planet bringt einmal im Monat eine Serie über Er-folgsmenschen. Unternehmer, Popstars und was weiß ich. Legen sie unters Klischeemikroskop und kommen dann mit einer großen, gähnend langweiligen Enthüllungsstory raus, die nichts als heiße Luft ist.«
«Bist du in der Horizontalen?«
Es trat kurz Stille ein, der ein unterdrücktes Mädchengekicher folgte.
«Verkrümel dich mit deinen Eingebungen doch nach Sibirien«, sagte Bobby.»Wie kommst du darauf?«
«Wahrscheinlich der blanke Neid. «Ich hatte aber eigentlich nur herausbekommen wollen, ob er allein war, ohne daß es allzu wichtig klang.»Bist du morgen in Kempton?«
«Ich denke schon.«
«Könntest du mir ein Exemplar dieser Beilage mitbringen? Ich kauf dir dafür auch eine Flasche deiner Wahl.«
«Junge, Junge. Abgemacht.«
Sein Hörer wanderte ohne weitere Umschweife zurück auf die Gabel, und ich verbrachte den Rest des Abends damit, mich an Hand der Formbücher der vergangenen Jahre über die Entwicklung von >Bethesda<, >Gleaner<, >Zingaloo< und >Tri-Nitro< zu informieren, was mir aber zu keinerlei neuen Erkenntnissen verhalf.
Kapitel 2
Ich hatte es mir in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht, donnerstags mit meinem Schwiegervater zu Mittag zu essen. Ex-Schwiegervater, um genau zu sein. Admiral (im Ruhestand) Charles Roland, Vater des schlimmsten Fehlers, den ich je begangen hatte. Ich hatte seiner Tochter Jenny all die innige Zuneigung entgegengebracht, deren ich fähig war, und ihr lediglich das vorenthalten, was sie mir irgendwann als ihren einzigen Wunsch offenbarte, nämlich daß ich die Rennreiterei aufgäbe. Wir waren fünf Jahre verheiratet gewesen — zwei glückliche, zwei uneinige und ein bitteres. Und jetzt waren nur noch die juckenden, halb verheilten Wunden da. Die und die Freundschaft ihres Vaters, die ich mir nur unter großen Mühen erworben hatte und nun als das einzig Wertvolle pries, das ich aus dem Wrack meiner Ehe hatte bergen können.
Wir trafen uns meistens um zwölf in der im ersten Stock gelegenen Bar des» Cavendish Hotel«, wo diesmal ein Pink Gin für ihn und ein Whisky mit Wasser für mich auf hübschen kleinen Untersetzern neben einer Schale mit Erdnüssen standen.
«Jenny wird am Wochenende in Aynsford sein«, sagte er.
Aynsford war sein Haus in Oxfordshire. London am Donnerstag, das war» geschäftlich«. Die Reise von einem Ort zum anderen machte er in einem Rolls.
«Ich würde mich freuen, wenn du auch kämst«, sagte er.
Ich betrachtete sein feines, sehr distinguiertes Gesicht und lauschte dem distanziert-näselnden Tonfall seiner Stimme. Ein Mann von großem Feingefühl und Charme, der einen aber auch wie ein Laserstrahl durchbohren konnte, wenn er dies für erforderlich hielt. Ein Mann, dessen Integrität ich blind vertraute, dessen Mitleid aber nicht eine Sekunde.
Ich sagte vorsichtig und ohne Groll:»Ich komme aber nicht, um mich dauernd von ihr anschießen zu lassen.«
«Sie war damit einverstanden, daß ich dich einlade.«
«Das glaube ich nicht.«
Er blickte mit verdächtiger Konzentration auf sein Glas. Lange Erfahrung hatte mich gelehrt, daß er mich nie ansah, wenn er etwas von mir wollte und wußte, daß ich es nicht gern tun würde. Und dann trat, so wie jetzt, meistens eine Pause ein, in der er sich sammelte, um schließlich Feuer an die Lunte zu legen. Die Länge dieser Pause war in gar keiner Weise tröstlich. Endlich sagte er:»Ich fürchte, sie ist in ziemlichen Schwierigkeiten.«
Ich sah ihn an, aber er wollte die Augen nicht heben.
«Aber, Charles«, sagte ich verzweifelt,»du kannst nicht von mir… du kannst mich doch nicht ernstlich bitten… du weißt doch, welchen Ton sie mir gegenüber am Leibe hat.«
«Du zahlst ihr mit gleicher Münze heim, wenn ich mich recht erinnere.«
«Man muß nicht ganz bei Troste sein, wenn man zu einem Tiger in den Käfig klettert.«
Er warf mir einen kurzen, mich von unten her anblitzenden Blick zu, und sein Mund zuckte ganz leicht. Vielleicht war es ja wirklich nicht sehr passend gewesen, zum Vater in dieser Form von seiner hübschen Tochter zu sprechen.
«Du bist meines Wissens schon häufiger in den Käfig eines Tigers gestiegen«, meinte er.
«Dann eben Tigerin«, verbesserte ich mich in einer Anwandlung von Humor.
Er stürzte sich sofort darauf.»Du kommst also?«
«Nein… also wirklich, es gibt Dinge, die sind nun mal einfach zuviel verlangt.«
Er seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück, sah mich über sein Glas hinweg an. Ich mochte diesen leeren Blick seiner Augen gar nicht, denn er verriet mir, daß er noch immer mit seinem Anschlag auf mich befaßt war.
«Seezunge?«schlug er verbindlich vor.»Soll ich den Ober rufen? Wir könnten eigentlich bald essen, meinst du nicht auch?«
Aus alter Gewohnheit bestellte er Seezungenfilet für uns beide. Ich konnte inzwischen durchaus in Restaurants essen, aber es hatte auch eine lange, unangenehme Zeit gegeben, wo meine natürliche Hand nur ein unbrauchbares, nutzloses und deformiertes Glied gewesen war, das ich, mir dieser Tatsache ständig bewußt, möglichst in Taschen verborgen gehalten hatte. Als ich mich endlich damit abgefunden hatte, war sie mir erneut zertrümmert und ganz abgenommen worden. So war wohl das Leben. Man gewann und verlor, und wenn man etwas aus den Trümmern zu retten vermochte, und sei es auch nur ein winziges Restchen von Selbstachtung, dann war das genug, um einen über die nächste Runde zu bringen.
Der Ober teilte uns mit, daß unser Tisch in zehn Minuten fertig sei, und ging still davon, Speisekarten und Bestellblock an seine Smokingjacke und die graue Seidenkrawatte gedrückt. Charles schaute auf seine Uhr und sah sich dann gemächlich in dem großen, hellen, stillen Raum um, in dem auch noch andere Menschen in beigefarbenen Sesseln saßen und den Lauf der Welt erörterten.
«Fährst du heute nachmittag nach Kempton?«fragte er.
Ich nickte.»Das erste Rennen ist um halb drei.«
«Arbeitest du gerade an einem Fall?«Für eine beiläufige Erkundigung klang das eigentlich zu verbindlich.
«Ich komme nicht nach Aynsford«, sagte ich.»Jedenfalls nicht, solange Jenny dort ist.«
Er schwieg eine Weile und sagte dann:»Ich wünschte, du kämst doch, Sid.«
Ich antwortete nicht, sah ihn nur an. Seine Augen folgten einem Kellner, der weiter entfernt sitzenden Gästen Getränke servierte, und er brauchte viel zu lange, um sich den nächsten Satz zurechtzulegen.
Er räusperte sich und sagte, ohne mich dabei anzusehen:»Bedauerlicherweise hat Jenny Geld… und ihren Namen… für ein Unternehmen hergegeben, das man wohl als betrügerisch bezeichnen muß.«
«Sie hat was?«
Sein Blick schnellte mit verdächtiger Geschwindigkeit zu mir zurück, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.
«Nein«, sagte ich.»Wenn sie das wirklich getan hat, dann ist es doch wohl an dir, dich darum zu kümmern.«
«Sie hat natürlich deinen Namen benutzt«, sagte Charles.»Jennifer Halley.«
Ich konnte spüren, wie die Falle zuschnappte. Charles betrachtete mein stummes Gesicht und trennte sich mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung von einer bestimmten Befürchtung. Er war viel zu geschickt, dachte ich bitter, als daß ich ihm hätte entwischen können.
«Sie fühlte sich zu einem Mann hingezogen«, sagte er leidenschaftslos.»Ich mochte ihn nicht sonderlich, aber das galt anfangs ja auch für dich… Ich habe dieses Fehlurteil übrigens als sehr hinderlich empfunden, weil ich danach meinem spontanen Urteil nicht mehr zu trauen wagte, jedenfalls nicht immer.«
Ich aß eine Erdnuß. Er hatte mich nicht gemocht, weil ich Jockey gewesen war und er in einem solchen keinen passenden Ehemann für seine wohlerzogene Tochter gesehen hatte — und ich hatte ihn im Gegenzug als intellektuellen und sozialen Snob abgelehnt. Es war schon ein recht eigenartiger Gedanke, daß ausgerechnet er jetzt der Mensch war, den ich von allen am meisten schätzte.
Charles fuhr fort:»Der Mann hat sie überredet, sich an einer Art Versandhandel zu beteiligen… alles furchtbar gewinnbringend und respektabel, zumindest an der Oberfläche. Eine legitime Methode, Gelder für wohltätige Zwecke zu erwirtschaften… du kennst so etwas ja. Wie Weihnachtskarten, nur daß es sich in diesem Falle, glaube ich, um irgendeine Wachspolitur für antike Möbel handelte. Die Kundschaft kaufte dieses sehr teure Wachs vor allem, weil sie wußte, daß ein Großteil des Gewinns einer guten Sache zufließen würde.«
Er blickte mich ernst an. Ich aber wartete ab — und dies ohne allzu große Hoffnung.
«Bestellungen gingen reichlich ein«, sagte er.»Und mit ihnen natürlich auch Geld. Jenny und eine Freundin von ihr hatten alle Hände voll zu tun, um mit dem Versand der Politur nachzukommen.«
«Die Jenny«, riet ich,»gegen Vorauskasse gekauft hatte?«
Charles seufzte.»Ich muß es dir also nicht genauer erklären, nicht wahr?«
«Und Jenny zahlte Porto und Verpackung und Werbebroschüren und Anschreiben?«
Er nickte.»Das eingehende Geld zahlte sie auf ein besonderes Konto ein, das von dieser Wohltätigkeitsorganisation eröffnet worden war. Und das Geld ist abgehoben worden, der Mann verschwunden, und die Wohltätigkeitsorganisation hat sich als inexistent herausgestellt.«
«Und Jennys Lage?«fragte ich.
«Leider sehr schlecht. Es könnte durchaus sein, daß Anklage erhoben wird. Ihre Unterschrift steht überall drauf, und die von dem Kerl nirgends.«
Mir war nicht nach Spott zumute. Charles registrierte mein bestürztes Schweigen und nickte verständnisvoll.
«Das war alles äußerst töricht von ihr«, sagte er.
«Hättest du sie nicht daran hindern, sie warnen können?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf.»Ich habe von all dem ja erst gestern erfahren, als sie ganz verzweifelt in Aynsford erschien. Sie hat das Geschäft von der Wohnung aus abgewickelt, die sie sich in Oxford gemietet hat.«
Wir gingen zum Essen, und ich konnte mich hinterher überhaupt nicht mehr erinnern, wie die Seezunge geschmeckt hatte.
«Der Name des besagten Mannes ist Nicholas Ashe«, sagte Charles beim Kaffee.»Jedenfalls hat er den genannt. «Er schwieg ein Weilchen.»Mein Anwalt meint, es wäre gut, wenn du ihn ausfindig machen könntest.«
Auf der Fahrt nach Kempton waren meine Seh- und Muskelreflexe auf Autopilot geschaltet, während meine Gedanken voller Unbehagen bei Jenny weilten.
Die Scheidung hatte allem Anschein nach nicht das geringste geändert. Der kürzlich erfolgte, antiseptische Trennungsschnitt, die unpersönliche Gerichtsverhandlung, zu der wir beide nicht erschienen waren (keine Kinder, keine Unterhaltsstreitigkeiten, keine Andeutung von Versöhnungsbereitschaft — dem Antrag wird stattgegeben, der nächste Fall bitte), schien hinter unser gemeinsames Leben keinen Punkt gesetzt zu haben, ja, kaum so etwas wie ein Komma. Die gerichtliche Klärung hatte sich nicht als großer, befreiender
Neuanfang herausgestellt. Die Erholung von der emotionalen Katastrophe schien ein langwieriger Vorgang zu sein, die Scheidungsurkunde so gut wie keine Hilfe.
Hatten wir uns einst voller Freude und Leidenschaft aneinander geklammert, so zerfleischten wir uns jetzt gegenseitig, wenn uns der Zufall zusammenführte. Ich hatte fünf Jahre damit zugebracht, Jenny zu lieben, zu verlieren und zu betrauern, aber ich mochte noch so sehr wünschen, daß meine Gefühle tot seien — sie waren es nicht. Bis zur Gleichgültigkeit schien es noch ein beschwerlicher Weg zu sein.
Wenn ich ihr in ihrer mißlichen Lage half, würde sie mir das Leben zur Hölle machen. Half ich ihr jedoch nicht, würde ich es mir selbst zur Hölle machen. Warum nur, dachte ich erbittert und in ohnmächtiger Auflehnung, hatte das dumme Luder so blöde sein müssen?
Für einen Wochentag im April war Kempton recht gut besucht, obwohl ich einmal mehr Anlaß fand zu bedauern, daß in Großbritannien Rennplätze um so leichter Opfer nichtanwesender Zuschauermassen wurden, je näher sie bei London lagen. Städter mochten zwar der Wetterei verfallen sein, nicht aber der frischen Luft und den Pferden. Birmingham und Manchester hatten schon in lange zurückliegenden Tagen ihre Plätze auf Grund mangelnden Zuschauerinteresses eingebüßt, und der in Liverpool verdankte sein Überleben einzig und allein dem Grand National. Die Bahnen auf dem platten Lande jedoch platzten meistens aus allen Nähten und hatten sehr oft keine Rennkarten mehr zu vergeben — die blühendsten Gewächse entsprossen noch immer den ältesten Wurzeln.
Draußen vor der Waage stand die gleiche Versammlung vertrauter Gestalten wie immer und war in Unterhaltungen vertieft, die im Grunde seit Jahrhunderten dieselben geblieben waren. Wer würde welches Rennen reiten, wer würde gewinnen, und man sollte unbedingt das Reglement ändern, und was Soundso über sein erfolgreiches Pferd zu sagen gewußt hatte, und waren die allgemeinen Aussichten nicht düster, ach, und wußten Sie schon, daß der junge Dingsda seine Frau sitzengelassen hat? Da waren die skurrilen Geschichten und die leichten Übertreibungen und die glatten Lügen. Die ewig gleiche Mischung aus Ehrenhaftigkeit und Korruptheit, aus Prinzipientreue und Nützlichkeitserwägungen. Leute, die sich nicht scheuten zu bestechen, und Leute, die bereitwillig die Hand aufhielten. Die kleinen, gequält Hoffenden und die arroganten großen Tiere. Die Verlierer, die sich kühn herausredeten, und die Sieger, die ihre Ängste zu verbergen suchten. Alles so, wie es immer gewesen war und bleiben würde, solange es den Rennsport gab.
Ich hatte eigentlich gar nicht mehr das Recht, im Bereich vor der Waage umherzuschlendern, aber bisher hatte mir noch nie jemand den Zutritt verwehrt. Ich gehörte in die Grauzone der Ex-Jockeys — das Betreten der Waage selbst war uns zwar nicht gestattet, im übrigen aber drückte man tolerant ein Auge zu. Das innerste Heiligtum war an dem Tage futsch gewesen, an dem eine halbe Tonne Pferd mit den Vorderhufen auf meinem Mittelhandknochen gelandet war. Seitdem war ich schon froh, daß ich der Bruderschaft überhaupt noch angehören durfte, und die Sehnsucht danach, wieder reiten zu können, war bloß Bestandteil meines allgemeinen Kummers. Ein anderer Ex-Champion hatte mir einmal erzählt, daß es zwanzig Jahre gedauert habe, bis er sich nicht mehr danach verzehrte, da draußen auf den Pferden zu sitzen, und ich hatte mich herzlichst bedankt für seinen Trost.
George Caspar, der an diesem Nachmittag drei Pferde laufen hatte, war da und unterhielt sich mit seinem Jockey.
Und dann sah ich auch Rosemary, die heftig zusammenzuckte, als sie mich in zehn Meter Entfernung erblickte, und sich abrupt abwandte. Ich konnte mir die Unruhe gut vorstellen, die sie durchbebte, obwohl sie äußerlich wieder ganz die gepflegte, elegante Dame war — ein Nerz gegen den kühlen Wind, glänzende Stiefel und ein Hut aus Samt. Sollte sie befürchten, daß ich ihren Besuch bei mir ausplauderte, so irrte sie sich.
Jemand ergriff mich kaum spürbar am Ellbogen, und eine angenehme Stimme sagte:»Ein Wort unter vier Augen, Sid.«
Ich lächelte, noch bevor ich mich zu dem Sprecher umdrehte — zu Lord Friarly, Graf, Großgrundbesitzer und ein wahnsinnig netter Kerl, einer jener Leute, für die ich früher viele Rennen geritten hatte. Er war ein Aristokrat der alten Schule, um die sechzig, von untadeligen Umgangsformen, zu aufrichtigem Mitgefühl fähig, ein klein wenig exzentrisch und weitaus intelligenter als von den meisten erwartet. Sein leichtes Stottern hatte nicht das geringste mit Sprachstörungen zu tun, sondern sollte nur den Eindruck vermeiden, er wolle sich in dieser egalitären Welt vielleicht seiner sozialen Stellung brüsten.
Im Laufe der Jahre war ich mehrfach Gast in seinem Hause in Shropshire gewesen, meistens zu rennsportlichen Ereignissen im Norden des Landes, und hatte mit ihm zusammen ungezählte Meilen in den verschiedensten, recht betagten Automobilen zurückgelegt. Das Alter der Wagen war allerdings kein weiterer Ausdruck seiner zurückhaltenden Bescheidenheit, sondern entsprang seiner Abneigung, Geld an unwichtige Dinge zu verschwenden. Und wichtig im Sinne der gräflichen Einkünfte war allein die Erhaltung von Friarly Hall und der Besitz so vieler Pferde wie möglich.
«Schön, Sie zu sehen, Sir«, sagte ich.
«Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich Philip nennen.«
«O ja. Verzeihung.«
«Hören Sie«, sagte er,»ich möchte Sie um etwas bitten. Wie man mir sagt, sind Sie sehr gut darin, Dingen auf den Grund zu gehen. Wundert mich natürlich gar nicht. Sie wissen, daß ich schon immer viel auf Ihre Meinung gegeben habe.«
«Selbstverständlich helfe ich gern, wenn ich kann«, sagte ich.
«Ich werde das unbehagliche Gefühl nicht los, daß man mich irgendwie benutzt«, sagte er.»Sie wissen ja, daß ich ganz versessen darauf bin, meine Pferde laufen zu sehen, je öfter, desto lieber, wenn ich so sagen darf. Nun, im vergangenen Jahr habe ich mich bereit erklärt, als registrierter Besitzer für ein Syndikat aufzutreten… Sie kennen das ja, man teilt sich die Kosten mit acht oder zehn anderen, die Pferde laufen aber weiter unter dem Namen ihres Besitzers und seinen Farben.«
«Ja«, sagte ich und nickte,»ich hab davon gehört.«
«Na ja. die anderen Leute sind mir nicht alle persönlich bekannt. Diese Syndikate wurden von einem Burschen ins Leben gerufen, der nichts anderes macht als ebendies, nämlich Leute zusammenbringen und ihnen ein Pferd verkaufen. Sie verstehen?«
Ich nickte. Es hatte schon Fälle gegeben, wo solche Syndikatsgründer Pferde billig eingekauft und dann den Mitgliedern des Syndikats für das Vierfache des gezahlten Preises verkauft hatten. Ein gewinnbringendes kleines Geschäft, soweit auch noch nicht illegal.
«Diese Pferde laufen nicht so, wie sie es von ihrer Form her könnten, Sid«, sagte er in aller Offenheit.»Ich habe das häßliche Gefühl, daß es da irgendwo in diesen Syndikaten jemanden gibt, der bestimmt, wie die Pferde zu laufen haben. Würden Sie das für mich überprüfen? In aller Stille?«
«Ich will’s gern versuchen«, sagte ich.
«Gut«, äußerte er befriedigt.»Dachte es mir. Ich habe Ihnen deshalb auch gleich die Namen der Leute mitgebracht, die den Syndikaten angehören. «Er zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Innentasche seines Jacketts.»Hier sind sie«, fuhr er fort, entfaltete das Papier und zeigte darauf.»Vier Pferde. Die Syndikate sind alle beim Jockey Club registriert, alles einwandfrei, Bücher geprüft und so weiter. Auf dem Papier, da sieht alles vollkommen in Ordnung aus, aber wenn ich ehrlich sein soll, Sid, macht mich die Geschichte nicht sehr glücklich.«
«Ich will mir das mal genauer anschauen«, versprach ich, und er dankte mir ebenso überschwenglich wie aufrichtig. Nach ein paar Minuten entfernte er sich, um mit Rosemary und George zu sprechen.
In einiger Entfernung machte Bobby Unwin, Notizblock und Stift gezückt, einem mittelklassigen Trainer, wie es schien, das Leben schwer. Seine Stimme drang bis zu mir herüber, von der Aggressivität des Nordengländers geschärft und mit jenem inquisitorischen Tonfall, den er Fernsehreportern abgelauscht hatte.
«Können Sie also sagen, daß Sie mit der Art, wie Ihre Pferde laufen, voll und ganz zufrieden sind?«Der Trainer sah sich nach Fluchtwegen um und trat von einem Bein aufs andere. Es war schon erstaunlich, dachte ich, daß er sich das gefallen ließ, auch wenn Bobby Unwins gedruckte Bösartigkeit leicht noch schlimmer ausfiel, wenn er sich des Vergnügens beraubt sah, sein Opfer in direktem Gespräch einschüchtern zu können. Er hatte eine gute Schreibe, wurde mit Begeisterung gelesen und war vielen
Angehörigen der Rennsportzunft von Herzen zuwider. Zwischen ihm und mir hatte viele Jahre lang eine Art Waffenstillstand geherrscht, was in der Praxis bedeutete, daß Wörter wie» blind «und» stümperhaft «nicht mehr als zweimal pro Absatz vorkamen, wenn er von Rennen berichtete, die ich verloren hatte. Seit ich mit der Rennreiterei aufgehört hatte, stellte ich keine Zielscheibe mehr für ihn dar, und folglich gewannen wir unseren Gesprächen eine perverse Befriedigung ab — es war so, wie wenn man sich einen juckenden Pickel kratzt.
Mich aus den Augenwinkeln erspähend, ließ er sofort von dem unseligen Trainer ab und lenkte seine schnabelartige Nase in meine Richtung. Er war groß, vierzig und ging beständig damit hausieren, daß er in einem Hinterhof von Bradford das Licht der Welt erblickt habe — ein Kämpfer, der sich hatte durchboxen müssen und das niemanden je vergessen lassen würde. Uns hätte eigentlich vieles verbinden müssen, da auch ich das Produkt einer schäbigen Seitenstraße war, aber das Temperament hat nichts mit der Umgebung zu tun. Er neigte dazu, das Schicksal mit wilder Entschlossenheit anzugehen, während ich die Ruhe bevorzugte, was bedeutete, daß er viel redete und ich zuhörte.
«Die Beilage liegt in meiner Aktenmappe im Pressezimmer«, sagte er.»Wofür brauchst du sie denn?«
«Interessiert mich halt ganz allgemein.«
«Na, komm schon«, sagte er.»Woran arbeitest du?«
«Und würdest du mich bitte bei deinem nächsten heißen Knüller vorab informieren?«erwiderte ich.
«Gut, gut«, sagte er.»Schon kapiert. Aber das kostet dich eine Flasche vom besten Schampus, der in der Clubbar zu haben ist. Nach dem ersten Rennen, okay?«
«Und könnte ich für ein paar zusätzliche Lachssandwiches auch ein paar Hintergrundinformationen bekommen, die noch nicht im Druck erschienen sind?«
Er grinste häßlich und meinte, er sehe keinen Grund, der dagegen spreche — und zu gegebener Zeit, das heißt nach dem ersten Rennen, hielt er sich an die getroffene Vereinbarung.
«Du kannst es dir doch leisten, Sid, alter Junge«, sagte er, verschlang ein Sandwich mit rosafarbenem Belag und legte schützend die Hand um den mit Goldfolie überzogenen Hals der Flasche, die neben uns auf dem Bartresen stand.»Was möchtest du denn nun wissen?«
«Du bist doch sicher in Newmarket… in Caspars Stall gewesen… damals, als du diesen Artikel geschrieben hast, oder nicht?«Ich deutete auf die Wochenendbeilage, die längs gefaltet neben der Flasche lag.
«Aber klar doch.«
«Dann erzähl mir doch mal, was du nicht geschrieben hast.«
Er hörte zu kauen auf.»Über welchen Daseinsbereich?«
«Was hältst du ganz privat von dem Menschen George?«
Seine Stimme wand sich um Bröckchen braunen Brotes herum.»Das habe ich so gut wie alles in dem Artikel da geschrieben. «Er blickte auf die Beilage hinab.»Er versteht mehr davon, wann ein Pferd fürs Rennen einsatzbereit ist und welches Rennen für es in Frage kommt, als jeder andere Trainer auf dem Turf. Dabei hat er für Menschen soviel Gespür wie ein Stein. Er kennt Namen und Stammbaum, bis zurück zur Sintflut, von jedem einzelnen der über hundertzwanzig Pferde in seinem Stall, und er erkennt sie alle auch noch bei strömendem Regen und von hinten, was praktisch gar nicht möglich ist, aber die vierzig Stallburschen, die für ihn arbeiten, die nennt er alle Tommy, weil er sie absolut nicht auseinanderhalten kann.«»Stallburschen kommen und gehen«, stellte ich sachlich fest.
«Pferde auch. Sein Kopf ist halt darauf geeicht. Leute scheren ihn einen Dreck.«
«Und wie steht’s mit den Frauen?«erkundigte ich mich.
«Er benutzt sie, die armen Dinger. Ich wette, daß er selbst dann, wenn er mit ihnen schläft, noch darüber nachdenkt, welche Pferde er am nächsten Tag laufen lassen soll.«
«Und Rosemary… was hält sie so von alledem?«
Ich füllte sein Glas nach und nahm einen Schluck aus dem meinen. Bobby schlang den Rest seines Sandwiches hinunter und leckte sich die Krümel von den Fingern.
«Rosemary? Die ist schon halbwegs übergeschnappt.«
«Beim Rennen gestern sah sie eigentlich ganz normal aus«, entgegnete ich.»Und heute ist sie doch auch da.«
«Schön und gut, in der Öffentlichkeit kann sie durchaus noch die große Dame mimen, das stimmt schon, aber ich war drei Tage lang Gast in ihrem Haus, und ich kann dir nur sagen, alter Knabe, daß man das, was da vor sich geht, selbst miterlebt haben muß, um es glauben zu können.«
«Was zum Beispiel?«
«Zum Beispiel, daß Rosemary im ganzen Haus rumbrüllt, die Sicherheitsmaßnahmen im Stall seien nicht ausreichend, und George ihr rät, die Schnauze zu halten. Rosemary leidet unter der fixen Idee, daß jemand an ein paar von ihren Pferden rumgepfuscht hat, und ich glaube, sie hat gar nicht so unrecht damit, denn man kann keinen so großen und so erfolgreichen Stall sein eigen nennen, ohne nicht auch eine entsprechende Menge an Ganoven abzubekommen, die Einfluß auf die Gewinnchancen zu nehmen versuchen. Jedenfalls«- er nahm einen großen
Schluck und griff nach der Flasche, um seine Vorräte großzügig wieder aufzufüllen —»packte sie mich eines Tages in der Diele am Jackett — und die Diele ist so groß wie eine geräumige Scheune —, packte mich also buchstäblich am Jackett und erklärte mir, daß ich lieber mal was über >Gleaner< und >Zingaloo< und über Manipulationsversuche schreiben solle… du erinnerst dich doch, diese beiden superschnellen Zweijährigen, mit denen es dann irgendwie nicht weiterging… und George kam aus seinem Arbeitszimmer und sagte, sie sei neurotisch und leide unter den Wechseljahren, und dann kam es in meiner Gegenwart zu einer regelrechten Schlammschlacht. «Er holte Luft und nahm einen Schluck.»Das Komische ist, daß sie sich trotzdem irgendwie mögen, glaube ich. Soweit er überhaupt jemanden mögen kann.«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Zähne und gab mir den Anschein, nur mäßig interessiert zu sein, so, als sei ich in Gedanken ganz woanders.»Und was meinte George zu ihrer Geschichte von >Gleaner< und >Zingaloo<?«fragte ich.
«Er ging einfach davon aus, daß ich sie nicht ernst nehmen würde, aber wie dem auch sei, er sagte mir dann doch, daß sie wahnsinnige Angst habe, jemand könnte >Tri-Nitro< klauen, und daß sie immer alles übertreibe. Das sei halt ihr Alter, sagte er. Er meinte, Frauen führten sich in diesem Alter immer so eigenartig auf. Er sagte, die Sicherheitsmaßnahmen, die man wegen ihrer ständigen Drängelei im Falle von >Tri-Nitro< ergriffen habe, seien schon doppelt so intensiv wie das, was er normalerweise für notwendig erachte, und mit Beginn der neuen Saison werde er sogar für Nachtwächter mit Hunden und dergleichen sorgen. Das heißt also jetzt. Er sagte mir, daß Rosemary sich irre, wenn sie glaube, >Gleaner< und >Zingaloo< seien manipuliert worden, aber sie habe nun mal diese
Zwangsvorstellung, und er wolle ihr bis zu einem gewissen Grad entgegenkommen, um zu verhindern, daß sie völlig überschnappt. Es scheint, daß beide… ich meine die Pferde… ein Herzgeräusch hatten, was natürlich die miserable Leistung erklären würde, die sie brachten, als sie älter und schwerer wurden. Das ist alles. Keine Story. «Er leerte sein Glas und füllte es wieder.»Also, mein lieber Sid, was willst du denn nun wirklich über George Caspar wissen?«
«Hm«, sagte ich.»Glaubst du, daß er vor irgend etwas Angst hat?«
«George?«sagte er ungläubig.»Was sollte das sein?«
«Ich weiß nicht, irgend etwas.«
«Als ich dort war, hatte ich den Eindruck, daß er soviel Angst hatte wie eine Tonne Stahlbeton.«
«Er wirkte nicht beunruhigt?«
«Nicht im geringsten.«
«Oder nervös?«
Er zuckte die Achseln.»Nur seiner Frau gegenüber.«
«Wann warst du eigentlich dort?«
«Warte mal…«Er überlegte.»Nach Weihnachten. Ja… es war in der zweiten Januarwoche. Wir müssen diese Wochenendbeilagen immer schon so lange im voraus produzieren.«
«Du glaubst also nicht«, sagte ich langsam und mit einem Unterton von Enttäuschung,»daß ihm an einem zusätzlichen Schutz für >Tri-Nitro< gelegen wäre?«
«Das ist’s also, was dich beschäftigt?«Er griente anzüglich.
«Da läuft nichts, mein lieber Sid. Versuch’s bei einem mit kleinerer Schuhgröße. George hat seinen ganzen verdammten Stall verrammelt. Abgesehen davon handelt es sich um eines dieser alten Dinger, die von einer Mauer eingeschlossen sind wie eine Festung. Und dann gibt’s da drei Meter hohe Doppeltore mit einer Krone aus Stahlspitzen oben drauf.«
Ich nickte.»Ja… hab ich gesehen.«
«Na bitte. «Er zuckte mit den Schultern, als sei die Sache damit erledigt.
In allen Bars von Kempton waren Fernsehgeräte vorhanden, um auch die ernsthaften Trinker über den Stand der Rennen draußen auf dem laufenden zu halten, und Bobby Unwin und ich sahen uns auf dem am nächsten stehenden Gerät das zweite Rennen an. Das Pferd, das mit sechs Längen Vorsprung gewann, gehörte zu denen, die von George Caspar trainiert wurden, und während Bobby nachdenklich den Rest des Champagners betrachtete, der noch in der Flasche war, betrat George die Bar. Hinter ihm kam ein fülliger Mann in kamelhaarfarbenem Mantel herein, dem deutlich der zufriedene, weil siegreiche Besitzer anzusehen war. Strahlendes Siegerlächeln, große Gesten, die Runde übernehme ich.
«Mach die Flasche leer, Bobby«, sagte ich.
«Möchtest du nichts mehr?«
«Alles deins.«
Er erhob keine Einwände. Schenkte sich ein, trank aus und rülpste behaglich.»Gehn wir lieber mal«, sagte er.»Muß noch was Brauchbares über die Gäule im dritten schreiben. Und erzähl bloß meinem Chef nicht, daß ich mir das zweite in der Bar angeschaut habe, der schmeißt mich sonst glatt raus. «Das war nicht so ernst gemeint. Er verfolgte so manches Rennen in der Bar.»Wir sehn uns, Sid. Danke für den Drink.«
Er drehte sich mit einem Kopfnicken um, ging mit festem Schritt zur Tür und ließ durch nichts erkennen, daß er soeben sieben Achtel einer Flasche Champagner in ungefähr einer halben Stunde in sich hineingekippt hatte. Zweifellos hatte er damit nur eine Grundlage geschaffen — seine Aufnahmekapazität war geradezu phänomenal.
Ich steckte die Wochenendbeilage ein und folgte ihm langsam, wobei ich über das nachdachte, was er mir erzählt hatte. Als ich an George Caspar vorbeikam, sagte ich» Gut gemacht«, wie es bei solchen Anlässen die Höflichkeit gebietet, und er nickte mir kurz zu und sagte» Sid«, woraufhin ich, da die Sache damit erledigt zu sein schien, meinen Weg zur Tür fortsetzte.
«Sid«, rief er mir mit erhobener Stimme nach.
Ich drehte mich um. Er winkte mir, und ich ging zu ihm zurück.
«Möchte Sie gern mit Trevor Deansgate bekannt machen«, sagte er.
Ich schüttelte die dargebotene Hand — schneeweiße Manschette, goldene Manschettenknöpfe, weiche, blasse Haut, ein wenig feucht, gepflegte Fingernägel, ein Siegelring, Onyx und Gold, am kleinen Finger.
«War der Sieger Ihr Pferd?«fragte ich.»Ich gratuliere.«
«Wissen Sie, wer ich bin?«
«Trevor Deansgate.«
«Davon mal abgesehen?«
Es war das erste Mal, daß ich ihn aus nächster Nähe sah. Mächtige Männer haben oftmals verräterisch herabhängende Augenlider, die Ausdruck eines Gefühls der Überlegenheit sind — und ebendie hatte er auch. Dazu dunkelgraue Augen, schwarzes, sorgfältig frisiertes Haar und den schmalen Mund, der zu den gut durchtrainierten Muskeln des entscheidungsfreudigen Menschen paßt.
«Nun mal los, Sid«, sagte George in mein kurzes Zögern hinein.»Wenn Sie’s wissen, dann raus damit. Ich hab Trevor gesagt, daß Sie alles wissen.«
Ich sah ihn an, aber alles, was sich seinen harten, wettergegerbten Zügen entnehmen ließ, war eine Art spöttischer Erwartung. Ich wußte sehr wohl, daß viele Leute in meiner neuen Tätigkeit so etwas wie eine Spielerei sahen. In der augenblicklichen Situation schien es jedoch nichts zu schaden, wenn ich durch den Reifen sprang, den er mir hinhielt.
«Buchmacher?«sagte ich vorsichtig und fügte, an Trevor Deansgate gewandt, hinzu:»Billy Bones?«
«Na bitte«, rief George erfreut aus,»hab ich’s Ihnen nicht gesagt?«
Trevor Deansgate nahm es philosophisch. Ich versuchte auch gar nicht erst, weitere Reaktionen zu provozieren, da diese vielleicht nicht gar so freundlich ausgefallen wären. Sein Geburtsname lautete dem Vernehmen nach Shum-muck. Trevor Shummuck aus Manchester, der mit messerscharfem Verstand in einem Slum zur Welt gekommen war und auf dem Weg nach oben seinen Namen, seinen Akzent und seinen Umgang gewechselt hatte. Wie Bobby Unwin vielleicht gesagt haben würde: Haben wir das nicht alle, und warum auch nicht?
Der Aufstieg in die Gruppe der ganz Großen war Trevor Deansgate geglückt, als er die traditionsreiche, aber in Schwierigkeiten geratene Firma» Billy Bones«übernommen hatte, wobei» Billy Bones «nur das Aushängeschild eines Brüderpaars namens Rubenstein und ihres Onkels Solly gewesen war. In den vergangenen Jahren war Billy Bones wieder zu einem sehr erfolgreichen Haus geworden. Man konnte kaum noch eine Sportzeitung aufschlagen oder zu einem Rennen gehen, ohne auf die das Auge blen-dende, in fluoreszierendem Rosa gehaltene Werbung der Firma zu stoßen, die einem mit Slogans wie» Billy ist der Beste — jede Wette!«den sonntäglichen Frieden zu rauben drohte. Wenn das Geschäft so lebhaft war wie seine Werbekampagnen, dann konnte an Trevor Deansgates Wohlergehen nicht gezweifelt werden. Wir unterhielten uns höflich über das siegreiche Pferd, bis es an der Zeit war, sich nach draußen zu begeben, um die im nächsten Rennen laufenden Pferde anzuschauen.
«Was macht >Tri-Nitro<?«fragte ich George auf dem Weg zur Tür.
«Dem geht’s großartig«, antwortete er.»Ist in Topform.«
«Keine Probleme?«
«Nicht die geringsten.«
Draußen trennten wir uns, und ich verbrachte den Rest des Nachmittags in gewohnt zielloser Weise, das heißt, ich sah mir die Rennen an, unterhielt mich mit Leuten und hing unwichtigen Gedanken nach. Ich sah Rosemary nicht wieder, schätzte, daß sie mich mied, und beschloß, nach dem fünften zu gehen.
Einer der Rennbahnordner hielt mich am Ausgang mit erleichterter Miene an, als habe er schon Ewigkeiten auf mich gewartet und gerade alle Hoffnung fahren lassen.
«Eine Nachricht für Sie, Mr. Halley.«
«Ach ja? Danke.«
Er überreichte mir einen unscheinbaren braunen Umschlag. Ich steckte ihn in die Tasche und ging zu meinem Auto. Stieg ein, holte den Umschlag wieder hervor, öffnete ihn und las den Brief.
Sid,bin den ganzen Nachmittag sehr eingespannt gewesen, würde Sie aber gern sprechen. Wäre es möglich, daß wir uns im Teeraum treffen? Nach dem letzten Rennen?
Lucas Wainwright
Unter wilden Verwünschungen ging ich über den Parkplatz zurück, durchs Tor hindurch und weiter zum Restaurant, wo die Mittagsmahlzeiten Sandwiches und Kuchen gewichen waren. Das letzte Rennen war gerade vorbei, die nach Tee verlangenden Zuschauer schlenderten langsam und in kleinen, durstigen Grüppchen herein — aber keine Spur von Commander Lucas Wainwright, dem Sicherheitsbeauftragten des Jockey Club.
Ich saß wartend herum, und schließlich kam er doch noch, gehetzt, besorgt, unter Entschuldigungen und völlig geschafft.
«Möchten Sie einen Tee?«Er war ganz außer Atem.
«Nicht unbedingt.«
«Na schön, trinken Sie trotzdem einen. Hier können wir ungestört sitzen, in der Bar hocken immer viel zu viele Leute.«
Er führte mich zu einem Tisch und forderte mich mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen.
«Hören Sie, Sid. Was würden Sie davon halten, einen Job für uns zu übernehmen?«Kein Zeitverschwender, dieser Commander Wainwright!
«Heißt >uns< der Sicherheitsdienst?«
«Ja.«
«Offiziell?«fragte ich überrascht. Die für die Sicherheit auf den Rennplätzen zuständigen Leute hatten eine ungefähre Vorstellung von meiner augenblicklichen Tätigkeit und hatte keine Einwände erhoben, aber ich hatte mir noch nie vorstellen können, daß sie damit im Gegenteil sogar einverstanden sein könnten. In mancherlei Hinsicht hatte ich mich auf ihr Terrain vorgewagt und ihnen auf die Zehen getreten.
Lucas trommelte mit den Fingern auf dem Tischtuch.
«Inoffiziell«, sagte er.»Meine ganz private Angelegenheit.«
Da Lucas Wainwright der Obermohr des Sicherheitsdienstes war, also Chef des Untersuchungs- und Kontrollorgans des Jockey Club, durfte man auch inoffizielle Anfragen seinerseits als einigermaßen wohlbegründet ansehen. Jedenfalls, solange nicht das Gegenteil bewiesen war.
«Was ist das für ein Job?«erkundigte ich mich.
Der Gedanke an die Art des Auftrages ließ ihn zum ersten Mal das Tempo drosseln. Er sagte» Hm «und»Äh «und» Ha «und trommelte weiter mit den Fingern, raffte sich schließlich und endlich aber doch auf und konfrontierte mich mit einem Problem, das sich als ausgesprochen haarig herausstellte.
«Also, Sid, das ist alles streng vertraulich.«
«Ja.«
«Ich bin eigentlich nicht befugt, mit Ihnen darüber zu sprechen.«
«Aha«, sagte ich.»Na egal, fahren Sie fort.«
«Da ich keinen offiziellen Auftrag habe, kann ich Ihnen auch keine Bezahlung zusagen.«
Ich seufzte.
«Was ich Ihnen allenfalls anbieten könnte, wäre… na ja… Unterstützung, sollten Sie die je brauchen. Und natürlich nur im Rahmen dessen, was mir zu Gebote steht.«
«Das kann unter Umständen mehr wert sein als Geld«, sagte ich.
Er sah erleichtert aus.»Gut. Hm… jetzt wird’s schwierig.
Sehr heikel. «Er zögerte nach wie vor, aber dann sagte er schließlich mit einem sich schon eher wie ein Aufstöhnen anhörenden Seufzer:»Ich möchte Sie bitten, ganz… äh… diskret den Hintergrund… äh… ich meine, einen von unseren Leuten zu überprüfen.«
Es trat eine kurze Stille ein. Dann sagte ich:»Wollen Sie damit sagen, einen von Ihren Leuten? Einen vom Sicherheitsdienst?«
«Bedauerlicherweise, ja.«
«Und worum genau geht es da?«fragte ich.
Er blickte mich unglücklich an.»Bestechung, Schmiergelder, solche Geschichten.«
«Hm«, sagte ich.»Verstehe ich Sie richtig? Sie glauben, daß einer Ihrer Leute Gelder von irgendwelchen Dunkelmännern kassiert, und möchten nun, daß ich dem nachgehe?«
«So ist es«, sagte er.»Genau das.«
Ich dachte nach.»Warum übernehmen Sie diese Ermittlungen nicht selbst- und setzen einen Ihrer Leute darauf an?«
«Ah, ja…«Er räusperte sich.»Wissen Sie, da gibt es Schwierigkeiten. Falls ich mich irren sollte, wäre es nicht wünschenswert, wenn alle Welt erführe, daß ich einen solchen Verdacht hatte. Das würde große, sehr große Unannehmlichkeiten nach sich ziehen. Und falls ich recht behalte, was, wie ich fürchte, der Fall sein wird, möchten wir… also der Jockey Club… uns in der Lage sehen, die Geschichte in aller Stille zu bereinigen. Ein öffentlicher Skandal, in dessen Mittelpunkt der Sicherheitsdienst stünde, würde dem Rennsport erheblichen Schaden zufügen.«
Ich dachte kurz, daß er die Sache vielleicht doch ein wenig aufbauschte, aber dem war nicht so.
«Der Mann, um den es geht«, sagte er traurig,»ist Eddy Keith.«
Wieder herrschte Schweigen. Die Hierarchie des Sicherheitsdienstes sah derzeit so aus, daß Lucas Wainwright an seiner Spitze stand und eine Stufe tiefer zwei gleichberechtigte Stellvertreter. Diese Stellvertreter waren beide hochrangige Polizeibeamte im Ruhestand. Einer davon war Ex-Superintendent Eddison Keith.
Ich hatte eine klare Vorstellung von ihm, da ich oft mit ihm zu tun gehabt hatte. Ein hochgewachsener, gutmütigderber, heiterer Mann, der einem gern mit kräftiger Hand auf die Schulter schlug. In der von Natur aus lauten Stimme ein deutlich vernehmbarer Einschlag des in Suffolk gesprochenen Dialekts. Ein stattlicher, üppig sprießender, strohblonder Schnurrbart, weiches, hellbraunes Haar, durch das die rosa Schädeldecke hindurchschimmerte, und unter schweren Lidern Augen, die ständig vor guter Laune zu leuchten schienen, was aber nicht selten täuschte.
Ich hatte gelegentlich ein Funkeln darin gesehen, das so kalt und unbarmherzig schimmerte wie ein Gletscher. Es glich eher Sonnenlicht, das auf Eis fiel — hübsch, aber trügerisch. Einer, der einem die Handschellen mit vergnügtem Lächeln anlegte — so einer war Eddy Keith.
Aber krumme Dinger.? Das hätte ich nie gedacht.
«Welche Hinweise gibt es denn?«fragte ich schließlich.
Lucas Wainwright kaute eine Weile auf seiner Unterlippe herum und sagte dann:»Vier seiner im vergangenen Jahr vorgenommenen Überprüfungen haben Resultate erbracht, die nicht korrekt sind.«
Ich sah ihn verständnislos an.»Das besagt doch aber noch nicht allzu viel.«
«Nein, stimmt genau. Wenn ich meiner Sache sicher wäre, säße ich ja auch nicht hier und spräche mit Ihnen.«
«Wahrscheinlich nicht. «Ich dachte ein Weilchen nach.»Und was waren das für Überprüfungen?«
«In allen vier Fällen ging es um Syndikate. Genauer gesagt darum, die Eignung von Leuten zu prüfen, die Syndikate zum Zweck des Erwerbs von Rennpferden gründen wollten. Es sollte gewährleistet sein, daß sich da nicht irgendwelche unerwünschten Personen gleichsam durch die Hintertür in den Rennsport einschlichen. Eddy erklärte die vier geplanten Syndikate für unbedenklich, obwohl allen in Wirklichkeit eine oder mehrere Personen angehören, die wir nie und nimmer zur Tür hereinlassen würden.«
«Woher wissen Sie das? Wie haben Sie das herausgefunden?«
Er schnitt eine Grimasse.»Ich habe in der vergangenen Woche jemanden im Zusammenhang mit einer Dopinganzeige verhört. Und der hatte eine Stinkwut auf eine Gruppe von Leuten, die ihn, wie er sagte, hängengelassen hatten. Er verkündete mir triumphierend, daß diese Kerle alle miteinander Pferde unter falschem Namen laufen lassen würden. Er nannte mir die Namen, ich prüfte die Sache, und die vier Syndikate, denen die Genannten angehörten, hatten alle von Eddy grünes Licht erhalten.«
«Könnte es sein«, sagte ich langsam,»daß es sich bei allen um Syndikate handelt, denen Lord Friarly vorsteht?«
Er sah bedrückt aus.»Ja, leider ist es so. Lord Friarly hat heute nachmittag mir gegenüber erwähnt, daß er Sie gebeten hat, sich mal mit dieser Geschichte zu befassen. Aus reiner Höflichkeit. Das bestärkte mich nur noch in meinem
Vorhaben, Sie meinerseits ebenfalls darum zu bitten. Aber ich möchte, daß nichts davon nach außen dringt.«
«Das ist auch sein Wunsch«, versicherte ich ihm.»Könnten Sie mir Eddys Berichte zur Verfügung stellen? Oder Kopien davon? Und die falschen sowie die richtigen Namen der unerwünschten Personen?«
Er nickte.»Ich werde dafür sorgen, daß Sie sie bekommen. «Er sah auf die Uhr und erhob sich, wobei die gewohnte Lebhaftigkeit in ihn zurückkehrte.»Ich muß Ihnen das wohl nicht erst sagen… aber bitte, gehen Sie diskret vor.«
Ich begleitete ihn auf seinem Eilmarsch zur Tür, wo er mich mit noch schnelleren Schritten und einem nur angedeuteten Abschiedswinken verließ. Seine aufrechte Gestalt verschwand in der Tür der Waage, und ich begab mich erneut zu meinem Auto, wobei mir durch den Kopf ging, daß ich, wenn ich weiter mit solcher Geschwindigkeit Aufträge einsammelte, wohl schon bald die Reservisten einberufen müßte.
Kapitel 3
Ich rief die Gesamtschule in Nord-London an und fragte nach Chico Barnes.
«Er unterrichtet gerade Judo«, sagte eine strenge Stimme.
«Normalerweise ist aber sein Kurs um diese Zeit zu Ende.«
«Augenblick bitte.«
Ich wartete, fuhr weiter in Richtung London, die rechte Hand am Steuer, in der linken den Telefonhörer und prasselnden Regen auf der Windschutzscheibe. Man hatte das Auto auf Einhandlenkung umgerüstet, indem man ein in sich drehbares Griffstück auf das Steuerrad montiert hatte
— sehr einfach, sehr wirkungsvoll und mit dem Einverständnis der Polizei.
«Hallo?«
Das war Chicos fröhliche Stimme, die schon in diesem einen Wort seine jeden Respekts ermangelnde Weltsicht zum Ausdruck brachte.
«Willst du einen Job?«fragte ich.
«Aber klar doch. «Sein Grinsen war sogar durch die Leitung hindurch deutlich wahrzunehmen.»Es ist die ganze vergangene Woche viel zu ruhig gewesen.«
«Kannst du in meine Wohnung kommen?«
«Hm, ich habe da eine Zusatzstunde übernommen. Das heißt, sie haben sie mir aufs Auge gedrückt. Den Abendkurs für rüstige alte Damen. Von einem Kollegen, der krank geworden ist. Kann ich ihm nachempfinden. Von wo rufst du an?«
«Vom Wagen. Zwischen Kempton und London. Fahre noch beim Orthopädischen Versorgungszentrum in Roe-hampton vorbei, weil’s am Weg liegt, aber ich könnte… na, sagen wir mal… in anderthalb Stunden bei deiner Schule sein und dich da abholen. In Ordnung?«
«Sicher doch«, sagte er.»Was willst du denn in dem Prothesenladen?«
«Mit Alan Stephenson sprechen.«
«Der ist doch längst nach Hause.«
«Er hat mir gesagt, daß er heute länger bleibt.«
«Tut dein Arm wieder weh?«
«Nein… es geht nur um Schrauben und so.«
«Na gut«, sagte er,»wir seh’n uns dann.«
Ich legte mit einem Gefühl der Befriedigung, das Chico so gut wie immer in mir hervorrief, den Hörer auf. Es war gar keine Frage, daß er ein großartiger Arbeitskollege war— er war komisch, einfallsreich, ausdauernd und erstaunlich kräftig. Schon manch ein Ganove hatte zu spät erkannt, daß unser jugendlich-ranker Chico mit seinem jungenhaften Grinsen mit größter Leichtigkeit die schwersten Burschen über die Schulter werfen konnte.
Ich hatte ihn kennengelernt, als wir beide noch bei der Detektei Radnor arbeiteten, bei der ich meinen neuen Beruf erlernte. Es hatte sich mir dann die Möglichkeit eröffnet, zunächst Partner und schließlich sogar Eigner dieser Auskunftei zu werden. Radnor und ich hatten uns schon geeinigt, und wir hatten den Namen des Unternehmens bereits in Radnor-Halley geändert, da war Knall auf Fall alles ganz anders gekommen. Es muß gerade einen Tag vor Unterzeichnung der Verträge gewesen sein, alle finanziellen Fragen waren geklärt, und der Champagner war kalt gestellt, als sich der alte Radnor zu Hause in seinen Sessel setzte, um ein Nickerchen zu machen, aus dem er nicht wieder aufwachte.
Wie von einem Gummiband aus Kanada herübergeschnipst, erschien augenblicklich und unvermutet ein Neffe Radnors auf der Bildfläche, hielt mir ein Testament zu seinen Gunsten unter die Nase und forderte sein Recht. Er sei nicht gewillt, erklärte er ohne Umschweife, die Hälfte seines Erbes an einen einhändigen Ex-Jockey abzutreten — und dies schon gar nicht zu dem vereinbarten Preis. Nein, er selbst wolle den Laden übernehmen und ihm neues Leben einhauchen. Er würde zunächst einmal aus der alten, bombenbeschädigten Bruchbude in der Cromwell Road aus- und in moderne Büroräume umziehen, und wem dieser Ortswechsel nicht passe, der könne ja gehen.
Die meisten von der alten Crew waren an Bord geblieben, nur Chico hatte einen Wahnsinnskrach mit dem Neffen gehabt und daraufhin der Arbeitslosigkeit den Vorzug gegeben. Es dauerte aber nicht lange, da hatte er den neuen Job als Judolehrer gefunden, und als ich ihn das erste Mal um Hilfe anging, sagte er begeistert zu. Seitdem war ich, wie es schien, zum meistbeschäftigten Detektiv auf dem Gebiet des Pferderennsports geworden, und wenn das Radnors Neffen nicht paßte (wie man hörte, kochte er vor Wut), dann war das halt sein Pech.
Chico kam durch die gläserne Schwingtür der Schule gesaust, und das Licht in seinem Rücken ließ einen kleinen Heiligenschein um seinen Krauskopf entstehen. Damit war seine Heiligmäßigkeit allerdings auch schon erschöpft, denn der Mensch, der zu den Locken gehörte, war keineswegs langmütig, gottesfürchtig oder gar keusch.
Er schob sich auf den Beifahrersitz, grinste mich an und meinte:»Um die Ecke ist ein Pub mit einem ganz beachtlichen Paar Titten drin.«
Ergeben fuhr ich auf den Parkplatz des Pubs und folgte ihm in die Saloon Bar. Das Mädchen, das die Getränke ausschenkte, war, wie er gesagt hatte, von der Natur durchaus großzügig bedacht worden und begrüßte Chico zudem mit vielsagender Herzlichkeit. Ich hörte mir ihr flirtendes Geplauder an und zahlte die Getränke.
Nach einer Weile setzten wir uns auf eine Bank an der Wand, und Chico ging sein erstes Glas Bier mit jenem Durst an, der durch ein Zuviel an körperlicher Ertüchtigung entsteht.»So ist’s besser«, sagte er, setzte sein Glas kurzzeitig ab und betrachtete das meine.»Ist das etwa reiner Orangensaft?«
Ich nickte.»Ich mußte heute schon den ganzen Tag über dauernd irgendwas trinken.«
«Ich weiß wirklich nicht, wie du mit all dem Luxus und Wohlleben fertig wirst.«
«Spielend.«
«Aha. «Er trank sein Glas leer, ging sich Nachschub holen, blieb noch ein bißchen mit dem Mädchen im Clinch und kehrte schließlich zu mir zurück.»Wo soll ich denn mal wieder hin, Sid? Und was tun?«
«Newmarket. Kleiner Zug durch die Gemeinde.«
«Klingt gar nicht so übel.«
«Schau dich dort mal nach einem Mann namens Paddy Young um. Er ist der Stallmeister von George Caspar. Stell fest, wo er einkehrt, und versuch, irgendwie mit ihm ins Gespräch zu kommen.«
«Gut.«
«Wir möchten gern wissen, wo drei Pferde abgeblieben sind, die in seinem Stall gestanden haben.«»So, möchten wir das?«
«Es gibt eigentlich keinen Grund, warum er dir das nicht erzählen sollte. Jedenfalls sehe ich keinen.«
Chico blickte mich an.»Und warum fragst du nicht George Caspar direkt? Wäre doch einfacher, oder?«
«George Caspar soll vorläufig nicht erfahren, daß wir uns für Pferde von ihm interessieren.«
«Ach, so ist das!«
«Keine Ahnung. «Ich seufzte.»Die drei Pferde heißen jedenfalls >Bethesda<, >Gleaner< und >Zingaloo<.«
«Okay, ich fahre morgen rauf. Sollte nicht allzu schwer sein. Soll ich dich anrufen?«
«So bald wie möglich.«
Er sah mich von der Seite an.»Was hat denn der Prothesenheini gesagt?«
«Hallo, Sid, schön, Sie zu sehen.«
Er gab einen resignierten Seufzer von sich.»Genausogut könnte man eine Backsteinwand fragen.«
«Er meinte, das Schiff habe kein Leck und könne seine Fahrt fortsetzen.«
«Besser als gar nichts.«
«Du sagst es.«
Ich fuhr — wie von Charles vorhergesehen — am Samstagnachmittag nach Aynsford hinaus und spürte, wie sich mit jeder Meile meine finstersten Befürchtungen verdichteten. Um mich abzulenken, dachte ich über die Neuigkeiten nach, die mir Chico mittags aus Newmarket durchgegeben hatte.
«Ich hab ihn«, sagte er.»Ist ein solide verheirateter Mann, der jeden Freitagabend brav seine Lohntüte zu
Hause abliefern muß, aber eben hat er sich auf ein schnelles Bierchen verdrücken können. Der Pub liegt fast neben dem Stall, sehr praktisch. Tja, falls ich richtig verstanden habe, was er mir erzählt hat… er spricht mit so dickem irischem Akzent, daß man denkt, man hätte es mit ’nem Ausländer zu tun… also, es lief darauf hinaus, daß alle drei Pferde in die Zucht gekommen sind.«
«Wußte er auch, wohin?«
«Sicher. >Bethesda< ging an einen Stall in Gloucestershire, Garvey oder so, und die anderen beiden sind bei einem Gestüt hier in der Nähe von Newmarket gelandet, das Paddy Young zufolge Traces heißt. Jedenfalls hab ich’s so verstanden, seine Aussprache ist wirklich fürchterlich.«
«Thrace«, sagte ich.»Henry Thrace.«
«Ja? Na, dann siehst du ja vielleicht auch einen Sinn in dem, was er sonst noch so zu sagen wußte. Zum Beispiel, daß >Gleaner< Tritus und >Zingaloo< ’nen Virus gehabt und Bruttersmit bei beiden ganz schnell >Daum runter< gemacht hat.«
«>Gleaner< hatte was?«
«Tritus.«
Ich versuchte, mir den Satz»>Gleaner< hatte Tritus «irisch vorzusprechen, und gelangte zu >»Gleaner< hatte Arthritis«, was schon sehr viel wahrscheinlicher klang.»… und Brothersmith hat ganz schnell die Daumen nach unten gedreht.«
«Genau«, sagte er,»das ist es.«
«Die Pubs machen noch nicht gleich zu«, sagte ich.»Könntest du noch versuchen herauszubekommen, ob dieser Brothersmith der Tierarzt von George Caspar ist? Und wenn ja, dann such doch seine Adresse und Nummer aus dem Telefonbuch heraus.«
«Geht in Ordnung. Sonst noch was?«
«Nein. «Ich überlegte kurz.»Chico, hör mal, hattest du den Eindruck, daß Paddy Young die Erkrankung der Pferde irgendwie seltsam fand?«
«Kann ich eigentlich nicht sagen. Schien ihm relativ egal zu sein. Ich hab ihn nur so ganz beiläufig gefragt, wo sie denn hingekommen seien, und er erzählte es mir und gab den Rest einfach so dazu. Man könnte vielleicht sagen, daß er das alles eher philosophisch sieht.«
«Na schön«, sagte ich,»dann also erst einmal vielen Dank.«
Wir legten auf, und schon eine Stunde später rief er mich erneut an, um mitzuteilen, daß Brothersmith tatsächlich George Caspars Tierarzt war, und mir seine Adresse durchzugeben.
«Wenn das alles ist, Sid… also, in ungefähr einer halben Stunde fährt ein Zug, und irgendwo in der Gegend von Wembley wartet eine muntere Mieze auf mich, der ich den Samstagabend verderbe, wenn ich nicht rechtzeitig da bin.«
Je länger ich über Chicos Bericht und Bobby Unwins Bemerkungen nachdachte, desto weniger einleuchtend erschien mir Rosemarys Verdacht. Aber ich hatte ihr nun mal versprochen, der Sache nachzugehen, und das würde ich eben noch ein Weilchen tun. Zumindest so lange, wie ich benötigte, um das Schicksal von >Bethesda<, >Gleaner< und >Zingaloo< zu klären und mit Brothersmith, dem Tierarzt, zu sprechen.
Aynsfords gereifte Sandsteinschönheit war unverändert, aber die narzissengesprenkelte Ruhe, die herrschte nur draußen vor dem Haus. Ich brachte das Auto zum Stehen und wünschte, ich müßte nicht hineingehen.
Als spüre er, daß ich noch in diesem Augenblick wieder umkehren und davonfahren könnte, kam Charles eilends aus dem Haus und über den Kiesweg auf mich zu. Er hatte nach mir Ausschau gehalten, dachte ich. Gewartet. Gewollt, daß ich komme.
«Sid«, sagte er, öffnete die Fahrertür und beugte sich lächelnd herab.»Wußte doch, daß du kommen würdest.«
«Du hast’s gehofft«, sagte ich.
Ich stieg aus.
«Also gut. «Das Lächeln verschwand nicht aus seinen Augen.
«Gehofft. Aber ich kenne dich doch auch.«
Ich blickte am Haus empor und sah nur leere Fenster, in denen sich ein grauer Himmel spiegelte.
«Ist sie da?«erkundigte ich mich.
Er nickte. Ich drehte mich um, ging zum Kofferraum und holte meinen Koffer heraus.
«Na los«, sagte ich,»bringen wir’s hinter uns.«
«Sie ist ziemlich durcheinander«, sagte er, neben mir auf das Haus zugehend.»Sie braucht dein Verständnis.«
Ich sah ihn an und sagte:»Hm. «Wir beendeten unseren kurzen Gang schweigend und betraten das Haus.
Jenny war da, stand im Flur.
Ich hatte mich noch immer nicht an den Schmerz gewöhnt, der mich jedesmal durchzuckte, wenn ich sie wiedersah, was allerdings seit unserer Trennung nicht sehr häufig der Fall gewesen war. Ich sah sie stets so, wie ich sie am Anfang unserer Beziehung gesehen hatte — ein Mädchen von nicht eben klassischer Schönheit, aber doch sehr hübsch mit dem braungelockten Haar, der sehr ansprechenden Figur und der ganz eigenen Art, den Kopf erhoben zu halten wie ein Vogel, der wachsam um sich blickt. Das Lächeln auf ihren leicht geschwungenen Lippen und die Wärme in ihrem Blick waren dahin, aber ich erwartete noch immer mit hoffnungsloser Nostalgie, daß beides wieder erscheinen würde.
«Da bist du also doch gekommen«, sagte sie.»Ich wollte es einfach nicht glauben.«
Ich stellte den Koffer ab und holte — wie immer — tief Luft.»Es war Charles’ Wunsch«, sagte ich. Ich ging die paar Schritte auf sie zu, und wir küßten uns — wie immer — flüchtig auf die Wange. Wir hatten diese Angewohnheit beibehalten — als äußeres, allen sichtbares Zeichen einer zivilisierten Trennung. Insgeheim aber kam es mir eher vor wie das Begrüßungsritual vor einem Duell.
Charles schüttelte angesichts des offensichtlichen Mangels an echter Zuneigung ungeduldig den Kopf und ging uns ins Wohnzimmer voran. Er hatte in der Vergangenheit alles getan, uns zusammenzuhalten, aber der Kitt, der Eheleute verbindet, muß nun mal von innen kommen — und unserer war spröde geworden und zerbröselt.
Jenny sagte:»Was diese gräßliche Geschichte anbetrifft, so möchte ich keine schulmeisterlichen Belehrungen von dir hören, Sid.«
«Nein.«
«Du bist auch nicht vollkommen, auch wenn du dir das gern einredest.«
«Laß es gut sein, Jenny«, sagte ich.
Ganz abrupt schritt sie ins Wohnzimmer davon, und ich folgte ihr langsam. Sie würde mich einmal mehr benutzen und dann wieder fallenlassen, dachte ich, und um Charles’ willen würde ich mitspielen. Es überraschte mich, daß ich nicht den geringsten Wunsch verspürte, sie zu trösten. Es hatte ganz den Anschein, als sei die Verbitterung doch noch stärker als das Mitgefühl.
Sie und Charles waren nicht allein. Als ich das Wohnzimmer betrat, hatte sie es schon durchquert und stand nun neben einem großgewachsenen, blonden Mann, dem ich schon begegnet war. Und neben Charles stand ein Fremder, ein untersetzter, altersloser Mensch mit dem rosigen Gesicht des Landbewohners, das allerdings so gar nicht zu dem harten Blick seiner Augen passen wollte.
Charles sagte mit größtmöglicher Verbindlichkeit:»Du kennst Toby, nicht wahr, Sid?«, und Jennys Schutz und Schirm und ich nickten einander zu, wobei wir beide das schwächliche Lächeln einer Bekanntschaft hervorbrachten, auf die wir nur zu gern verzichtet hätten.»Und das, Sid, ist mein Anwalt Oliver Quayle, extra vom Golfplatz hergekommen. Sehr nett von ihm.«
«Sie sind also Sid Halley«, sagte der alterslose Mann und reichte mir die Hand. Seine Stimme verriet nichts, aber sein Blick glitt an mir hinunter und zur Seite, versuchte, die halb verborgene Hand zu erspähen, was mir verriet, daß er im Bilde war. Ich erlebte das sehr häufig. Quayle blickte mir wieder in die Augen — und sah, daß ich wußte, was ihn bewegt hatte. Seine unteren Augenlider zuckten kaum wahrnehmbar, das war alles. Beide Seiten hatten ihr Urteil ausgesetzt, dachte ich.
Charles’ Mund verzog sich ein wenig, als er begütigend meinte:»Ich habe Sie ja gewarnt, Oliver. Wenn Sie nicht wollen, daß er Ihre Gedanken errät, dürfen Sie mit keiner Wimper zucken.«
«So wie du«, sagte ich zu ihm.
«Ich habe diese Lektion ja auch schon vor Jahren gelernt.«
Er lud uns zum Sitzen ein, und wir ließen uns alle fünf in bequemen, mit blaßgoldenem Brokat bezogenen Sesseln nieder.
«Ich habe Oliver gesagt«, fuhr Charles nun fort,»daß, wenn überhaupt jemand, nur du diesen Nicholas Ashe finden kannst.«
«Ist schon wahnsinnig praktisch«, sagte Toby gedehnt,»einen Klempner in der Familie zu haben, wenn man einen Rohrbruch hat.«
Das war schon beinahe eine Beleidigung, aber ich entschied auf Zweifelsfall und somit zugunsten des Beklagten, obwohl ich eigentlich nicht den geringsten Zweifel hatte. Dann fragte ich niemand Bestimmten, ob die Polizei das nicht viel schneller bewerkstelligen könne.
«Das Problem ist«, sagte Quayle,»daß es rein rechtlich gesehen allein Jenny ist, die unter Vorspiegelung falscher Tatbestände anderen Leuten Geld abgeknöpft hat. Die Polizei hat sich unsere Geschichte natürlich angehört, und der leitende Beamte scheint Jenny bemerkenswert gewogen zu sein, aber. «Er zuckte langsam mit den schweren Schultern — und dies in geschickter Weise so, daß sich in seiner Geste Anteilnahme und Resignation miteinander verbanden,»… es ist anzunehmen, daß sich die Polizei im Endeffekt lieber an das hält, was sie in Händen hat.«
«Aber dieser Ashe hat das doch alles ausgeheckt«, protestierte Toby.
«Können Sie das beweisen?«fragte Quayle.
«Fragt doch Jenny«, erwiderte Toby, als sei Jennys Aussage Beweis genug.
Quayle schüttelte den Kopf.»Wie ich schon zu Charles gesagt habe, lassen alle von ihr unterzeichneten Schriftstücke den Schluß zu, daß sie von dem betrügerischen Charakter der ganzen Unternehmung gewußt hat. Und Unwissenheit schützt nun mal, selbst wenn sie echt ist, kaum oder gar nicht vor Strafe.«
«Einmal angenommen, ich fände ihn«, sagte ich.»Was wollen Sie denn machen, wenn gar keine Beweise gegen ihn vorliegen?«
Quayle blickte aufmerksam in meine Richtung.»Ich hoffe doch, daß Sie, wenn Sie ihn finden, auch entsprechendes Beweismaterial entdecken.«
Jenny setzte sich gerader als gerade auf und sagte mit einer Stimme, die vielleicht vor Angst, mit Sicherheit aber vor Wut scharf klang:»Das ist doch alles Blödsinn, Sid. Warum sagst du nicht gerade heraus, daß du dem Job nicht gewachsen bist?«
«Das weiß ich doch noch gar nicht.«
«Es geht einem wirklich zu Herzen«, sagte sie, an Quayle gewandt,»wie er, seit er diese Behinderung hat, dauernd beweisen muß, daß er ein ganz Schlauer ist.«
Der Spott in ihrer Stimme verursachte Quayle und Charles sichtliches Unbehagen, und ich dachte traurig, daß ich das wohl in ihr zum Vorschein gebracht hatte — dieses geradezu zwanghafte Bedürfnis zu verletzen. Viel mehr als ihre Worte ging mir nahe, daß sie Quayle gegenüber nicht der fröhliche Mensch sein konnte, der sie nach wie vor sein würde, wenn ich nicht dabei wäre.
«Sollte ich Nicholas Ashe finden«, sagte ich grimmig,»werde ich ihn an Jenny ausliefern. Armer Kerl.«
Keiner der Anwesenden fand das sonderlich passend. Quayle sah desillusioniert aus, Toby ließ erkennen, daß er mich verachtete, und Charles schüttelte bekümmert das Haupt. Nur Jenny war unbeschadet ihrer Verärgerung insgeheim befriedigt. Es gelang ihr inzwischen nur noch selten, mich zu einer Reaktion auf ihre Kränkungen zu provozieren, und sie rechnete es sich wohl als Sieg an, daß ich diesmal schwach geworden war — und mir nichts als Mißbilligung eingehandelt hatte. Meine eigene Schuld. Es gab nur eine Möglichkeit, sie nicht sehen zu lassen, daß ihre Stiche saßen, nämlich zu lächeln… aber der Gegenstand unseres Gesprächs war nun mal nicht im geringsten komisch.
Etwas ruhiger bemerkte ich:»Vielleicht gibt es ja Ansatzpunkte, wenn ich ihn finde. Ich werde mein Bestes tun. Wenn ich in irgendeiner Weise hilfreich sein kann. dann stehe ich zur Verfügung.«
Jenny sah überhaupt nicht versöhnt aus, und die anderen schwiegen. Ich stieß innerlich einen Seufzer aus.»Wie sah er denn eigentlich aus?«fragte ich.
Charles sagte nach einer Weile:»Ich habe nur einmal mit ihm zu tun gehabt, etwa dreißig Minuten lang, vor vier Monaten. Habe allenfalls einen sehr allgemeinen Eindruck von ihm, mehr nicht. Jung, von angenehmem Äußerem, dunkelhaarig, glattrasiert. Für meinen Geschmack ein bißchen zu schmeichlerisch. Ich hätte ihn nicht gern als jungen Offizier bei mir an Bord gehabt.«
Jenny preßte die Lippen zusammen und sah von ihm weg, konnte aber gegen dieses Urteil keinen Einspruch erheben. Ich spürte die ersten, schwachen Regungen von Mitleid mit ihr und versuchte sofort, sie zu ersticken, denn sie würden mich nur verwundbarer machen, und darauf konnte ich gern verzichten.
«Haben Sie ihn mal kennengelernt?«fragte ich Toby.
«Nein«, antwortete er hochnäsig,»nein, das habe ich nicht.«
«Toby war in Australien«, fügte Charles erklärend hinzu.
Alle warteten. Es ließ sich nicht vermeiden. Ich wandte mich an Jenny und sagte möglichst ausdruckslos:»Jenny?«
«Er war amüsant«, brach es unerwartet heftig aus ihr hervor.
«Mein Gott, was war er amüsant! Und nach dir…«Sie verstummte. Sie wandte sich mir zu und sah mich mit bitterem Blick an.»Er war so voller Leben und immer zu Scherzen aufgelegt. Er brachte mich zum Lachen. Er war großartig, machte alles hell und leicht. Es war wie… war wie…«Sie fing plötzlich an zu stottern, schwieg — und ich wußte, daß sie an unsere erste Zeit dachte. Jenny, dachte ich verzweifelt, sprich’s nicht aus, bitte nicht.
Vielleicht war das selbst für sie zuviel. Wie konnten Menschen, fragte ich mich sinnloserweise zum x-ten Mal, die sich einmal sehr geliebt hatten, einander so fremd werden? Doch die Veränderung in uns war nicht rückgängig zu machen, und keiner von uns beiden würde es auch nur versuchen. Es war nicht möglich, das Feuer war erloschen. Nur noch ein paar Scheite glommen in der Asche, flammten bei unvorsichtiger Berührung plötzlich auf.
Ich schluckte.»Wie groß war er?«fragte ich.
«Größer als du.«
«Alter?«
«Neunundzwanzig.«
Genauso alt wie Jenny. Zwei Jahre jünger als ich. Vorausgesetzt, er hatte die Wahrheit gesagt. Ein Betrüger log unter Umständen schon aus bloßer Vorsicht grundsätzlich immer.
«Wo wohnte er, während er. äh. seine Geschäfte einfädelte?«
Jenny war zu keiner Auskunft bereit, weshalb Charles für sie einsprang:»Er hat Jenny erzählt, er wohne bei einer Tante, aber nach seinem Verschwinden haben Oliver und ich das überprüft. Seine Tante stellte sich als Hausbesitzerin im Norden von Oxford heraus, die Zimmer an Studenten vermietet. In jedem Falle aber«- er räusperte sich —»ist er wohl schon bald von dort in die Wohnung umgezogen, die sich Jenny zusammen mit einer anderen jungen Frau gemietet hat.«
«Er hat bei dir gewohnt?«fragte ich Jenny.
«Und wieso nicht?«Sie war bockig und irgendwie.
«Hat er, als er verschwand, etwas zurückgelassen?«
«Nein.«
«Überhaupt nichts?«
«Nein.«
«Möchtest du eigentlich, daß er gefunden wird?«fragte ich weiter.
Für Charles und Quayle und Toby lautete die Antwort ganz zweifellos ja, aber Jenny sagte nichts, und die Röte, die ihr vom Hals her ins Gesicht stieg, bildete auf ihren Wangen zwei leuchtende Flecken.
«Er hat dir großen Schaden zugefügt«, sagte ich.
Mit trotzig steifem Nacken sagte sie:»Oliver meint, ich käme dafür nicht ins Gefängnis.«
«Aber, Jenny!«Ich war fassungslos.»Eine Verurteilung wegen Betrugs wird dein ganzes Leben auf alle mögliche, schlimme Weise verändern. Mir ist schon klar, daß du ihn gemocht, vielleicht sogar geliebt hast. Aber er ist doch nicht einfach nur ein ungezogener kleiner Junge, der sich einen dummen Streich erlaubt hat. Nein, der hat alles mit Bedacht so gedeichselt, daß nicht ihn, sondern dich die Strafe trifft. Deshalb will ich ihn zu fassen kriegen, selbst wenn dir das nicht recht sein sollte.«
Charles erhob erregt Einspruch.»Aber das ist doch lächerlich, Sid. Natürlich will sie, daß er seine gerechte Strafe bekommt. Sie war ja auch damit einverstanden, daß du den Versuch unternimmst, ihn zu finden. Sie will es, das ist doch gar keine Frage.«
Ich seufzte und zuckte die Achseln.»Sie hat nur dir zuliebe zugestimmt. Und weil sie fest damit rechnet, daß ich nicht zum Erfolg kommen werde, womit sie wahrscheinlich recht hat. Schon die bloße Andeutung der Möglichkeit eines solchen Erfolges schreckt sie auf und macht sie wütend… es wäre nicht das erste Mal, daß eine Frau den Ganoven, der sie ruiniert hat, weiterhin liebt.«
Jenny stand auf, starrte mich mit blinden Augen an und verließ das Zimmer. Toby machte Anstalten, ihr nachzugehen, und auch Charles erhob sich. Mit einigem Nachdruck sagte ich:»Gehen Sie doch bitte zu ihr, Mr. Quayle, und machen Sie ihr klar, welche Konsequenzen eine Verurteilung für sie hat. Sagen Sie’s ihr mit brutaler Deutlichkeit, verpassen Sie ihr einen Schock, damit sie es endlich begreift.«
Er war schon selbst zu diesem Schluß gekommen und auf dem Weg zu ihr, bevor ich den Satz zu Ende gesprochen hatte.
«Das war nicht besonders nett«, sagte Charles.»Wir haben uns bemüht, sie zu schonen.«
«Sie können doch von Halley nicht erwarten, daß er Mitleid mit ihr hat«, sagte Toby gehässig.
Ich sah ihn mir an. Nicht der hellste Kopf unter der Sonne, aber Jenny hatte ihn sich als anspruchslosen Begleiter erwählt — die ruhige See nach dem Sturm. Vor ein paar Monaten war sie schon soweit gewesen, ihn zu heiraten, aber ob sie das auch noch post Ashe tun würde, erschien mir fraglich. Er schenkte mir den ihm eigenen hochnäsigen, verständnislosen Blick und kam zu dem Schluß, daß Jenny seiner unverzüglich bedürfe.
Charles sah ihm nach und sagte mit einem Anflug matter Verzweiflung:»Ich verstehe sie schlicht und einfach nicht. Aber du, du brauchst ganze zehn Minuten, um herauszufinden… was ich nie und nimmer bemerkt hätte. «Er blickte mich düster an.»Es war also recht sinnlos zu versuchen, ihr Mut zu machen, wie ich das getan habe?«
«Ach, Charles, was für ein elender Schlamassel. Es hat nicht geschadet, sondern ihr nur geholfen, ihn zu entschuldigen. diesen Ashe. und den Moment aufzuschieben, in dem sie sich selbst eingestehen muß, daß sie einen verhängnisvollen. einen beschämenden. Fehler begangen hat.«
Der Kummer hatte die Falten in seinem Gesicht tiefer gemacht. Er sagte ernst:»Es ist schlimmer. Schlimmer, als ich gedacht habe.«
«Trauriger«, entgegnete ich,»nicht schlimmer.«
«Glaubst du, daß du ihn finden kannst?«fragte er.»Wo, um alles in der Welt, willst du bloß anfangen?«
Kapitel 4
Ich fing am folgenden Morgen an, ohne Jenny noch einmal gesehen zu haben. Sie war am Abend in Gesellschaft ihres Freundes Toby mit hoher Geschwindigkeit nach Oxford davongebraust und hatte Charles und mich — zu unser beider Erleichterung — einem einsamen Nachtmahl überlassen. Sie waren dann erst sehr spät zurückgekommen und bis zum Augenblick meiner Abfahrt noch nicht zum Frühstück erschienen.
Der Beschreibung von Charles folgend, fuhr ich zu Jennys Wohnung in Oxford und klingelte dort. Das Schloß, dachte ich nach eingehenderer Betrachtung, würde mir wohl keine Probleme bereiten, falls niemand zu Hause war, aber nach dem zweiten Klingeln öffnete sich die mit einer Kette versehene Tür einen kleinen Spalt.
Ich erblickte ein Auge, ein bißchen zerzaustes Blondhaar, einen nackten Fuß und einen Streifen dunkelblauen Morgenrock.
«Louise McInnes?«fragte ich.
«Ja, Sie wünschen?«
«Dürfte ich Sie wohl mal kurz sprechen? Ich bin Jennys. äh. Ex-Mann. Ihr Vater hat mich gebeten, ihr zu helfen.«
«Sie sind Sid?«sagte sie und klang überrascht.»Sid Hal-ley?«
«Ja.«
«Einen Augenblick. «Die Tür schloß sich und blieb ziemlich lange zu. Endlich tat sie sich wieder auf, diesmal weit, und ließ mich das ganze Mädchen sehen. Es trug jetzt Jeans, ein kariertes Hemd, einen viel zu weiten, blauen Pullover und Slipper. Die Haare waren gekämmt, die Lippen geschminkt — ein unaufdringliches Rosa.
«Kommen Sie herein.«
Ich trat ein und schloß die Tür hinter mir. Jennys Wohnung war, wie ich nicht anders erwartet hatte, keine Bruchbude. Sie befand sich in einem großen viktorianischen Haus in einer vornehmen Seitenstraße, das über eine eigene, halbkreisförmige Zufahrt vorn und Parkplätze auf der Rückseite verfügte. Jennys weitläufige Behausung, die man durch ein eigenes, später angebautes Treppenhaus erreichte, nahm den ganzen ersten Stock ein. Charles hatte mir anvertraut, daß sie sie mit einem Teil der ihr bei der Scheidung zuerkannten Abfindung gekauft hatte, und es freute mich zu sehen, daß mein Geld im großen und ganzen gut angelegt worden war.
Lampen anknipsend, führte mich die junge Frau in ein großes Wohnzimmer mit halbrundem Erker, in dem die Vorhänge noch zugezogen waren und Tische, Stühle und Fußboden von den Beschäftigungen des Vortages zeugten. Zeitungen, ein Mantel, abgestreifte Schuhe, Kaffeetassen, ein leerer Joghurtbecher mit Löffel in einer Obstschale, ein paar dahinsiechende Narzissen, eine Schreibmaschine mit abgenommenem Deckel, ein paar zusammengeknüllte Blätter, die den Papierkorb verfehlt hatten — das alles stand und lag und hing wahllos herum.
Louise McInnes zog die Vorhänge auf und ließ den grauen Morgen das elektrische Licht verdünnen.
«Ich war noch nicht auf«, sagte sie unnötigerweise.
«Tut mir leid.«
Das Durcheinander war ihr Werk. Jenny war stets sehr ordentlich gewesen, räumte immer auf, bevor sie zu Bett ging. Das Zimmer insgesamt aber war ihres, wie ein paar Stücke aus Aynsford und eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Wohnzimmer in unserem früheren, gemeinsamen Haus zeigten. Die Liebe mochte sich wandeln, aber der Geschmack blieb unverändert. Ich fühlte mich hier als Fremder — und gleichzeitig zu Hause.
«Möchten Sie einen Kaffee?«fragte sie.
«Nur wenn.«
«Aber ja doch. Ich mache mir auf jeden Fall einen.«
«Kann ich behilflich sein?«
«Wenn Sie möchten.«
Sie führte mich über den Flur in eine kahl wirkende Küche. Ihr Verhalten war nicht gerade abweisend, aber doch sehr kühl. Eigentlich nicht verwunderlich. Jenny hielt mit ihren Ansichten über mich wohl kaum hinter dem Berg, und was sie diesbezüglich von sich gab, enthielt aller Voraussicht nach nicht viel Gutes.
«Auch einen Toast?«Sie stellte ein Paket Weißbrot in Scheiben und Pulverkaffee auf den Tisch.
«Gern.«
«Dann tun Sie zwei Scheiben in den Toaster. Da drüben.«
Ich tat wie geheißen, während sie Wasser in einen elektrischen Kessel füllte und dann aus einem Schrank Butter und Orangenmarmelade hervorkramte. Die angebrauchte Butter steckte noch im aufgerissenen Einwickelpapier, die Mitte war ausgehöhlt und das Ganze eine ziemlich schmierige Angelegenheit — genau wie das Butterstück in meiner Wohnung. Jenny hatte sie immer ganz automatisch in eine Butterdose getan. Ich fragte mich, ob sie das auch tat, wenn sie allein war.
«Milch und Zucker?«
«Keinen Zucker.«
Als die Weißbrotscheiben im Toaster hochschnellten, nahm sie sie heraus, bestrich sie mit Butter und Marmelade und legte sie auf zwei Teller. Dann übergoß sie das Kaffeepulver in den Bechern mit kochendem Wasser und gab Milch direkt aus der Flasche hinein.
«Nehmen Sie die Becher«, sagte sie,»ich nehme den Toast.«
Sie griff nach den Tellern und sah aus dem Augenwinkel, wie sich meine linke Hand um den einen Becher schloß.»Vorsicht«, sagte sie schnell,»das ist heiß.«
Ich umfaßte den Kaffeebecher behutsam mit den Fingern, die nichts spürten.
Sie riß die Augen auf.
«Einer der Vorteile«, sagte ich und hob den anderen Becher weitaus vorsichtiger am Henkel hoch.
Sie sah mich an, sagte aber nichts, sondern drehte sich um und ging ins Wohnzimmer zurück.
«Hatte ich doch glatt vergessen«, sagte sie, als ich die Becher auf dem Platz abstellte, den sie schnell auf dem niedrigen Couchtisch freigeräumt hatte.
«Dritte Zähne sind weitaus häufiger«, sagte ich höflich. Sie hätte beinahe gelacht, und obwohl am Ende ein unentschiedenes Stirnrunzeln daraus wurde, gab die ganz kurz spürbar gewordene Wärme doch einen Blick auf den wahren Menschen frei, der sich hinter der etwas schroffen Fassade verbarg. Sie biß in ihren Toast, sah nachdenklich vor sich hin und sagte dann:»Was wollen Sie denn tun, um Jenny zu helfen?«
«Versuchen, Nicholas Ashe zu finden.«
«Oh. «Wieder flackerte ein spontanes Lächeln auf, das gleich darauf von einem Nachgedanken vertrieben wurde.
«Mochten Sie ihn?«fragte ich. Sie nickte wehmütig.»Leider ja. Er ist… war… so ungeheuer amüsant. Ein prima Kumpel. Ich kann noch gar nicht glauben, daß er einfach auf und davon ist und Jenny in diesem ganzen Schlamassel sitzengelassen hat. Ich meine… na ja, er hat doch hier gewohnt, in dieser Wohnung… und wir haben soviel zu lachen gehabt… Was er da gemacht hat… es ist nicht zu fassen.«
«Würde es Ihnen was ausmachen, mir die ganze Geschichte mal von Anfang an zu erzählen?«
«Aber hat Jenny das nicht…«
«Nein.«
«Ich nehme an«, sagte sie langsam,»daß es ihr schwerfällt, Ihnen gegenüber zuzugeben, wie er uns hereingelegt hat.«
«Wie sehr hat sie ihn geliebt?«fragte ich.
«Geliebt? Was ist Liebe? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie war in ihn verliebt, ja. «Sie leckte sich die Finger ab.»Sie war wie beschwipst, ausgelassen und heiter, im siebten Himmel.«
«Waren Sie schon mal dort? Im siebten Himmel?«
Sie sah mir gerade in die Augen.»Sie meinen, ob ich weiß, wie das ist? Ja, das weiß ich. Falls Sie meinen, ob ich in Nicky verliebt war, dann lautet die Antwort nein. Er war ein netter Kerl, aber er törnte mich nicht so an wie Jenny. Und außerdem war sie es ja, die ihn anzog. So schien es zumindest«, schloß sie unsicher. Sie hielt ihre abgeleckten Finger in die Luft.»Würden Sie mir bitte mal die Schachtel mit den Papiertüchern geben, die hinter Ihnen steht?«
Ich reichte ihr die Schachtel und sah zu, wie sie sich die Finger sauberwischte. Sie hatte helle Wimpern, einen Teint, der an englische Rosen gemahnte, und ein Gesicht, das sich von aller Scheu befreit hatte. Sie war noch zu jung, als daß das Leben schon unmißverständliche Spuren darauf hinterlassen hätte, aber ihr natürlicher Ausdruck schien weitgehend frei von Zynismus oder Intoleranz zu sein. Ein nüchtern denkendes, gescheites Mädchen.
«Ich weiß eigentlich gar nicht, wo die beiden sich kennengelernt haben«, sagte sie.»Nur, daß es irgendwo hier in Oxford war. Ich kam eines Tages nach Hause, und da war er, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die beiden waren da bereits… nun ja… aneinander interessiert.«
«Haben Sie diese Wohnung, äh, von Anfang an mit Jenny geteilt?«
«Mehr oder weniger. Wir sind zusammen zur Schule gegangen… wußten Sie das nicht? Tja, und eines Tages trafen wir uns wieder, und ich erzählte ihr, daß ich für zwei Jahre nach Oxford gehen wolle, um dort eine Arbeit zu Ende zu schreiben, und sie fragte mich, ob ich schon eine Bleibe hätte, sie habe da nämlich diese Wohnung gesehen, die sie gern mit jemandem teilen würde… Und so kam ich her, wie der geölte Blitz. Wir sind im großen und ganzen auch immer gut miteinander ausgekommen.«
Ich blickte zur Schreibmaschine und den Spuren ihrer Bemühungen hinüber.»Arbeiten Sie die ganze Zeit über hier?«
«Hier oder in der Sheldonian… in der Bibliothek, meine ich… manchmal recherchiere ich auch woanders. Ich zahle Jenny Miete für mein Zimmer… und weiß überhaupt nicht, warum ich Ihnen das alles eigentlich erzähle.«
«Es hilft mir weiter.«
Sie stand auf.»Sie könnten sich das ganze Zeug im Grunde genommen ja auch selbst ansehen. Ich habe alles in sein Zimmer geräumt… Nickys Zimmer… damit ich es nicht dauernd vor Augen habe. Die Sache geht mir nämlich noch ziemlich an die Nieren.«
Wieder folgte ich ihr durch den Flur, doch diesmal weiter, einen breiten Gang entlang, der offensichtlich einmal zum Treppenflur der ersten Etage gehört hatte.»Das Zimmer dort«, sagte sie und zeigte auf eine Tür,»ist das von Jenny. Das da ist das Bad. Dort ist mein Zimmer. Und das da hinten am Ende des Ganges war das von Nicky.«
«Wann genau ist er verschwunden?«
«Genau? Wer weiß? Irgendwann am Mittwoch, Mittwoch vor vierzehn Tagen. «Sie öffnete die weißgestrichene Tür und betrat das Zimmer.»Er war zum Frühstück da, wie immer. Ich ging dann in die Bibliothek, und Jenny fuhr mit der Bahn nach London, um Einkäufe zu machen. Und als wir beide wieder nach Hause kamen, da war er fort. Einfach weg. Mit Sack und Pack. Jenny war völlig entgeistert, hat geheult wie ein Schloßhund. Aber da wußten wir natürlich noch nicht, daß er nicht nur einfach so verschwunden war, sondern auch das ganze Geld hatte mitgehen lassen.«
«Wie kam das raus?«
«Jenny ging am Freitag zur Bank, um die eingegangenen Schecks einzuzahlen und ein bißchen was für Porto und so abzuheben. Da sagten sie ihr, daß das Konto aufgelöst worden ist.«
Ich sah mich im Zimmer um. Auf dem Fußboden ein dicker Teppichboden, eine alte Kommode, ein großes, bequem aussehendes Bett, ein Sessel, hübsche Vorhänge nach Jennys Art, ein frischer, weißer Anstrich. Sechs große, braune Pappkartons standen, zu je dreien übereinandergestapelt, mitten im Zimmer, das ansonsten so aussah, als habe hier nie jemand gewohnt.
Ich ging zur Kommode und zog eine Schublade heraus. Sie war leer. Ich steckte die Hand hinein und fuhr mit den Fingern über den Boden, aber kein Stäubchen blieb an ihnen haften.
Louise nickte.»Er hat Staub gewischt. Und gesaugt. Man konnte es am Teppich sehen. Und das Bad hat er auch sauber gemacht. Alles blitzte und funkelte. Jenny fand das wahnsinnig nett von ihm… bis ihr klar wurde, warum er keine Spuren hinterlassen wollte.«
«Ich würde das eher als symbolische Handlung ansehen«, sagte ich gedankenverloren.
«Wie meinen Sie das?«
«Na ja… er hatte wohl nicht so sehr die Befürchtung, daß ihn Haare und Fingerabdrücke verraten könnten, sondern… er wollte das Gefühl haben, seine Existenz hier völlig ausgelöscht, fortgewischt zu haben. Damit er nicht das Gefühl hatte, irgend etwas von ihm sei dageblieben. Ich meine. wenn man gern an einen Ort zurückkehren möchte, läßt man ganz unbewußt Dinge dort zurück, man >vergißt< sie. Ein bekanntes Phänomen. Wenn man also bewußt oder unbewußt nicht an einen Ort zurückkehren will, dann fühlt man sich vielleicht gezwungen, sogar noch den eigenen Staub zu entfernen. «Ich brach ab.»Verzeihung, ich wollte Sie nicht langweilen.«
«Es langweilt mich durchaus nicht.«
«Wo haben die beiden geschlafen?«fragte ich in sachlichem Ton.
«Hier. «Sie sah mich forschend an und kam zu dem Ergebnis, daß sie gefahrlos fortfahren konnte.»Sie war sehr oft hier. Na ja, ich bekam das halt mit, ob ich nun wollte oder nicht. Die meisten Nächte, aber nicht immer.«
«Er ist nie zu ihr gegangen?«»Komisch, ich habe ihn nie ihr Zimmer betreten sehen, auch tags nicht. Wenn er was von ihr wollte, kam er raus auf den Flur und rief nach ihr.«
«Das paßt.«
«Noch mehr Symbolisches?«Sie trat zu dem Stapel Kartons und machte einen der oberen auf.»Das Zeug hier drin wird Ihnen mehr verraten. Ich lasse Sie damit allein, dann können Sie’s studieren… Ich kann den Anblick einfach nicht ertragen. Und im übrigen räume ich lieber noch ein bißchen auf, falls Jenny zurückkommt.«
«Sie rechnen doch nicht mit ihr, oder?«
Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, als sie die leichte Unruhe in meiner Stimme hörte.»Haben Sie Angst vor ihr?«
«Sollte ich?«
«Sie meint, Sie seien ein Wurm. «Die Andeutung von Belustigung machte ihre Worte ein bißchen erträglicher.
«Das sieht ihr ähnlich«, sagte ich.»Nein, ich habe keine Angst vor ihr. Es ist nur so, daß sie… mich aufregt.«
Mit plötzlicher Heftigkeit sagte sie:»Jenny ist einfach super.«
Echte Freundschaft, dachte ich. Klärung der Loyalitäten. Ein winziger Anflug von Herausforderung. Aber diese Super-Jenny hatte ich schließlich einmal geheiratet.
Ich sagte ohne jede Betonung:»Ja«, und nach ein paar Sekunden drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Mit einem Seufzer machte ich mich an die Arbeit, hob die oberen Kartons herunter und war froh, daß weder Jenny noch Louise mir dabei zusahen. Die Kartons hatten eine ziemliche Größe, und obwohl zwei oder drei etwas leichter waren als die anderen, waren sie doch so sperrig, daß sie sich mit einer elektrischen Prothese nur schwer bewegen ließen.
Der erste enthielt zwei große Stapel normalen Briefpapiers, weiß, von guter Qualität und mit einem maschinengeschriebenen Text bedruckt. Der sehr umfangreiche Briefkopf mit dem eingeprägten goldfarbenen Wappen in der Mitte sah sehr eindrucksvoll aus. Ich nahm einen der Bögen heraus und fing an zu verstehen, wieso Jenny auf den Trick hatte hereinfallen können.
Liga zur Erforschung der Koronarerkrankungen stand in geprägten Buchstaben über dem Wappen und darunter Gemeinnütziger Verein. Links von dem Wappen war eine Liste von Schirmherren und Förderern aufgedruckt, die meisten aus den Reihen des Adels, und rechts eine Liste der Mitarbeiter, unter ihnen auch Jennifer Halley, Assistentin der Geschäftsführung. Unter ihrem Namen war — in winzigen Großbuchstaben — ihre Oxforder Adresse angegeben. Der Brief war ohne Datum und Anrede. Der Text füllte ungefähr zwei Drittel der Seite und lautete:
Sehr viele Familien bekommen heute die Folgeerscheinungen von Herzgefäßerkrankungen schmerzhaft und unmittelbar zu spüren. Dieses Leiden führt durchaus nicht immer zum Tode, sondern macht die Betroffenen oft nur unfähig, weiterhin ihrem Beruf nachzugehen.
Es ist schon viel getan worden, um die Ursachen der Krankheit und die Möglichkeiten eines Schutzes vor dieser Geißel der Menschheit zu erforschen, aber es bleibt noch viel zu tun. Da der vom Staat finanzierten Forschung angesichts der augenblicklich zur Verfügung stehenden Mittel notwendigerweise Grenzen gesetzt sind, ist es unumgänglich geworden, die Öffentlichkeit zu einer Unterstützung der von privaten Institutionen durchgeführten, unverzichtbaren Forschungsvorhaben aufzurufen.
Wir wissen aber auch, daß viele Menschen es nicht sehr schätzen, mit Bettelbriefen belästigt zu werden. Deshalb möchten wir Sie bitten, die Liga dadurch zu unterstützen, daß Sie etwas von ihr kaufen. Wir folgen hier dem gleichen Prinzip, das dem Verkauf von Weihnachtskarten zugrunde liegt, der schon so viel Gutes in so vielen verschiedenen Bereichen bewirkt hat. Nach reiflicher Überlegung hat sich der Vorstand unseres Vereins entschlossen, ein hochwertiges, speziell für die Pflege antiker Möbel entwickeltes Politurwachs zum Kauf anzubieten.
Das Wachs wird in 250-g-Dosen geliefert und entspricht in seiner Qualität den Anforderungen von Restauratoren und Museumsfachleuten. Wir bieten Ihnen die Dose zum Stückpreis von fünf Pfund an und garantieren, daß wenigstens drei Viertel des erzielten Gewinns der Herzforschung zugute kommen.
Das Wachs dient der Erhaltung Ihrer Möbelstücke, Ihr finanzieller Beitrag aber einer guten Sache, die unser aller Anliegen sein muß — mit Ihrer Hilfe werden vielleicht schon bald wesentliche Fortschritte in der Erforschung und Bekämpfung dieser heimtückischen Krankheit erzielt.
Wenn Sie einen Beitrag leisten möchten, so schicken Sie ihn bitte an die oben genannte Adresse und stellen Sie den Scheck auf die Liga zur Erforschung der Koronarerkrankungen aus. Sie bekommen dann das Wachs umgehend zugeschickt — und dürfen der Dankbarkeit zukünftiger Herzpatienten überall in unserem Lande gewiß sein.
Mit freundlichen Grüßen Assistentin der Geschäftsführung
Ich pfiff anerkennend, faltete den Brief zusammen und steckte ihn ein. Rührseliges Zeug, das Angebot einer reellen Gegenleistung und dazu der dezente Hinweis, daß es einen irgendwann selbst erwischen könnte, wenn man nichts ausspuckte. Laut Charles hatte diese Mischung ihre Wirkung ja auch nicht verfehlt.
Der zweite Pappkarton enthielt etliche tausend weiße Briefumschläge. Der dritte war zur Hälfte mit zumeist handgeschriebenen Briefen auf allen nur denkbaren Arten von Schreibpapier gefüllt — Wachsbestellungen, alle mit dem Hinweis» Scheck anbei «versehen.
Der vierte Karton enthielt vorgedruckte Dankschreiben, in denen zu lesen stand, daß die Liga den Erhalt des Betrages mit Dank bestätige und sich erlaube, beiliegend die Dose Wachs zu übersenden.
Der fünfte Pappkarton, halb leer, und der sechste, noch ungeöffnet und voll, enthielten flache, weiße Schachteln, etwa zwanzig mal zwanzig Zentimeter groß und fünf Zentimeter hoch. Ich nahm eine heraus und schaute hinein. Darin befand sich eine flache, runde Dose ohne Aufschrift, mit fest zugeschraubtem Deckel. Der widersetzte sich zunächst meinen Bemühungen, aber schließlich bekam ich ihn doch auf. Die Dose enthielt eine weiche, mittelbraune Mixtur, die durchaus nach Möbelpolitur roch. Ich schloß den Deckel wieder, schob die Dose in die Schachtel zurück und stellte sie beiseite, um sie später mitzunehmen.
Mehr war anscheinend nicht vorhanden. Ich durchsuchte das Zimmer noch einmal gründlich, spähte in alle Ecken und sogar in die Ritzen zwischen den Sesselpolstern, aber nicht einmal eine Stecknadel wollte sich finden lassen.
Ich nahm die weiße Schachtel und ging langsam zum Wohnzimmer zurück, wobei ich die geschlossenen Türen eine nach der anderen öffnete, um nachzuschauen, was sich hinter ihnen verbarg. Da waren zwei, zu denen Louise nichts gesagt hatte — die eine gehörte zu einem in die Wand eingebauten Wäscheschrank, die andere zu einer kleinen, unmöblierten Kammer, in der sich Koffer und allerlei Gerümpel befanden.
Jennys Zimmer hatte einen ganz entschieden femininen Akzent — weiß und rosa, leichte, gekräuselte Stoffe, in der Luft ein Hauch ihres Parfüms, des Veilchendufts von Mille. Zwecklos, sich an das erste Fläschchen zu erinnern, das ich ihr vor vielen Jahren in Paris geschenkt hatte. Zuviel Zeit war seitdem vergangen. Ich schloß die Tür hinter dem Duft und den Erinnerungen und ging weiter zum Bad.
Ein weißes Badezimmer. Riesige, flauschige Handtücher. Grüner Teppichboden, grüne Zimmerpflanzen. Spiegel an zwei Wänden, leicht und hell. Keine herumliegenden Zahnbürsten, alles in Schränkchen, alles sehr sauber. Alles sehr Jenny. Roger & Gallet-Seife.
Die berufsmäßige Schnüffelei hatte mir einiges an Skrupeln genommen. Fast ohne zu zögern öffnete ich auch Louises Tür und spähte in ihr Zimmer, wobei ich auf mein Glück vertraute, daß sie nicht in den Flur herauskommen und mich ertappen würde.
Das organisierte Chaos, das war mein Eindruck. Haufen von Papier und Büchern, wo man nur hinsah. Kleidungsstücke auf Stühlen. Ungemachtes Bett — nicht verwunderlich, denn daraus hatte ich sie ja aufgescheucht.
Ein Waschbecken in der Ecke, kein Verschluß auf der Zahnpastatube, eine zum Trocknen aufgehängte Strumpfhose. Eine offene Pralinenschachtel, ein wüstes Durcheinander auf dem Frisiertischchen. Eine hohe Vase, in der Roßkastanienknospen aufzublühen begannen. Keinerlei Duft. Kein Langzeitschmutz, nur Oberflächendurcheinander. Der blaue Morgenrock auf dem Boden. Das Zimmer war weitgehend wie das von Ashe eingerichtet — und man konnte deutlich erkennen, wo Jenny aufhörte und Louise anfing.
Ich zog den Kopf zurück und schloß die Tür — ich war unentdeckt geblieben. Louise hatte sich nur zu gern vom Aufräumen ablenken lassen und saß, in ein Buch vertieft, im Wohnzimmer auf dem Fußboden.
«Ach, hallo«, sagte sie und sah geistesabwesend auf, als hätte sie ganz vergessen, daß ich da war.»Sind Sie fertig?«
«Es muß doch noch andere Unterlagen geben«, sagte ich.
«Briefe, Rechnungen, Kassenbücher, solche Sachen.«
«Die hat die Polizei an sich genommen.«
Ich setzte mich ihr gegenüber aufs Sofa.»Wer hat die Polizei verständigt?«fragte ich.»Jenny?«
Sie legte die Stirn in Falten.»Nein. Jemand hatte sich beschwert, daß der Verein gar nicht als gemeinnützig registriert sei.«
«Wer war das?«
«Das weiß ich nicht. Jemand, der einen von diesen Briefen bekommen hat und der Sache nachgegangen ist. Die Hälfte der Schirmherren und Vorstände gibt’s gar nicht, und die anderen hatten keinen Schimmer, daß ihre Namen benutzt wurden.«
Ich dachte kurz nach.»Was hat Ashe veranlaßt, sich just zu diesem Zeitpunkt aus dem Staub zu machen?«
«Das wissen wir nicht. Vielleicht hat auch hier jemand angerufen und sich beschwert — und da ist er auf und davon, solange noch Zeit dazu war. Er war schon eine Woche weg, als die Polizei hier erschien.«
Ich stellte die weiße Schachtel auf den Couchtisch.»Wo kam das Wachs her?«
«Von irgend so einer Firma. Jenny schickte ihre Bestellungen hin, und dann wurde es hierher geliefert. Nicky wußte, wo es herkam.«
«Rechnungen?«»Hat die Polizei mitgenommen.«
«Diese Bettelbriefe… wer hat die drucken lassen?«
Sie sagte:»Natürlich Jenny. Nicky hatte auch welche, genau dieselben, nur stand bei denen sein Name da, wo dann Jennys eingedruckt wurde. Er sagte uns, daß es keinen Zweck mehr habe, weitere Briefe mit seinem Namen und seiner Adresse zu verschicken, weil er doch umgezogen sei. Ihm war so sehr daran gelegen, weiter für die gute Sache tätig zu sein.«
«Das kann ich mir denken«, sagte ich.
Sie sagte leicht gereizt:»Sie haben gut lästern, denn Sie sind ihm nie begegnet. Sie hätten ihm genauso geglaubt wie wir.«
Darauf ging ich lieber nicht ein. Vielleicht hatte sie ja recht.
«Diese Briefe«, sagte ich.»An wen wurden sie verschickt?«
«Na ja, an Leute, die antike Möbel haben und einen Fünfer springen lassen können, ohne daß es ihnen weh tut.«
«Hat er je gesagt, woher er die Adressen hatte?«
«Ja«, sagte sie,»von der Hauptgeschäftsstelle der Liga.«
«Und wer adressierte die Briefe und verschickte sie?«
«Nicky tippte die Anschriften auf die Umschläge. Ja, schon gut, auf meiner Schreibmaschine. Er war enorm schnell und schaffte Hunderte am Tag. Jenny unterschrieb die Briefe, und ich faltete sie für gewöhnlich und steckte sie in die Umschläge. Jenny bekam immer mal wieder einen Krampf in der Schreibhand, und dann half Nicky ihr.«
«Beim Unterschreiben?«
«Ja. Er machte ihre Unterschrift nach. Zigmal. Es war kein Unterschied festzustellen.«
Ich sah sie schweigend an.
«Ich weiß«, sagte sie.»Der schiere Leichtsinn. Aber sehen Sie, er ließ die ganze harte Arbeit mit den Briefen wie einen großen Spaß erscheinen. Wie ein lustiges Spielchen. Er steckte voller Scherze. Das verstehen Sie nicht. Und als dann allmählich die Schecks einzutrudeln begannen, zeigte sich ja, daß die Sache die Mühe wert war.«
«Wer verschickte das Wachs?«fragte ich düster.
«Nicky schrieb die Adressen auf Aufkleber. Ich habe Jenny dabei geholfen, sie auf die Päckchen zu kleben, die Päckchen mit Klebeband zuzumachen und sie zur Post zu bringen.«
«Ashe ist nie gegangen?«
«Er hatte viel zu viel mit der Tipperei zu tun. Wir haben sie meistens in so einer Einkaufstasche mit Rädern zum Postamt gekarrt.«
«Und die Schecks… ich nehme an, daß Jenny eingezahlt hat?«
«Ja.«
«Wie lange ging das so?«
«Nachdem die Briefe gedruckt waren und wir das Wachs geliefert bekommen hatten… na ja, ein paar Monate.«
«Wieviel Wachs?«
«Ach Gott, haufenweise, es stand überall rum. Es kam in diesen großen Pappkartons, sechzig versandfertige Dosen in jedem. Praktisch war die ganze Wohnung voll davon. Am Ende wollte Jenny nachbestellen, da unsere Vorräte knapp wurden, aber Nicky war dagegen und meinte, wir sollten unseren Bestand abbauen und dann erst mal eine Pause einlegen, bevor wir weitermachen.«
«Er wollte ganz aufhören«, sagte ich.
«Ja«, gestand sie widerwillig ein.
«Wieviel Geld«, fragte ich weiter,»hat Jenny bei der Bank eingezahlt?«
Sie sah mich ernst an.»So etwa zehntausend Pfund. Vielleicht auch ein bißchen mehr. Manche Leute schickten sehr viel mehr als einen Fünfer, ein paar sogar Hunderter… und wollten kein Wachs dafür.«
«Einfach unglaublich.«
«Das Geld strömte nur so herein. Tut’s noch, tagtäglich. Aber es geht von der Post direkt an die Polizei. Die haben noch eine Wahnsinnsarbeit vor sich, alles an die Absender zurückzuschicken.«
«Was ist mit den Briefen in Ashes Zimmer, in denen >Scheck anbei< steht?«
«Die sind von Leuten, deren Geld eingezahlt worden ist und die ihr Wachs bekommen haben.«
«Wollte die Polizei diese Briefe nicht auch haben?«
Sie zuckte die Achseln.»Mitgenommen haben sie sie jedenfalls nicht.«
«Hätten Sie was dagegen, wenn ich sie mitnähme?«
«Nicht das geringste.«
Nachdem ich den Karton geholt und an der Wohnungstür abgestellt hatte, ging ich wieder ins Wohnzimmer, um Louise noch eine Frage zu stellen. Sie war schon wieder in ihr Buch vertieft und blickte nicht gerade begeistert zu mir hoch.
«Wie ist Ashe eigentlich an das Bankkonto rangekommen?«
«Er hat dort einen getippten, von Jenny unterschriebenen Brief vorgelegt, in dem es hieß, daß sie das gesamte Guthaben abheben wolle, um es der Liga anläßlich des jährlich stattfindenden Galadiners zu überreichen. Und dazu einen ebenfalls von Jenny unterzeichneten Scheck über den gesamten auf dem Konto befindlichen Betrag.«
«Sie hat die doch nicht.«
«Nein, er. Aber ich habe Brief und Scheck gesehen. Die Bank hat beides der Polizei ausgehändigt. Es ist einfach nicht zu erkennen, daß die Unterschriften nicht von Jenny stammen. Nicht einmal sie selbst konnte das.«
Sie erhob sich anmutig, ließ aber das Buch auf dem Fußboden liegen.»Sie wollen gehen?«fragte sie hoffnungsvoll.»Ich habe so entsetzlich viel zu tun. Nicky hat mich einiges an Zeit gekostet.«
Sie ging an mir vorbei in den Flur hinaus, und als ich ihr folgte, hatte sie noch eine weitere Hiobsbotschaft für mich parat.
«Die Bankangestellten können sich nicht an Nicky erinnern. Sie zahlen Tag für Tag Tausende an Lohngeldern aus, es gibt ja eine Menge Industrie hier in Oxford. Jenny war ihnen im Zusammenhang mit dem Konto bekannt, und es vergingen ja zehn Tage oder mehr, bevor die Polizei anfing, Fragen zu stellen. Niemand dort kann sich an Nicky erinnern.«
«Er ist ein Profi«, sagte ich schlicht.
«Es sieht leider ganz so aus. «Sie öffnete die Wohnungstür während ich mich bückte, mühsam den braunen Karton aufhob und dabei zu verhindern versuchte, daß der kleine weiße, den ich oben draufgestellt hatte, herunterrutschte.
«Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe«, sagte ich.
«Lassen Sie mich den Karton nach unten tragen.«
«Danke, ich schaffe das schon«, wehrte ich ab.
Sie sah mir kurz in die Augen.»Natürlich schaffen Sie das, aber Sie brauchen trotzdem nicht so verdammt stolz zu sein. «Sie nahm mir einfach den Karton aus dem Arm und ging zielstrebig voraus. Ich folgte ihr die Treppe hinunter auf die Straße und kam mir dabei wie ein Narr vor.
«Ihr Wagen?«fragte sie.
«Hinterm Haus. Aber.«
Ich hätte auch tauben Ohren predigen können. Ich ging neben ihr her, deutete matt auf den Scimitar und öffnete den Kofferraum. Sie bugsierte Karton und Schachtel hinein, und ich schloß die Haube.
«Danke«, sagte ich noch einmal.»Für alles.«
Die Andeutung eines Lächelns kehrte in ihre Augen zurück.
«Wenn Ihnen noch irgend etwas einfällt, was Jenny helfen könnte«, sagte ich,»würden Sie mir dann bitte Bescheid sagen?«
«Wenn Sie mir Ihre Adresse geben.«
Ich angelte eine Visitenkarte aus der Brusttasche meines Jacketts und überreichte sie ihr.»Steht alles da drauf.«
«Schön. «Sie blieb noch einen Moment stehen, mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht zu deuten wußte.»Eins muß ich Ihnen noch sagen«, meinte sie dann.»Nach allem, was mir Jenny von Ihnen erzählt hat… habe ich Sie mir wirklich ganz anders vorgestellt.«
Kapitel 5
Von Oxford aus fuhr ich westwärts nach Gloucestershire und erreichte das Gestüt von Garvey zu einer schicklichen Besuchszeit — Sonntagvormittag, elf Uhr dreißig. Tom Garvey, der sich gerade auf dem Hof mit seinem Futtermeister unterhielt, kam, als ich den Wagen zum Stehen gebracht hatte, zu mir herüber.
«Sid Halley!«rief er aus.»So eine Überraschung. Was wollen Sie?«
Ich grinste ihn durch das offene Seitenfenster an.»Wieso glaubt eigentlich jeder, der mich sieht, ich wollte was von ihm?«
«Na, hören Sie mal! Der im Augenblick beste Schnüffler der Branche, wie es heißt. Wir kriegen auch das eine oder andere mit, wir tumben Landbewohner, doch, doch.«
Ich kletterte lächelnd aus dem Auto und reichte einem sechzigjährigen Beinaheschurken die Hand, der vom tum-ben Landbewohner ungefähr so weit entfernt war wie Alaska vom Kap Hoorn. Ein Baum von einem Mann mit unerschütterlichem Selbstvertrauen, einer lauten, gebieterischen Stimme und der Verschlagenheit eines Zigeuners. Seine Hand in der meinen war so hart wie sein Geschäftsgebaren und so trocken wie seine ganze Art. Grob zu Menschen, sanft zu Pferden. Sein Erfolg war dauerhaft, und wenn ich gründliche Blutuntersuchungen der Fohlen in seinem Stall hätte vornehmen lassen, ehe ich von ihrer
Abstammung überzeugt war, so hätte ich mich wohl einer Minderheit zurechnen müssen.
«Also, hinter was sind Sie denn nun her, Sid?«sagte er.
«Ich wollte mir eine Stute ansehen, Tom. Sie steht hier bei Ihnen. Bin ganz allgemein an ihr interessiert.«
«Ach ja? Welche denn?«
«>Bethesda<.«
Sein Ausdruck wechselte übergangslos von halber Belustigung zu absolutem Nichtbelustigtsein. Seine Augen verengten sich, und er sagte barsch:»Was ist mit ihr?«
«Na ja… hat sie beispielsweise gefohlt?«
«Sie ist tot.«
«Tot?«
«Sag ich doch. Sie ist tot. Sie kommen besser mal mit ins Haus.«
Er drehte sich um und stapfte mir voraus. Sein Haus war alt, dunkel und muffig. Alles Leben spielte sich draußen ab, auf den Koppeln, in der Deckstation, in den Boxen, in denen die Stuten ihre Fohlen warfen. Hier drinnen tickte eine schwere Uhr in die Stille hinein, und in der Luft lag kein Sonntagsbratenduft.
«Kommen Sie herein.«
Der Raum, in den er mich führte, war eine Mischung aus Eßzimmer und Büro — ein wuchtiger alter Tisch und ebensolche Stühle auf der einen Seite, Aktenschränke und abgewetzte Sessel auf der anderen. Kein Versuch, durch kosmetische Maßnahmen das Wohlgefallen der Besucher zu erregen. Verkäufe wurden draußen abgeschlossen, ohne große Formalitäten.
Tom setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches, und ich hockte mich auf die Lehne eines der Sessel — es war nicht die Art von Unterhaltung, zu der man sich entspannt und bequem niederließ.
«Nun mal raus damit«, sagte er.»Warum erkundigen Sie sich nach>Bethesda<?«
«Ich hab mich halt gefragt, was aus ihr geworden ist.«
«Machen Sie mir doch nichts vor, teurer Freund. Sie fahren bestimmt nicht die ganze Strecke hier raus, nur weil sie ganz allgemein an dem Pferd interessiert sind. Wozu brauchen Sie die Informationen?«
«Ein Klient von mir möchte sie haben.«
«Welcher Klient?«
«Wenn ich für Sie arbeiten würde«, sagte ich,»und Sie hätten mich um Verschwiegenheit gebeten, meinen Sie, ich würde Ihren Namen nennen?«
Er betrachtete mich mit säuerlicher Aufmerksamkeit.
«Nein, alter Junge, wahrscheinlich nicht. Und was >Be-thesda< angeht, gibt’s da eigentlich auch keine großen Geheimnisse. Sie ist beim Fohlen eingegangen. Das Fohlen hat ebenfalls nicht überlebt. Wäre ein Hengst geworden, allerdings kein sehr kräftiger.«
«Tut mir leid«, sagte ich.
Er zuckte die Achseln.»Kommt halt vor. Allerdings nicht sehr oft. Das Herz hat versagt.«
«Das Herz?«
«Genau. Das Fohlen hatte die falsche Lage, und die Stute hat sich zu lange quälen müssen. Als wir merkten, daß es Probleme gab, konnten wir das Fohlen zwar noch in ihr drehen, aber dann hat sie ganz plötzlich aufgegeben. Nichts mehr zu machen. Mitten in der Nacht, natürlich, das ist ja meistens so.«
«War ein Tierarzt da?«»Klar war einer da. Ich hab ihn angerufen, als es bei ihr losging, weil sich absehen ließ, daß es eine heikle Sache werden könnte. Erster Wurf, die Herzgeräusche und so weiter.«
Ich runzelte die Stirn.»Hatte sie den Herzfehler schon, als sie herkam?«
«Aber sicher doch, alter Junge. Deshalb ließ man sie ja auch keine Rennen mehr laufen. Sie wissen nicht sehr viel über sie, was?«
«Nein«, sagte ich.»Erzählen Sie mal.«
Er zuckte mit den Schultern.»Sie kam bekanntlich aus dem Stall von George Caspar. Ihr Besitzer wollte sie wegen ihrer Form als Zweijährige zur Zuchtstute machen, also haben wir sie von Timberley decken lassen, was uns einen Flieger hätte bescheren sollen. Tja, aber so geht’s halt manchmal. Die allerschönsten Pläne und bums, aus.«
«Wann ist sie eingegangen?«
«Vor einem Monat, so ungefähr.«
«Danke, Tom. «Ich stand auf.»Danke für die Zeit, die Sie mir geopfert haben.«
Er schob sich von der Tischkante herunter.»Ziemlich lahme Sache für Sie, diese Rumfragerei, was? Ich bringe das noch immer nicht mit dem alten Sid Halley zusammen, der mit Karacho und Mumm über die Hindernisse gesaust ist.«
«Die Zeiten ändern sich, Tom.«
«Tja, ist wohl so. Aber ich wette, daß es Ihnen fehlt, das Gebrüll auf den Tribünen, wenn Sie ans letzte Hindernis kommen und Ihr Pferd drüberlüpfen. «Sein Gesicht spiegelte erinnerte Erregung wider.»Mein Gott, das war schon toll. Als könnte Sie aber auch gar nichts erschüttern… Weiß wirklich nicht, wie Sie das immer gemacht haben.«
Wahrscheinlich meinte er es gut, aber ich wünschte mir dennoch, er würde damit aufhören.
«Schon großes Pech, daß Sie Ihre Hand verloren haben. Aber bei Jagdrennen ist das eben drin. Daß man sich das Kreuz bricht und so. «Wir setzten uns in Richtung auf die Tür in Bewegung.
«Wer solche Rennen reitet, muß die Risiken in Kauf nehmen.«
«So ist es«, sagte ich.
Wir gingen hinaus zu meinem Wagen.
«Sie kommen mit diesem Apparat da aber ganz gut zurecht, oder? Ich meine, Sie können damit Auto fahren und so.«
«Ist ’ne feine Sache.«
«Na prima, alter Junge. «Er wußte, daß es das nicht war. Er wollte mich wissen lassen, daß es ihm leid tat, und er hatte sein Bestes gegeben. Ich lächelte ihm zu, stieg ein, hob grüßend die Hand und fuhr davon.
In Aynsford hatten sie sich im Wohnzimmer versammelt und tranken einen Sherry vor dem Essen — Charles, Toby und Jenny.
Charles reichte mir ein Glas Fino, Toby sah an mir herunter, als käme ich geradewegs aus dem Schweinestall, und Jenny berichtete, daß sie mit Louise telefoniert hatte.
«Wir dachten schon, du wärst weggelaufen. Du hast die Wohnung bereits vor zwei Stunden verlassen.«
«Sid läuft nicht weg«, sagte Charles in einem Ton, als stelle er eine Tatsache fest.
«Dann hinkt er eben weg«, sagte Jenny.
Toby warf mir über den Rand seines Glases spöttische Blicke zu — er genoß den kleinen Triumph über den aus dem Feld geschlagenen Nebenbuhler. Ich fragte mich, ob er wirklich begriffen hatte, wie stark Jennys Gefühle für Nicholas Ashe waren, oder ob es ihm, wenn er es wußte, einfach egal war.
Ich nahm einen Schluck Sherry — ein dünner, trockener Geschmack, dem Anlaß durchaus angemessen. Essig wäre vielleicht noch passender gewesen.
«Wo hast du eigentlich die ganze Möbelpolitur gekauft?«fragte ich.
«Daran kann ich mich nicht erinnern. «Sie sprach deutlich, betonte jede Silbe, stellte sich absichtlich stur.
«Jenny!«protestierte Charles.
Ich seufzte.»Die Polizei hat die Rechnungen, Charles, und da stehen Name und Adresse der Wachsfirma drauf. Könntest du deinen Freund Oliver Quayle bitten, sie bei der Polizei in Erfahrung zu bringen und mir zukommen zu lassen?«
«Sicher doch«, sagte er.
«Ich sehe nicht ein«, sagte Jenny in unverändertem Tonfall,»was es nützt, wenn er weiß, wer das Wachs geliefert hat.«
Es schien, als stimme ihr Charles im stillen zu. Ich enthielt mich einer Äußerung, denn es war nicht auszuschließen, daß die beiden recht hatten.
«Louise meinte, du hättest stundenlang herumgeschnüf-felt.«
«Sie gefiel mir«, sagte ich milde.
Wie stets, verriet Jennys Nase ihr Mißfallen.»Sie ist dir haushoch über, Sid«, sagte sie.
«Inwiefern?«
«Grips, mein Liebling.«
Charles fragte besänftigend:»Jemand noch Sherry?«, und ging herum, um nachzuschenken. Zu mir bemerkte er:»Ich glaube, Louise hat ihr Mathematikstudium in Cambridge mit Prädikatsexamen abgeschlossen. Ich habe einmal mit ihr Schach gespielt… du würdest sie mit Leichtigkeit schlagen.«
«Auch ein Großmeister«, sagte Jenny,»kann Zwangsvorstellungen haben, dumm sein und unter Verfolgungswahn leiden.«
Das Essen verlief in ähnlicher Atmosphäre, und anschließend ging ich hinauf, um meine paar Sachen zu pak-ken. Während ich noch damit beschäftigt war, kam Jenny herein und sah mir zu.
«Du benutzt diese Hand aber nicht sehr oft«, sagte sie.
Ich antwortete nicht.
«Ich weiß wirklich nicht, wozu du sie überhaupt hast.«
«Hör auf, Jenny.«
«Wenn du getan hättest, worum ich dich immer gebeten habe, nämlich mit der Rennreiterei Schluß zu machen, dann hättest du sie auch nicht verloren.«
«Wahrscheinlich nicht.«
«Dann hättest du noch eine richtige Hand und nicht einen halben Arm… einen Stumpf.«
Ich warf meine Waschtasche zu heftig in den Koffer.
«Die Reiterei kam immer zuerst. Immer und ewig. Hingabe und Sieg und Ruhm. Und ich konnte sehen, wo ich blieb. Du hast es wirklich verdient. Wir wären noch verheiratet… du hättest deine Hand noch. wenn du nur deine ach so geliebte Reiterei aufgegeben hättest, als ich dich darum bat. Der Champion zu sein, das war dir immer wichtiger als ich.«
«Das haben wir uns doch alles schon wer weiß wie viele Male erzählt.«
«Jetzt ist dir nichts mehr geblieben, gar nichts mehr. Ich hoffe, du bist zufrieden.«
Das Aufladegerät für die Batterien stand auf einer Kommode, zwei steckten drin. Sie zog den Stecker heraus und warf das Gerät aufs Bett. Die Batterien fielen heraus und rollten über die Tagesdecke.
«Es ist widerlich«, sagte sie und sah darauf nieder.»Abstoßend.«
«Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. «Mehr oder weniger jedenfalls.
«Dir scheint das gar nichts auszumachen.«
Ich sagte nichts. Es machte mir sehr wohl etwas aus.
«Macht es dir Spaß, ein Krüppel zu sein, Sid?«
Spaß… du lieber Himmel!
Sie ging zur Tür, und ich stand da und sah auf das Ladegerät hinab.
Ich spürte mehr, als daß ich es sah, wie sie unter der Tür stehenblieb, und fragte mich benommen, was ihr eigentlich noch zu sagen blieb.
Ihre Stimme drang klar und deutlich an mein Ohr.
«Nicky hat ein Messer im Strumpf.«
Ich wandte schnell den Kopf. Sie sah mich trotzig, zugleich aber auch erwartungsvoll an.»Stimmt das?«fragte ich.
«Manchmal.«
«Wie pubertär«, sagte ich.
Sie erregte sich.»Und was ist so überaus erwachsen daran, auf Pferden herumzusausen und zu wissen… zu wissen, daß das zu Verletzungen und Knochenbrüchen führen muß?«
«Daran denkt man einfach nie.«
«Und das ist immer ein Irrtum.«
«Ich tu’s ja nicht mehr.«»Aber du würdest, wenn du könntest.«
Darauf gab es keine Antwort, denn wir wußten beide, daß es der Wahrheit entsprach.
«Sieh dich doch an«, sagte Jenny.»Du mußt die Rennreiterei aufgeben, und was tust du? Suchst du dir etwa einen netten, ruhigen Job als Börsenmakler, was du durchaus könntest, und fängst ein ganz normales Leben an? Aber woher denn. Du stürzt dich geradewegs in etwas hinein, was Auseinandersetzungen, Schlägereien und Verfolgungsjagden mit sich bringt. Du kannst ohne Gefahr einfach nicht leben, Sid. Du glaubst das vielleicht nicht, aber die Gefahr ist wie eine Droge für dich. Du brauchst dir nur vorzustellen, du würdest in einem Büro arbeiten, von neun bis fünf, morgens rein, abends raus, wie jeder andere vernünftige Mensch auch, dann weißt du, wie recht ich habe.«
Ich dachte schweigend darüber nach.
«So ist es doch«, sagte sie.»Du würdest in einem Büro eingehen.«
«Und welche Sicherheit verleiht ein Messer im Strumpf?«fragte ich.»Ich war schon Jockey, damals, als wir uns kennengelernt haben, und du hast gewußt, was das bedeutet.«
«Nicht im einzelnen. Nichts von all den Verletzungen, dem Verzicht auf Essen und Trinken. und die Hälfte der Zeit sogar auf Sex.«
«Hat er dir das Messer gezeigt, oder hast du es zufällig gesehen?«
«Was macht das für einen Unterschied?«
«Ist er nur pubertär… oder wirklich gefährlich?«
«Na bitte, da haben wir’s«, sagte sie.»Dir wäre es lieber, wenn er gefährlich wäre.«
«Um deinetwillen nicht.«»Na ja… ich hab’s gesehen. Er trägt es in einer schmalen Scheide ans Bein geschnallt. Und er hat einen Witz darüber gemacht.«
«Aber du hast es mir erzählt«, sagte ich.»War das als Warnung gedacht?«
Sie wirkte plötzlich unsicher und verwirrt, runzelte die Stirn und entfernte sich unvermittelt den Flur hinunter.
Falls das bedeutete, daß ihre Nachsicht gegenüber dem hochgeschätzten Nicky einen ersten Knacks bekommen hatte, so sollte es mir recht sein.
Am Dienstagmorgen holte ich Chico ab, und wir fuhren zusammen hinauf nach Newmarket. Ein windiger, heller Tag, gelegentlich Regenschauer, ziemlich kühl.
«Wie bist du denn mit deiner Verflossenen zurechtgekommen?«
Er hatte sie nur einmal erlebt und danach als unvergeßlich bezeichnet, wobei der Unterton in seiner Stimme diesem Wort Mehrdeutigkeit verliehen hatte.
«Sie hat Probleme«, sagte ich.
«Schwanger?«
«Es gibt auch noch andere Arten von Problemen.«
«Ehrlich?«
Ich erzählte ihm von dem Betrug und von Ashe und von seinem Messer.
«Da ist sie ja ganz schön im Dreck gelandet«, sagte Chico.
«Volle Bauchlandung.«
«Und wenn wir sie wieder saubermachen… bekommen wir dann was dafür?«
Ich warf ihm einen Seitenblick zu.
«Ach so«, sagte er.»Dachte ich mir’s doch. Wir ma-chen’s mal wieder umsonst, was? Ein Glück, daß du so betucht bist, Sid, von wegen meinem Honorar. Nach Weihnachten mal wieder mit irgendwas ein Vermögen gemacht, wie?«
«Im wesentlichen Silber. Und Kakao. Kauf und Verkauf.«
«Kakao?«Er war fassungslos.
«Bohnen«, sagte ich.»Schokolade.«
«Nußriegel?«
«Nein, Nüsse nicht. Zu riskant.«
«Ich weiß wirklich nicht, wo du die Zeit hernimmst.«
«Braucht nicht länger, als Miezen in der Bar anzumachen.«
«Was willst du eigentlich mit dem ganzen Geld?«
«Ist einfach eine Gewohnheit«, antwortete ich.»Wie essen.«
Wir fuhren in bester Stimmung bis kurz vor Newmarket, besahen uns die Karte, fragten dann ein paar Einheimische und gelangten schließlich zu dem unglaublich gepflegten Gestüt von Henry Thrace.
«Hör dich mal ein bißchen bei den Stallburschen um«, sagte ich, und Chico meinte:»Mach ich. «Dann stiegen wir aus und betraten den sorgfältig geharkten Kiesweg. Ich trennte mich von Chico und begab mich auf die Suche nach Henry Thrace, der sich nach Aussage einer an der Haustür erscheinenden Putzfrau» da hinten rechts, in seinem Büro «befand. Da war er tatsächlich, saß aber fest schlafend in einem Sessel.
Mein Eintritt weckte ihn, und er kam mit der Plötzlichkeit von Leuten zu sich, die an oft unterbrochenen Nachtschlaf gewöhnt sind. Ein noch junger Mann, sehr glatt, das genaue Gegenteil des derben, harten, verschlagenen Tom Garvey. Für Thrace ging es — so die landläufige Meinung — bei der Pferdezucht ausschließlich ums große Geld. Sich mit den Tieren abzugeben, das war Sache der einfacheren Sterblichen. Seine ersten Worte wollten jedoch gar nicht zu diesem Image passen.
«Pardon«, sagte er nämlich.»War die halbe Nacht auf den Beinen… äh, wie war doch gleich der Name? Sind wir miteinander verabredet?«
«Nein. «Ich schüttelte den Kopf.»Ich habe nur gehofft, Sie kurz sprechen zu können. Mein Name ist Sid Halley.«
«So? Irgendwie verwandt mit… großer Gott, Sie sind es selbst.«
«Ja.«
«Was kann ich für Sie tun? Möchten Sie einen Kaffee?«Er rieb sich die Augen.»Mrs. Evans macht uns einen.«
«Bitte keine Umstände. Außer.«
«Nein. Schießen Sie los. «Er blickte auf die Uhr.»Reichen zehn Minuten? Ich habe nämlich noch einen Termin in Newmarket.«
«Es geht eigentlich um nichts Besonderes«, sagte ich.»Ich bin bloß gekommen, um mich nach dem Gesundheitszustand und so weiter von zwei Hengsten zu erkundigen, die hier bei Ihnen stehen.«
«Aha. Welche denn?«
«>Gleaner< und >Zingaloo<.«
Wir brachten das Übliche hinter uns — warum ich das wissen wolle, und wie er dazu käme, mir darüber Auskunft zu geben —, aber schließlich zuckte er wie Tom Garvey die Achseln und meinte, ich könne es wohl ruhig wissen.
«Ich nehme an, ich sollte das besser nicht sagen, aber Sie sollten Ihrem Klienten nicht dazu raten, Anteile an den
Pferden zu erwerben«, sagte er. Er ging offenbar davon aus, daß dies der eigentliche Zweck meiner Erkundigungen war.»Sie könnten beide Schwierigkeiten bei der Erfüllung ihrer Deckquote bekommen, obwohl sie erst vier sind.«
«Wie das?«
«Beide haben ein schwaches Herz. Sind sehr schnell erschöpft.«
«Beide?«
«Ja. Deshalb war für sie als Dreijährige Schluß mit den Rennen. Und ich habe den Eindruck, daß es seitdem schlimmer geworden ist.«
«Jemand hat gemeint, >Gleaner< lahmt.«
Henry Thrace warf mir einen resignierten Blick zu.»Er hat seit neuestem Arthritis. In dieser verdammten Stadt läßt sich aber auch gar nichts geheimhalten. «Auf seinem Schreibtisch schrillte ein Wecker los. Er griff danach und stellte ihn ab.»Wird leider Zeit für mich. «Er gähnte.»Um diese Jahreszeit komme ich kaum noch aus den Kleidern. «Er nahm einen batteriebetriebenen Rasierer aus einem der Schubfächer und ging seinen Bart an.
«Ist das alles, Sid?«
«Ja«, sagte ich,»herzlichen Dank.«
Chico schloß die Autotür, und wir fuhren los, stadtwärts.
«Herzfehler«, sagte er.
«Herzfehler.«
«Ne richtige Epidemie, was?«
«Fragen wir mal Brothersmith, den Tierarzt.«
Chico nannte mir die Adresse: Middleton Road.
«Ja, ich weiß. Das war die Praxis vom alten Follett. Er war unser Tierarzt, früher, als ich noch hier war.«
Chico grinste.»Komisch, sich dich als kleinen, rotznasi-gen Lehrling vorzustellen, der vom Pferdemeister rumgescheucht wird.«
«Und mit Frostbeulen.«
«Gibt dir fast etwas Menschliches.«
Ich hatte fünf Jahre in Newmarket zugebracht, von meinem 16. bis zum 21. Lebensjahr. Lernte reiten, Rennen reiten, leben. Ich hatte einen guten Lehrer gehabt, und da ich tagtäglich seine Frau, seinen Lebensstil und seine administrativen Fähigkeiten vor Augen hatte, verwandelte sich der Junge aus ärmlichen Verhältnissen, der ich gewesen war, langsam in ein etwas kosmopolitischeres Wesen. Er brachte mir bei, mit dem Geld, das ich bald in größerem Stile zu verdienen begann, umzugehen, ohne daß es mir den Kopf verdrehte. Und als er mich dann schließlich ins Dasein entließ, merkte ich, daß er mir zu jenem Status verholfen hatte, den man allen Zöglingen seines Stalles zuerkannte. Ich hatte das Glück gehabt, bei einem solchen Lehrmeister in die Schule gehen zu dürfen, und das Glück, sehr lange in einem Beruf ganz oben sein zu können, den ich liebte. Und wenn mich mein Glück eines Tages verlassen hatte, dann war das eben Pech und nicht zu ändern.
«Weckt Erinnerungen, wie?«
«Ja.«
Wir fuhren an der weiten Fläche der Limekilns und an der Rennbahn vorbei Richtung Stadt. Es waren nicht viele Pferde zu sehen — nur in der Ferne ein spätes Lot, das von der Morgenarbeit zurückkehrte. Ich steuerte das Auto um vertraute Ecken und brachte es vor der Praxis des Tierarztes zum Stehen.
Mr. Brothersmith war nicht da. Wenn es dringend sei, sei er in einem Stall an der Bury Road zu finden, wo er nach einem Pferd schaue. Sonst sei er — wahrscheinlich — zum Lunch wieder zurück, also in etwa einer halben Stunde. Wir bedankten uns und setzten uns ins Auto, um auf ihn zu warten.
«Wir haben noch einen Auftrag bekommen«, sagte ich.»Syndikate überprüfen.«
«Ich dachte, das macht der Jockey Club immer selbst.«
«Ja, tut er auch. Unser Auftrag lautet genauer, den Mann vom Jockey Club zu überprüfen, der die Syndikate überprüft.«
Chico brauchte ein Weilchen, bis er das verdaut hatte.»Ganz schön knifflig, was?«
«Und ohne daß er was merkt.«
«Ach ja?«
Ich nickte.»Es ist der Ex-Superintendent Eddy Keith.«
Chicos Unterkiefer fiel herab.»Du machst Witze.«
«Nein.«
«Aber das ist doch ein Bulle. Der Bulle vom Jockey Club.«
Ich berichtete von Lucas Wainwrights Zweifeln, und Chico meinte, Lucas Wainwright müsse da was in den falschen Hals bekommen haben. Ich wies freundlich darauf hin, daß wir eben das ja herausfinden sollten.
«Und wie machen wir das?«
«Ich weiß es nicht. Was meinst du?«
«Du bist doch angeblich der Kopf dieses Unternehmens.«
Ein schlammbespritzter Range Rover bog in Brothers-miths Garageneinfahrt ein. Wie ein Mann entstiegen Chico und ich unserem Scimitar und gingen auf den in Tweed gekleideten Mann zu, der aus seinem Geländewagen kletterte.
«Mr. Brothersmith?«
«Ja? Was ist los?«
Er war jung und gehetzt und blickte ständig über seine Schulter, als säße ihm etwas im Nacken. Die Zeit vielleicht, dachte ich. Oder der Zeitmangel.
«Könnten wir Sie wohl mal kurz sprechen?«fragte ich.»Das ist Chico Barnes, und ich bin Sid Halley. Nur ein paar Fragen.«
Er registrierte den Namen, und sein Blick senkte sich sofort auf meine Hände und blieb schließlich an meiner Linken hängen.
«Sind Sie nicht der Mann mit der myoelektrischen Prothese?«
«Äh… ja«, sagte ich.
«Dann kommen Sie mal rein. Dürfte ich sie mir mal ansehen?«
Er drehte sich um und strebte dem Seiteneingang des Hauses zu. Ich stand bewegungslos da und wünschte, wir wären woanders.
«Los, Sid«, sagte Chico und ging ihm nach. Dann blieb er stehen und wandte sich zu mir um.»Nun tu ihm schon den Gefallen, dann hilft er uns vielleicht auch.«
Bezahlung in Naturalien, dachte ich — und der Preis gefiel mir gar nicht. Ich folgte Chico nur höchst unwillig in das, was sich als Brothersmiths Behandlungsraum herausstellte.
Er richtete in nüchtern-klinischem Ton eine Menge Fragen an mich, und ich beantwortete sie ihm ganz unpersönlich, wie ich es im orthopädischen Versorgungszentrum gelernt hatte.
«Können Sie das Gelenk auch drehen?«fragte er schließlich.
«Ja, ein wenig. «Ich führte es ihm vor.»Da ist so eine Art Pfanne drin, die genau auf meinen Armstumpf paßt, und eine zusätzliche Elektrode leitet die Drehimpulse weiter.«
Im Grunde wollte er, daß ich die Hand abnahm und sie ihm richtig zeigte, aber das hätte ich nie getan, und ihm war wohl klar, daß es keinen Zweck haben würde, mich darum zu bitten.
«Sie liegt am Ellbogen sehr eng an«, sagte er und fuhr mit dem Finger leicht über den Rand.
«Damit sie nicht abfällt.«
Er nickte.»Ist es leicht, sie anzulegen und wieder abzunehmen?«
«Talkumpuder«, sagte ich nur.
Chicos Mund ging auf und schloß sich wieder, als er meinen warnenden Blick auffing — und er sagte Brother-smith nicht, daß das Abnehmen der Prothese oft eine ganz entschieden unangenehme Sache war.
«Denken Sie daran, einem Pferd so ein Ding anzupassen?«fragte Chico.
Brothersmith hob sein immer noch gehetzt wirkendes Gesicht und antwortete ihm in vollem Ernst:»Technisch scheint das durchaus möglich zu sein, aber es ist fraglich, ob man ein Pferd so trainieren kann, daß es die Elektroden aktiviert. Und die Kosten ließen sich wohl nur schwer rechtfertigen.«
«War nur ein Scherz«, sagte Chico schwach.
«So? Verstehe. Aber das hat es durchaus schon gegeben, daß man einem Pferd eine Prothese angepaßt hat. Ich hab neulich von einer sehr wertvollen Zuchtstute gelesen, der man mit Erfolg ein künstliches Vorderbein angemessen hat. Sie wurde danach gedeckt und brachte ein gesundes Fohlen zur Welt.«»Aha«, sagte Chico.»Das ist übrigens auch der Grund unseres Kommens. Eine Zuchtstute. Nur, daß sie eingegangen ist.«
Brothersmith wandte seine Aufmerksamkeit zögernd von künstlichen Gliedmaßen ab und Pferden mit schwachen Herzen zu.
«>Bethesda<«, sagte ich, während ich meinen Hemdsärmel herunterrollte und den Manschettenknopf schloß.
«>Bethesda<?«Er legte die Stirn in Falten, und sein gehetzter Blick verwandelte sich in einen besorgten.»Tut mir leid, ich kann mich nicht.«
«Eine Stute von George Caspar«, sagte ich.»Hat als Zweijährige alle geschlagen und konnte als Dreijährige auf Grund von Herzgeräuschen keine Rennen mehr laufen. Sie kam in die Zucht, aber ihr Herz versagte beim Fohlen.«
«Ach Gott«, sagte er, und zur Besorgtheit gesellte sich Bekümmerung.»Was für ein Jammer. Aber es tut mir leid, ich behandle so viele Pferde und weiß oft nicht einmal ihre Namen. Geht es um eine Versicherungsfrage? Oder etwa um irgendwelche Versäumnisse? Denn ich versichere Ihnen.«
«Nein, nein«, sagte ich besänftigend,»nichts dergleichen. Können Sie sich vielleicht noch erinnern, ob Sie >Gleaner< und >Zingaloo< behandelt haben?«
«Ja, natürlich. Die beiden, ja. Wirklich schade für George Caspar. Absolut enttäuschend.«
«Erzählen Sie.«
«Da gibt’s eigentlich nicht viel zu erzählen. Nichts Ungewöhnliches. Nur, daß sie beide als Zweijährige so gut waren. Wahrscheinlich war das die Ursache ihrer Probleme, wenn man’s bei Licht besieht.«
«Was wollen Sie damit sagen?«fragte ich.
Seine nervöse Angespanntheit entlud sich in kleinen, zuckenden Kopfbewegungen, während er ein paar wenig schmeichelhafte Ansichten zum besten gab.»Nun ja, man zögert natürlich, Spitzentrainern wie Caspar so etwas zu sagen, aber man kann das Herz eines zweijährigen Pferdes nur allzu leicht überfordern, und wenn die Zweijährigen gut sind, dann laufen sie in den großen Rennen, und der Leistungsdruck kann, wegen des Zuchtwertes und so weiter, enorm sein. Ein Jockey, der sich lediglich strikt an die taktischen Anweisungen hält, kann ein junges Pferd dermaßen treiben, daß es zwar gewinnt, dann aber auch für alle Zeiten ruiniert ist.«
«>Gleaner< hat das Doncaster Futurity gewonnen, bei sehr tiefem Geläuf«, sagte ich nachdenklich.»Ich habe das Rennen gesehen. Es war wirklich hart.«
«Das ist richtig«, sagte Brothersmith.»Ich habe ihn danach jedoch sehr gründlich untersucht. Die Schwierigkeiten traten nicht sofort auf, ja, eigentlich war gar nichts festzustellen. Bis er dann bei den 2000 Guineas lief. Von da kam er total erschöpft zurück. Zuerst dachten wir, es wäre das Virus, aber nach ein paar Tagen stellten wir dann einen sehr unregelmäßigen Herzschlag fest, und da war klar, was los war.«
«Was für ein Virus?«fragte ich.
«Da muß ich überlegen… Am Abend vor dem Guineas hatte er ganz leicht erhöhte Temperatur, als bekäme er die Pferdegrippe oder so etwas. Aber das Fieber klang dann wieder ab, es konnte also keine Grippe sein. Es war das Herz, aber das war nicht vorauszusehen.«
«Wie hoch ist der Prozentsatz der Pferde, die einen Herzschaden bekommen?«fragte ich.
Seine chronische Besorgtheit legte sich ein wenig, als er sich nun selbstsicher auf neutralen Boden begab.
«Vielleicht zehn Prozent haben einen unregelmäßigen Puls, was aber nicht immer etwas zu sagen hat. Besitzer kaufen solche Pferde nicht gern, aber sehen Sie sich etwa >Night Nurse< an, die das Championat gewonnen hat — sie hatte ein Herzgeräusch.«
«Aber wie oft haben Sie mit Pferden zu tun, die deswegen keine Rennen mehr laufen können?«
Er zuckte die Achseln.»Vielleicht zwei oder drei von hundert.«
George Caspar, überlegte ich, trainierte jährlich über hundertdreißig Pferde.
«Sind die Pferde von George Caspar im Durchschnitt anfälliger als die anderer Trainer?«erkundigte ich mich.
Die Besorgtheit kehrte in voller Stärke zurück.»Ich weiß nicht, ob ich diese Frage beantworten sollte.«
«Wenn die Antwort nein ist«, sagte ich,»wo liegt dann das Problem?«
«Aber der Grund Ihrer Frage.«
«Ein Klient«, log ich mit beklagenswerter Leichtigkeit,»möchte wissen, ob er George Caspar einen vielversprechenden Einjährigen anvertrauen kann. Er hat mich gebeten, mich nach >Gleaner< und >Zingaloo< zu erkundigen.«
«Ah, ich verstehe. Also nein, ich glaube nicht, daß es bei ihm mehr sind. Jedenfalls nicht signifikant mehr. Caspar ist natürlich ein vorzüglicher Trainer. Wenn Ihr Klient nicht der Habgier erliegt, sobald sein Pferd zwei Jahre alt ist, geht er nicht das geringste Risiko ein.«
«Vielen Dank«, sagte ich, stand auf und gab ihm die Hand.
«Ich nehme an, daß >Tri-Nitro< nichts am Herzen hat?«
«Überhaupt nichts. Der ist kerngesund. Sein Herz schlägt wie ein Gong, laut und rein.«
Kapitel 6
Das wär’s dann wohl«, sagte Chico, als wir bei Bier und Shepherd’s Pie im» White Hart Hotel «saßen.»Fall abgeschlossen. Mrs. Caspar hat eine winzigkleine Meise, und niemand ist an George Caspars Tierchen rangekommen außer Caspar selbst.«
«Das wird sie gar nicht gern hören«, sagte ich.
«Sagst du’s ihr?«
«Auf der Stelle. Wenn ich sie überzeugen kann, beruhigt sie sich vielleicht wieder.«
Ich rief also bei den Caspars an und fragte nach Rosemary, wobei ich mich als Mr. Barnes ausgab. Sie kam an den Apparat und sagte in jenem fragenden Tonfall» Hallo«, mit dem man unbekannte Anrufer zu begrüßen pflegt.
«Mr. Barnes?«
«Sid Halley hier.«
Sie war augenblicklich beunruhigt.»Ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen.«
«Können wir uns irgendwo treffen?«
«Natürlich nicht. Ich habe keinerlei Anlaß, nach London zu fahren.«
«Ich bin hier in der Stadt bei Ihnen um die Ecke«, sagte ich.»Ich habe Ihnen einiges zu erzählen. Und ich glaube ehrlich gesagt nicht, daß es diesmal irgendwelcher Verkleidungen oder so bedarf.«
«Man darf mich nicht mit Ihnen zusammen in Newmarket sehen.«
Sie war dann aber doch bereit, mit ihrem Auto loszufahren, unterwegs Chico aufzulesen und sich von ihm den Weg zeigen zu lassen. Dann suchten Chico und ich uns auf der Karte einen Ort aus, der auf Paranoiker eigentlich beruhigend wirken müßte — den Friedhof von Barton Mills, acht Meilen in Richtung Norwich gelegen.
Wir parkten die Wagen nebeneinander vor dem Friedhofstor, und Rosemary und ich spazierten zwischen den Gräbern auf und ab. Sie trug wieder ihren rehbraunen Regenmantel und ein Kopftuch, darunter aber keine Perücke. Der Wind blies ihr Strähnen ihres kastanienbraunen Haars ins Gesicht, und sie strich sie ungeduldig zurück — nicht ganz so angespannt wie an dem Abend, als sie in meine Wohnung gekommen war, aber doch mit größerer Heftigkeit, als nötig gewesen wäre.
Ich berichtete ihr, daß ich Tom Garvey und Henry Thrace aufgesucht hatte. Ich erzählte auch von meinem Gespräch mit Brothersmith. Sie hörte mir zu und schüttelte schließlich den Kopf.
«Die Pferde sind mit Drogen müde gemacht worden«, sagte sie stur.»Da bin ich mir sicher.«
«Und wie?«
«Das weiß ich nicht. «Ihre Stimme hob sich, wurde scharf, und die Erregung ließ die Muskeln um ihren Mund zucken.»Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Ich hab Ihnen gesagt, daß sie sich an >Tri-Nitro< ranmachen werden. Noch eine Woche bis zu den Guineas. Sie müssen ihn in dieser einen Woche schützen.«
Wir gingen einen Weg zwischen stillen Grabstellen und verwitterten Steinen entlang. Das Gras war gemäht, aber nirgends waren Blumen oder trauernde Angehörige zu se-hen. Die Toten hier waren schon lange dahin und vergessen, der frische Schmerz und die Tränen dem neuen Städtischen Friedhof vor den Toren der Stadt vorbehalten — braune Erdhaufen, leuchtend bunte Gebinde und Trauer in ordentlichen Reihen.
«Aber George hat die Sicherheitsmaßnahmen für >Tri-Nitro< verdoppelt«, sagte ich.
«Das weiß ich. Kommen Sie mir doch nicht damit.«
Ich meinte zögernd:»Normalerweise wird er >Tri-Nitro< vor dem Rennen doch noch mal ordentlich rannehmen. Wahrscheinlich am Samstagmorgen.«
«Ja, wahrscheinlich. Wieso? Warum fragen Sie?«
«Na ja. «Ich hielt inne, fragte mich, ob es klug war, eine abenteuerliche Theorie zu äußern, die man nicht überprüft hatte, und kam zu dem Schluß, daß es so oder so keine Möglichkeit gab, sie zu überprüfen.
«Reden Sie weiter«, sagte sie scharf.»Was wollten Sie eben sagen?«
«Sie könnten vielleicht… äh… dafür sorgen, daß er zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen trifft, wenn das Pferd seine letzten Trainingsrunden absolviert. «Ich machte eine Pause und fuhr dann fort:»Den Sattel genau untersuchen… solche Sachen.«
Rosemary sagte heftig:»Was meinen Sie damit? Um Himmels willen, reden Sie schon und schleichen Sie nicht wie die Katze um den heißen Brei.«
«Viele Rennen sind schon verlorengegangen, weil das Abschlußtraining zu hart und zu kurz vor dem Rennen war.«
«Ja doch«, sagte sie ungeduldig.»Das weiß jeder. Aber so etwas würde George nie machen.«
«Und wenn der Sattel mit Blei vollgepackt wäre? Und ein Dreijähriger dann zu schärfstem Galopp angetrieben würde und dabei fünfzig Pfund totes Gewicht mitschleppen müßte? Und kurz darauf unter größtem Druck bei den Guineas starten und sein Herz überanstrengen würde?«
«Großer Gott«, sagte sie. Und dann noch einmal:»Großer Gott!«
«Ich will damit nicht behaupten, daß so etwas bei >Glea-ner< oder >Zingaloo< passiert wäre, nur, daß die entfernte Möglichkeit besteht. Und wenn es etwas Derartiges wäre… dann müßte jemand vom Stall die Finger im Spiel haben.«
Sie zitterte jetzt wieder.
«Sie müssen unbedingt weitermachen«, sagte sie.»Bleiben Sie dran. Ich habe Ihnen auch Geld mitgebracht. «Sie steckte die Hand in die Tasche ihres Regenmantels und zog ein kleines, braunes Kuvert daraus hervor.»Es ist in bar. Ich kann Ihnen leider keinen Scheck geben.«
«Ich habe mir das doch noch gar nicht verdient«, sagte ich.
«Doch, doch, nehmen Sie’s nur. «Sie ließ nicht locker, und so nahm ich den Umschlag an mich und steckte ihn ungeöffnet ein.
«Lassen Sie mich doch mal mit George reden«, sagte ich.
«Nein, bloß nicht, er würde rasend werden. Ich werde das machen… ich meine, ich werde ihn warnen, was das Abschlußtraining betrifft. Er glaubt, ich spinne, aber wenn ich ihm lange genug damit in den Ohren liege, wird er es schon beachten. «Sie blickte auf die Uhr, und ihre Erregung wurde noch stärker.»Ich muß zurück. Ich habe gesagt, ich wollte einen Spaziergang machen. Das tue ich sonst nie. Ich muß nach Hause, sonst fangen sie noch an, sich über meine Abwesenheit zu wundern.«»Wer wundert sich?«
«George natürlich.«
«Weiß er immer genau, wo Sie gerade stecken?«
Wir lenkten unsere Schritte mit erhöhter Geschwindigkeit zum Tor zurück. Rosemary sah ganz so aus, als wolle sie jeden Augenblick zu laufen anfangen.
«Wir unterhalten uns viel miteinander, und er erkundigt sich immer, wo ich gewesen bin… Er ist keineswegs mißtrauisch… nein, das ist nur so eine alte Angewohnheit. Wir sind eben immer zusammen. Sie wissen ja selbst, wie es im Hause eines Rennpferdtrainers zugeht. Die Besitzer tauchen meist zu den unmöglichsten Zeiten auf, und deshalb ist es George lieb, wenn ich da bin.«
Wir erreichten unsere Autos. Sie verabschiedete sich unsicher und fuhr in großer Eile davon. Chico, der im Scimitar gewartet hatte, meinte:»Sehr still hier. Muß sogar den Geistern langweilig werden.«
Ich stieg ein und warf ihm Rosemarys Umschlag in den Schoß.
«Zähl das«, sagte ich und ließ den Motor an.»Sieh nach, wie unsere Geschäfte stehen.«
Er riß das Kuvert auf, zog ein säuberliches Bündel von Banknoten höheren Nennwerts heraus und befeuchtete sich die Finger.
«Mann!«sagte er, als er fertig war.»Sie muß durchgedreht sein.«
«Sie will, daß wir weitermachen.«
«Dann weißt du ja wohl auch, was das hier ist, Sid«, sagte er und wedelte mit dem Bündel Scheine.»Ein Köder, damit du Schuldgefühle kriegst und bei der Stange bleibst, wenn du hinschmeißen willst.«
«Jedenfalls funktioniert^.«:
Wir investierten ein wenig von Rosemarys Motivationshilfe in eine Übernachtung und einen Kneipenbummel durch Newmarket — Chico zog durch die Pubs, in denen die Stallburschen verkehrten, und ich durch die, die von den Trainern bevorzugt wurden. Es war Dienstagabend, und so ging es überall recht ruhig zu. Ich erfuhr nichts sonderlich Interessantes und trank mehr als genug Whisky — und Chico kam mit nicht viel mehr als einem Schluckauf zurück.
«Schon mal was von Inky Poole gehört?«fragte er.
«Ist das ein Schlager?«
«Nein, ein Arbeitsjockey. Und was ist ein Arbeitsjok-key? Ein Arbeitsjockey, Chico, mein Sohn, ist ein Jockey, der mit einem Pferd auf der Trainingsbahn arbeitet.«
«Du hast einen sitzen«, bemerkte ich.
«Ach was. Was ist ein Arbeitsjockey?«
«Das hast du gerade erklärt. Taugt zwar nicht für Rennen, ist aber daheim im Stall der beste Reiter.«
«Inky Poole«, sagte er,»ist Arbeitsjockey bei George Caspar. Inky Poole dreht auf der heimischen Bahn die scharfen Trainingsrunden mit >Tri-Nitro<. Hast du nicht gesagt, ich soll rausfinden, unter wem >Tri-Nitro< seine Trainingsarbeit absolviert?«
«Ja, das habe ich«, sagte ich.»Und du hast doch einen in der Krone.«
«Inky Poole, Inky Poole«, sagte er fröhlich.
«Hast du mit ihm gesprochen?«
«Nee, kenn ihn nich’. Paar von den Stallburschen ham’s mir erzählt. George Caspars Arbeitsjockey. Inky Poole.«
Ein Fernglas um den Hals gehängt, begab ich mich am nächsten Morgen um sieben Uhr dreißig nach Warren Hill, um mir dort die Lots bei der Morgenarbeit anzuse-hen. Es kam mir vor, als sei es schon lange her, daß ich selbst eine dieser auf dem Pferderücken kauernden Gestalten in Pullover und Kappe gewesen war — mit drei Pferden zum Ausmisten und Versorgen und einem Bett in der Gemeinschaftsunterkunft, wo in der Küche ewig regennasse Breeches auf einem Trockenständer hingen. Erfrorene Finger und zu selten ein Bad, die Ohren voller obszöner Worte und nie eine Möglichkeit, auch mal allein zu sein.
Als ich sechzehn war, hatte mir das alles ziemlichen Spaß gemacht, vor allem wegen der Pferde. Wunderschöne, herrliche Geschöpfe, deren Reaktionen und Instinkte sich von denen des Menschen unterschieden wie Öl von Wasser und sich auch dann nicht mit ihnen verbanden, wenn die beiden in Berührung kamen. Der Einblick in ihre Wahrnehmung und ihr Wesen war für mich wie der Blick durch eine sich öffnende Tür gewesen, wie eine kaum verstandene und nur halb gelernte Fremdsprache, deren vollkommene Beherrschung immer wieder auf entnervende Weise dadurch verhindert wurde, daß man nicht den richtigen Gehör- oder Geruchssinn, keine ausreichenden telepathischen Fähigkeiten hatte.
Das Gefühl des Einsseins mit dem Pferd, das ich manchmal in der Hitze eines Rennens verspürt hatte, war ihr Geschenk an ein unterlegenes Geschöpf und mein leidenschaftlicher Siegeswille vielleicht mein Geschenk an sie gewesen. Der Drang nach vorn, an die Spitze, war ihnen eingeboren — sie brauchten nichts anderes, als daß man ihnen zeigte, wohin und wann sie loslaufen mußten. Es ließe sich wohl mit einigem Recht sagen, daß ich — wie die meisten Jockeys, die Hindernisrennen reiten — den Pferden jenseits der Grenzen des menschlichen Verstandes geholfen, sie in ihrem ureigensten Wollen unterstützt hatte.
Ihr Geruch und ihr Anblick waren für mich das, was der Seewind für den Matrosen ist. Ich füllte meine Lungen und Augen und verspürte große Zufriedenheit.
Jedes Lot wurde bei der Morgenarbeit von seinem aufmerksamen Trainer begleitet und überwacht. Einige von ihnen kamen mit dem Auto, ein paar zu Pferd und einige auch zu Fuß. Ich sammelte eine ganze Menge Gutenmorgengrüße ein, und nicht wenige der lächelnden Gesichter schienen aufrichtig erfreut, mich zu sehen. Ein paar von den Trainern, die es nicht ganz so eilig hatten, blieben sogar kurz stehen, um ein paar Worte mit mir zu wechseln.
«Sid!«rief einer aus, für den ich Flachrennen geritten hatte, bevor sich mein Gewicht meiner Größe anpaßte.»Wir kriegen dich in letzter Zeit ja wirklich nur noch selten hier oben zu sehen, Sid.«
«Mein Schaden«, sagte ich lächelnd.
«Warum kommst du nicht her und reitest für mich raus? Wenn du das nächste Mal in der Gegend bist, dann ruf mich doch an, und wir vereinbaren was.«
«Ist das dein Ernst?«
«Selbstverständlich. Das heißt, wenn du willst.«
«Wahnsinnig gern.«
«Großartig! Also, nicht vergessen. «Er schlenderte winkend davon und schnauzte einen Burschen an, der sich seinen Unmut dadurch zugezogen hatte, daß er im Sattel hing wie eine aus der Fa9on geratene Qualle.»Wie, zum Teufel, soll dein Pferd bei der Sache bleiben, wenn du es nicht bist?«Der Junge saß ganze zwanzig Sekunden lang einigermaßen ordentlich im Sattel. Er würde wohl noch weit kommen — vom Bahnhof aus.
Am Mittwochmorgen wurde gemeinhin das volle Trainingsprogramm geritten, weshalb sich auch die übliche
Schar interessierter Zuschauer eingefunden hatte — Besitzer, Presseleute und etliche für Buchmacher tätige» Spione«. Ferngläser sprossen auf Gesichtern wie Zusatzaugen, Notizen wurden in persönlicher Kurzschrift aufs Papier geworfen. Mochte der Morgen auch kühl sein, die Saison lief langsam warm. Allerorten geschäftiges Treiben und der Eindruck von Zielstrebigkeit. Eine Industrie ließ ihre Muskeln spielen. Der bewährte Kreislauf von Geld, Gewinn und Steuereinnahmen unter dem weiten Himmel von Suffolk. Auch ich war noch Teil davon, wenn auch nicht mehr in der gleichen Funktion wie früher. Und Jenny hatte völlig recht — in einem Büro würde ich sofort eingehen.
«Morgen, Sid.«
Ich blickte mich um. Es war George Caspar, hoch zu Roß, die Augen auf ein Lot Pferde in der Ferne gerichtet, das aus seinem Stall in der Bury Road kam und nun am Rande der Grasflache dahintrottete.
«Morgen, George.«
«Sind Sie länger hier?«
«Nur ein oder zwei Nächte.«
«Sie hätten uns Bescheid sagen sollen. Bei uns ist immer ein Bett frei. Rufen Sie Rosemary an. «Seine Augen ruhten auf seinen Pferden — die Einladung war eine höfliche Geste und nicht dazu gedacht, angenommen zu werden. Rosemary, dachte ich, wäre in Ohnmacht gefallen, wenn sie das mitbekommen hätte.
«Ist >Tri-Nitro< bei dem Lot dort dabei?«erkundigte ich mich.
«Ja. Sechstes Pferd von vorn. «Er sah zu den interessierten Zuschauern hinüber.»Haben Sie Trevor Deansgate irgendwo gesehen? Er hat mir gesagt, er wollte heute morgen von London raufkommen. Wollte früh losfahren.«
Ich schüttelte den Kopf.»Hab ihn nirgends gesehen.«
«Zwei von dem Lot sind seine. Er wollte ihnen bei der Arbeit zusehen. «Er zuckte mit den Schultern.»Wenn er nicht bald da ist, verpaßt er’s eben.«
Ich mußte im stillen grinsen. Manche Trainer schoben die Trainingsarbeit so lange auf, bis der Besitzer eingetroffen war — nicht so George. Bei ihm standen die Besitzer an, um seiner Gunst und seiner Kommentare teilhaftig zu werden, und Trevor Deansgate war trotz all seiner Macht nur einer von vielen. Ich hob das Fernglas an die Augen und beobachtete, wie das Lot, vierzig Pferde stark, herankam und sich dann im Kreis bewegte, bis die Reihe an ihm war, auf die bergauf führende Bahn zu gehen. Die Pferde des Stalles, der vor George dran war, waren fast durch.
Der Jockey, der >Tri-Nitro< ritt, trug einen roten Schal im Halsausschnitt seiner olivgrünen, wattierten Jacke. Ich nahm das Glas herunter, sah ihm zu, wie er im Kreise ritt, und betrachtete sein Pferd so neugierig wie alle anderen auch. Ein vorzüglich aussehender Brauner, gut gebaut, mit kräftigen Schultern und viel Brustraum — aber andererseits war nichts an ihm, was einen mit der Nase darauf gestoßen hätte, daß man hier den hoch gewetteten Winterfavoriten für die Guineas und das Derby vor sich hatte. Wenn man es nicht gewußt hätte, hätte man’s nicht wissen können, wie es so schön heißt.
«Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein paar Fotos mache, George?«fragte ich.
«Aber ganz und gar nicht, Sid.«
«Danke.«
Ich ging neuerdings nur noch selten ohne Kamera in der Tasche irgendwohin: 16 Millimeter, automatische Belichtungsmessung, ein sündhaft teures Objektiv. Ich zog sie heraus, zeigte sie ihm, und er nickte.»Nur zu.«
Er setzte sein geduldiges Pferd in Bewegung und ritt davon, hinüber zu seinem Lot, um mit der Morgenarbeit zu beginnen. Der Jockey, der ein Pferd vom Stall hier heraus ritt, war nicht unbedingt auch der, der dann die Galopparbeit übernahm, und wie immer kam es zu einer ganzen Reihe von Pferdewechseln, bis endlich die besten Reiter auf den Pferden saßen, auf die es ankam. Der Junge mit dem roten Schal sprang aus dem Sattel von >Tri-Nitro< und hielt den Hengst, bis ein sehr viel älterer Jockey aufgesessen war.
Ich ging näher an das Lot heran und machte drei oder vier Fotos von dem Wunderpferd und ein paar Nahaufnahmen von seinem Reiter.
«Inky Poole?«fragte ich, als er dicht an mir vorbeigeritten kam.
«Ja. Vorsicht, Hintermann. Sie stehen im Weg.«
Ein unübersehbarer Anflug von Bärbeißigkeit. Wenn er mich vorhin nicht mit George hätte sprechen sehen, hätte er sich meine Anwesenheit wahrscheinlich gleich ganz verbeten. Ich fragte mich, ob sein Groll auf die ganze Welt die Ursache oder die Folge des Umstandes war, daß er in seiner Jockey karri ere nicht weiterkam, und empfand im Grunde Mitleid mit ihm.
George fing an, das Lot in kleinere Gruppen aufzuteilen, die dann nacheinander auf die Strecke gehen sollten, und ich zog mich wieder auf meinen Beobachtungsposten am Rande des Geschehens zurück.
Ein Auto kam mit hoher Geschwindigkeit angefahren und hielt mit einem plötzlichen Ruck, was einige der Pferde in Unruhe versetzte und kurz scheuen ließ, während sich die Stimmen der Reiter zu lauten Warnungen und Protesten erhoben.
Trevor Deansgate entstieg seinem Jaguar und knallte, um das Maß voll zu machen, den Wagenschlag zu. Er war im
Straßenanzug, hob sich deutlich von allen anderen ab und sah eher so aus, als sei er auf dem Wege zu einer Vorstandssitzung. Schwarzes, streng zurückgekämmtes Haar, glattrasiertes Kinn, blitzblank geputzte Schuhe. Nicht der Typ von Mann, dessen Freundschaft ich gesucht hätte, schon weil ich es nicht sonderlich schätzte, den Mächtigen zu Füßen zu sitzen und mit nervösem Lachen die Brosamen ihrer Gunst aufzusammeln. Aber er war nun mal, was den Rennsport anbetraf, eine Macht, mit der man rechnen mußte.
Die großen Buchmacher konnten einen sehr positiven Einfluß ausüben und taten das oft auch — eine Haltung, dachte ich zynisch, die sie gezwungenermaßen einnahmen, um ihr Überleben gegen eine Lobby zu sichern, die wußte, daß ein Totomonopol (und ein weniger rauhes Steuerklima) dem Rennsport zurückgäbe, was die Buchmacher herausholten. Trevor Deansgate verkörperte den neuen Typ: urban und ein Mann von Welt, suchte er die Gesellschaft der Großen, wurde der City allmählich ein Begriff und war der Grafen ergebenster Diener.
«Hallo«, rief er, als er mich sah.»Wir haben uns doch in Kempton kennengelernt… Wissen Sie zufällig, wo die Pferde von George sind?«
«Da, genau vor Ihnen«, sagte ich und zeigte auf sie.»Sie kommen gerade noch rechtzeitig.«
«Verdammter Verkehr.«
Er schritt, ein Fernglas am Handgelenk, über das Gras zu George hinüber, der ihn kurz begrüßte und ihm offensichtlich empfahl, sich mit mir zusammen den Trainingsgalopp anzusehen, denn Trevor kehrte unverzüglich zurück, um sich gewichtig und voller Selbstvertrauen neben mir aufzubauen.
«George sagt, meine seien beide in der ersten Gruppe. Er meinte, Sie würden mir sagen, wie sie sich schlagen, der unverschämte Kerl. Hab ich etwa keine Augen im Kopf? Er reitet ein Stück weiter rauf.«
Ich nickte. Trainer stellten sich gern auf halber Strecke auf, weil sie dort einen besseren Eindruck von der Leistung ihrer vorbeigaloppierenden Pferde gewinnen konnten.
Vor uns schwenkten vier Pferde langsam in die Startposition ein. Trevor Deansgate hob das Glas vor die Augen und stellte es scharf. Marineblaues Tuch mit feinem rotem Nadelstreifen. Gepflegte Hände, goldene Manschettenknöpfe, Onyxring, alles wie gehabt.
«Welches sind Ihre?«fragte ich.
«Die beiden Füchse. Der weißbestrumpfte ist >Pinafore<. Der andere ist eine Lusche.«
«Die Lusche «hatte kurze, kräftige Gliedmaßen und einen rundlichen Rumpf. Könnte mal ein brauchbares Jagdpferd abgeben, dachte ich. Mir gefiel sein Anblick jedenfalls sehr viel besser als der von >Pinafore<, der eher wie ein Whippet aussah. Auf ein Zeichen von George hin starteten die vier Pferde und zeigten bis hinauf ins Ziel, daß sie Sprinterblut in den Adern hatten. >Pinafore< gewann mit Leichtigkeit, und die Lusche wurde dem Urteil ihres Besitzers gerecht. Trevor Deansgate ließ mit einem Seufzer das Glas sinken.
«Das wär’s denn wohl. Kommen Sie auch zum Frühstück zu George?«
«Nein, heute nicht.«
Er hob das Glas erneut vor die Augen und richtete es nun auf das weitaus nähere, sich im Kreise bewegende Lot. Nach dem Winkel zu urteilen, besah er sich nicht die Pferde, sondern die Reiter. Die Suche endete bei Inky Poole — dann nahm er das Glas herunter und folgte >Tri-Nitro< mit bloßem Auge.
«Heute in einer Woche«, sagte ich.
«Ein Prachtkerl.«
Ich nahm an, daß er — wie alle Buchmacher — nur zu glücklich sein würde, wenn der heiße Favorit der Guineas verlöre, aber in seiner Stimme lag nichts als die Bewunderung für ein großes Pferd. >Tri-Nitro< trottete jetzt zum Start, und als George das Zeichen gab, stob er zusammen mit zwei Begleitpferden in beeindruckendem Tempo davon. Ich stellte mit Interesse fest, daß Inky so ruhig wie die Geduld selbst im Sattel saß und mit einer Könnerschaft ritt, die zehnmal mehr wert war als das, was er aller Wahrscheinlichkeit nach bezahlt bekam. Gute Arbeitsjockeys wurden stets unter Wert entlohnt — und das, obwohl schlechte ein Pferd im Maul verderben, sein Temperament und seine gesamte Karriere ruinieren konnten. Es war schon verständlich, daß sich George bei dem, was er im Stall stehen hatte, nur die besten holte.
Das Entscheidende war nicht der scharfe Galopp in vollem Tempo, der am kommenden Samstagmorgen auf einer langen, ebenen Fläche wie etwa den Limekilns geritten werden würde. Ein schneller Kanter die Steigung des Warren Hill hinauf reichte als Test völlig aus. >Tri-Nitro< bewältigte die Strecke ohne die geringsten Anzeichen von Anstrengung und erreichte die Kuppe, als könne er noch sechsmal hinaufgehen, ohne es zu merken.
Sehr eindrucksvoll, dachte ich. Die Presseleute waren ganz eindeutig der gleichen Meinung und kritzelten ihre Notizblöcke voll. Trevor Deansgate blickte mit einiger Berechtigung nachdenklich drein, während George Caspar, der den Hügel herabgeritten kam und neben uns stehenblieb, fast schon unverschämt zufrieden aussah. Man gewann den Eindruck, daß die Guineas für ihn schon gelaufen war.
Die Pferde kehrten nach getaner Arbeit vom Hügel zu dem noch immer im Kreis bewegten Lot zurück, wo die Arbeitsjockeys auf frische Tiere aufsaßen, um auch mit ihnen den Trainingslauf zu absolvieren. >Tri-Nitro< bekam den Jungen mit der olivgrünen Jacke und dem roten Halstuch wieder, und schließlich kehrten alle zum Stall zurück.
«Das wär’s für heute«, sagte George.»Alles klar, Trevor? Frühstück?«
Sie nickten mir zum Abschied zu und machten sich auf den Weg, der eine im Auto und der andere zu Pferd. Ich dagegen hatte nur Augen für Inky Poole, der die Trainingsstrecke viermal geritten war und nun mürrisch zu seinem geparkten Wagen strebte. Ich ging ihm nach und sagte:»Also der Ritt mit >Tri-Nitro<… ganz hervorragend, Inky.«
Er blickte mich säuerlich an:»Ich hab Ihnen nichts zu sagen.«
«Ich bin nicht von der Presse.«
«Ich weiß, wer Sie sind. Hab Sie bei Rennen gesehen. Ließ sich ja auch kaum vermeiden. «Das war in unfreundlichem, fast höhnischem Ton gesagt.»Was wollen Sie?«
«Wie ist >Tri-Nitro<, wenn Sie ihn mit >Gleaner< vor einem Jahr vergleichen?«
Er angelte die Autoschlüssel aus der mit einem Reißverschluß versehenen Brusttasche seines Anoraks und steckte einen ins Türschloß. Was ich von seinem Gesicht sehen konnte, ließ keine Bereitschaft zur Kooperation erkennen.
«Hat Ihnen >Gleaner< eine Woche vor den Guineas einen vergleichbaren Eindruck vermittelt?«fragte ich erneut.
«Mit Ihnen rede ich nicht.«
«Und was ist mit >Zingaloo<?«fuhr ich fort.»Oder mit >Bethesda<?«
Er öffnete die Autotür und schob sich auf den Fahrersitz, wobei er sich die Zeit ließ, mir einen feindseligen Blick zuzuwerfen.
«Verpiß dich!«knurrte er, knallte die Wagentür zu, stieß den Zündschlüssel ins Schloß und brauste davon.
Chico war zum Frühstück aufgestanden, saß jedoch im Speisezimmer des Pubs und hielt sich den Kopf.
«Schau bloß nicht so verdammt gesund drein«, sagte er, als ich mich zu ihm setzte.
«Eier mit Speck«, sagte ich.»Das nehm ich. Oder vielleicht auch Kipper. Und Erdbeermarmelade.«
Er stöhnte.
«Ich muß nach London zurück«, erklärte ich dann.»Würde es dir was ausmachen, noch hier zu bleiben?«Ich zog die Kamera aus der Tasche.»Nimm den Film raus und laß ihn entwickeln. Wenn’s irgend geht, bis morgen. Da sind ein paar Bilder mit >Tri-Nitro< und Inky Poole drauf. Die könnten vielleicht mal von Nutzen sein, man kann nie wissen.«
«Okay«, sagte er.»Aber du mußt meine Penne anrufen und Bescheid sagen, daß mein schwarzer Gürtel in der Reinigung ist.«
Ich lachte.»Bei George Caspars Lot waren heute morgen übrigens auch ein paar Mädchen dabei. Sieh mal zu, was sich da machen läßt.«
«Das gehört nicht zum Bereich meiner Pflichten«, wandte er ein, aber sein Blick schien plötzlich viel klarer geworden zu sein.
«Und wofür interessiere ich mich?«
«Zum Beispiel, wer >Tri-Nitro< für die Trainingsarbeit aufsattelt und was für ein Programm von heute bis nächsten Mittwoch vorgesehen ist und ob sich sonst irgendwas Übles tut.«
«Was ist mit dir?«
«Ich bin am Freitagabend wieder da«, antwortete ich.»Rechtzeitig zum Abschlußtraining am Sonnabend. Sie nehmen da bestimmt auch >Tri-Nitro< noch mal ordentlich ran, um ihn in Topform zu bringen.«
«Glaubst du wirklich, daß da ein krummes Ding läuft?«wollte er wissen.
«Wirf ’ne Münze. Ich weiß es nicht. Ich rufe besser mal Rosemary an.«
Ich gab mich wieder als Mr. Barnes aus, und Rosemary kam an den Apparat, erregt wie immer.
«Ich kann jetzt nicht sprechen. Wir haben Leute zum Frühstück da.«
«Hören Sie, nur ganz kurz«, sagte ich.»Versuchen Sie, George dazu zu überreden, das Programm für das Abschlußtraining von >Tri-Nitro< am Samstag abzuändern. Beispielsweise einen anderen Jockey zu nehmen. Nicht Inky Poole.«
«Sie glauben doch nicht…«Ihre Stimme kippte über und brach ab.
«Ich glaube gar nichts«, sagte ich.»Aber wenn George das gewohnte Schema ändert, verringert das die Wahrscheinlichkeit, daß manipuliert wird. Routine ist der Busenfreund des Gangsters.«
«Was? Ach so. Also gut, ich werd’s versuchen. Und was machen Sie?«
«Ich werde zum Abschlußtraining da sein. Und dann bleibe ich in der Nähe, bis die 2000 Guineas gelaufen ist. Aber ich wollte, Sie ließen mich mal mit George reden.«
«Nein. Er würde fuchsteufelswild werden. Ich muß
Schluß machen. «Der Hörer wurde mit einem klappernden Geräusch aufgelegt, das auf nach wie vor zitternde Hände schließen ließ, und ich fürchtete, George könnte doch recht damit haben, daß seine Frau neurotisch sei.
Charles und ich trafen uns am nächsten Tag wie gewohnt im» Cavendish Hotel «und saßen in der Bar im ersten Stock.
«So glücklich«, sagte er,»habe ich dich nicht mehr gesehen, seit…«Er deutete mit dem Glas auf meinen Arm.»Du wirkst irgendwie befreiter. Nicht so stoisch verschlossen wie früher.«
«Ich war in Newmarket«, sagte ich.»Habe mir gestern die Morgenarbeit angesehen.«
«Ich hätte gedacht. «Er verstummte.
«Daß mich die Eifersucht verzehrt?«sagte ich.»Schon möglich, aber ich hab’s trotzdem genossen.«
«Gut.«
«Ich fahre morgen abend wieder rauf und bleibe bis nach den Guineas am nächsten Mittwoch.«
«Und unser Lunch am Donnerstag?«
Ich lächelte und holte ihm einen großen Pink Gin.»Bis dahin bin ich zurück.«
Wir aßen dann Muscheln mit Wein-Käse-Sauce, und er berichtete mir das Neueste von Jenny.
«Oliver Quayle hat mir die Adresse geschickt, um die du gebeten hast. Die von der Wachsfirma. «Er zog einen Zettel aus seiner Brusttasche und reichte ihn mir.»Oliver macht sich Sorgen. Er sagt, die Polizei setze ihre Ermittlungen fort, und Jenny könne so gut wie sicher mit einer Anklage rechnen.«
«Wann?«»Das weiß ich nicht. Oliver auch nicht. Manchmal brauchen diese Dinge Wochen, manchmal aber auch nicht. Und wenn Klage erhoben würde, sagt Oliver, würde sie vor einem Magistratsgericht erscheinen müssen, das den Fall dann mit Sicherheit an den Crown Court abgeben werde, weil es um so hohe Beträge geht. Aber sie würden sie natürlich gegen Kaution auf freien Fuß setzen.«
«Kaution!«
«Oliver meint, daß sie leider mit einer Verurteilung rechnen müsse; aber wenn die Tatsache hervorgehoben würde, daß sie unter dem Einfluß von Nicholas Ashe so gehandelt habe, wie es nun mal der Fall war, werde der Richter ihr wahrscheinlich sein Mitgefühl nicht versagen und die Strafe zur Bewährung aussetzen.«
«Selbst wenn Ashe nicht gefunden wird?«
«Ja. Natürlich würde Jenny mit etwas Glück der Strafe ganz entgehen, wenn er gefunden, vor Gericht gestellt und verurteilt würde.«
Ich holte so tief Luft, daß es wie ein Seufzer klang.
«Dann müssen wir ihn eben finden, nicht wahr?«sagte ich.
«Aber wie?«
«Tja… ich habe fast den ganzen Montag und den heutigen Vormittag damit zugebracht, einen großen Karton voller Briefe durchzusehen. Von Leuten, die Geld geschickt und Wachs bestellt haben. Achtzehnhundert Stück, so in etwa.«
«Und inwiefern hilft uns das?«
«Ich habe angefangen, sie alphabetisch zu ordnen und eine Liste zu machen. «Er runzelte skeptisch die Stirn, aber ich fuhr fort:»Das Interessante daran ist, daß alle Namen mit L, M, N und O anfangen. Keiner von A bis K oder von P bis Z dabei.«»Ich verstehe nicht ganz…«
«Sie könnten Teil einer Adressenliste sein«, sagte ich.»Zum Beispiel von einer Versandfirma. Oder sogar von einer wohltätigen Vereinigung. Es muß Tausende von Adressenlisten geben, aber die hier hatte zweifellos den gewünschten Erfolg, das heißt, es war beispielsweise keine Liste von Leuten, die wegen schuldig gebliebener Hundesteuer gemahnt werden sollten.«
«Klingt plausibel«, sagte er trocken.
«Ich dachte mir, ich ordne die Briefe mal und stelle dann fest, ob vielleicht jemand wie Christie’s oder Sotheby’s — es geht schließlich um Politur für antikes Mobiliar — eine Adressenliste hat, die mit meiner übereinstimmt. Nur eine vage Vermutung, ich weiß, aber es könnte ja sein.«
«Ich könnte dir dabei helfen«, sagte er.
«Ist aber ein sehr langweiliger Job.«
«Sie ist meine Tochter.«
«Also gut, mir wär's schon recht.«
Ich aß meine Muscheln auf, lehnte mich im Stuhl zurück und trank einen Schluck von Charles’ hervorragendem, kaltem Weißwein.
Er sagte, er wolle in seinem Club übernachten und dann morgen in meine Wohnung kommen, um mir beim Sortieren der Briefe zu helfen, und ich gab ihm meinen Ersatzschlüssel, damit er hineinkonnte, falls ich gerade eine Zeitung oder Zigaretten holen war. Er zündete sich eine Zigarre an und betrachtete mich durch den Rauch.»Was hat Jenny gesagt, als sie dir am Sonntag nach dem Essen nach oben gefolgt ist?«
Ich sah ihn kurz an.»Nichts von Bedeutung.«
«Sie war danach den ganzen Tag schlechter Laune. Hat sogar Toby angefaucht. «Er lächelte.»Toby beschwerte sich, und da hat sie gesagt: >Sid hat wenigstens nicht ge-winselt.<«Er machte eine Pause. Dann sagte er:»Ich hatte so den Eindruck, daß sie dir besonders hart zugesetzt hatte und sich dann schuldig fühlte.«
«Das waren bestimmt keine Schuldgefühle. Wenn’s hoch kommt, waren es Bedenken wegen Ashe.«
«Und die wären ihr nicht gerade verfrüht gekommen.«
Vom» Cavendish «begab ich mich zur Hauptgeschäftsstelle des Jockey Club am Portman Square, um mich dort, wie am Morgen telefonisch vereinbart, mit Lucas Wainwright zu treffen. Sein Auftrag für mich mochte zwar inoffiziell sein, war aber immerhin so offiziell, daß er mich in sein Büro bitten konnte. Es stellte sich dann aber heraus, daß Ex-Superintendent Eddy Keith wegen eines positiven Dopingtests nach Yorkshire gefahren und sonst niemand im Hause war, der sich vielleicht über meinen Besuch gewundert hätte.
«Ich habe alle Unterlagen, die Sie benötigen«, sagte Lucas Wainwright.»Eddys Berichte über die Syndikate und ein paar Informationen über die Ganoven, denen er grünes Licht gegeben hat.«
«Dann will ich mich mal gleich dransetzen«, sagte ich.»Kann ich die Sachen mitnehmen, oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich sie mir hier ansähe?«
«Mir wär's lieber, wenn Sie’s hier täten«, gestand er.»Ich möchte die Sachen nicht aus dem Haus geben oder fotokopieren lassen und so die Aufmerksamkeit meiner Sekretärin darauf lenken, denn sie arbeitet auch für Eddy, und ich weiß, daß sie ihn anhimmelt. Sie würde es ihm erzählen. Notieren Sie sich lieber hier, was Sie für wichtig halten.«
«In Ordnung«, sagte ich.
Ich bekam einen Tisch an der Seitenwand seines Büros, einen bequemen Stuhl und eine helle Lampe und verbrachte etwa eine Stunde mit Lesen und Notizenmachen. Er kramte derweil an seinem Schreibtisch ziellos in Akten herum, schob Stifte hin und her und raschelte mit Papier, konnte am Ende aber doch nicht verbergen, daß seine ganze Geschäftigkeit nur vorgetäuscht war. Er wartete nicht so sehr darauf, daß ich endlich fertig würde, sondern fühlte sich anscheinend ganz allgemein unwohl in seiner Haut. Ich blickte von meinen Papieren auf und fragte:»Was ist denn los?«
«Was… wie los?«
«Irgendwas beunruhigt Sie.«
Er zögerte.»Haben Sie alles geschafft, was Sie schaffen wollten?«Er nickte in Richtung meiner Arbeit.
«Knapp die Hälfte«, sagte ich.»Können Sie mir noch eine Stunde geben?«
«Ja, schon… hören Sie, ich will Ihnen gegenüber offen sein. Es gibt da etwas, das Sie wissen sollten.«
«Und das wäre?«
Lucas, der es normalerweise auch dann nicht an Gewandtheit fehlen ließ, wenn er in Eile war, und dessen von der Marine geprägte Denkgewohnheiten mir dank meines Admiralsschwiegervaters einigermaßen vertraut waren, zeigte ganz eindeutig Anzeichen von Verlegenheit. Was aber Marineoffiziere in akute Verlegenheit stürzte, waren Vorkommnisse wie Kollisionen zwischen Kriegsschiffen und Kaimauern, Besuche von Damen in der Mannschaftsmesse, wenn die Mannschaft anwesend und in entspannter Freizeitstimmung war, und unehrenhaftes Verhalten eines Gentleman. Die beiden ersten schieden aus — hatte es demnach irgend etwas mit dem dritten zu tun?
«Ich habe Sie vielleicht nicht mit allen Tatsachen vertraut gemacht«, sagte er schließlich.
«Dann holen Sie es doch bitte nach.«
«Ich habe schon vor einiger Zeit jemand anders auf die Überprüfung von zweien dieser Syndikate angesetzt. Vor sechs Monaten. «Er spielte mit ein paar Büroklammern herum, sah nicht mehr in meine Richtung.»Noch bevor Eddy sie überprüft hat.«
«Und mit welchem Ergebnis?«
«Ah, ja. «Er räusperte sich.»Der Mann… sein Name ist Mason… wir haben seinen Bericht nie bekommen, weil er auf offener Straße angegriffen wurde, bevor er ihn schreiben konnte.«
Auf der Straße angegriffen.»Was für eine Art von Angriff war das denn?«fragte ich.»Und wer hat ihn angegriffen?«
Er schüttelte den Kopf.»Niemand weiß, wer es gewesen ist. Er wurde von einem Passanten auf dem Gehweg gefunden, und der hat die Polizei verständigt.«
«Hm… Haben Sie ihn befragt, diesen Mason?«Aber ich erriet schon wenn nicht die ganze, so doch einen Teil der Antwort.
«Er hat sich, äh, nie so richtig davon erholt«, sagte Lucas bekümmert.»Man hatte ihm allem Anschein nach mehrfach gegen den Kopf getreten. Und in den Leib. Er hat schwere Gehirnverletzungen davongetragen. Er liegt noch immer in einem Pflegeheim, wird da wohl auch bleiben müssen. Er vegetiert nur noch… und ist blind.«
Ich biß auf das Ende des Bleistifts, mit dem ich mir Notizen gemacht hatte.»Ist er beraubt worden?«fragte ich dann.
«Seine Brieftasche fehlte. Seine Uhr aber nicht.«
«Es könnte also ein einfacher Raubüberfall gewesen sein?«»Ja… nur daß die Polizei es als versuchten Mord ansieht. Weil er so oft und so gezielt getreten wurde.«
Er lehnte sich im Stuhl zurück, als sei er von einer schweren Last befreit. Ehrenhaftes Verhalten unter Gentlemen. der Ehre war Genüge getan.
«Na schön«, sagte ich.»Welche beiden Syndikate hat er überprüft?«
«Die ersten beiden, die Sie da vor sich liegen haben.«
«Glauben Sie denn, daß von den Mitgliedern, von den unerwünschten Personen, einige von der Sorte sind, die sich mit Fußtritten von Problemen befreit?«
«Das könnte schon sein«, antwortete er unglücklich.
«Und gehe ich nun«, fragte ich vorsichtig,»der möglichen Bestechlichkeit von Eddy Keith oder dem halben Mord an Mason nach?«
Nach einer kurzen Pause antwortete er:»Vielleicht bei-dem.«
Wir schwiegen lange. Schließlich sagte ich:»Es ist Ihnen doch klar, daß Sie dadurch, daß Sie mir beim Rennen Nachrichten zugeschickt, sich mit mir im Restaurant getroffen und mich nun hierher gebeten haben, kaum jemand im Zweifel darüber gelassen haben, daß ich für Sie arbeite?«
«Aber das könnte doch alles mögliche sein.«
Ich erwiderte düster:»Nicht mehr, wenn ich erst bei den Syndikaten vor der Tür stehe.«
«Ich hätte vollstes Verständnis dafür«, sagte er,»wenn Sie es angesichts dessen, was ich Ihnen gerade mitgeteilt habe, vorzögen… äh…«
Ich auch, dachte ich. Ich hätte Verständnis dafür, wenn mir nicht daran gelegen wäre, den Schädel eingetreten zu bekommen. Aber es stimmte ebenfalls, was ich zu Jenny gesagt hatte — man glaubte nicht, daß es einem selbst auch passieren könnte. Und das ist immer ein Irrtum, hatte sie geantwortet.
Ich seufzte.»Sie erzählen mir besser noch ein bißchen was von Mason. Wo er hinging und mit wem er sich traf. Alles, was Ihnen dazu einfällt.«
«Das ist praktisch gar nichts. Er ist ganz normal von hier weggegangen, und das nächste, was wir von ihm hörten, war, daß er überfallen worden war. Die Polizei konnte nicht ermitteln, wo er gewesen war, und die Leute von den Syndikaten schworen Stein und Bein, ihn nie gesehen zu haben. Der Fall ist natürlich noch nicht abgeschlossen, aber nach sechs Monaten hat er keinerlei Priorität mehr.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile darüber, und dann verbrachte ich noch eine Stunde mit dem Aktenstudium. Ich verließ das Gebäude des Jockey Club um viertel vor sechs und wollte in meine Wohnung fahren — aber dort kam ich nie an.
Kapitel 7
Ich fuhr im Taxi nach Hause und bezahlte den Fahrer vor der Eingangstür des Wohnhauses, das heißt nicht genau davor, denn dort parkte ein dunkles Auto, und das mitten im absoluten Halteverbot.
Ich beachtete den Wagen jedoch kaum, was sich als Fehler erwies, denn als ich auf seiner Höhe war und mich der Haustür zuwandte, gingen die Türen auf der Gehsteigseite auf und spuckten Scherereien der übelsten Sorte aus.
Ich wurde von zwei Männern in dunkler Kleidung gepackt. Der eine versetzte mir mit etwas Hartem einen betäubenden Schlag auf den Kopf, während mir der andere etwas, was ich später als eine Art Lasso aus dickem Seil erkannte, um Arm und Brust warf und fest zusammenzog. Dann verstauten sie mich gemeinsam auf dem Rücksitz ihres Autos, und der eine band mir zur Abrundung noch ein schwarzes Tuch vor meine halb geschlossenen Augen.
«Schlüssel«, sagte eine Stimme.»Schnell. Es hat uns keiner gesehen.«
Ich fühlte, wie sie in meinen Taschen herumkramten. Ein klirrendes Geräusch zeigte an, daß sie gefunden hatten, was sie suchten. Als ich sozusagen wieder klar sehen konnte, begann ich mich zu wehren, was eine reine Reflexhandlung war, dessenungeachtet aber wiederum ein Fehler.
Das Tuch vor meinen Augen wurde um ein widerwärtig riechendes Stoffknäuel vor Mund und Nase ergänzt. Anästhesierende Dämpfe vernebelten mir die Sinne, und mein letzter Gedanke war, daß sie keine Zeit verloren hatten, falls ich Masons Schicksal teilen sollte.
Als erstes wurde mir bewußt, daß ich auf Stroh lag.
Stroh. Stroh wie in einem Stall. Es raschelte, wenn ich mich zu bewegen versuchte. Das Gehör funktionierte — wie immer — als erstes wieder.
Ich hatte mir im Laufe der Jahre bei Stürzen schon etliche Gehirnerschütterungen zugezogen. Eine Weile dachte ich wirklich, ich wäre vom Pferd gefallen. Ich konnte mich nur nicht daran erinnern, von welchem und wo.
Komisch.
Die gar nicht willkommene Orientierung war ganz plötzlich wieder da. Ich hatte an keinem Rennen teilgenommen. Ich hatte ja nur eine Hand. Ich war am hellichten Tage auf einer Straße Londons entführt worden. Ich lag auf dem Rücken, lag irgendwo auf Stroh, die Augen verbunden, ein Seil um Brust und Arme geschlungen, oberhalb der Ellbogen, so daß die Oberarme am Leib festgeschnürt waren. Ich lag auf dem Knoten. Ich wußte nicht, warum ich hier war… und sah der Zukunft nicht mit der allergrößten Zuversicht entgegen.
Mist, Mist, verdammter Mist!
Meine Füße waren an irgendeinem nicht zu bewegenden Gegenstand festgebunden. Es war stockdunkel, sogar an den Rändern meiner Augenbinde. Ich setzte mich auf und versuchte, mich wenigstens teilweise zu befreien. Eine Heidenmühe und nicht der geringste Erfolg.
Ewigkeiten später waren draußen Schritte auf Kiesgrund hörbar, dann knarrte eine Holztür, und plötzlich schimmerte an den Seiten Licht durch die Binde.
«Nun hören Sie schon auf damit, Mr. Halley«, sagte eine Stimme.»Sie kriegen diese Knoten mit einer Hand nie und nimmer auf.«
Ich stellte meine Versuche ein. Es hatte wirklich keinen Zweck weiterzumachen.
«Hat ein bißchen was von einem Overkill«, sagte der Mann genüßlich.»Fesseln und Betäubungsmittel und Gummiknüppel und Augenbinde. Na ja, ich hab ihnen natürlich gesagt, sie sollten vorsichtig sein und sich außer Reichweite dieses Blecharms da halten. Ein Bursche, den ich kenne, weiß sehr häßliche Geschichten davon zu erzählen, wie Sie ihm mal mit diesem Ding, mit dem er nicht gerechnet hatte, eine verpaßt haben.«
Ich kannte die Stimme. Untertöne von Manchester, Obertöne vom oberen Teil der sozialen Stufenleiter. Das Selbstbewußtsein der Macht.
Trevor Deansgate.
Zuletzt gesehen in Newmarket, wo er im Pulk nach >Tri-Nitro< gesucht und ihn erkannt hatte, da er im Unterschied zu den meisten anderen den Bereiter kannte. Deansgate, der dann zum Frühstück zu den Caspars gegangen war. Der Buchmacher Trevor Deansgate war ein Fragezeichen gewesen, eine Möglichkeit, jemand, den man in Betracht ziehen, überprüfen mußte. Etwas, was ich getan hätte, aber noch nicht getan hatte.
«Nehmt ihm die Augenbinde ab«, sagte er.»Ich will, daß er mich sieht.«
Irgendwelche Finger brauchten ihre Zeit, bis sie den sehr festgezogenen Stoffknoten aufbekamen. Als das Tuch herunterfiel, war ich einen Augenblick vom Licht geblendet. Was ich danach als erstes erblickte, war der auf mich gerichtete Doppellauf einer Schrotflinte.
«Kanonen auch noch«, sagte ich säuerlich.
Es war eine Scheune, kein Stall. Zu meiner Linken türmte sich ein riesiger Stapel Strohballen, und rechts von mir stand ein paar Schritte entfernt ein Traktor. Meine Füße waren an der Zugstange einer Walze festgebunden. Die Scheune hatte ein hohes, auf Balken ruhendes Dach, von dem eine nackte, schwächliche Glühbirne herabhing und Trevor Deansgate beleuchtete.
«Sie sind ein wirklich schlaues Kerlchen, und das sehr zu Ihrem Schaden«, sagte er.»Wissen Sie, was man über Sie sagt? Wenn Halley hinter dir her ist, dann sieh dich vor. Der pirscht sich an dich ran, wenn du noch meinst, daß er nicht mal was von deiner Existenz weiß, und bevor du getickt hast, was eigentlich läuft, fallen schon die Zellentüren hinter dir zu.«
Ich sagte nichts. Was konnte man darauf schon sagen? Zumal, wenn man wie ein zusammengeschnürter Narr auf der falschen Seite einer Schrotflinte saß.
«Tja, Sie sehen, ich habe nicht auf Sie gewartet«, sagte er.»Ich weiß, daß Sie verdammt nah dran waren, mich einbuchten zu lassen. Haben nur noch Ihre Fallen aufgestellt, wie? Darauf gewartet, daß ich Ihnen in die Hände falle, wie schon so viele andere.«
Er verstummte und überdachte, was er soeben gesagt hatte.»In Ihre Hand«, verbesserte er sich dann.»Und in diese tolle Kralle.«
Er sprach in einer Art zu mir, die unseren gemeinsamen Ursprüngen Rechnung trug, der Tatsache, daß wir es beide, gemessen daran, einigermaßen weit gebracht hatten. Es war nicht so sehr eine Frage des Akzents, sondern des Verhaltens. Es war nicht erforderlich, sich in sozialer Hinsicht etwas vorzumachen. Die Botschaft war schlicht, erfolgte von gleich zu gleich und würde verstanden werden.
Wie schon in Newmarket, trug er auch jetzt einen Straßenanzug, diesmal weißer Nadelstreifen. Dazu eine Krawatte von Gucci. Die gepflegten Hände hielten die Schrotflinte mit der Könnerschaft, zu der einem viele, auf Land-sitzen verbrachte Wochenenden verhelfen. Was spielte es für eine Rolle, dachte ich, wenn die Finger, die den Abzug betätigten, sauber und manikürt waren? Was spielte es für eine Rolle, daß seine Schuhe so blitzblank geputzt waren… Ich konzentrierte mich auf diese bedeutungslosen Einzelheiten, weil ich nicht an den Tod denken wollte.
Er stand eine Weile schweigend vor mir, betrachtete mich nur. Ich saß so bewegungslos wie möglich da und dachte an einen netten, sicheren Job im Büro eines Börsenmaklers.
«Sie kann nichts aus der Fassung bringen, was?«sagte er schließlich.»Überhaupt nichts.«
Ich antwortete nicht.
Die anderen beiden Männer befanden sich rechts hinter mir, außerhalb meines Blickfeldes. Hin und wieder hörte ich ihre Füße übers Stroh scharren. Viel zu weit weg, um sie erreichen zu können.
Ich trug das, was ich für mein Mittagessen mit Charles angezogen hatte. Graue Hosen, Socken, dunkelbraune Schuhe. Ferner Hemd, Schlips und einen erst kürzlich erstandenen, ziemlich teuren Blazer — das Seil war eine Zugabe. Was spielte das schon für eine Rolle? Wenn er mich umbrachte, würde Jenny alles übrige bekommen. Ich hatte mein Testament nicht geändert.
Trevor Deansgate wandte seine Aufmerksamkeit den beiden Männern hinter mir zu.
«Hört zu«, sagte er,»und bringt mir nichts durcheinander. Nehmt die beiden Stricke da und bindet einen an seinen rechten und einen an seinen linken Arm. Paßt auf, falls er irgendwelche Tricks versucht.«
Er hob das Gewehr ein wenig, so daß ich nun direkt in die Läufe hineinschauen konnte. Wenn er von da aus schoß, dachte ich, würde er seine beiden Kumpel treffen.
Es sah doch nicht nach einer schnellen Exekution aus. Seine Kumpel waren damit beschäftigt, die beiden Stricke an meinen Handgelenken festzubinden.
«Nicht am linken Gelenk, du Blödmann«, rief Trevor Deansgate.»Das geht doch ab. Benutz mal deinen Verstand. Bind ihn weiter oben fest, über dem Ellbogen.«
Der betreffende Kumpel tat wie geheißen, zog den Knoten fest und hob dann fast beiläufig eine wie ein Brecheisen aussehende Metallstange auf, die er so fest packte, als fürchte er, ich könne mich wie Superman doch noch befreien und mich auf ihn stürzen.
Brechstange… plötzlich überliefen Schauder häßlicher Vorahnungen meine Kopfhaut. Ich war schon einmal einem Schurken begegnet, der genau gewußt hatte, wo er mich am empfindlichsten treffen konnte. Er hatte meine ohnehin schon unbrauchbare linke Hand mit einem Schürhaken zerschmettert und eine Verkrüppelung in einen Totalverlust verwandelt. Der Verlust meiner richtigen Hand hatte mich oft geschmerzt, ich hatte immer wieder still darunter gelitten, aber mir war bis zu diesem Übelkeit erregenden Augenblick gar nicht klar gewesen, wie teuer mir der verbliebene Rest war. Die Muskeln, die die Elektroden aktivierten — sie verhalfen mir doch zumindest zu etwas, das einer funktionierenden Hand nahekam. Wenn sie noch einmal verletzt würden, hätte ich nicht einmal mehr das. Und was den Ellbogen anbetraf… wenn er mich auf längere Zeit außer Gefecht setzen wollte, brauchte er nur die Brechstange zu benutzen.
«Das gefällt Ihnen gar nicht, wie, Mr. Halley?«meinte Trevor Deansgate.
Ich wandte mich wieder ihm zu. In seiner Stimme und in seinem Gesicht war plötzlich eine Mischung aus Triumph und Befriedigung — und so etwas wie Erleichterung.
Ich sagte nichts.
«Sie schwitzen ja«, bemerkte er.
Er gab seinen Kumpanen einen weiteren Befehl.»Macht das Seil um seine Brust los. Und Vorsicht dabei. Haltet die Stricke an seinen Armen gut fest.«
Sie lösten den Knoten und zogen das beengende Seil weg. Meine Fluchtchancen erhöhten sich dadurch allerdings nicht. Sie überschätzten meine Fähigkeiten, ihnen einen Kampf zu liefern, doch gewaltig.
«Legen Sie sich hin«, sagte Trevor zu mir, und als ich nicht sofort gehorchte, sagte er:»Stoßt ihn um. «So oder so, ich endete auf dem Rücken liegend.
«Ich habe nicht die Absicht, Sie umzubringen«, sagte er da.
«Natürlich könnte ich Ihre Leiche irgendwo verschwinden lassen, aber das gäbe zuviele Fragen. Das Risiko kann ich nicht eingehen. Wenn ich Sie aber schon nicht umbringe, muß ich Ihnen wenigstens das Maul stopfen, ein für allemal.«
Ich hatte keine Ahnung, wie er das machen wollte, ohne mich umzubringen — ich war ja so begriffsstutzig!
«Zieht den Arm zur Seite, vom Körper weg!«befahl er.
Mein linker Arm wurde mit Macht beiseite gezogen, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich drehte den Kopf in diese Richtung und versuchte, nicht zu betteln und nicht zu weinen.
«Doch nicht den, du verdammter Schwachkopf!«brüllte Trevor los.»Den anderen, den rechten. Zieh ihn weg, zur Seite.«
Jetzt zog der Kerl zu meiner Rechten mit aller Kraft am Seil, bis mein Arm im rechten Winkel zu meinem Körper und gerade ausgestreckt lag, die Handfläche nach oben.
Trevor Deansgate trat auf mich zu und senkte das Gewehr, bis die beiden Läufe direkt auf das Handgelenk des ausgestreckten rechten Arms zeigten. Dann senkte er sie vorsichtig noch weiter, bis sie meine Haut berührten, und drückte das Gelenk nach unten auf den strohbedeckten Boden. Ich konnte die metallenen Ränder der Läufe hart auf den Knochen, Nervensträngen und Sehnen des Handgelenks spüren — auf der Brücke zu einer gesunden Hand.
Ich hörte das Klicken, als er den Hahn spannte. Ein Schuß aus einer Waffe dieses Kalibers würde mir den größten Teil des Arms abreißen.
Ich fühlte mich halb ohnmächtig und schwitzte am ganzen Leibe.
Was immer die Leute sagen mochten — ich wußte sehr wohl, was Angst war. Ich hatte keine Angst vor Pferden, vor Rennen, vor Stürzen oder vor ganz normalen Schmerzen, sondern vor Erniedrigung und Zurückweisung, vor Hilflosigkeit und Versagen. Davor fürchtete ich mich.
Aber alle Furcht, die ich in meinem Leben schon verspürt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was ich in dieser alles auflösenden, das Denken zersetzenden, grauenvollen Minute empfand. Sie zerbrach mich. Überflutete mich. Reduzierte mich auf einen Morast von Angst, ein Wimmern in der Seele. Und instinktiv und verzweifelt versuchte ich, es mir nicht anmerken zu lassen.
Er beobachtete mich bewegungslos ungezählte, stille, immer bedrängender werdende Sekunden lang. Ließ mich schmoren. Machte es immer schlimmer.
Am Ende atmete er tief durch und sagte:»Sie sehen, ich könnte Ihnen leicht Ihre Hand wegpusten. Nichts einfacher als das. Ich werd’s aber wahrscheinlich nicht tun. Jedenfalls nicht heute. «Er machte eine Pause.»Hören Sie mir zu?«
Ich nickte kaum wahrnehmbar. Meine Augen konnten vor lauter Gewehr nichts sehen.
Seine Stimme war ruhig, ernst, gab jedem Satz Gewicht.»Sie werden mir zusichern, daß Sie sich zurückziehen. Daß Sie nichts mehr unternehmen, was in irgendeiner Weise gegen mich gerichtet ist. Nie wieder. Sie werden morgen früh nach Frankreich fliegen und bis nach den Guineas dort bleiben. Danach können Sie tun, was Sie wollen. Sollten Sie Ihre Zusicherung jedoch nicht einhalten… nun ja, Sie sind leicht zu finden. Ich werde Sie finden und Ihnen die rechte Hand wegschießen. Mir ist es ernst, und Sie täten gut daran, mir das zu glauben. Irgendwann würde ich Sie erwischen, Sie würden mir nicht entgehen. Verstehen Sie?«
Ich nickte wieder. Ich spürte das Gewehr — es fühlte sich heiß an. Laß es nicht zu, dachte ich, lieber Gott, laß es nicht zu!
«Geben Sie mir Ihr Versprechen. Sagen Sie’s.«
Ich schluckte, was weh tat. Zwang eine Stimme in meine Kehle, leise und heiser.»Ich verspreche es.«
«Sie ziehen sich zurück.«
«Ja.«
«Sie unternehmen nichts mehr gegen mich, nie mehr.«
«Nein.«
«Sie gehen nach Frankreich und bleiben dort bis nach den 2000 Guineas.«
«Ja.«
Wieder trat Stille ein und schien hundert Jahre zu dauern, während ich über mein unversehrtes Handgelenk hinweg auf die dunkle Seite des Mondes blickte.
Schließlich zog er das Gewehr zurück, öffnete den Verschluß und nahm die Patronen heraus. Mir war körperlich übel, und ich hatte mich kaum noch in der Gewalt.
Trevor ließ sich neben mir auf seine nadelgestreiften Knie nieder und betrachtete eingehend, was ich noch an Abwehr in mein bewegungsloses Gesicht und meine ausdruckslosen Augen zu legen vermochte. Ich fühlte, wie mir der verräterische Schweiß über die Backen rann. Er nickte mit grimmiger Befriedigung.
«Ich wußte, daß Sie das nicht ertragen könnten. Nicht auch noch die andere. Das könnte niemand. Es ist gar nicht nötig, Sie umzubringen.«
Er erhob sich wieder und streckte sich, wie um eine innere Anspannung zu lösen. Dann fuhr er mit der Hand in verschiedene Taschen und zog Dinge daraus hervor.
«Hier sind Ihre Schlüssel. Ihr Paß. Ihr Scheckheft. Kreditkarten. «Er legte alles auf einen Strohballen. Zu seinen Kumpeln sagte er:»Bindet ihn los und fahrt ihn zum Flugplatz. Nach Heathrow.«
Kapitel 8
Ich flog nach Paris und blieb gleich dort, wo ich gelandet war, nämlich in einem der Airport-Hotels. Ich verspürte weder den Drang noch den Mut, auch nur einen Schritt weiter zu tun. Ich blieb sechs Tage, verließ mein Zimmer nicht und verbrachte den größten Teil der Zeit damit, von meinem Fenster aus zuzusehen, wie die Flugzeuge starteten und landeten. Ich fühlte mich wie betäubt. Fühlte mich krank. Desorientiert und geschlagen und meiner Wurzeln beraubt. In einen Zustand tiefsten geistigen Elends gestürzt, denn diesmal wußte ich, daß ich wirklich davongelaufen war.
Natürlich konnte ich mir leicht einreden, daß ich gar keine andere Wahl gehabt hatte, als Deansgate die geforderte Zusicherung zu geben. Hätte ich es nicht getan, hätte er mich mit Sicherheit umgebracht. Ich konnte mir — und das tat ich auch — pausenlos sagen, daß es ein Gebot des gesunden Menschenverstandes gewesen war, mich an seine Anweisungen zu halten, aber Tatsache war auch, daß seine Schläger, nachdem sie mich in Heathrow aus dem Wagen geworfen hatten, sofort davongefahren waren und ich aus freien Stücken das Ticket besorgt, in der Abflughalle gewartet und mich dann an Bord des Flugzeuges begeben hatte.
Da war niemand gewesen, der mich mit einem Gewehr dazu gezwungen hätte. Nur die Tatsache, daß ich es, wie Deansgate zutreffend gesagt hatte, nicht ertragen konnte, die andere Hand auch noch zu verlieren. Nicht einmal das Risiko konnte ich ertragen. Die bloße Vorstellung brachte, wie ein konditionierter Reflex, einen Schweißausbruch hervor.
Die Tage vergingen, aber das Gefühl der Auflösung schien nicht nachzulassen, sondern sich im Gegenteil noch zu vertiefen.
Der automatisierte Teil meines Ichs funktionierte weiter wie gewohnt — er lief, sprach, bestellte Kaffee, ging zur Toilette. In jenem Teil aber, auf den es ankam, herrschten Aufruhr und Schmerz und das Gefühl, daß mein ganzes Ich in den wenigen, mein Dasein umwälzenden Minuten auf dem Stroh in der Scheune von Trevor Deansgate buchstäblich zertrümmert worden war.
Das Problem lag nicht zuletzt darin, daß ich meine Schwächen nur allzu gut kannte und wußte, daß mich der Verlust meines Stolzes vor allem deshalb so traf, weil dieser Stolz so groß war.
Die erzwungene Erkenntnis, daß das Bild, das ich bis jetzt von mir gehabt hatte, eine Illusion gewesen war, hatte wie ein psychisches Erdbeben gewirkt, und so war es vielleicht nicht verwunderlich, daß ich mich zerbrochen, im wahrsten Sinne des Wortes in meine Einzelteile zerlegt fühlte.
Ob ich das ertragen konnte, wußte ich auch nicht.
Ich wünschte nur, ich könnte richtig schlafen und ein wenig Ruhe finden.
Als der Mittwoch kam, dachte ich an Newmarket und all die großen Hoffnungen, die sich auf die 2000 Guineas richteten.
Ich dachte an George Caspar, der >Tri-Nitro< der entscheidenden Bewährungsprobe aussetzte, ihn in Topform antreten ließ und zutiefst davon überzeugt war, daß diesmal nichts schiefgehen konnte. Dachte an Rosemary, die jetzt ein einziges Nervenbündel war, die das Pferd unbedingt gewinnen sehen wollte und gleichzeitig wußte, daß es das nicht tun würde. Dachte an Trevor Deansgate, der, von keinem verdächtigt, im verborgenen alles daran setzte, den besten Hengst, den es im ganzen Lande gab, auf irgendeine Weise kaputtzumachen.
Ich hätte ihn daran hindern können, wenn ich es versucht hätte.
Dieser Mittwoch war für mich der schlimmste Tag von allen — der Tag, an dem ich erfahren mußte, was Verzweiflung und Elend und Schuld wirklich sind.
Am sechsten Tag, am Donnerstag, ging ich morgens in die Hotelhalle hinunter und kaufte mir eine englische Zeitung.
Das 2000 Guineas hatte planmäßig stattgefunden.
>Tri-Nitro< war als hoher Favorit an den Start gegangen — und hatte das Rennen als letzter beendet.
Ich bezahlte meine Rechnung und ließ mich zur Abflughalle fahren. Es gab Flugzeuge in alle Richtungen, mit denen ich hätte fliehen können. Und der Drang zur Flucht war sehr stark. Aber wohin man auch ging, man nahm sich selbst mit. Man konnte sich selbst nicht entkommen. Wohin ich auch ging, am Ende würde ich doch zurückkehren müssen.
Wenn ich in diesem kaputten Zustand zurückkehrte, würde ich die ganze Zeit gleichsam auf zwei Ebenen leben müssen. Ich würde mich so wie immer verhalten müssen, so, wie es alle von mir erwarteten. Würde denken müssen und Auto fahren und mit Leuten reden und weiterleben. Eine Rückkehr bedeutete all das. Und sie bedeutete, daß ich das alles würde tun und mir selbst dabei beweisen müssen, daß ich es konnte, obwohl ich innerlich nicht mehr derselbe war.
Es kam mir der Gedanke, daß der diesmal erlittene Verlust vielleicht schlimmer war als der Verlust einer Hand. Für eine Hand gab es Ersatz, Apparate, mit denen man zugreifen konnte und die durchaus passabel aussahen. Wie aber sollte man zurechtkommen, wenn der innerste Wesenskern zerbröckelt war?
Wenn ich zurückkehrte, würde ich versuchen müssen, damit fertig zu werden.
Wenn ich zu einem solchen Versuch nicht fähig war, warum dann zurückkehren?
Ich brauchte eine sehr lange, einsame Zeit, um mir ein Ticket nach Heathrow zu kaufen.
Ich landete gegen Mittag, rief kurz im» Cavendish «an, bat darum, dem Admiral auszurichten, daß ich unsere Verabredung leider nicht einhalten könne, und fuhr mit dem Taxi zu meiner Wohnung.
Der Hauseingang, die Treppe, der Treppenabsatz — alles sah so wie immer und zugleich völlig verändert aus. Ich war es, der sich verändert hatte. Ich steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn herum und betrat die Wohnung.
Ich erwartete dort niemanden, aber noch bevor ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, hörte ich im Wohnzimmer ein raschelndes Geräusch und dann Chicos Stimme:»Sind Sie das, Admiral?«
Ich antwortete nicht. Eine Sekunde später wurde sein fragend in den Flur gesteckter Kopf sichtbar, dann seine ganze Gestalt.
«Das wird auch langsam Zeit«, sagte er, im großen und ganzen wohl erleichtert, mich zu sehen.
«Ich habe dir doch ein Telegramm geschickt.«
«Sicher, sicher. Hab’s hier, steht auf dem Kaminsims. Kannst Newmarket verlassen und nach Hause fahren. Bin ein paar Tage weg. Rufe dich an. Was ist das denn für ein Telegramm? Aus Heathrow, Freitag früh abgeschickt. Warst du auf Urlaub?«
«Ja.«
Ich ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Hier sah alles ganz anders aus. Überall, auf jeder Ablagefläche, lagen Papiere und Schnellhefter, beschwert von Tassen und Untertassen mit Kaffeerändern.
«Du bist ohne das Ladegerät fort«, sagte Chico.»Das machst du sonst nie, nicht mal, wenn du nur eine Nacht weg bist. Die Ersatzbatterien sind auch alle hier. Du hast die Hand sechs Tage lang nicht bewegen können.«
«Trinken wir einen Kaffee.«
«Du hast auch keine Kleider und keinen Rasierer mitgenommen.«
«Ich habe in einem Hotel gewohnt. Die konnten mir mit einem Rasierer aushelfen. Was soll die ganze Unordnung hier?«
«Die Politurbriefe.«
«Was?«
«Na ja, du weißt doch. Die Möbelpoliturbriefe. Dieses Problem von deiner Frau.«
«Ach so…«
Ich starrte verblüfft auf das Chaos hinab.
«Hör mal«, sagte Chico,»einen Käsetoast? Ich bin am Verhungern.«
«Gute Idee. «Es war unwirklich, alles absolut unwirklich.
Chico verfügte sich in die Küche und fing an, dort herumzuwerkeln. Ich nahm die leere Batterie aus meinem Arm und ersetzte sie durch eine aufgeladene. Die Finger ließen sich wieder öffnen und schließen, ganz wie in alten Zeiten. Ich hatte sie stärker vermißt, als ich mir je hätte träumen lassen.
Chico kam mit dem Käsetoast herein. Er aß seinen, und ich betrachtete meinen. Ich sollte ihn essen, dachte ich, brachte aber nicht die Energie dazu auf. Ich hörte, wie die Wohnungstür mit einem Schlüssel geöffnet wurde, dann die Stimme meines Schwiegervaters im Flur.
«Er ist nicht im >Cavendish< aufgetaucht, hat aber wenigstens eine Nachricht hinterlassen. «Er trat ins Zimmer, genau hinter mir, und ich sah, wie Chico mit dem Kopf in meine Richtung deutete.
«Er ist wieder da«, sagte Chico.»In alter Frische.«
«Hallo, Charles«, sagte ich.
Er warf mir einen langen, nachdenklichen Blick zu. Sehr beherrscht, sehr höflich.»Wir haben uns Sorgen gemacht, weißt du. «Das war ein Vorwurf.
«Tut mir leid.«
«Wo hast du gesteckt?«fragte er. Ich befand, daß ich ihm das nicht sagen konnte. Wenn ich ihm sagte, wo ich gewesen war, dann mußte ich auch erklären, warum — und vor dem Warum schreckte ich zurück. Ich sagte einfach gar nichts.
Chico grinste ihn fröhlich an.»Sid ist böse das Dach auf den Kopf gefallen. «Er sah auf die Uhr.»Wo Sie jetzt da sind, Admiral, könnte ich mich eigentlich auch mal aufmachen und den kleinen Scheißern in der Penne beibringen, wie man seine Oma über die Schulter schmeißt. Ach ja, Sid, bevor ich es vergesse… da stehen ungefähr fünfzig Nachrichten für dich auf dem Block neben dem Telefon. Zwei neue Versicherungsfälle warten auf Erledigung. Und ein Überwachungsjob. Lucas Wainwright verlangt nach dir, er hat viermal angerufen. Und Rosemary Caspar hat in den Hörer gekreischt, daß mir fast das Trommelfell geplatzt wäre. Alles da notiert. Bis dann, ich komm später wieder her.«
Ich wollte ihn bitten, das nicht zu tun, aber da war er schon fort.
«Du hast abgenommen«, sagte Charles.
Das war nicht verwunderlich. Ich sah wieder auf meinen Käsetoast hinab und entschied, daß zur Rückkehr wohl auch Dinge wie die Nahrungsaufnahme gehörten.
«Möchtest du auch einen?«fragte ich.
Er besah sich das erkaltete Viereck.»Danke, nein.«
Ich mochte eigentlich auch nicht und schob den Teller von mir weg. Saß da und starrte ins Leere.
«Was war los?«fragte er.
«Nichts.«
«Letzte Woche bist du voller Schwung ins >Cavendish< gekommen«, sagte er.»Vor Lebenskraft nur so strotzend, mit regelrecht funkelnden Augen. Und wenn man dich jetzt ansieht…«
«Dann laß es doch«, sagte ich.»Sieh mich nicht an. Wie bist du mit den Briefen vorangekommen?«
«Sid.«
«Admiral. «Ich stand unruhig auf, um mich seinem forschenden Blick zu entziehen.»Laß mich zufrieden.«
Er schwieg eine Weile, dann sagte er:»Du hast doch in letzter Zeit an der Warenbörse spekuliert. Hast du dein Geld verloren? Ist es das?«
Ich war überrascht, fast amüsiert.
«Nein«, sagte ich.
Er fuhr fort:»Du bist schon mal so auf Tauchstation gegangen, als du deinen Job verloren hast. Und meine Tochter. Was hast du also diesmal verloren, wenn es nicht Geld ist? Was könnte so schlimm sein… oder noch schlimmer?«
Ich kannte die Antwort. Ich hatte sie in Paris erfahren, unter Qualen von Scham. In meinem Kopf bildete sich das Wort Mut, und zwar so deutlich, daß ich schon fürchtete, es würde ganz von selbst in den seinen überspringen.
Aber nichts deutete darauf hin, daß das geschehen war. Er wartete noch immer auf eine Antwort.
Ich schluckte.»Sechs Tage«, sagte ich ausdruckslos.»Ich habe sechs Tage verloren. Laß uns jetzt die Suche nach Nicholas Ashe fortsetzen.«
Er schüttelte mißbilligend und frustriert den Kopf, fing dann aber doch an, mir zu erklären, was er inzwischen unternommen hatte.
«Dieser dicke Stapel da, das sind die Briefe der Leute, deren Name mit M anfängt. Ich habe sie alphabetisch geordnet und eine Liste getippt. Ich dachte mir, daß uns vielleicht schon ein einziger Buchstabe reicht, um zu Ergebnissen zu kommen… hörst du mir eigentlich zu?«
«Ja.«
«Ich bin mit der Liste, deinem Vorschlag entsprechend, zu Christie’s und Sotheby’s gegangen und habe sie überredet, uns zu helfen. Aber die Rubrik M von ihrer Adressenliste deckt sich nicht mit der von unserer. Ich habe dabei auch festgestellt, daß wir so unter Umständen gar nicht weit kommen, weil heutzutage so viele Briefe per Computer adressiert werden.«
«Du hast ja wirklich schwer gearbeitet«, sagte ich.
«Chico und ich haben hier schichtweise Dienst gemacht, Anrufe beantwortet und versucht herauszufinden, wo du abgeblieben bist. Dein Wagen stand ja noch in der Garage, und Chico meinte, du würdest niemals freiwillig irgendwohin gehen, ohne das Ladegerät für deine Armbatterien mitzunehmen.«
«Tja… diesmal doch.«
«Sid.«
«Nein«, sagte ich.»Was wir jetzt brauchen, ist eine Liste von Zeitschriften und Fachblättern, die sich mit antiken Möbeln befassen. Und da versuchen wir es dann noch mal mit den Ms.«
«Das ist aber ein schrecklicher Aufwand«, sagte Charles zweifelnd.»Und selbst wenn wir sie finden, was dann? Der Mann bei Christie’s hatte völlig recht: Selbst wenn wir herausbekommen, wessen Adressenliste er benutzt hat, was bringt uns das? Die Firma oder der Verlag wäre doch gar nicht in der Lage, uns zu sagen, wer von den vielen Leuten, die Zugang zu der Liste hatten, Nicholas Ashe war, zumal er höchstwahrscheinlich gar nicht diesen Namen benutzt hat, wenn er mit ihnen zu tun hatte.«
«Hm«, sagte ich.»Aber es wäre ja auch möglich, daß er inzwischen woanders wieder aktiv geworden ist und sich noch immer der gleichen Liste bedient. Er hat sie ja mitgenommen, als er verschwunden ist. Wenn wir herausfinden können, von wem die Liste stammt, können wir ein paar Leute, die darauf stehen und deren Namen mit den Buchstaben A bis K oder P bis Z anfangen, anrufen und uns bei ihnen erkundigen, ob sie kürzlich auch solche Spendenaufrufe bekommen haben. Wenn ja, dann steht auf denen die Anschrift, an die das Geld geschickt werden soll. Und dort finden wir dann vielleicht unseren Mr. Ashe.«
Charles spitzte den Mund zu einem Pfiff, aber was herauskam, klang eher wie ein Seufzer.
«Wenigstens bist du mit intaktem Verstand nach Hause zurückgekommen«, sagte er.
O Gott, dachte ich, ich zwinge mich zum Denken, um den Abgrund draußen zu halten. Ich bin zersplittert… ich werde nie wieder in Ordnung kommen. Der analytische, rationale Teil meines Hirns mochte unberührt weiterarbeiten, aber das, was man als Seele bezeichnen mußte, war krank, sterbenskrank.
«Und dann ist da das Wachs«, sagte ich. Ich hatte den Zettel noch in der Tasche, den er mir vor einer Woche gegeben hatte.
«Es kann nicht sehr viele Privatkunden geben, die so große Mengen Möbelpolitur in Dosen ohne Aufdruck und kleinen, weißen Schachteln bestellen. Wir könnten die Herstellerfirma bitten, uns zu verständigen, wenn wieder eine derartige Bestellung eingeht. Es besteht immer die Möglichkeit, daß sich Ashe wieder an die gleiche Firma wendet, wenn auch nicht sofort. Er sollte sich der Gefahr eigentlich bewußt sein… aber vielleicht ist er ja dumm.«
Ich wandte mich müde ab. Mir war nach einem Whisky zumute. Ich ging und schenkte mir einen großen ein.
«Du säufst ganz schön, was?«sagte Charles hinter mir in seinem ausfälligsten Ton.
Ich biß die Zähne zusammen und sagte:»Nein. «Abgesehen von Kaffee und Wasser hatte ich seit einer Woche nichts getrunken.
«Dein erster alkoholbedingter Blackout, die vergangenen Tage, wie?«
Ich ließ das Glas unangetastet auf dem Tablett stehen und drehte mich um. Sein Blick war eiskalt, so unfreundlich wie damals, als wir uns kennenlernten.
«Sei nicht so verdammt albern«, sagte ich.
Er hob das Kinn ein ganz klein wenig an.»Ein Funke!«sagte er sarkastisch.»Er hat noch seinen Stolz, wie ich sehe.«
Ich preßte die Lippen zusammen, drehte ihm wieder den Rücken zu und nahm einen sehr großen Schluck von meinem Scotch. Nach einer Weile gelang es mir, mich wieder ein bißchen zu entspannen, und ich sagte:»Auf diese Weise wirst du nichts herausbekommen. Ich kenne dich zu gut. Du benutzt die Kränkungen als Hebel, provozierst die Leute dazu, ihre Deckung zu verlassen. Das hast du bei mir auch schon gemacht. Aber diesmal klappt’s nicht.«
«Wenn ich den richtigen Hebel finde«, sagte er,»benutze ich ihn auch.«
«Möchtest du auch was trinken?«
«Wenn du mich schon fragst, ja.«
Wir saßen uns in unveränderter Kameradschaftlichkeit in unseren Sesseln gegenüber, und ich dachte vage an dies und das und schreckte vor den quälendsten Überlegungen zurück.
«Weißt du«, sagte ich endlich,»wir müssen eigentlich gar nicht mit dieser Adressenliste rumziehen, um herauszufinden, von wem sie stammt. Wir fragen einfach die Leute selbst. Die da.«
Ich zeigte auf den M-Stapel.»Wir fragen einfach ein paar von ihnen, auf welchen Versandlisten sie stehen. Wir brauchten gar nicht viele zu fragen… der gemeinsame Nenner zeigt sich dann schon.«
Als Charles gegangen war, um nach Hause, nach Ayns-ford, zu fahren, wanderte ich ziellos in der Wohnung herum, ohne Schlips und in Hemdsärmeln, und bemühte mich, vernünftig zu sein. Ich sagte mir, daß eigentlich nicht viel passiert war — Trevor Deansgate hatte lediglich eine Menge fürchterlicher Drohungen eingesetzt, um mich dazu zu bringen, etwas zu beenden, womit ich noch gar nicht angefangen hatte. Aber ich konnte die Schuld nicht von mir abwälzen. Sobald er die Maske hatte fallen lassen, sobald ich wußte, daß er irgend etwas im Schilde führte, hätte ich ihn daran hindern können — und hatte es nicht getan.
Wenn er mich nicht so wirkungsvoll aus Newmarket vertrieben hätte, hätte ich wahrscheinlich weiterhin recht unproduktiv im Nebel herumgestochert, nicht einmal sicher, ob es da überhaupt etwas zu entdecken gab. Jedenfalls bis zu dem Augenblick, in dem >Tri-Nitro< bei den Guineas als letzter ins Ziel gewankt war. Aber dann wäre ich jetzt wenigstens dort, dachte ich, meiner Sache endlich sicher und um Aufklärung bemüht. Dank seiner Drohung war ich es nicht.
Ich konnte mein Nicht-dort-Sein als Klugheit ansehen, als ein Gebot des gesunden Menschenverstandes, als unter den gegebenen Umständen einzig gangbaren Weg. Ich konnte Begründungen anführen und Entschuldigungen. Ich konnte sagen, daß ich nichts getan hätte, was nicht schon vom Jockey Club getan worden war. Aber immer wieder landete ich bei der unübersehbaren Tatsache, daß ich jetzt nicht dort war, weil ich Angst hatte.
Chico kehrte von seinem Judounterricht zurück und machte sich erneut daran, in Erfahrung zu bringen, wo ich gewesen war. Und wieder verriet ich ihm nichts, obwohl ich wußte, daß er mich nicht halb so sehr verachten würde, wie ich mich selbst verachtete.
«Na schön«, sagte er schließlich,»dann behältst du’s eben für dich. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Wo immer du gewesen bist, es war übel. Du brauchst dich doch bloß anzuschauen. Es wird dir nicht bekommen, wenn du das alles so in dich reinfrißt.«
Die Dinge in mich hineinfressen war jedoch eine lebenslange Gewohnheit, eine schon in der Kindheit erlernte Methode der Selbstbehauptung, ein Schutz gegen die Welt — und nicht mehr zu ändern.
Ich brachte immerhin ein halbes Lächeln zustande.»Eröffnest du demnächst eine Praxis in der Harley Street?«fragte ich.
«Schon besser«, sagte er.»Weißt du eigentlich, daß du den ganzen Spaß verpaßt hast? >Tri-Nitro< hat gestern beim Guineas doch irgendwas verabreicht bekommen, und sie stellen jetzt Caspars ganzen Stall auf den Kopf. Steht alles irgendwo hier im Sporting Life. Der Admiral hat’s mitgebracht. Hast du’s gelesen?«
Ich schüttelte den Kopf.
«Unsere gute Rosemary hatte also doch kein Rad ab, oder? Was meinst du, wie die das geschafft haben?«
«Die?«sagte ich.
«Wer immer es gewesen ist.«
«Ich weiß es nicht.«
«Ich hab mir das Abschlußtraining am Samstagmorgen angesehen«, berichtete er.»Ja, ja, ich weiß, du hast mir das Telegramm geschickt, daß ich abreisen sollte, aber ich hatte da am Freitagabend eine wirklich tolle Braut aufgerissen, und deshalb blieb ich noch. Eine Nacht mehr machte auch keinen Unterschied. und außerdem war es die Tippse von George Caspar.«
«Sie war…«
«Sie erledigt den Schreibkram. Reitet auch manchmal. Sie weiß über alles Bescheid und ist noch dazu gesprächig.«
Der neue, verängstigte Sid Halley wollte das alles gar nicht hören.
«Den ganzen Mittwoch gab’s bei George Caspar ein Riesentheater«, fuhr Chico fort.»Beim Frühstück ging’s schon los, als nämlich dieser Inky Poole auftauchte und sagte, Sid Halley habe ihm da Fragen gestellt, die er, Inky Poole, gar nicht gut gefunden habe.«
Er machte eine Pause, um seine Worte auf mich wirken zu lassen, aber ich starrte nur stumm vor mich hin.
«Hörst du mir auch zu?«erkundigte er sich.
«Ja.«
«Du ziehst gerade wieder die Pokerface-Show ab.«
«Tut mir leid.«
«Also, dann erschien Brothersmith, der Tierarzt, kriegte mit, wie Inky Poole Dampf abließ, und meinte, komisch, Sid Halley sei auch bei ihm gewesen und habe Fragen gestellt. Sich für Herzfehler interessiert, sagte er. Dieselben Pferde, von denen Inky Poole redete. >Bethesda<, >Glea-ner< und >Zingaloo<. Und dann hätte er auch noch wissen wollen, wie denn >Tri-Nitros< Herz so sei. Meine kleine Tippse meinte, George Caspar sei dermaßen explodiert, daß man’s bis Cambridge hören konnte. Er sei sehr empfindlich, was diese Pferde angeht.«
Trevor Deansgate, überlegte ich kalt, hatte an diesem Mittwochmorgen bei den Caspars gefrühstückt und jedes Wort mitbekommen.
Chico fuhr fort:»Natürlich haben sie dann auch bei den Gestüten nachgefragt, bei Garvey und Thrace, und erfahren, daß du da auch gewesen bist. Meine Mieze meint, du bist ziemlich unten durch.«
Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht.»Weiß deine Mieze, daß du mit mir zusammengearbeitet hast?«»Na, hör mal! Natürlich nicht.«
«Hat sie sonst noch was erzählt?«Warum, zum Teufel, stelle ich eigentlich diese Fragen, dachte ich.
«Ja, doch. Sie sagte, Rosemary habe George Caspar gebeten, den gewohnten Ablauf des Abschlußtrainings am Samstag zu ändern, habe ihm den ganzen Donnerstag und den ganzen Freitag damit in den Ohren gelegen, und George sei die Wände hochgegangen. Und im Stall hätten sie derart intensive Sicherheitsmaßnahmen gehabt, daß sie schon über ihre eigenen Alarmanlagen gestolpert seien. «Er holte Luft.»Danach sagte sie dann nicht mehr viel, von wegen der drei Martinis und der freudigen Erregung.«
Ich saß auf der Sofalehne und blickte auf den Teppich hinab.
«Am nächsten Tag«, sagte Chico,»hab ich mir dann wie gesagt das Abschlußtraining angesehen. Deine Fotos kamen mir da gut zupaß. Hunderte von Gäulen… jemand sagte mir, welche die von George Caspar waren, und da war dann auch Inky Poole mit finsterem Gesicht, ganz wie auf den Bildern. Da hab ich mich auf ihn konzentriert und einfach so rumgehangen. Es gab ’ne Menge Wirbel, als >Tri-Nitro< dran war. Sie nahmen ihm den Sattel ab, legten einen kleinen drauf, und auf dem ritt dann Inky Poole.«
«Es war also Inky Poole, der >Tri-Nitro< geritten hat, wie sonst auch?«
«Sie sahen genauso aus wie auf deinen Fotos«, sagte Chico.
«Ich kann’s aber nicht beschwören.«
Ich starrte weiter auf den Teppich.
«Und was machen wir jetzt?«fragte er.
«Nichts… Wir geben Rosemary ihr Geld zurück und ziehen einen Schlußstrich unter die Geschichte.«
«Aber hör mal!«protestierte er.»Jemand ist an das Pferd rangekommen, das weißt du genau.«
«Nicht mehr unser Bier.«
Wenn er doch bloß aufgehört hätte, mich anzusehen. Ich verspürte das ganz entschiedene Bedürfnis, mich in einem Loch zu verkriechen.
Von der Türglocke kam das langanhaltende Läuten eines beharrlichen Daumendrucks.»Wir sind nicht da«, sagte ich, aber Chico ging hinaus, um zu öffnen.
Rosemary Caspar rauschte an ihm vorbei, durch den Flur und ins Wohnzimmer — in dem schon vertrauten rehbraunen Regenmantel und wutschnaubend. Kein Kopftuch, keine Perücke und keine Liebenswürdigkeiten.
«Da sind Sie ja«, sagte sie barsch.»Ich wußte doch, daß Sie sich hierher verdrückt haben. Wenn ich angerufen habe, hat mir Ihr Freund da dauernd weiszumachen versucht, Sie wären nicht da, aber ich wußte, daß er lügt.«
«Ich war wirklich nicht da«, sagte ich. Ebensogut hätte ich versuchen können, den Sankt-Lorenz-Strom mit einem kleinen Zweiglein zu stauen.
«Sie waren nicht da, wo Sie hätten sein müssen und wofür ich Sie bezahlt habe, nämlich in Newmarket. Und ich habe Ihnen von Anfang an immer wieder gesagt, George darf nicht mitbekommen, daß Sie Erkundigungen einziehen, aber er hat’s doch erfahren, und seither haben wir ständig einen Riesenkrach miteinander. Und nun hat uns >Tri-Nitro< auch noch bis auf die Knochen blamiert, und das ist alles Ihre Schuld, verdammt noch mal.«
Chico hob belustigt die Augenbrauen.»Sid hat ihn nicht geritten… und auch nicht trainiert.«
Sie starrte ihn jetzt mit dem Haß an, der zuvor mir gegolten hatte.»Und er hat ihn auch nicht geschützt.«»Äh, nein«, sagte Chico.»Zugegeben.«
«Und Sie«, sagte sie und wandte sich schnell wieder mir zu,»Sie sind ein unfähiger, mieser Hochstapler. Das ist doch alles eine einzige Farce, Ihre Detektivspielerei. Warum werden Sie nicht endlich erwachsen und hören auf, solche Spielchen zu spielen? Sie haben nichts als Unheil angerichtet. Ich verlange mein Geld zurück.«
«Tut’s ein Scheck?«fragte ich.
«Sie haben nichts dagegen einzuwenden?«
«Nein«, sagte ich.
«Sie geben also zu, daß Sie versagt haben?«
Nach kurzem Schweigen sagte ich:»Ja.«
«Ach. «Das hörte sich an, als hätte ich ihr bis zu einem gewissen Grad den Wind aus den Segeln genommen, aber während ich den Scheck ausstellte, ging die Tirade in unverminderter Form weiter.
«Ihr Vorschlag, die Routine zu ändern, der war doch völlig sinnlos. Ich habe George ständig wegen der Sicherheitsmaßnahmen gedrängt, aber er meint, er hätte nicht mehr tun können, niemand hätte das, und er ist völlig verzweifelt. Und dabei hatte ich gehofft, absurderweise wirklich gehofft, Sie könnten irgendwie ein Wunder tun und >Tri-Nitro< würde doch gewinnen, obwohl ich ganz sicher war, ganz sicher… und ich hatte recht damit.«
Der Scheck war ausgestellt.»Warum waren Sie immer ganz sicher?«fragte ich.
«Ich weiß nicht. Ich wußte es einfach. Ich hatte schon seit Wochen Angst davor… sonst wäre ich ja auch nicht so verzweifelt gewesen und hätte mich an Sie gewandt, ausgerechnet an Sie. Ich hätte es genausogut bleiben lassen können… es hat so viel Unheil gebracht, und ich kann es einfach nicht ertragen. Gestern, das war einfach schrecklich. Er hätte gewinnen müssen… und ich wußte, daß er nicht gewinnen würde. Mir war so elend. Mir ist immer noch elend.«
Sie zitterte wieder. Ihr Gesicht verriet heftigen Schmerz. Soviel Hoffnung, soviel Arbeit hatten sie in >Tri-Nitro< investiert, soviel Mühe und soviel Sorgfalt. Ein Rennen zu gewinnen ist für einen Trainer das, was für einen Filmemacher sein Film ist. Wenn man es hinkriegt, gibt es Applaus — geht es daneben, wird man ausgepfiffen. Aber wie auch immer, man hat sein Herzblut dafür gegeben, alle Gedanken, alle Fähigkeiten, hat Wochen voller Quälerei dafür geopfert. Ich konnte gut verstehen, was das verlorene Rennen für George bedeutete — und genauso für Rosemary, die sich so sehr engagiert hatte.
«Rosemary…«:, sagte ich mit sinnlosem Mitgefühl.
«Es ist doch schlichtweg Quatsch, wenn Brothersmith meint, er müsse irgendeine Infektion gehabt haben«, sagte sie.»Er gibt immer solche Sachen von sich. Er ist so was von blöd, ich kann ihn einfach nicht ausstehen. Schaut dauernd über seine Schulter. Ich hab ihn noch nie leiden können. Außerdem war es seine Aufgabe, >Tri-Nitro< zu untersuchen, und das hat er ja auch, zigmal, und da fehlte dem Pferd nichts, absolut gar nichts. Als >Tri-Nitro< an den Start ging, sah er hervorragend aus, auch vorher schon, im Führring, da fehlte ihm nicht das geringste. Und dann im Rennen, da ist er fast rückwärts gelaufen… und als er ins Ziel kam… als er zu den Boxen zurückkam… war er völlig verausgabt. «Einen Augenblick lang schimmerten Tränen in ihren Augen, aber sie wehrte sich mit aller Macht dagegen, sich von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen.
«Ich nehme an, daß eine Dopingkontrolle durchgeführt wurde«, sagte Chico.
Das brachte sie erneut in Rage.»Dopingkontrollen! Natürlich haben sie die durchgeführt, was denken Sie denn! Blut, Urin, Speichel, Dutzende dieser blödsinnigen Tests. Sie haben George auch Proben zur Verfügung gestellt, deshalb sind wir ja hier. Er will sie von einem privaten Labor analysieren lassen… aber die werden nichts feststellen, genau wie vorher… nichts, absolut gar nichts.«
Ich riß den Scheck heraus und reichte ihn ihr. Sie starrte blind darauf hinab.
«Wäre ich bloß nie hergekommen! Mein Gott, hätte ich’s bloß gelassen! Sie sind eben nur ein Jockey, das hätte ich wissen müssen. Ich will nichts mehr mit Ihnen zu tun haben. Ich verbitte mir, bei den Rennen von Ihnen angesprochen zu werden, ist das klar?«
Ich nickte. Es war klar. Sie wandte sich abrupt zum Gehen.
«Und sprechen Sie um Himmels willen auch George nicht an.«
Sie ging allein aus dem Zimmer und der Wohnung, deren Tür sie hinter sich zuschlug.
Chico schnalzte mit der Zunge und zuckte die Achseln.»Man kann eben nicht alle für sich einnehmen«, sagte er.»Du hättest auch nicht mehr tun können als ihr Mann, von einer Privatpolizei und einem halben Dutzend Wachhunde ganz zu schweigen. «Er rechtfertigte mich, und das wußten wir beide.
Ich antwortete nicht.
«Sid?«
«Ich glaube, ich mache nicht weiter«, sagte ich.»Mit dieser Art von Job, meine ich.«
«Du wirst doch wohl nicht beachten, was die da eben gesagt hat!«protestierte er.»Du darfst diesen Job nicht aufgeben. Dazu bist du zu gut. Wenn ich dran denke, was für fürchterliche Geschichten du schon in Ordnung gebracht hast. Bloß weil mal eine daneben gegangen ist…«
Ich starrte leer auf eine Menge unsichtbarer Dinge.
«Du bist doch schon ein großer Junge«, sagte er. Und dabei war er sieben Jahre jünger als ich, jedenfalls fast.»Möchtest du dich an Papis Schulter ausweinen?«Er machte eine Pause.»Hör mal, Sid, du mußt dich wirklich wieder fangen. Was auch passiert ist, es kann nicht so schlimm gewesen sein wie damals, als das Pferd dir die Hand zerquetscht hat. Es ist jetzt nicht die Zeit, um alles hinzuschmeißen, schließlich warten da noch fünf Aufträge auf Erledigung. Die Versicherung und der Überwachungsjob und die Syndikate von Lucas Wainwright.«
«Nein«, sagte ich. Ich fühlte mich bleischwer und zu nichts nütze.»Nicht jetzt, ehrlich, Chico.«
Ich stand auf und ging ins Schlafzimmer, schloß die Tür hinter mir. Ging ziellos zum Fenster und sah auf die Dächer und Schornsteine hinaus, die in dem gerade einsetzenden Regen feucht zu glänzen anfingen. Die Schornsteine waren alle noch da, obwohl die dazugehörigen Kamine längst zugemauert worden waren, die Feuer darin erloschen. Ich fühlte mich eins mit diesen Schornsteinen. Wenn ein Feuer ausging, dann fror man.
Hinter mir öffnete sich die Tür.
«Sid«, sagte Chico.
Ich sagte resigniert:»Erinnere mich daran, daß ich ein Schloß an der Tür anbringe.«
«Es ist Besuch für dich da.«
«Sag ihm, er soll gehen.«
«Es ist ein Mädchen. Louise Soundso.«
Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und den
Kopf bis in den Nacken. Entspannte mich. Wandte mich vom Fenster ab.
«Louise McInnes?«
«Ja, genau.«
«Sie teilt sich die Wohnung mit Jenny«, sagte ich.
«Ach, die. Na gut, Sid, wenn du heute nichts mehr für mich hast, werde ich mal losziehen. Und… äh… du bist doch morgen hier, oder?«
«Ja.«
Er nickte. Alles Weitere blieb ungesagt. Belustigung, Spott, Freundschaft und unterdrückte Sorge — all das war in seinem Gesicht und in seiner Stimme… Vielleicht erkannte er es auch bei mir. Wie dem auch sei, er grinste mich breit an, als er hinausging, und ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und dachte bei mir, daß es bestimmte Schulden gab, die man einfach nicht zurückzahlen konnte.
Louise stand in der Mitte des Zimmers und sah sich so um, wie ich das in Jennys Wohnung getan hatte. Durch ihre Augen sah ich mein Wohnzimmer ganz neu: seinen unregelmäßigen Grundriß, seine hohe Decke, sein unmodernes Aussehen. Und das Ledersofa, am Fenster das Tischchen mit den Getränken, die Bücherregale, die gerahmten Drucke an den Wänden und das große Gemälde, auf dem ein Pferderennen dargestellt war und das hinter der Tür an der Wand lehnte, weil ich mich noch nicht dazu hatte aufraffen können, es endlich mal aufzuhängen. Überall standen Kaffeetassen und Gläser und volle Aschenbecher herum, und natürlich waren da auch die Briefstapel — auf dem Couchtisch und überall sonst.
Louise sah ebenfalls anders aus — die komplette Inszenierung, nicht das Wesen, das am Sonntagmorgen aus dem Bett hochgescheucht worden war. Eine braune Samtjacke, ein strahlend weißer Pullover, ein dezent gemusterter, brauner Wollrock und ein breiter Ledergürtel um die Taille, die von Gewichtsproblemen nichts wußte. Blondes Haar, gewaschen und schimmernd, ein leichtes Make-up auf der an englische Rosen erinnernden Haut. Eine Distanziertheit im Blick, die zu verstehen gab, daß all dieser Honig nicht vornehmlich dazu da war, die Bienen anzulocken.
«Mr. Halley.«
«Warum versuchen Sie’s nicht mit Sid?«sagte ich.»Sie kennen mich doch schon recht gut, und sei es auch nur indirekt.«
Ihr Lächeln reichte nicht ganz bis zu mir.»Also Sid.«
«Louise.«
«Jenny meint, Sid ist ein Name für Klempnergesellen.«
«Keine schlechten Leute, Klempnergesellen.«
«Wußten Sie«, sagte sie und setzte dabei ihre visuelle Inspektionstour fort,»daß im Arabischen Sid soviel wie Herr, Gebieter bedeutet?«
«Nein, das wußte ich nicht.«
«Tja, es ist aber so.«
«Das könnten Sie eigentlich mal Jenny sagen«, meinte ich.
Ihr Blick kehrte sehr schnell zu meinem Gesicht zurück.»Sie läßt Sie nicht los, was?«
Ich lächelte.»Mögen Sie einen Kaffee? Oder einen Drink?«
«Tee.«
«Aber gern.«
Sie begleitete mich in die Küche und sah zu, wie ich Tee machte. Sie enthielt sich dabei aller komischen Bemerkungen über Bionik und künstliche Hände, was sie wohltuend von sehr vielen neuen Bekannten unterschied, die zumeist fasziniert waren und dies in aller Ausführlichkeit aussprachen. Statt dessen sah sie sich mit unaufdringlicher Neugier um und richtete ihr Augenmerk schließlich auf den Kalender, der am Türgriff eines der Fichtenholzschränkchen hing. Fotografien von Pferden, das weihnachtliche Werbegeschenk einer Buchmacher-Firma. Louise blätterte die Seiten um, besah sich die Bilder der kommenden Monate und hielt beim Dezember inne. Das Bild zeigte die Silhouette eines Pferdes mit Jockey beim Sprung über den» Chair «in Aintree, in gekonnter Manier gegen den Himmel fotografiert.
«Das ist toll«, sagte sie — und dann nach Lektüre der Bildlegende überrascht:»Das sind ja Sie.«
«Ein sehr guter Fotograf.«
«Haben Sie das Rennen gewonnen?«
«Ja«, sagte ich müde.»Nehmen Sie Zucker?«
«Danke, nein. «Sie ließ die Kalenderblätter wieder herabfallen.
«Muß seltsam sein, sich in einem Kalender wiederzufinden.«
Für mich war das nicht so seltsam. Seltsam war eher, dachte ich, wenn man sein Bild schon so oft gedruckt gesehen hatte, daß man es kaum noch bemerkte. Ich trug das Tablett ins Wohnzimmer und stellte es auf dem Briefstapel ab, der auf dem Couchtisch lag.
«Setzen Sie sich doch«, sagte ich, und wir ließen uns beide nieder.
«Das hier sind alles Briefe«, sagte ich mit einer Kopfbewegung zu dem Stapel hin,»die zusammen mit den Schecks für das Wachs gekommen sind.«
Sie sah mich zweifelnd an.»Sind die denn von irgendwelchem Nutzen?«
«Das hoffe ich«, sagte ich und erklärte ihr die Sache mit der Adressenliste.
«Ach du lieber Himmel. «Sie zögerte.»Na ja… vielleicht können Sie ja das, was ich mitgebracht habe, gar nicht gebrauchen. «Sie nahm ihre braune Lederhandtasche auf und öffnete sie.»Ich bin nicht extra deswegen hergekommen«, fuhr sie dann fort.»Eine Tante von mir wohnt hier ganz in der Nähe, und ich besuche sie öfter mal. Wie dem auch sei, ich dachte, Sie hätten das hier vielleicht gern, und ich könnte es Ihnen vorbeibringen, wo ich nun schon mal in der Gegend bin.«
Sie zog ein Taschenbuch hervor. Sie hätte es auch mit der Post schicken können, dachte ich — aber ich war ganz froh, daß sie es nicht getan hatte.
«Ich habe den Versuch unternommen, ein wenig Ordnung in das Chaos meines Zimmers zu bringen«, erklärte sie.»Ich habe eine Menge Bücher, und die haben die Neigung, sich zu stapeln.«
Ich verschwieg ihr, daß ich das gesehen hatte.»Das haben Bücher so an sich«, sagte ich.
«Und dabei habe ich das hier gefunden. Es gehört Nik-ky.«
Sie reichte mir das Taschenbuch. Ich blickte auf den Umschlag und legte es dann aus der Hand, um den Tee einzuschenken. Navigation für Anfänger. Ich reichte ihr ihre Tasse.»Interessierte er sich für Navigation?«
«Ich habe keine Ahnung. Aber ich tu’s. Ich habe es mir aus seinem Zimmer geholt. Ausgeborgt. Ich glaube, er hat es nicht mal gemerkt. Er hatte da so eine Schachtel mit persönlichen Sachen drin, wie sie Jungs ins Internat mitnehmen. Und eines Tages, als ich in sein Zimmer kam, lagen die Sachen alle auf der Kommode, als wäre er gerade beim Aufräumen. Na ja, er war nicht da, und da hab ich mir das Buch eben geborgt… Er hätte nichts dagegen gehabt, denn er war in solchen Dingen ziemlich locker… Ich hab es dann wohl in mein Zimmer getan und irgendwas oben draufgelegt und es dann schlicht vergessen.«
«Haben Sie’s gelesen?«
«Nein, bin nicht dazu gekommen. Ich hab’s schon vor Wochen verlegt.«
Ich nahm das Buch wieder zur Hand und öffnete es. Auf das Vorsatzblatt hatte jemand mit schwarzem Filzstift und in fester, gut leserlicher Schrift den Namen» John Viking «geschrieben.
«Ich weiß nicht«, sagte Louise, meine Frage vorwegnehmend,»ob das Nickys Schrift ist oder nicht.«
«Weiß Jenny das?«
«Sie hat’s nicht gesehen. Sie ist mit Toby in Yorkshire.«
Jenny und Toby. Jenny und Ashe. Du lieber Himmel, dachte ich, was erwartest du denn? Sie ist fort, sie ist fort, sie gehört dir nicht mehr, wir sind geschieden. Und ich war ja auch nicht allein geblieben, nicht so ganz.
«Sie sehen sehr müde aus«, sagte Louise zweifelnd.
Ich war verwirrt.»Ganz und gar nicht. «Ich blätterte das Buch einmal flüchtig durch. Es war, was es zu sein versprach, nämlich ein Buch über Navigation zu Wasser und in der Luft, mit Zeichnungen und Diagrammen illustriert. Koppeln, Sextant, Magnetismus, Versetzung. Nichts Auffälliges — außer einer einzigen Formel, die mit dem gleichen Filzstift wie der Name innen auf dem hinteren Einbanddeckel notiert worden war.
Auftrieb = 22,024 x V x D x (1/T1 — VT2).
Ich gab Louise das Buch.
«Sagt Ihnen das irgend etwas? Charles meinte, Sie hätten ein abgeschlossenes Mathematikstudium.«
Sie besah sich mit leicht gerunzelter Stirn die Formel.»Nicky brauchte schon einen Taschenrechner, um zwei und zwei zusammenzuzählen.«
Zwei plus zehntausend hatte er mühelos hingekriegt, dachte ich.
«Hm«, sagte sie.»Auftrieb ist gleich 22,024 mal Volumen mal Druck mal… ich glaube, das hat etwas mit Temperaturveränderung zu tun. Eigentlich nicht mein Fach. Hier geht’s um Physik.«
«Hat das denn irgendwas mit Navigation zu tun?«fragte ich.
Sie dachte konzentriert nach. Ich beobachtete ihr angespanntes Gesicht. Ein fixer Verstand unter dem schönen Haar, dachte ich.
«Komisch«, sagte sie nach einer Weile,»aber ich meine, es könnte etwas damit zu tun haben, wieviel Gewicht man mit einer Gaszelle heben kann.«
«Mit so etwas wie einem Ballon?«sagte ich nachdenklich.
«Es kommt ganz darauf an, was 22,024 ist«, sagte sie.»Das ist eine Konstante. Und das wiederum bedeutet«, fügte sie hinzu,»daß sie nur für das Gültigkeit hat, was durch diese Gleichung ausgedrückt wird.«
«Ich tue mich leichter, wenn man von mir wissen will, wer das Rennen um drei Uhr dreißig gewinnt.«
Sie sah auf die Uhr.»Damit kommen Sie drei Stunden zu spät.«
«Morgen gibt’s wieder eins.«
Sie lehnte sich entspannt in ihrem Sessel zurück, nachdem sie mir das Buch zurückgegeben hatte.»Ich glaube nicht, daß das was nützt«, sagte sie.»Aber Sie schienen an allem interessiert zu sein, was von Nickys Sachen noch aufzutreiben ist.«»Es könnte sehr wohl was nützen. Man kann nie wissen.«
«Aber wie?«
«Das Buch gehört John Viking. Und John Viking könnte Nicky Ashe kennen.«
«Aber… Sie kennen doch John Viking nicht.«
«Nein«, sagte ich,»aber er interessiert sich für Gaszellen. Und ich kenne jemanden, der sich ebenfalls dafür interessiert. Ich wette, daß die Welt der Gaszellen genauso klein ist wie die des Rennsports.«
Sie blickte auf die Briefstapel, dann auf das Taschenbuch und sagte langsam:»Ich glaube, Sie werden ihn finden. Auf die eine oder andere Art.«
Ich sah von ihr weg, ins Leere.
«Jenny sagt, daß Sie niemals aufgeben.«
Ich lächelte matt.»Sind das genau ihre Worte?«
«Nein. «Ich spürte, daß sie amüsiert war.»Bockig, egoistisch und entschlossen, seinen Willen durchzusetzen.«
«Nicht sehr weit daneben. «Ich tippte auf das Buch.»Darf ich das behalten?«
«Natürlich.«
«Danke.«
Wir sahen uns an, wie das Menschen zu tun pflegen, vor allem, wenn sie noch jünger sind, männlich und weiblich, und am Ende eines Apriltages allein in einer stillen Wohnung beieinander sitzen.
Sie erriet meinen unausgesprochenen Gedanken und sagte trocken:»Ein andermal.«
«Wie lange werden Sie noch bei Jenny wohnen?«
«Ist das für Sie von Bedeutung?«
«Hm.«»Sie sagt, Sie seien so hart wie Feuerstein. Stahl sei im Vergleich mit Ihnen Kinderkram.«
Ich dachte an Angst und Elend und Selbstekel. Ich schüttelte den Kopf.
«Was ich sehe«, sagte sie langsam,»ist ein Mann, der elend aussieht und einem unerwünschten Gast gegenüber höflich ist.«
«Sie sind erwünscht«, sagte ich.»Und mir fehlt nichts.«
Sie stand trotzdem auf, und ich folgte ihrem Beispiel.
«Ich hoffe«, sagte ich,»daß Sie Ihre Tante sehr gern haben.«
«Ich vergöttere sie.«
Sie schenkte mir ein kühles, halb ironisches Lächeln, in dem auch Überraschung lag.
«Auf Wiedersehen… Sid.«
«Auf Wiedersehen, Louise.«
Als sie gegangen war, knipste ich ein paar Tischlampen an, um der langsam anbrechenden Dämmerung entgegenzuwirken, goß mir einen Whisky ein, besah mir ein Bündel bleicher Würstchen im Kühlschrank und briet sie mir nicht.
Jetzt würde wohl niemand mehr kommen, dachte ich. Meine Besucher hatten alle auf ihre Weise die Schatten ferngehalten, ganz besonders Louise. Jetzt würde kein Wesen aus Fleisch und Blut mehr erscheinen, aber er würde da sein, wie er auch in Paris dagewesen war… Trevor Deansgate. Unausweichlich. Mich unerbittlich an das erinnernd, was ich so gerne vergessen hätte.
Nach einer Weile zog ich Hose und Hemd aus und schlüpfte in einen kurzen, blauen Bademantel. Dann nahm ich den Arm ab. Es war eines der Male, wo das wirklich weh tat. Nach allem, was vorgefallen war, schien es jedoch kaum von Belang zu sein.
Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, um mich noch ein wenig der Unordnung dort anzunehmen, aber es gab einfach zuviel aufzuräumen — und so stand ich nur da, besah mir alles, stützte wie so oft meinen schwachen linken Armstumpf mit der starken, heilen, beweglichen rechten Hand und fragte mich, was einen wohl mehr zum Krüppel machte, eine innerliche oder eine äußerliche Amputation.
Erniedrigung und Zurückweisung, Hilflosigkeit und Versagen.
Nach all diesen Jahren würde ich mich nicht, dachte ich elend, würde ich mich, verdammt noch mal, nicht von der Angst unterkriegen lassen.
Kapitel 9
Lucas Wainwright rief mich am nächsten Morgen an, als ich gerade dabei war, Tassen in die Geschirrspülmaschine zu räumen.
«Irgendwas Neues?«erkundigte er sich, ganz Commander.
«Es tut mir wirklich leid«, sagte ich bedauernd,»aber ich habe alle diese Notizen verloren. Ich muß noch mal von vorne anfangen.«
«Ach du liebe Güte!«Er war alles andere als erfreut. Ich erzählte ihm nicht, daß die Aufzeichnungen verlorengegangen waren, als man mir eins auf den Schädel gegeben und ich den braunen Umschlag schnell in den Gully hatte fallen lassen.»Na, dann kommen Sie mal sofort her. Eddy ist bis heute nachmittag weg.«
Langsam und unbeteiligt beendete ich meine Aufräumar-beiten, dachte dabei an Lucas Wainwright und daran, was er für mich tun könnte, wenn er wollte. Dann setzte ich mich an den Tisch und notierte mir meine Wünsche an ihn. Daraufhin besah ich mir, was ich geschrieben hatte, und auch meine Finger — und schauderte. Dann faltete ich das Blatt, steckte es in die Tasche und begab mich zum Port-man Square, entschlossen, es Lucas doch nicht zu geben.
Er hatte die Unterlagen schon in seinem Büro zurechtgelegt, und ich setzte mich an denselben Tisch wie zuvor und schrieb noch einmal ab, was ich an Informationen benötigte.
«Sie werden die Sache jetzt doch nicht noch länger schleifen lassen, Sid, oder?«
«Nein, sie bekommt absolute Priorität«, sagte ich.»Ich fange morgen an und werde nachmittags nach Kent fahren.«
«Gut. «Er erhob sich, als ich meine Notizen in einen neuen Umschlag steckte, und wartete darauf, daß ich mich verabschiedete — nicht so sehr, weil er keine Geduld mehr mit mir gehabt hätte, sondern weil das so seine Art war. Energisch. War eine Sache erledigt, kam die nächste dran, keine Rumtrödelei, bitte.
Ich zögerte feige und stellte dann überrascht fest, daß ich schon sprach, bevor ich mich noch bewußt entschieden hatte, ob ich es tun sollte oder nicht.»Erinnern Sie sich noch, Commander, daß Sie mir bei unserer ersten Besprechung sagten, Sie könnten mir zwar kein Geld für den Job anbieten, wohl aber Ihre Hilfe, sollte ich sie benötigen?«
Ich erreichte ein verständnisvolles Lächeln und einen Aufschub der Verabschiedung.
«Selbstverständlich erinnere ich mich daran. Aber Sie haben den Auftrag ja noch gar nicht ausgeführt. Um was für eine Hilfe ginge es denn?«
«Nun ja… es ist nicht viel… äh… sehr wenig. «Ich zog das zusammengefaltete Blatt hervor und überreichte es ihm. Wartete, bis er die wenigen Worte darauf gelesen hatte. Kam mir vor, als hätte ich eine Mine gelegt und würde gleich drauftreten.
«Wüßte nicht, was dagegen spräche«, sagte er.»Wenn Sie unbedingt wollen. Sind Sie denn auf etwas gestoßen, von dem wir unterrichtet sein sollten?«
Ich deutete auf das Papier.»Sie erfahren alles so schnell wie ich, wenn Sie das da für mich tun. «Das war keine sehr befriedigende Antwort, aber er hakte nicht nach.»Das einzige, worum ich Sie bitten möchte, ist, daß mein Name nicht erwähnt wird. Lassen Sie keinen wissen, daß das meine Idee war, niemanden. Ich… äh… Sie könnten mich damit ums Leben bringen, Commander. Ich scherze nicht.«
Er blickte von mir auf das Blatt und wieder auf mich und runzelte die Stirn.»Das sieht aber nicht nach einer lebensgefährlichen Sache aus, Sid.«
«Das weiß man immer erst dann genau, wenn man tot ist.«
Er lächelte.»In Ordnung. Ich werde den Brief im Namen des Jockey Club schreiben und das mit der Lebensgefährlichkeit ernst nehmen. Zufrieden?«
«Voll und ganz.«
Wir gaben uns die Hand, und ich verließ, den braunen Umschlag unter dem Arm, sein Büro. Als ich auf den Portman Square hinaustreten wollte, kam gerade Eddy Keith von draußen herein. Wir blieben beide kurz stehen, wie man das so tut, und ich hoffte inständig, daß er meinem Gesichtsausdruck nicht ansehen konnte, welchen Schrecken mir seine vorzeitige Rückkehr einjagte, oder gar erraten, daß ich das Material unter dem Arm trug, das zu seinem Sturz führen könnte.
«Eddy«, sagte ich lächelnd und kam mir dabei wie ein Verräter vor.
«Hallo, Sid«, erwiderte er fröhlich, und seine Äuglein über den rundlichen Backen zwinkerten mir zu.»Was treiben Sie denn hier?«Eine gutmütig gestellte, ganz normale Frage. Kein Argwohn. Keine Befürchtungen.
«Ich sammle Brosamen auf«, sagte ich.
Er kicherte fett.»Nach allem, was ich höre, sind wir es doch, die von Ihren leben. Sie werden uns noch alle brotlos machen, jawohl, ganz fix.«
«Aber woher denn.«
«Pfuschen Sie uns bloß nicht ins Handwerk, Sid.«
Das Lächeln war noch immer da, die Stimme frei von jeder Drohung. Das Kraushaar, der mächtige Schnurrbart, das große, dickliche Gesicht — das alles strahlte nach wie vor nichts als Wohlwollen aus. Aber in seinen Augen war ganz kurz arktische Kälte sichtbar geworden und wieder verschwunden, und ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß mir da eine sehr ernst gemeinte Warnung zugegangen war.
«Nie und nimmer, Eddy«, sagte ich mit falscher Aufrichtigkeit.
«Wir sehn uns, alter Knabe«, sagte er, bereit, seinen Weg in das Gebäude fortzusetzen. Er grinste mich breit an und verpaßte mir den üblichen, herzlichen Schlag auf die Schulter.»Passen Sie auf sich auf.«
«Sie auch, Eddy«, sagte ich hinter ihm her — und ganz leise und irgendwie bekümmert noch einmal:»Sie auch.«
Ich brachte die Aufzeichnungen sicher in meine Wohnung, dachte ein wenig nach und rief dann meinen GaszellenExperten an.
Der sagte hallo und wie schön, mal wieder was von dir zu hören, und wie’s denn mal mit einem Glas Bier wäre und nein, von einem John Viking habe er noch nie was gehört. Ich las ihm die Gleichung vor und fragte, ob sie ihm irgend etwas sage, und da lachte er und meinte, das klinge ganz nach einer Formel, die es einem gestatte, mit einem Heißluftballon zum Mond zu fliegen.
«Herzlichen Dank«, sagte ich sarkastisch.
«Nein, mal im Ernst, Sid. Die Formel dient zur Berechnung einer maximalen Flughöhe. Frag mal einen Ballon-fahrer. Die sind dauernd hinter Rekorden her… größte Höhe, weiteste Entfernung, solche Sachen.«
Ich fragte, ob er irgendwelche Ballonfahrer kenne, aber er sagte nur, es tue ihm leid, damit könne er nicht dienen, sein Gebiet seien Luftschiffe. Und wir verabschiedeten uns mit der erneuten, vagen Versicherung, uns irgendwann demnächst mal irgendwo treffen zu wollen. Müßig und ohne jede Hoffnung auf Erfolg blätterte ich im Telefonbuch herum — und da standen unglaublicherweise plötzlich klar und deutlich die Worte» Gesellschaft der Heißluftballonfahrer«, dabei die Londoner Anschrift und die Telefonnummer.
Ich rief dort an. Ein Mann mit angenehmer Stimme sagte, daß er John Viking natürlich kenne, wie ihn jeder andere auch kenne, der mit der Ballonfahrt zu tun habe, er sei ein Verrückter erster Klasse.
Ein Verrückter?
John Viking, erklärte er, riskiere als Ballonfahrer mehr als jeder andere. Wenn ich ihn sprechen wolle, würde ich ihn mit Sicherheit bei der Ballonwettfahrt am Montagnachmittag finden können.
Wo denn diese Wettfahrt am Montagnachmittag stattfinde?
Reitturnier, Ballonwettfahrt, Schaukeln und Karussells und was das Herz begehre würden beim Maifest in High-alane Park in Wiltshire geboten. Und John Viking werde auch dort sein, garantiert.
Ich dankte meinem Gesprächspartner für seine Auskünfte und legte auf, wobei mir durch den Kopf ging, daß ich den Maifeiertag komplett vergessen hatte. Offizielle Feiertage waren für mich — wie für jeden im Pferderennsport tätigen Menschen — seit jeher Arbeitstage gewesen, an denen ich zur Freizeitgestaltung der Öffentlichkeit beitrug.
Deshalb nahm ich diese Tage zumeist gar nicht als besondere wahr.
Chico traf mit einer Doppelportion Fish-and-Chips in einer dieser neumodischen, hygienischen Pergamentpapiertüten ein, die den Dampf nicht abziehen und die Pommes frites knatschig werden lassen.
«Wußtest du, daß Montag Maifeiertag ist?«fragte ich ihn.
«Schließlich veranstalte ich ein Judoturnier für die kleinen Scheißer, oder?«
Er kippte das Mittagessen auf zwei Teller, und wir verzehrten es, im wesentlichen unter Zuhilfenahme der Finger.
«Du bist also wieder zum Leben erwacht, wie ich sehe«, sagte er.
«Das ist nur vorübergehend.«
«Dann erledigen wir wohl besser ein paar Sachen, solange du noch unter uns weilst.«
«Die Syndikate«, sagte ich und erzählte ihm von dem unglücklichen Mason, der ebenfalls auf sie angesetzt worden war und dem man das Gehirn kaputtgetreten hatte.
Chico streute Salz auf seine Pommes frites.»Wir sollten uns also vorsehen, nicht wahr?«
«Fangen wir heute nachmittag an?«
«Klar doch. «Er hielt nachdenklich inne, leckte sich die Finger ab.»Wir kriegen kein Honorar für diesen Job, war’s nicht so?«
«Nicht direkt.«
«Warum machen wir dann eigentlich nicht diese Untersuchungen für die Versicherungen? Nette, ruhige Befragungen, festes Honorar.«
«Ich habe Lucas Wainwright versprochen, mich vordringlich um die Syndikate zu kümmern.«
Er zuckte die Achseln.»Du bist der Chef. Aber das ist mit deiner Frau und Rosemary, die ja ihr Geld zurückgekriegt hat, schon der dritte Job, den wir gratis machen.«
«Wir werden das später wieder ausgleichen.«
«Dann machst du also weiter?«
Ich beantwortete die Frage nicht sofort. Abgesehen davon, daß ich mir nicht sicher war, ob ich sie überhaupt beantworten wollte, wußte ich auch nicht, ob ich es konnte. In den zurückliegenden Monaten waren Chico und ich immer wieder an irgendwelche Schlägertypen geraten, die versucht hatten, uns an unserer Arbeit zu hindern. Wir verfügten nicht über den Schutz, den wir als Angehörige des Sicherheitsdienstes der Rennbahnen oder als Polizisten genossen hätten, sondern mußten uns selbst verteidigen. Wir hatten die blauen Flecken und Beulen immer als Teil unseres Jobs angesehen — so wie ich früher die Folgen meiner Stürze oder Chico die unsanften Mattenwürfe. Was aber, wenn sich alles das durch Trevor Deansgate geändert hatte? Und das nicht nur für eine einzige, schreckliche Woche, sondern für sehr viel länger? Für immer?
«Sid!«sagte Chico laut.»Komm wieder zu dir.«
Ich schluckte.»Ja… äh… wir kümmern uns um die Syndikate. Dann sehen wir weiter. «Dann würde ich’s wissen, dachte ich. Tief in mir drinnen würde ich’s wissen, ob es so war oder nicht. Wenn ich keine Tigerkäfige mehr betreten konnte, waren wir erledigt. Einer allein war nicht genug — es mußten beide sein. Wenn ich es nicht mehr konnte… könnte ich mir auch gleich einen Strick nehmen.
Das erste Syndikat auf der Liste von Lucas Wainwright bestand aus acht Leuten, von denen drei eingetragene Besitzer waren. Als ihr Sprecher fungierte Philip Friarly. Eingetragene Besitzer waren Leute, die den Aufsichtsgremien genehm waren, die ihre Beiträge zahlten und sich an die Regeln hielten, die keinem Schwierigkeiten machten und die die eigentlichen Säulen dieser ganzen Industrie waren.
Syndikate stellten eine der Möglichkeiten dar, mehr Leute unmittelbar am Rennsport zu beteiligen, was gut für den Sport war, und die Trainingskosten aufzuteilen, was gut für die Besitzer war. Es gab Syndikate aus Millionären, Bergarbeitern, Rockgitarristen, Stammgästen von Pubs. Von der Hausfrau bis zum Bestattungsunternehmer konnte jeder Mitglied eines Syndikats werden — Eddy Keith hätte nur prüfen müssen, ob alle, die auf der jeweiligen Mitgliederliste standen, auch das waren, was sie zu sein behaupteten.
«Wir interessieren uns nicht für die registrierten Besitzer«, sagte ich,»sondern für die anderen.«
Wir waren auf dem Weg nach Tunbridge Wells und fuhren durch die Grafschaft Kent. Tunbridge Wells — das war ein durch und durch ehrbarer Ort. Wohnstätte pensionierter Obristen und Bridge spielender Damen. Rangierte in der nationalen Verbrechensstatistik unter» ferner liefen«. Gleichwohl war es der Wohnort eines gewissen Peter Rammileese, der nach Aussagen des Informanten von Lucas Wainwright die eigentlich treibende Kraft hinter den vier als suspekt angesehenen Syndikaten war, obwohl sein Name auf keiner der Listen stand.
«Mason ist in den Straßen von Tunbridge Wells zusammengeschlagen und dann liegengelassen worden, weil sie ihn wohl für tot hielten«, sagte ich in eher beiläufigem Ton.
«Das erzählst du mir jetzt!«»Möchtest du umkehren, Chico?«fragte ich.
«Hast du ’ne Vorahnung oder irgend so was?«
«Nein«, sagte ich nach einer Weile und fuhr ein bißchen sehr schnell um eine ziemlich scharfe Kurve.
«Hör mal, Sid«, meinte er,»wir fahren wohl besser nicht nach Tunbridge Wells. Wir kriegen doch unweigerlich eins drauf, bei diesem Spaßvergnügen.«
«Und was sollen wir deiner Meinung nach machen?«
Er schwieg.
«Wir müssen hin«, sagte ich.
«Ja.«
«Wir müssen halt rausfinden, wonach Mason gefragt hat, und dann nicht danach fragen.«
«Dieser Rammileese«, sagte Chico,»was ist das für einer?«
«Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, aber von ihm gehört. Ein Bauer, der sich mit krummen Pferdegeschäften eine goldene Nase verdient hat. Der Jockey Club will ihn nicht als Besitzer registrieren, und die meisten Rennbahnen verwehren ihm den Zutritt. Er versucht’s mit Bestechung, bei allen, vom Obersteward bis zu den Stallburschen, und wenn Bestechung nichts fruchtet, dann droht er.«
«Ist ja reizend.«
«Vor nicht allzu langer Zeit haben zwei Jockeys und ein Trainer ihre Lizenz verloren, weil sie Bestechungsgelder von ihm angenommen haben. Einer der Jockeys wurde von seinem Stall gefeuert und ist so am Ende, daß er vor den Rennbahnen rumlungert und die Leute anbettelt.«
«Ist das der, mit dem ich dich vor kurzem hab reden sehen?«»Genau.«
«Und wieviel hast du ihm gegeben?«
«Das geht dich nichts an.«
«Du bist schnell weichzukriegen, Sid.«
«Ich hätte auch leicht in seine Lage kommen können«, sagte ich.
«Na klar. Ich seh’s richtig vor mir, wie du dich von einem krummen Pferdehändler schmieren läßt. Die wahrscheinlichste Sache der Welt.«
«Wie dem auch sei, wir müssen jedenfalls nicht herausfinden, ob Peter Rammileese vier Rennpferde manipuliert, was er mit Sicherheit tut, sondern ob Eddy Keith das weiß und schweigt.«
«Gut. «Wir fuhren ein Stück weiter in das ländliche Kent hinein. Nach einer Weile fragte Chico:»Weißt du eigentlich, warum wir im großen und ganzen so erfolgreich waren, seit wir in diesem Job zusammenarbeiten?«
«Warum denn?«
«Weil die Gangster dich alle kennen. Ich meine, sie kennen dich vom Sehen, die meisten jedenfalls. Und wenn sie dich in ihrem Revier rumschnüffeln sehen, kriegen sie das Flattern und fangen an, so blöde Sachen zu machen wie ihre Schläger auf uns zu hetzen. Und dadurch verraten sie sich, und wir kriegen mit, was sie treiben, und das wäre uns nicht gelungen, wenn sie sich nicht gerührt hätten.«
Ich seufzte und sagte:»Kann schon sein«- und dachte an Trevor Deansgate. Dachte an ihn und versuchte, es nicht zu tun. Wenn man gar keine Hände mehr hatte, konnte man auch nicht mehr Auto fahren… Nur nicht daran denken, sagte ich mir. Du darfst einfach nicht dran denken, sonst wirst du endgültig zum Waschlappen.
Ich fuhr erneut zu schnell um eine Kurve, was mir keinen Kommentar, wohl aber einen Seitenblick von Chico einbrachte.
«Guck auf die Karte«, sagte ich.»Oder tu sonst irgendwas Nützliches.«
Wir fanden das Haus von Peter Rammileese ohne große Schwierigkeiten und fuhren auf einen kleinen Bauernhof, der so aussah, als hätten die Außenbezirke von Tunbridge Wells einen Bogen darum gemacht, so daß er wie eine Insel im Meer davon abstach. Ein großes, dreigeschossiges Haus, ein neu erbauter Holzstall und eine lange, sehr hohe Scheune. Das Anwesen strahlte nicht unbedingt Wohlhabenheit aus, aber Brennesseln wucherten dort auch nicht gerade.
Kein Mensch zu sehen. Wir hielten an und stiegen aus.
«Haustür?«fragte Chico.
«Bei Bauernhäusern der Hintereingang.«
Wir waren erst ein paar Schritte in diese Richtung gegangen, als ein kleiner Junge aus einer der Türen der Scheune heraus- und atemlos auf uns zugerannt kam.
«Haben Sie den Krankenwagen mitgebracht?«rief er uns zu.
Er sah an mir vorbei auf mein Auto, und in seinem Gesicht spiegelten sich Erregung und Enttäuschung. Er hatte Reithosen und ein T-Shirt an, war etwa sieben Jahre alt und hatte geweint.
«Was ist denn los?«fragte ich.
«Ich hab angerufen, daß sie einen Krankenwagen herschicken… schon vor so langer Zeit.«
«Vielleicht können wir ja helfen«, sagte ich.
«Meine Mama«, sagte er.»Sie liegt da drin und will gar nicht wieder aufwachen.«
«Na los, dann bring uns mal zu ihr.«
Er war ein kräftiger kleiner Bursche mit braunem Haar und braunen Augen — und er hatte große Angst. Er lief zur Scheune zurück, und wir folgten ihm. Als wir eingetreten waren, sahen wir, daß es gar keine Scheune war, sondern eine Reithalle, etwa zwanzig mal fünfunddreißig Meter groß, die ihr Licht durch Fenster im Dach erhielt. Der Boden war mit einer dicken Schicht bräunlicher Sägespäne bedeckt, ein Belag, der gut für ein leichtes, geräuschloses Arbeiten von Pferden geeignet war.
Ein Pony und ein Reitpferd liefen im Kreis herum, und auf dem Boden lag eine zusammengekrümmte, weibliche Gestalt.
Chico und ich liefen schnell zu ihr hin. Die Frau war noch jung, lag auf der Seite, das Gesicht halb nach unten gedreht. Bewußtlos, wie mir schien, aber nicht sehr tief. Ihre Atmung war flach, und ihre Haut unter dem Make-up zeigte bleiche Flecken, aber der Puls an ihrem Handgelenk war gleichmäßig und kräftig. Der Sturzhelm, der ihr keinen Schutz geboten hatte, lag ein paar Meter entfernt in den Sägespänen.
«Los, ruf noch mal an«, sagte ich zu Chico.
«Sollten wir sie nicht erst mal hier rausholen?«fragte er.
«Nein, besser nicht… falls sie was gebrochen hat. Man kann eine Menge Schaden anrichten, wenn man Bewußtlose zu viel bewegt.«
«Auf dem Gebiet bist du ja wohl Experte. «Er drehte sich um und lief in Richtung Wohnhaus davon.
«Ist sie schlimm verletzt?«fragte der Junge ängstlich.»>Bingo< hat plötzlich gescheut, und da ist sie runtergefallen. Ich glaube, er hat ihr gegen den Kopf getreten.«
«>Bingo<, ist das das Pferd?«»Der Sattel ist verrutscht«, sagte er — und >Bingo<, den Sattel unter dem Bauch, bockte und schlug noch immer aus wie ein Rodeopferd.
«Und wie heißt du?«
«Mark.«
«Soweit ich das beurteilen kann, Mark, wird deine Mama bald wieder in Ordnung sein. Und du bist ein tapferer kleiner Kerl.«
«Ich bin sechs«, sagte er, als mache ihn das weit weniger klein. Aus seinen Augen war nun, da er Hilfe hatte, die schlimmste Angst gewichen. Ich kniete mich neben seine Mutter und strich ihr das braune Haar aus der Stirn. Sie gab ein leises Stöhnen von sich, und ihre Augenlider zuckten. Sie war in der kurzen Zeit seit unserem Eintreffen der Oberfläche schon deutlich nähergekommen.
«Ich hab gedacht, sie stirbt«, sagte der Junge.»Wir hatten vor kurzem ein Kaninchen. das keuchte so und machte die Augen zu, und wir konnten es nicht mehr wach kriegen, und dann ist es gestorben.«
«Deine Mutter wacht wieder auf.«
«Bestimmt?«
«Ja, Mark, da bin ich ganz sicher.«
Das schien ihn wirklich zu beruhigen, und er erzählte mir nun bereitwillig, daß das Pony > Sooty < hieß und ihm gehörte, daß sein Vater bis morgen früh verreist war, daß nur seine Mama und er da waren und daß die Mutter >Bin-go< ausbildete, um ihn dann an eine Frau zu verkaufen, die Springreiterin war.
Chico kehrte zurück und meldete, daß der Krankenwagen auf dem Wege sei. Der Junge, den das ungeheuer zu erleichtern schien, meinte, wir sollten doch noch die Pferde einfangen, weil sie so unruhig hin und her liefen und die Zügel so lose seien, und wenn Sattel und Zaumzeug kaputtgingen, dann würde sein Vater stinkwütend werden.
Chico und ich mußten über seine ernsthafte Erwachsenensprache lachen. Während er und Chico bei der Patientin Wache hielten, fing ich mit Hilfe von ein paar Zuk-kerstücken aus Marks Tasche die Pferde nacheinander ein und band sie an Halteringen fest, die in die Wand eingelassen waren. >Bingo< beruhigte sich sofort, als ich ihn endlich von den lästigen Riemen und dem Sattel befreite, und Mark ließ seine Mutter kurz allein, um seinem Pony ein paar ermutigende Klapse und noch ein Zuckerstück zu verabfolgen.
Chico berichtete mir derweil, daß beim Notdienst tatsächlich bereits vor mehr als einer Viertelstunde der Anruf eines Jungen eingegangen war, der aber wieder aufgelegt hatte, bevor sie ihn noch nach seiner Adresse hatten fragen können.
«Erzähl ihm das lieber nicht«, riet ich.
«Du bist vielleicht ein Softie.«
«Mark ist ein sehr tapferer kleiner Kerl.«
«Nicht schlecht für so einen kleinen Scheißer. Während du die widerspenstigen Gäule eingefangen hast, hat er mir erzählt, daß sein Daddy ziemlich oft stinkwütend wird. «Er blickte auf die noch immer bewußtlose Frau hinab.»Du glaubst doch wirklich, daß sie okay ist oder?«
«Sie kommt wieder hoch. Ist nur eine Frage der Zeit.«
Wenig später traf der Krankenwagen ein, und Marks Angst war in alter Stärke wieder da, als die Sanitäter seine Mutter auf eine Bahre legten, in den Wagen schoben und davonfahren wollten. Er wollte unbedingt mitfahren, aber die Männer waren nicht bereit, ihn ohne Begleitung mitzunehmen. Seine Mutter bewegte sich und murmelte etwas, was ihn stark beunruhigte.
Da sagte ich zu Chico:»Fahr du ihn ins Krankenhaus… fahr einfach dem Krankenwagen nach. Er muß sie bei vollem Bewußtsein sehen und erleben, daß sie wieder mit ihm spricht. Ich seh mich derweil mal im Haus um. Sein Vater ist bis morgen weg.«
«Wie praktisch«, sagte er ironisch. Er ließ Mark in den Scimitar klettern, und dann fuhren sie davon. Ich konnte durchs Rückfenster sehen, wie sie sich angelegentlich miteinander unterhielten.
Ich betrat das Haus mit der Selbstsicherheit des gebetenen Gastes. Kein Problem, in den Tigerkäfig zu steigen, wenn der Tiger nicht drin war.
Es war ein altes Haus, angefüllt mit einer aufdringlich neuen, opulenten Einrichtung, die einen fast erschlug. Flauschige Teppiche in knalligen Farben, riesige Stereoanlage, eine goldene Nymphe als Stehlampe und tiefe Sessel mit schwarz-braunem Zickzackmuster. Wohn- und Eßzimmer blitzsauber — kein Hinweis darauf, daß auch ein kleiner Junge hier wohnte. Die Küche aufgeräumt, hygienisch saubere Arbeitsflächen. Arbeitszimmer…
Die geradezu aggressive Ordentlichkeit des Arbeitszimmers machte mich stutzig und ließ mich nachdenken. Ich war noch nie einem Pferdehändler begegnet, der seine Papiere und Bücher derart säuberlich auf Kante stapelte. Und als ich die Bücher aufschlug, erwiesen sie sich als peinlich genau geführt und auf dem allerletzten Stand.
Ich blickte in Schubfächer und Aktenschränke und achtete dabei sorgfältigst darauf, daß ich nichts durcheinanderbrachte — aber ich fand nichts als eine Zurschaustellung größter Rechtschaffenheit. Keine einzige Schublade oder Schranktür war abgeschlossen. Es sah fast so aus, dachte ich zynisch, als ob das Ganze eine Bühnenkulisse wäre, darauf angelegt, ein ganzes Heer von Steuerprüfern zu beschämen. Die echten Bücher, soweit es überhaupt welche gab, hatte er wahrscheinlich in einer Keksdose irgendwo draußen im Garten vergraben.
Ich ging nach oben. Marks Zimmer war unschwer zu erkennen, aber alle seine Spielsachen waren in Schachteln, alle seine Anziehsachen in Kommoden geräumt. Es gab drei unbenutzte Schlafzimmer mit den Konturen zusammengelegten Bettzeugs unter den Tagesdecken und eine aus Schlaf-, Ankleide- und Badezimmer bestehende Suite, so teuer und reinlich ausstaffiert wie die unteren Räume.
Eine ovale, dunkelrote Badewanne mit goldenen Wasserhähnen in Gestalt von Delphinen. Ein riesiges Bett mit einer hellen, brokatenen Tagesdecke, die sich mit dem krampfigen Teppichboden biß. Keine Unordnung auf dem creme- und goldfarbenen, schnörkeligen Frisiertischchen, keine herumliegenden Bürsten im Ankleidezimmer.
Die Garderobe von Marks Mama bestand aus Pelzen, Flitter, Reithosen und — Jacken, die seines Papas aus derbem Tweed, Lamahaarmantel, einem Dutzend oder mehr Anzügen, keiner davon maßgeschneidert, aber alle ganz offensichtlich gekauft, weil sie teuer waren. Haufenweise Schwarzgeld, dachte ich, und nicht viel, was man damit anfangen konnte. Peter Rammileese war, wie es schien, mehr von Natur aus Betrüger als aus Notwendigkeit.
Auch hier herrschte die gleiche, unglaubliche Ordentlichkeit — in jedem Fach, auf jedem Regalbrett und selbst im Wäschekorb, in dem ein säuberlich zusammengefalteter Schlafanzug lag.
Ich durchsuchte die Taschen seiner Anzüge, aber es war nicht das geringste darin zu finden. Keinerlei Papiere oder Zettel im ganzen Ankleidezimmer.
Frustriert stieg ich in das zweite Obergeschoß hinauf, wo sich sechs weitere Räume befanden, von denen einer eine
Ansammlung leerer Koffer enthielt, die anderen gar nichts.
Niemand, dachte ich, als ich mich wieder nach unten begab, ließ eine so exzessive Vorsicht walten, wenn er nicht etwas zu verbergen hatte — eine Einsicht, die man dem Gericht aber wohl kaum als Beweismittel präsentieren konnte. Das gegenwärtige Leben der Familie Rammileese spielte sich in einem teuren Vakuum ab, und von ihrer Vergangenheit war keine Spur zu finden. Keine Souvenirs, keine alten Bücher, nicht einmal Fotos — mit Ausnahme eines neueren von Mark auf seinem Pony, das draußen im Hof aufgenommen worden war.
Ich sah mich gerade in den Nebengebäuden um, als ich Chico zurückkommen hörte. Außer sieben Pferden und den beiden in der Reithalle waren keine Tiere vorhanden, Hinweise auf irgendeine sonstige Bewirtschaftung auch nicht. In der Sattelkammer herrschten nur noch mehr Ordnung und Sauberkeit und der Geruch von Lederfett. Ich ging zu Chico hinaus, um mich zu erkundigen, was er mit Mark gemacht hatte.
«Die Schwestern stopfen ihn mit Keksen voll und versuchen, seinen Daddy zu erreichen. Mama ist bei Bewußtsein und spricht wieder. Und was hast du geschafft? Willst du fahren?«
«Nein, fahr du. «Ich setzte mich neben ihn auf den Beifahrersitz.»Dieses Haus ist der verdächtigste Fall von Ge-schichtslosigkeit, der mir je untergekommen ist.«
«Was du nicht sagst.«
«Doch. Und nicht die geringste Aussicht, eine Verbindung zu Eddy Keith festzustellen.«
«Also war die Fahrt umsonst«, sagte er.
«Ein Glück für Mark.«
«Ja. Ist schon ein herziger kleiner Scheißer. Hat mir erzählt, daß er mal Möbelpacker werden will. «Chico warf mir einen Blick zu und grinste.»Soweit er sich erinnern kann, sind sie schon dreimal umgezogen.«
Kapitel 10
Chico und ich verbrachten den größten Teil des Sonnabends damit, jeder für sich einen Teil der Londoner Adressen von der M-Liste der Politurbesteller abzuklappern, und trafen uns um sechs Uhr mit wundgelaufenen Füßen und durstig in einem Pub in Fulham, den wir beide kannten.
«Wir hätten das nicht an einem Samstag und noch dazu an einem verlängerten Wochenende machen sollen«, sagte Chico.
«Nein«, stimmte ich ihm zu.
Chico sah zu, wie das Bier appetitlich ins Glas rann.»Mehr als die Hälfte war nicht da.«
«Bei mir dasselbe. Sogar fast alle.«
«Und die, die zu Hause waren, schauten sich in der Glotze Pferderennen oder Ringkämpfe an oder fummelten an ihren Miezen rum und wollten nichts wissen.«
Wir trugen sein Bier und meinen Whisky zu einem kleinen Tischchen an der Wand, nahmen einen großen Schluck und verglichen unsere Ergebnisse. Chico hatte alles in allem vier Leute festnageln können, ich nur zwei, aber das reichte schon.
Alle sechs waren — auf welchen Adressenlisten sie sonst noch stehen mochten — glückliche und regelmäßige Bezieher der Zeitschrift Antiques for All.
«Da hätten wir’s ja«, sagte Chico.»Eindeutige Sache. «Er
lehnte sich entspannt und zufrieden gegen die Wand.»Montag ist alles zu, vor Dienstag können wir nichts machen.«
«Hast du morgen schon was vor?«
«Hab Erbarmen! Das Mädchen in Wembley!«Er warf einen Blick auf die Uhr und schüttete den Rest seines Biers hinunter.
«Und damit ade, Sid, alter Junge, aber ich komm sonst zu spät. Sie mag es gar nicht, wenn ich total verschwitzt bei ihr erscheine.«
Er grinste und ging, und ich trank etwas langsamer mein Glas aus und begab mich nach Hause.
Wanderte umher. Tauschte die Batterien aus. Aß ein paar Cornflakes. Nahm die Rennberichte zur Hand und schlug die Pferde der Syndikate nach. Höchst unterschiedliche Form — Rennen waren bei niedrigen Quoten verloren und bei hohen gewonnen worden. Alle Anzeichen einer regelmäßigen, gekonnten Manipulation. Ich gähnte. So etwas kam andauernd vor.
Ich wurschtelte weiter unruhig herum, vermißte heftig den Frieden, den ich für gewöhnlich fand, wenn ich an diesem Ort mit mir allein war. Zog mich dann aus und meinen Bademantel an, nahm den Arm ab. Versuchte, mir was im Fernsehen anzuschauen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Machte den Apparat wieder aus.
Normalerweise nahm ich den Arm erst ab, wenn ich den Bademantel schon angezogen hatte, denn auf diese Weise vermied ich, den Teil meines Körpers sehen zu müssen, der unterhalb des linken Ellbogens übriggeblieben war. Mit der Tatsache als solcher hatte ich mich einigermaßen abgefunden, nicht aber mit dem Anblick, obwohl es eine durchaus saubere und keineswegs so grausige Sache war wie die zerquetschte Hand. Ich wußte, daß dieser leichte Abscheu nicht gerechtfertigt war, aber ich empfand ihn trotzdem. Es war mir auch zuwider, wenn andere — den Orthopäden ausgenommen — es sahen, selbst bei Chico. Ich schämte mich, und auch das war durch nichts gerechtfertigt. Menschen ohne Behinderung konnten dieses Gefühl der Scham nicht verstehen — und auch ich hatte es nicht nachvollziehen können, jedenfalls nicht bis zu dem Tag kurz nach meinem Unfall, an dem ich dunkelrot angelaufen war, weil ich jemanden hatte bitten müssen, mir das Fleisch auf meinem Teller kleinzuschneiden. Danach war es dann sehr oft vorgekommen, daß ich lieber gehungert als einen anderen um Hilfe gebeten hatte. Daß ich das nicht mehr mußte, seit ich die elektronische Hand hatte, war für mich eine psychische Erlösung von geradezu seelenrettenden Dimensionen gewesen.
Die neue Hand hatte mir wieder zu dem Status eines normalen menschlichen Wesens verholfen. Nun behandelte mich keiner mehr wie einen Schwachsinnigen oder mit jenem Mitgefühl, bei dem ich mich vorher so oft innerlich gewunden hatte. Niemand mehr war übertrieben rücksichtsvoll oder brachte vor lauter Angst, etwas Falsches zu sagen, keinen Ton mehr heraus. Die Zeit der mich zu absoluter Nutzlosigkeit verdammenden Entstellung erschien mir rückblickend wie ein unerträglicher Alptraum.
Mit einer Hand war ich ein unabhängiger Mensch. Ohne Hände…
O Gott, dachte ich. Denk nicht daran. An sich ist nichts weder gut noch böse; das Denken macht es erst dazu. Allerdings hatte Hamlet nicht die gleichen Probleme wie ich.
Ich überstand die Nacht und den nächsten Morgen und auch den Nachmittag, aber gegen sechs Uhr gab ich auf, setzte mich ins Auto und fuhr nach Aynsford.
Falls Jenny da war, überlegte ich, als ich den Wagen hinter dem Haus vor der Küche zum Stehen brachte, würde ich einfach auf dem Absatz kehrtmachen und nach London zurückkehren. Dann hätte mir die Fahrerei wenigstens die Zeit vertrieben. Ihr Auto war aber nicht zu sehen, und so betrat ich durch den Seiteneingang und einen langen Flur das Haus.
Charles saß in dem kleinen Wohnzimmer, das er als Offiziersmesse zu bezeichnen pflegte, war allein und ordnete seine vielgeliebte Sammlung von Angelfliegen.
Er blickte auf. Keine Überraschung. Keine freudige Begrüßung. Kein Getue. Und das, obwohl ich noch nie ohne Einladung hier erschienen war.
«Hallo«, sagte er lediglich.
«Hallo.«
Ich stand da, und er sah mich an und wartete.
«Ich brauchte Gesellschaft«, gestand ich.
Er begutachtete eine Trockenfliege.»Hast du Sachen für die Nacht mit?«
Ich nickte.
Er deutete auf das Tablett mit den Getränken.»Bedien dich. Und gib mir einen Pink Gin, sei so gut. Eis ist in der Küche.«
Ich machte seinen Drink zurecht, dann meinen, und ließ mich in einem Sessel nieder.
«Willst du’s mir sagen?«fragte er.
«Nein.«
Er lächelte.»Also Abendessen? Und Schach.«
Wir aßen zusammen zu Abend und spielten zwei Partien. Er gewann die erste leicht und meinte, ich solle besser aufpassen. Die zweite endete nach anderthalb Stunden remis.»Schon besser«, sagte er.
Der Friede, den ich allein nicht hatte finden können, kehrte in der Gesellschaft von Charles langsam wieder, obwohl ich durchaus wußte, daß dies mehr der Entspannt-heit unseres persönlichen Umgangs und der Zeitlosigkeit seines riesigen, alten Hauses zuzuschreiben war als einer wirklichen Überwindung der Zerstörungen in mir. In jedem Falle schlief ich zum ersten Mal seit zehn Tagen wieder etliche Stunden tief durch.
Beim Frühstück besprachen wir den vor uns liegenden Tag. Er wollte zum Jagdrennen nach Towcester, fünfundvierzig Minuten in nördlicher Richtung gelegen, um dort als ehrenamtlicher Steward zu fungieren, eine Aufgabe, die ihm großen Spaß machte. Ich erzählte ihm von John Viking und der Ballonwettfahrt, ferner von unseren Besuchen bei den M-Leuten und von Antiques for All, und er lächelte mit der ihm eigenen Mischung von Befriedigung und Belustigung, als sei ich ein Wesen, das er höchstpersönlich erschaffen hatte und das allmählich seinen Er-Wartungen zu entsprechen begann. Schließlich war er es ja auch gewesen, der mich nach dem Unfall dazu animiert hatte, Detektiv zu werden. Jedesmal wenn ich einen Erfolg verbuchen konnte, sah er das als sein ureigenstes Verdienst an.
«Hat dir Mrs. Cross von dem Anruf berichtet?«fragte er und bestrich sich eine Scheibe Toast mit Butter. Mrs. Cross war seine Haushälterin, ruhig, tüchtig und freundlich.
«Was für ein Anruf?«
«Jemand hat heute morgen um sieben hier angerufen und gefragt, ob du vielleicht da wärst. Mrs. Cross hat ihm gesagt, du schläfst noch und ob sie dir etwas ausrichten könne, aber der Anrufer sagte, er würde sich später noch mal melden.«
«War’s Chico? Vielleicht hat er mich in meiner Wohnung nicht erreicht und sich gedacht, daß ich hier draußen bin.«»Mrs. Cross sagte, einen Namen habe er nicht genannt.«
Ich zuckte die Achseln und griff nach der Kaffeekanne.»Es kann nichts Dringendes gewesen sein, sonst hätte er Mrs. Cross wohl gebeten, mich zu wecken.«
Charles lächelte.»Mrs. Cross schläft mit Lockenwicklern und Gesichtsmaske. Sie würde sich dir nie und nimmer morgens früh um sieben zeigen, außer vielleicht bei einem Erdbeben. Sie hält dich übrigens für einen reizenden jungen Mann. Das sagt sie mir jedes Mal, wenn du herkommst.«
«Ach du liebe Güte!«
«Kommst du heute abend wieder her?«fragte er.
«Ich weiß es noch nicht.«
Er faltete seine Serviette zusammen, blickte darauf hinab.
«Ich bin froh, daß du gestern gekommen bist.«
Ich sah ihn an.»Ja«, sagte ich.»Gut, du möchtest, daß ich das sage, also tu ich’s. Und ich meine es auch. «Ich hielt inne, suchte nach den schlichtesten Worten, die ihm zu verstehen geben könnten, was ich für ihn empfand. Fand sie. Sagte sie.»Hier ist mein Zuhause.«
Er sah schnell auf, und ich lächelte schief, machte mich über mich selbst lustig, über ihn, über die ganze gottverdammte Welt.
Highalane Park war ein alter Herrensitz, der sich voller Unbehagen mit dem Plastikzeitalter abfand. Das Anwesen selbst präsentierte sich wie eine echauffierte Jungfer nur ein paarmal im Jahr der breiteren Öffentlichkeit, der Park dagegen konnte jederzeit für Veranstaltungen oder Festlichkeiten, wie etwa der aus Anlaß des Maifeiertages, angemietet werden.
Man hatte sich keine besondere Mühe gegeben, durch eine entsprechende Ausschilderung auf die Veranstaltung aufmerksam zu machen und Vorbeifahrende anzulocken. Keine Fahnen, kein Tamtam, keine riesengroßen, schon von weitem lesbaren Plakate — alles eher schüchtern, ja zaghaft. Angesichts dessen war die Menschenmenge, die zum Festplatz strömte, von beachtlicher Größe. Als ich an der Reihe war, zahlte ich das Eintrittsgeld und holperte dann über das Gras, um mein Auto gehorsam auf dem eigens abgesperrten Parkplatz abzustellen. Andere Autos folgten und halfen, die säuberlichen Reihen zu vervollständigen.
Ein paar Reiter bewegten sich geschäftig im Gelände herum, während die Karussells, die auf der einen Seite des Festplatzes aufgebaut worden waren, bewegungslos dastanden. Von Ballons keine Spur. Ich stieg aus dem Auto, schloß es ab und dachte, daß halb zwei vielleicht noch etwas früh für bedeutendere Aktivitäten sei. Wie man sich täuschen kann!
Eine Stimme hinter mir sagte:»Ist das der Mann?«
Ich drehte mich um und sah zwei Menschen durch die enge Lücke zwischen meinem und dem daneben geparkten Auto auf mich zukommen, einen Mann, der mir unbekannt, und einen Jungen, der mir bekannt war.
«Ja«, sagte der Junge erfreut.»Hallo!«
«Hallo, Mark«, erwiderte ich.»Wie geht’s denn deiner Mama?«
«Ich hab Daddy erzählt, daß Sie gekommen sind. «Er sah zu dem Mann neben sich auf.
«So?«Ich dachte, seine Anwesenheit hier in Highalane Park sei der reinste Zufall, aber das war sie nicht.
«Er hat Sie mir beschrieben«, sagte der Mann.»Diese Hand und wie Sie mit den Pferden umzugehen wußten…
mir war da gleich klar, von wem er sprach. «Seine Stimme und sein Gesicht waren hart und wachsam, verrieten etwas, was mir inzwischen recht vertraut war: Schuldbewußtsein, das sich mit Unannehmlichkeiten konfrontiert sah.»Ich mag das ganz und gar nicht, wenn Sie da auf meinem Anwesen rumschnüffeln.«
«Sie waren nicht da«, sagte ich milde.
«So ist es, ich war nicht da. Und dieser Knirps hier hat Sie sich selbst überlassen.«
Er war etwa vierzig, ein drahtiger Bursche, dem die bösen Absichten nur allzu deutlich anzusehen waren.
«Ich habe auch Ihr Auto wieder erkannt«, sagte Mark voller Stolz.»Papa sagt, ich bin ganz schön clever.«
«Kinder haben eine gute Beobachtungsgabe«, meinte sein Vater mit häßlichem Behagen.
«Wir haben gewartet, bis Sie da aus so einem großen Haus rausgekommen sind, und dann sind wir Ihnen die ganze Strecke bis hierher nachgefahren. «Er strahlte, forderte mich auf, den Spaß an seinem Spielchen mit ihm zu teilen.»Das dort ist unser Auto, das neben Ihrem. «Er klopfte auf das Blech des kastanienbraunen Daimlers, der dort geparkt stand.
Der Anruf, schoß es mir durch den Kopf. Nicht von Chico. Von Peter Rammileese, der sich nach mir umgehört hatte.
«Daddy hat versprochen, daß er mit mir Karussell fährt«, schwatzte Mark glücklich weiter.»Und derweil nehmen unsere Freunde Sie mit auf eine Spazierfahrt. Mit unserem Auto.«
Sein Vater sah streng auf ihn herab, aber Mark bemerkte es nicht, sondern blickte auf einen Punkt hinter meinem Rücken.
Ich sah mich um. Zwischen dem Scimitar und dem Daimler standen noch zwei Gestalten. Große, finster dreinblickende Kerle von der Bruderschaft der Muskelmänner. Schlagringe und Schuhspitzen aus Stahl.
«Steigen Sie ein«, sagte Rammileese und zeigte auf seinen Wagen, nicht auf meinen.»Hinten.«
Aber sicher doch, dachte ich. Glaubte der etwa, ich wäre verrückt? Ich beugte mich leicht nach vorn, als wolle ich seiner Aufforderung Folge leisten, hob statt dessen aber mit dem rechten Arm Mark vom Boden auf und rannte los.
Rammileese fuhr mit einem Aufschrei herum. Marks Gesicht, dicht neben dem meinen, hatte einen erstaunten Ausdruck, aber zugleich lachte er. Ich lief etwa zwanzig Schritte, setzte ihn dann ab, seinem wütend herbeieilenden Vater genau in den Weg, und rannte weiter, fort vom Parkplatz und auf die Menschenansammlung in der Mitte des Festplatzes zu.
Verflucht, dachte ich. Chico hatte wirklich recht. Wir brauchten neuerdings nur noch mit der Wimper zu zucken, und schon setzten sie ihre schweren Jungs auf uns an. Allmählich wurde es wirklich zuviel.
Es war die Art von Hinterhalt, die vielleicht funktioniert hätte, wenn Mark nicht dabeigewesen wäre — ein Schlag in die Nieren und rein ins Auto, bevor ich wieder hätte Luft kriegen können. Aber sie hatten wahrscheinlich Mark gebraucht, um mich zu identifizieren, weil sie mich zwar dem Namen nach, nicht aber persönlich kannten. Sie würden mich dort auf dem Festplatz nicht kriegen, soviel stand fest — und wenn ich später zu meinem Auto zurückging, dann nur mit entsprechendem Begleitschutz. Vielleicht, dachte ich hoffnungsvoll, sahen sie ja ein, daß es zwecklos war, und verschwanden wieder.
Ich erreichte den Rand des Reitplatzes, auf dem ein Springreiten im Gang war, und blickte mich um, über den Kopf eines Mädchens hinweg, das ein Eis leckte. Die Schläger waren nicht zurückgepfiffen worden. Sie folgten mir noch immer verbissen. Ich beschloß, nicht abzuwarten, was passieren würde, wenn ich einfach stehenbliebe und die diversen Familien bäte zu verhindern, daß ich verschleppt wurde und mit kaputtgetretenem Kopf auf den Straßen von Tunbrigde Wells wieder aufwachte. Die diversen Familien mit ihren Hunden und Omas und Kinderwagen und Picknickkörben würden wahrscheinlich nur tatenlos und mit offenen Mündern herumstehen und sich, wenn alles längst vorbei war, verwirrt fragen, was da eigentlich vor sich gegangen war.
Ich lief also weiter, tiefer in die Menschenmenge hinein, um die Reitbahn herum, stieß mit Kindern zusammen, wenn ich über die Schulter zurückblickte — und sah die beiden Kerle nach wie vor hinter mir.
Der Reitplatz lag zu meiner Linken. An seiner Außenseite waren ringsherum Autos abgestellt, neben denen der breite Grasweg freigelassen war, auf dem ich entlanglief. Rechts von mir befand sich der Ring der Zelte, Buden und Wagen, die zu einer Veranstaltung dieser Art dazugehören. Da gab es Sattelzeug zu kaufen, Reitsachen, Bilder, Spielzeug, Würstchen, Obst, noch mehr Sättel, Eisenwaren, Tweedjacken, Hausschuhe aus Schaffell… eine endlose Reihe kleiner Händler.
Zwischen den Buden und Zelten die mobilen Verkaufsund Informationsstände — ein Eisauto, ein Informationswagen der Reitsportlichen Vereinigung, eine Ausstellung kunsthandwerklicher Arbeiten, eine Wahrsagerin, ein Verkaufswagen, in dem Trödel zu wohltätigen Zwecken feilgeboten wurde, ein fahrbares Kino, in dem man sich Filme über verschiedene Schäferhundrassen ansehen konnte, ein seitlich geöffneter, riesiger Sattelschlepper, aus dem allerlei Küchensachen in Orange, Gelb und Grün herausquollen. Davor überall Trauben von Menschen und drinnen keinerlei Deckung.
«Können Sie mir sagen, wo ich die Ballons finde?«fragte ich jemanden, und er deutete auf einen Stand, wo es bunte Luftballons gab — Kinder kauften sie sich und banden sie an ihren Handgelenken fest.
Die doch nicht, dachte ich. Die ganz bestimmt nicht. Ich blieb aber nicht stehen, um genauer zu erklären, was ich meinte, sondern ging ein Stück weiter und fragte erneut.
«Die Ballonwettfahrt? Ich glaube, da auf der nächsten Wiese. Aber es ist noch zu früh.«
«Danke«, sagte ich. Laut den Plakaten war der Start für drei Uhr vorgesehen, aber ich mußte John Viking schon sehr viel früher erwischen, solange er noch bereit war, mich anzuhören.
Ich stellte mir die Frage, worum es eigentlich bei einer Ballonwettfahrt ging. Schließlich fuhren alle mit gleicher Geschwindigkeit, nämlich mit der des Windes.
Meine Verfolger wollten einfach nicht aufgeben. Sie rannten nicht — ebensowenig wie ich. Sie folgten mir nur immer im gleichen Abstand, als steuere sie ein Sender in meiner Tasche. Sie hatten sich im wahrsten Sinne des Wortes an meine Fersen geheftet. Ich mußte irgendwo untertauchen, dachte ich, und so lange verschwunden bleiben, bis ich mit John Viking geredet hatte. Danach konnte ich mich dann vielleicht auf die Suche nach Hilfe begeben, zum Beispiel bei den Mitgliedern des Festkomitees, bei den Rotkreuzschwestern oder dem einen Polizisten, der draußen auf der Straße den Verkehr regelte.
Inzwischen war ich auf der anderen Seite des Turnierplatzes angelangt und überquerte den Sammelplatz, wo
Kinder auf Ponys herumschwirrten wie die Bienen, mit angespanntem Blick, wenn sie an die Reihe kamen, und in Tränen aufgelöst oder triumphierend, wenn sie abritten.
Vorbei an ihnen, vorbei an der Kabine, in der der Ansager saß —»Jane Smith hat ihren Ritt fehlerfrei beendet, der nächste Reiter ist John Daley auf >Traddles<«-, vorbei an der kleinen Tribüne für die Veranstalter und die Prominenz — Reihen leerer Klapp-Stühle —, vorbei an einem seitlich offenen, gutgefüllten Zelt, in dem es Erfrischungen gab, und wieder zurück zu den Ständen und Wagen.
Ich schlüpfte mal hier, mal da hinein, drückte mich hinten an den Buden vorbei, kroch unter den Spannseilen der Zelte durch und an Haufen von Pappkartons vorbei. Aus der Deckung eines dicht mit Reitjacken behängten Kleiderständers beobachtete ich, wie die beiden Spürhunde an mir vorbeiliefen, hastig, mit suchenden Blicken, deutlich beunruhigt.
Sie waren anders als die beiden, die Trevor Deansgate geschickt hatte, dachte ich. Seine waren kleiner und unbeholfener gewesen und hatten weniger professionell gewirkt. Die beiden hier machten den Eindruck, als gehöre diese Art von Tätigkeit zu ihrem täglichen Brot. Und trotz der relativen Sicherheit des Festplatzes, der mir ja als letzten Ausweg immer noch die Möglichkeit bot, mitten in die Reitbahn hineinzulaufen und laut um Hilfe zu schreien, ging etwas sehr Einschüchterndes von ihnen aus. Mietschläger wurden für gewöhnlich stundenweise bezahlt — diese beiden sahen dagegen wie feste Angestellte, wenn nicht gar Mitglieder der Geschäftsführung aus.
Ich verließ den Schutz der Reitjacken wieder und verdrückte mich in den Vorführwagen, in dem der Schäferhund-Film gezeigt wurde, der durchaus fesselnd gewesen wäre, wenn draußen nicht ein Schafetreiben stattgefunden hätte, bei dem ich das Schaf abgab.
Ich sah auf die Uhr. Zwei durch. Es verging zuviel Zeit. Ich mußte mir einen anderen Weg suchen, um zu den Ballons zu gelangen. Ich ging wieder hinaus — sie waren nicht mehr zu sehen. Ich schob mich durch die Menge, fragte nach dem Weg.
«Da, da hinten, mein Freund«, erklärte ein resoluter Mann und wies in die entsprechende Richtung.»An der Würstchenbude vorbei, dann rechts, da ist ein Durchlaß im Zaun. Ist gar nicht zu verfehlen.«
Ich nickte ihm einen Dank zu, wandte mich in die mir gewiesene Richtung und sah einen meiner Verfolger direkt auf mich zukommen. Er suchte Bude für Bude ab und schien sehr besorgt.
Noch eine Sekunde, dann mußte er mich sehen… ich blickte mich hastig um und entdeckte, daß ich vor dem Wohnwagen der Wahrsagerin stand. Vor der Tür hing ein Fliegenvorhang aus Plastikbändern, schwarz und weiß, und dahinter war eine schattenhafte Gestalt zu erkennen. Ich machte vier schnelle Schritte, schob mich durch die Plastikbänder und trat in den Wohnwagen.
Hier drinnen war es still und dämmerig, das Tageslicht drang kaum durch die mit Spitzengardinchen verhängten Scheiben. Die Einrichtung pseudoviktorianisch, mit nachgemachten Petroleumlampen und Deckchen aus Chenille. Draußen ging der Spürhund vorbei, warf dem Wagen der Wahrsagerin nur einen flüchtigen Blick zu. Seine Aufmerksamkeit war nach vorn gerichtet. Er hatte mich nicht hier hineinschlüpfen sehen. Die Wahrsagerin dagegen schon, und für sie bedeutete ich Kundschaft.
«Möchten Sie Ihr ganzes Leben, mein Lieber, mit Vergangenheit und allem, oder nur die Zukunft?«
«Äh…«:, brachte ich hervor.»Tja, ich weiß nicht so recht. Wie lange dauert’s denn?«»Eine Viertelstunde, mein Lieber, wenn’s das Ganze sein soll.«
«Dann machen wir nur die Zukunft.«
Ich sah zum Fenster hinaus. Ein Teil meiner Zukunft suchte mich zwischen den Autos, die um den Reitplatz standen, stellte Fragen und bekam eine Menge geschüttelter Köpfe zu sehen.
«Setzen Sie sich hier neben mich aufs Sofa, mein Lieber, und geben Sie mir Ihre linke Hand.«
«Sie müssen die Rechte nehmen«, sagte ich abwesend.
«Nein, mein Lieber. «Ihre Stimme klang ziemlich scharf.»Immer die Linke.«
Ich setzte mich belustigt hin und reichte ihr gehorsam die Linke. Sie befühlte sie und betrachtete sie und blickte dann mich an. Sie hatte dunkles Haar, war klein und mollig, von mittlerem Alter und in keiner Weise bemerkenswert.
«Also schön«, sagte sie nach einer kleinen Pause,»dann muß es wohl doch die Rechte sein, obwohl ich das nicht gewohnt bin und die Ergebnisse deshalb vielleicht nicht so gut ausfallen.«
«Ich laß es drauf ankommen«, sagte ich. Wir tauschten die Plätze auf dem Sofa, und sie hielt meine Rechte fest in ihren beiden warmen Händen. Ich beobachtete, wie mein Verfolger an der Reihe der Autos entlanglief.
«Sie haben viel gelitten«, sagte sie.
Da sie über meine linke Hand Bescheid wußte, beeindruckte mich diese Wahrsagung nicht sonderlich, und das schien sie zu spüren, denn sie hüstelte entschuldigend.
«Macht es Ihnen was aus, wenn ich meine Kristallkugel nehme?«fragte sie.
«Nein, nein, nur zu.«
Ich hatte die vage Vorstellung, daß sie nun in eine riesige, auf einem Tisch stehende Kristallkugel hineinschauen werde, aber sie holte eine ganz kleine hervor, etwa von der Größe eines Tennisballs, und legte sie in meine Hand.
«Sie sind ein lieber Mensch«, sagte sie.»Sanft. Die Leute mögen Sie und lächeln Ihnen zu.«
Draußen, nur zwanzig Meter entfernt, waren die beiden Schlägertypen wieder zusammengetroffen und hielten Kriegsrat. Bei ihnen war kein Lächeln zu entdecken.
«Sie werden von jedermann geachtet.«
Der übliche Kram, darauf angelegt, dem Kunden zu gefallen. Das sollte Chico mal hören, dachte ich. Sanft, lieb, geachtet. er würde platzen vor Lachen.
Sie sagte in zweifelndem Ton:»Ich sehe eine große Menschenmenge, man klatscht und jubelt. Laute Rufe, Applaus.«
Ich wandte mich ihr langsam zu. Ihre dunklen Augen sahen mich ruhig an.
«Das ist die Vergangenheit«, sagte ich.
«Noch nicht lange her«, entgegnete sie.»Es ist noch da.«
Ich glaubte nichts von alledem. Ich glaubte nicht an Wahrsager. Ich fragte mich, ob sie mich wohl schon mal gesehen hatte, auf einer Rennbahn oder im Fernsehen. Es konnte nicht anders sein.
Sie beugte sich erneut über die Kristallkugel, die sie in meiner Hand hielt und leicht über die Haut hin und her schob.
«Sie verfügen über eine gute Gesundheit. Sie haben Kraft. Sie sind körperlich sehr ausdauernd… Da ist noch viel zu ertragen.«
Sie brach ab, hob den Kopf ein wenig und runzelte die
Stirn. Ich hatte den Eindruck, daß das, was sie soeben gesagt hatte, sie irgendwie selbst überraschte.
Nach einer Weile meinte sie:»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
«Und warum nicht?«
«Die rechte Hand ist mir ungewohnt.«
«Sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Sie schüttelte ganz leicht den Kopf und hob die ruhigen, dunklen Augen.
«Sie werden lange leben.«
Ich spähte durch den Plastikvorhang hinaus. Meine Verfolger waren verschwunden.
«Was bin ich Ihnen schuldig?«fragte ich. Sie nannte den Preis, ich zahlte und ging ruhig zur Tür.
«Passen Sie auf, mein Lieber«, sagte sie.»Seien Sie vorsichtig.«
Ich drehte mich zu ihr um. Ihr Gesicht war noch immer so beherrscht wie zuvor, aber in ihrer Stimme war etwas Drängendes gewesen. Ich wollte nicht wahrhaben, welche Überzeugtheit aus ihrem Blick sprach. Vielleicht hatte sie die Beunruhigung über mein derzeitiges Problem mit den beiden Verfolgern gespürt — mehr aber auch nicht. Ich schob den Vorhang sanft beiseite und trat aus der dämmri-gen Welt unbestimmter Schrecken hinaus in das helle Sonnenlicht des Maientages, wo sie vielleicht in sehr realer Form lauerten.
Kapitel 11
Es war jetzt nicht mehr nötig zu fragen, wo die Ballons zu finden seien — sie waren nicht mehr zu übersehen. Sie fingen an, wie riesenhafte, knallig bunte Pilze emporzuwachsen, sich wie Buckel überall auf der ausgedehnten Wiesenfläche außerhalb des eigentlichen Festplatzes zu erheben. Ich hatte irgendwie die Vorstellung gehabt, daß da vielleicht drei oder vier Ballons sein würden, höchstens sechs, aber es mußten gut zwanzig sein.
Mit der Menge, die in die gleiche Richtung strömte, gelangte ich bis zum Tor in der Hecke und dann hinaus aufs freie Feld, und da wurde mir klar, daß ich die Aufgabe, John Viking zu finden, erheblich unterschätzt hatte.
Zunächst kam ich an ein Absperrseil, wo Ordner dafür sorgten, daß die herbeidrängenden Zuschauer davor stehenblieben. Es gelang mir schließlich, darunter durchzutauchen, doch nun fand ich mich in einem Wald halb gefüllter Ballons wieder, die sich überall um mich her aufwölbten und mir jede Sicht nahmen.
Die erste Gruppe von Menschen, auf die ich traf, war mit einem rosa- und purpurfarbenen Monstrum beschäftigt, dem mit Hilfe eines großen Ventilators Luft ins Maul geblasen wurde. Der Ballon war mit vier dünnen Nylonseilen an dem dazugehörigen Korb befestigt, der auf der Seite lag, und davor kniete ein junger Mann mit rotem Sturzhelm, der besorgt in seine Tiefen hineinspähte.
«Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich zu einem Mädchen,das am Rande der Gruppe stand,»wissen Sie vielleicht, wo ich John Viking finden kann?«
«Tut mir leid, nein.«
Der rote Sturzhelm kam hoch, und zwei sehr blaue Augen wurden darunter sichtbar.»Der ist hier irgendwo in der Nähe«, sagte der junge Mann höflich.»Fliegt einen >Stormcloud<-Ballon. Und würden Sie jetzt bitte so gut sein und verduften, wir haben zu tun.«
Ich hielt mich am Rande des Geschehens, versuchte, niemandem im Wege zu sein. Ballonwettfahrten waren, wie es schien, eine höchst ernsthafte Angelegenheit und nicht Anlaß zu fröhlichem Gelächter und freundlichem Geplauder. Angespannte Gesichter beugten sich über Seile und Ausrüstungsgegenstände, zählten, prüften, runzelten besorgt die Stirn. Aber kein Ballon sah wie eine Sturmwolke aus. Ich riskierte erneut eine Frage.
«John Viking? Der Vollidiot? Ja, der ist da. Fliegt einen >Stormcloud<. «Er wandte sich ab, beschäftigt und sorgenvoll.
«Welche Farben?«fragte ich schnell.
«Gelb und grün. Also bitte, nun gehn Sie doch aus dem Weg!«
Es gab Ballons, die für Whisky, für Marmelade, für Städte, ja sogar für Versicherungsgesellschaften Reklame machten. Da waren Ballons in strahlendsten Grundfarben, in rosa-weißen Pastelltönen, Ballons, die sich im Sonnenschein vom grünen Rasen erhoben wie durcheinandergewirbelte Regenbogen. An einem ganz normalen Tag wäre das ein wunderschöner Anblick gewesen, aber heute war es für mich, der ich versuchte, bis zur nächsten, erwartungsvoll um ihren Korb versammelten Gruppe durchzukommen, um einmal mehr und vergebens meine Frage zu stellen, nur ein frustrierendes Labyrinth aus Seide.
Ich umging ein sich blähendes, schwarz-weißes Ungeheuer und bewegte mich mehr auf die Mitte zu. Wie auf ein Signal hin erhob sich plötzlich überall um mich herum ein vielstimmiges, heiseres Fauchen, das von den Brennern stammte, die auf Gestellen über den Körben montiert waren. Die Flammen fuhren tosend in die offenen Rachen der halb aufgeblasenen Ballons, erhitzten und dehnten die bereits darin befindliche Luft und trieben zusätzliche hinein. Die leuchtenden Hüllen schwollen und wogten jetzt stärker, wuchsen wie Pilze langsam und prächtig in den blaßblauen Himmel empor.
«John Viking? Irgendwo da drüben. «Ein Mädchen hob vage deutend den Arm.»Aber der wird genauso beschäftigt sein wie wir.«
Die Ballons füllten sich, lösten sich vom Boden und standen schwankend in der Luft, stießen sich dabei gegenseitig leicht an. Aber sie waren noch immer nicht voll genug, um es den Vögeln gleichzutun. Unter allen Ballons tosten die Brenner, feuerrot und kräftig, und die Grüpp-chen der Helfer klammerten sich an die Körbe, um zu verhindern, daß sie vorzeitig entschwebten.
Nun, da die Ballons nicht mehr am Boden lagen, war es mir ein leichtes, auch einen grün-gelben zu entdecken. Grüne und gelbe Segmente wie bei einer Apfelsine und unten ein breites, grünes Band. Ein Mann stand bereits in dem Korb, den drei Leute festhielten. Im Unterschied zu den anderen Fahrern hatte er keinen Sturzhelm auf, sondern eine blaue Segelmütze.
Ich rannte auf ihn zu, und als ich die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, ertönte der Startschuß. Überall um mich her wurden die Körbe losgelassen und fingen an, sich schwerfällig und immer wieder auf den Boden aufstoßend davonzubewegen. Die Zuschauer brachen in lautes Jubelgeschrei aus.
Ich erreichte die Gruppe, auf die ich es abgesehen hatte, und legte die Hand auf den Rand des Korbes.
«John Viking?«
Niemand beachtete meine Frage. Ein heftiger Streit war im Gange. Eine junge Frau in Sturzhelm, Anorak, Jeans und Stiefeln stand vor dem Korb, die zwei Helfer mit bedrückten, verlegenen Gesichtern neben ihr.
«Ich fahr nicht mit. Du bist doch total verrückt.«
«Steig ein! Los, steig ein, verdammt noch mal. Der Start ist freigegeben.«
Der Mann im Korb war sehr groß, sehr hager, sehr erregt.
«Ich komm nicht mit.«
«Du mußt!«Er packte sie mit festem Griff am Handgelenk. Es sah fast so aus, als wolle er sie mit Schwung in den Korb hieven, und auch sie schien das zu erwarten, denn sie versuchte sich loszureißen, keuchte, zappelte und schrie:»Laß los, John. Laß los. Ich fahr nicht mit.«
«Sind Sie John Viking?«fragte ich laut.
Er warf den Kopf herum, hielt das Mädchen aber weiterhin fest.
«Ja, bin ich. Was wollen Sie? Ich starte, sobald meine Mitfahrerin im Korb ist.«
«Ich fahr nicht mit«, schrie sie.
Ich sah mich um. Die anderen Ballons waren inzwischen fast alle in der Luft, schwebten über die Wiese, einen halben oder auch einen Meter über dem Boden — ein herrlich anzusehender Pulk, der sich sanft in die Lüfte erhob. Ich stellte fest, daß in jedem Korb zwei Leute standen.
«Wenn Sie einen Mitfahrer brauchen«, rief ich,»dann komme ich mit.«
Er ließ das Mädchen los und sah mich abschätzig an.
«Wieviel wiegen Sie denn?«wollte er wissen — und sagte dann, als er sah, was für einen Vorsprung die anderen Ballons schon hatten:»Also los, rein mit Ihnen.«
Ich griff nach einer Strebe, sprang, wälzte mich über den Rand des Korbes und landete aufrecht stehend in einem ziemlich kleinen Tragkorb unter einer großen Ballonwolke.
«Loslassen!«befahl der Kapitän meines Luftfahrzeugs, und die Helfer gehorchten einigermaßen verwirrt.
Der Korb blieb kurz an der Stelle stehen, an der er die ganze Zeit gestanden hatte. Dann griff John Viking nach oben und zog an dem Hebel, mit dem der Brenner betätigt wurde — dicht über unseren Köpfen schoß die Flamme nach oben, erhob sich das ohrenbetäubende Fauchen.
Das Gesicht der jungen Frau war noch immer auf einer Höhe mit meinem.»Er ist komplett verrückt«, schrie sie.»Und Sie sind wahnsinnig!«
Der Korb bewegte sich von ihr fort, holperte über den Boden — und stieg ganz plötzlich auf eine Höhe von etwa drei Metern. Das Mädchen rannte uns nach und verabschiedete mich mit der ermutigenden Feststellung:»Und einen Sturzhelm haben Sie auch nicht!«
Statt dessen hatte ich jedoch eine ausgezeichnete Möglichkeit, zwei entschlossenen Ganoven zu entkommen, und ein Sturzhelm kam mir in diesem Augenblick überflüssig vor, zumal mein Begleiter auch keinen hatte.
John Viking blickte immer noch wütend um sich, murmelte vor sich hin und ließ den Brenner fast ohne Unterbrechung laufen. Sein Ballon war der letzte, der wegkam. Ich sah auf die applaudierenden Zuschauer hinunter, die den Massenstart verfolgten, und erblickte plötzlich einen kleinen Jungen, der unter dem Absperrseil durchkroch, auf den jetzt leeren Startplatz rannte, laut rief und mit dem
Finger zeigte. Er zeigte auf John Vikings Ballon, zeigte ganz aufgeregt auf mich.
Mein kleiner Freund Mark mit seinen scharfen Augen und seiner Wahrheitsliebe! Mein kleiner Freund Mark, dem ich am liebsten den Hals umgedreht hätte.
John Viking fing laut zu schimpfen an. Ich wandte meine Aufmerksamkeit vom Boden ab und der Luft zu, bemerkte sofort, daß der Grund für seine himmelwärts schallenden, sehr phantasievollen Flüche eine Baumreihe war, die genau vor uns lag und uns an einer Weiterfahrt zu hindern drohte. Ein Ballon lag bereits als wirres Knäuel diesseits der Bäume, und ein anderer, scharlachrot und purpurn, befand sich ganz offenkundig auf direktem Kollisionskurs.
John Viking schrie mir über das fortdauernde Tosen des Brenners hinweg zu:»Halten Sie sich mit beiden Händen gut fest!
Wenn der Korb die Baumwipfel streift, soll’s uns nicht gleich rauskippen.«
Die Bäume kamen mir sehr hoch und wie ein gewaltiges Hindernis vor, aber die meisten Ballons waren ohne weiteres darüber weggekommen und trieben himmelwärts davon — große, leuchtende, birnenförmige Phantasiegebilde, die mit dem Wind dahinzogen.
John Vikings Korb näherte sich jedoch den Wipfeln sehr schnell, obwohl der Brenner über uns fauchte wie ein wahnsinnig gewordener Drache. Der Auftrieb, den er uns verschaffen sollte, schien gänzlich ausbleiben zu wollen.
«Turbulenzen!«kreischte John Viking.»Verfluchter Wind. Festhalten! Bis unten ist es weit.«
Furchtbar lustig, dachte ich, zwanzig Meter über dem Boden ohne Sturzhelm aus einem Korb gekippt zu werden. Ich grinste ihn an, und er warf mir, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte, einen überraschten Blick zu.
Der Korb krachte in die Wipfel der Bäume, legte sich zur Seite und brachte mich mühelos aus der Vertikalen in die Horizontale. Ich grapschte mit der rechten Hand nach irgendeinem Halt, um nicht herauszufallen, und fühlte und sah, wie die stolz geblähte Ballonhülle über mir ihre Fahrt unbeirrt fortsetzte. Sie zog den Korb dabei hinter sich her, der krachend und ruckend durch die Äste fuhr, so daß ich wie eine Puppe hin und her geschleudert wurde und zuweilen auch mit dem größten Teil meines Körpers im freien Raum hing. Mein Gastgeber war aus härterem Holz geschnitzt, hatte den einen Arm wie eine Schraubzwinge um eine der Metallstreben gelegt, die den Brenner trugen, und den anderen durch eine Schlinge aus schwarzem Gummi geschoben. Seine Beine waren gegen die Seitenwand des Korbes gestemmt, die jetzt den Boden bildete, und er veränderte die Stellung seiner Füße je nach Lage der Dinge, wobei er den einen einmal auch fest auf meinen Bauch setzte.
Mit einer letzten, auf den Magen schlagenden, ruckartigen Drehung kam der Korb frei, und wir schwangen nun wie ein Pendel unter dem schwankenden Ballon hin und her. Mich hatte dieses Manöver endgültig als unordentliches Bündel auf dem Boden des Korbes festgeklemmt, wohingegen John Viking noch immer in vorbildlicher Haltung auf beiden Beinen stand.
Es war wirklich nicht viel Platz vorhanden, dachte ich, als ich meine Knochen zu ordnen und mich aufzurichten versuchte. Der Korb, der noch immer hin und her schwang, maß nur etwas über einen Meter im Quadrat und reichte gerade bis in Höhe der Taille. Auf zwei Seiten standen sich je vier Gasflaschen gegenüber, die mit starken Gummiriemen am Korbgeflecht festgezurrt waren. Der verbliebene längliche Raum war gerade groß genug, daß zwei Menschen so eben aufrecht nebeneinander stehen konnten: knapp ein halber Quadratmeter pro Person.
John Viking gönnte dem Brenner endlich eine Pause und sagte in die eingetretene Stille hinein grimmig:»Warum, zum Teufel, haben Sie sich nicht ordentlich festgehalten, wie ich’s Ihnen gesagt habe? Wissen Sie, daß Sie fast rausgefallen wären und mich ganz schön in Schwierigkeiten gebracht hätten?«
«Tut mir leid«, sagte ich amüsiert.»Ist es üblich, den Brenner laufen zu lassen, wenn man an einem Baum festhängt?«
«Hat uns rausgezogen, oder etwa nicht?«
«Allerdings.«
«Na also, dann beschweren Sie sich gefälligst nicht. Ich hab Sie auch nicht gebeten mitzukommen.«
Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger. Sein Gesicht unter der blauen Segelmütze war kantig, konnte ihm mal zu einem Charakterkopf verhelfen, und seine blauen Augen zeigten den funkelnden Glanz, der den echten Fanatiker verrät. John Viking der Verrückte, dachte ich und fing an, ihn zu mögen.
«Überprüfen Sie mal die Seiten und sehen Sie nach, ob irgendwas fehlt.«
Er schien die Außenseiten des Korbes zu meinen, denn er selbst beugte sich über den Rand nach unten. Ich entdeckte, daß auch auf meiner Seite ein paar Bündel am Korb hingen, entweder fest angeschnallt oder frei an Seilen schwebend.
Da war auch ein kürzeres Seil, an dem nichts hing. Ich zog es ein und zeigte es ihm.
«Mist!«explodierte er.»Wahrscheinlich von den Ästen weggerissen. Plastikkanister mit Wasser. Hoffe, Sie haben keinen Durst. «Er langte nach oben und ließ den Brenner wieder eine Weile laufen, und ich lauschte seinem schleppenden Eton-Akzent nach und begriff, warum er so war, wie er war.
«Muß man Erster werden, um bei so einer Wettfahrt zu gewinnen?«fragte ich.
Er sah mich erstaunt an.»Bei der hier nicht. Das hier ist ein Zwei einhalb-Stunden-Rennen. Wer in dieser Zeit am weitesten kommt, hat gewonnen. «Er zog die Stirn in Falten.»Sind Sie etwa noch nie in einem Ballon gefahren?«
«Nein.«
«Grundgütiger Himmel«, sagte er.»Was habe ich da für Siegeschancen?«
«Nicht die geringsten, wenn ich nicht mitgekommen wäre«, sagte ich freundlich.
«Da ist was dran. «Er sah aus seiner Höhe von etwa eins neunzig auf mich herab.»Wie heißen Sie eigentlich?«
«Sid«, sagte ich.
Er schaute drein, als sei Sid nicht gerade ein Name, wie ihn seine Freunde trugen, fand sich aber doch mannhaft mit der Tatsache ab.
«Warum wollte eigentlich Ihre Freundin nicht mitfahren?«fragte ich.
«Wer? Ach, Sie meinen Popsy. Sie ist nicht meine Freundin.
Ich kenne sie kaum. Sie wollte einspringen, weil sich mein üblicher Mitfahrer in der vergangenen Woche bei einer etwas rauhen Landung ein Bein gebrochen hat, der alberne Mensch. Aber Popsy wollte unbedingt eine riesengroße Handtasche mitschleppen. Wollte nicht ohne sie fahren, sich um keinen Preis von ihr trennen. Ich bitte Sie! Wo ist hier wohl noch Platz für eine Handtasche, was? Und schwer war sie auch. Jedes Gramm zählt. Ein Pfund weniger an Bord, und Sie kommen eine ganze Meile weiter.«
«Wo, glauben Sie, werden wir runterkommen?«erkundigte ich mich.
«Hängt ganz vom Wind ab. «Er sah zum Himmel hinauf.»Im Augenblick fahren wir ungefähr in nordöstlicher Richtung, aber ich will noch höher gehen. Laut Wetterbericht zieht von Westen her eine Front auf, und ich denke, daß da oben ganz schön was los ist, was uns weiterhilft. Wir könnten dann gut bis Brighton kommen.«
«Brighton!«Ich hatte an etwa zwanzig Meilen gedacht, nicht an hundert. Er mußte sich irren, dachte ich — man konnte in einem Ballon unmöglich hundert Meilen in zweieinhalb Stunden zurücklegen!
«Wenn der Wind noch mehr aus Nordwest kommt, erreichen wir vielleicht die Isle of Wight. Oder Frankreich. Kommt ganz drauf an, wieviel Gas noch da ist. Wir wollen mit dem Ding hier schließlich keine Wasserlandung bauen. Können Sie schwimmen?«
Ich nickte. Ich nahm an, daß ich es noch konnte — einhändig hatte ich es noch nicht ausprobiert.»Wenn’s geht, lieber nicht«, sagte ich.
Er lachte.»Keine Bange. So ein Ballon kostet ein Heidengeld, ist viel zu teuer, um ihn zu versenken.«
Nachdem wir die Baumreihe glücklich hinter uns gebracht hatten, waren wir sehr schnell gestiegen und schwebten nun in einer Höhe dahin, aus der die Autos unten auf der Straße wie Spielzeugautos aussahen, wobei man ihre Größe und Farbe durchaus noch erkennen konnte.
Geräusche drangen klar und deutlich zu uns herauf. Man konnte die Motoren der Autos hören, das Gebell von Hunden und gelegentlich auch den Ruf eines Menschen. Die
Leute sahen zu uns hoch und winkten uns zu. Eine entrückte Welt, dachte ich. Ich befand mich in einer idyllischen Kinderwelt, trieb mit dem Wind dahin, hatte alle mich an die Erde fesselnden Gewichte abgeworfen, war frei und stieg empor, von unendlicher Freude erfüllt.
John Viking ruckte an dem Hebel, und die Flamme fauchte wieder los, schoß hinauf in die grün-gelbe Höhle wie eine rotgoldene Drachenzunge. Der Flammenstoß dauerte zwanzig Sekunden, und in der plötzlichen Stille danach stiegen wir merklich höher.
«Was für Gas verwenden Sie?«fragte ich.
«Propan.«
Er blickte über den Rand des Korbes suchend in die Landschaft, als wollte er seine Position feststellen.»Holen Sie doch bitte mal die Karte raus. Ist da in einer Tasche auf Ihrer Seite. Und lassen Sie sie ja nicht davonfliegen.«
Ich sah an der Außenseite des Korbes hinunter und fand die erwähnte Tasche, ein mappenähnliches Ding, das an dem Korbgeflecht festgebunden war, die Klappe mit einer Schnalle verschlossen. Ich machte die Schnalle auf, sah in die Tasche hinein, ergriff mit fester Hand die große, zusammengefaltete Karte und reichte sie dem Kapitän.
Der sah unverwandt auf meine linke Hand, mit der ich mich am Korbrand festgehalten hatte. Jetzt ließ ich sie wieder an meiner Seite hinuntersinken, und er hob die Augen und sah mich an.
«Sie haben ja nur eine Hand«, sagte er ungläubig.
«Stimmt.«
Er hob seine eigenen Arme in einer Geste verzweifelter Ratlosigkeit.»Also wirklich! Wie, zum Teufel, soll ich nur dieses Rennen gewinnen?«
Ich lachte.
Er warf mir erneut einen Blick zu.»Das ist überhaupt nicht komisch.«
«Doch, und wie. Ich gewinne auch gern Rennen… meinetwegen werden Sie das hier bestimmt nicht verlieren.«
Er verzog angewidert das Gesicht.»Viel nutzloser als Popsy können Sie auch nicht sein«, sagte er.»Aber die kann angeblich immerhin Karten lesen. «Er entfaltete das Blatt, das ich ihm gegeben hatte. Es war eine Navigationskarte für Piloten, und die Oberfläche war mit einem Plastiküberzug versehen, so daß man darauf schreiben konnte.
«Sehen Sie her«, sagte er.»Wir sind hier gestartet. «Er zeigte auf den entsprechenden Punkt.»Wir bewegen uns grob in nordöstlicher Richtung. Jetzt nehmen Sie die Karte und stellen Sie fest, wo wir sind. «Er machte eine kleine Pause.»Haben Sie wenigstens eine schwache Ahnung, wie man seine Uhr als Kompaß benutzen kann? Oder überhaupt von Navigation?«
Ich hatte ein Buch über Navigation, das ich noch nicht gelesen hatte, in einer der Taschen des leichten Baum-wollanoraks stecken, den ich trug. Und, Gott sei’s gedankt, in einer anderen Tasche eine voll aufgeladene Ersatzbatterie.»Geben Sie die Karte nur her«, sagte ich,»mal sehen, was sich machen läßt.«
Er übergab sie mir ohne allzu großes Zutrauen und ließ den Brenner wieder kurz laufen. Ich überschlug grob, wo wir sein müßten, blickte über den Rand des Korbes und entdeckte sofort, daß die Erde da unten ganz anders aussah als die Karte. Die Dörfer und Straßen, die auf ihr deutlich eingezeichnet waren, verloren sich im braunen und grünen Teppich der Landschaft, wirkten wie die Flecken auf einem Tarnnetz. Das Sonnenlicht ließ Schattenmuster entstehen und löste so alle klaren Umrisse auf.
Das sich unter uns ausbreitende Panorama sah überall gleich aus, machte es mir unmöglich, irgendwelche Besonderheiten zu erkennen, und bewies schlüssig, daß ich noch weniger zu gebrauchen war als Popsy.
Verdammt, dachte ich, noch mal von vorn.
Wir waren um drei Uhr gestartet, jedenfalls so etwa. Wir waren jetzt zwölf Minuten in der Luft. Am Boden hatte ein schwacher Wind aus südlicher Richtung geweht, jetzt aber fuhren wir ein bißchen schneller und nach Nordosten. Sagen wir mal… mit fünfzehn Knoten. Zwölf Minuten mit fünfzehn Knoten… das machte ungefähr drei Seemeilen. Ich hatte also an der falschen Stelle gesucht, viel zu weit weg. Wir müßten jetzt eigentlich, dachte ich, über einen Fluß kommen — und obwohl ich sehr aufmerksam nach unten blickte, hätte ich ihn fast übersehen, denn wo die Karte ein klares, blaues Band zeigte, da war in Wirklichkeit nur ein silbrig glänzendes Fädchen, das sich unauffällig zwischen einer Weide und einem Wald dahinschlängelte. Rechts davon und halb von einem Hügel verdeckt lag ein Dorf, und jenseits davon war eine Eisenbahnlinie zu erkennen.
«Wir sind jetzt hier«, sagte ich und zeigte es ihm auf der Karte.
Er warf einen Blick darauf und suchte dann den Erdboden unter uns ab.
«Alle Achtung«, sagte er,»das stimmt. Also gut, behalten Sie die Karte. Schadet ja nichts, wenn wir jederzeit wissen, wo wir gerade sind.«
Er betätigte den Hebel und ließ den Brenner längere Zeit laufen. Die Ballons vor uns flogen viel niedriger, lagen ganz eindeutig unter uns. Während der nun wieder folgenden Gesprächspause schaute er auf zwei Instrumente, die auf seiner Seite außen am Korb hingen, und knurrte vor sich hin.
«Wozu sind die da?«fragte ich.
«Höhenmesser, Steiggeschwindigkeitsmesser«, antwortete er.
«Wir sind jetzt fünftausend Fuß hoch und steigen mit achthundert Fuß pro Minute.«
«Steigen?«
«Na sicher. «Auf seinem Gesicht erschien plötzlich ein wölfisches Grinsen, aus dem ich unschwer die wilde, ruchlose Freude des ungezogenen Kindes herauslesen konnte.»Deshalb wollte ja Popsy nicht mit. Irgend jemand hat ihr gesteckt, daß ich hoch raufgehen wollte. Und das mochte sie nicht mitmachen.«
«Wie hoch?«fragte ich.
«Ich mache nie halbe Sachen«, sagte er.»Wenn ich an Wettfahrten teilnehme, dann tue ich das, um zu gewinnen. Alle wissen, daß ich gewinne. Und das mögen sie gar nicht. Sie meinen, man darf kein Risiko eingehen. Sind alle so sicherheitsbewußt heutzutage. und werden immer schlapper. Ha!«Seine Verachtung kannte keine Grenzen.»Früher, Anfang des Jahrhunderts, bei den Gordon-Bennet-Rennen etwa, da flogen sie zwei Tage und tausend Meilen und mehr. Aber heute? Sicherheit, Sicherheit, nichts als Sicherheit. «Er starrte mich an.»Wenn ich keinen Mitfahrer haben müßte, dann hätte ich bestimmt keinen. Die haben nur dauernd was zu meckern und zu klagen.«
Er zog eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche und steckte sich eine an. Wir waren von Flaschen voller Flüssiggas umgeben. Ich dachte an die Schilder, die Rauchen und offenes Feuer im Umkreis von Treibstofftanks verbieten — und schwieg.
Der Ballonpulk unter uns schien nach links zu schwenken, aber dann merkte ich, daß wir es waren, die nach rechts abdrehten. John Viking nahm die Richtungsänderung mit großer Befriedigung zur Kenntnis und entzündete ein länger anhaltendes Brennerfeuer. Wir stiegen jetzt deutlich schneller, und die Sonne stand nun nicht mehr hinter uns, sondern auf der Steuerbordseite.
Trotz des Sonnenscheins wurde es ziemlich kalt. Ein Blick über den Korbrand zeigte die Erde tief unter uns — man konnte jetzt sehr weit sehen. Ich studierte die Karte und behielt unsere Position im Auge.
«Was haben Sie an?«fragte er.
«Mehr oder weniger das, was Sie sehen«, sagte ich.
«Hm.«
Wenn der Brenner lief, wurde es über einem fast schon ein bißchen zu heiß, und aus der unteren Öffnung des Ballons strömte stets ein gewisses Maß warmer Luft. Wind gab es keinen, da der Ballon ja mit dem Wind fuhr, das heißt mit der Geschwindigkeit des Windes. Es lag einzig und allein an der Höhe, daß einem kalt wurde.
«Wie hoch sind wir jetzt?«fragte ich ihn.
Er blickte auf seine Instrumente.»Elftausend Fuß.«
«Und wir steigen weiter?«
Er nickte. Die anderen Ballons, linker Hand und weiter unter uns, wirkten vor dem Grün der Erde wie eine ferne Anhäufung leuchtend bunter Farbkleckse.
«Die werden alle da unten bei dreitausend Fuß bleiben«, sagte er.»Wegen des Flugverkehrs. «Er warf mir einen schnellen Seitenblick zu.»Sie können’s da auf der Karte sehen. Die Luftstraßen, die die zivilen Flieger benutzen, sind da eingezeichnet, ebenso die Höhen, die für andere gesperrt sind.«
«Und man darf auch mit dem Ballon so eine Straße nicht in elftausend Fuß Höhe durchqueren?«
«Sie sind gar nicht dumm, Sid«, sagte er grinsend.
Er betätigte den Hebel, der Brenner fauchte los und machte der Unterhaltung ein Ende. Ich verglich Landschaftsbild und Karte und hätte beinahe die Orientierung verloren, denn wir schienen plötzlich viel schneller vorangekommen zu sein — und nun deutlich in südöstlicher Richtung. Als ich wieder hinuntersah, waren die anderen Ballons nicht mehr auszumachen.
Als es wieder still geworden war, erklärte mir John Viking, daß die Helfer der anderen Ballonfahrer ihnen im Auto folgten, um sie einzusammeln, wenn sie gelandet waren.
«Und was ist mit Ihnen?«fragte ich.»Folgt uns auch jemand?«
Etwa gar Peter Rammileese samt Ganoven, um sich am anderen Ende auf uns zu stürzen? Wir taten ihm dabei, dachte ich flüchtig, sogar noch den Gefallen und leiteten ihn nach Südosten, das heißt nach Kent und nach Hause.
John Viking grinste sein Wolfsgrinsen und sagte:»Kein Auto der Welt könnte heute an uns dranbleiben.«
«Ist das Ihr Ernst?«rief ich aus.
Er sah auf den Höhenmesser.»Fünfzehntausend Fuß«, sagte er.»Ich hab mir für diesen Trip von den Jungs im Tower den Wetterbericht geben lassen. Windgeschwindigkeit fünfzig Knoten aus zwei neun null in fünfzehntausend Fuß Höhe, haben die gesagt. Warten Sie nur ab, Sid, mein Freund — wir kommen noch nach Brighton!«
Ich sah uns beide da in unserem taillenhohen, quadratmetergroßen Weidenkorb stehen, der von Terylen und heißer Luft getragen wurde und fünfzehntausend Fuß über dem Erdboden und — ohne daß man es wahrnahm — mit fünfundsiebzig Meilen pro Stunde dahinfuhr. Ziemlich verrückt, dachte ich.
Vom Boden aus gesehen würden wir nur noch ein schwarzer Fleck sein. Kein Auto konnte mit uns mithalten. Ich grinste John Viking mit einer Zufriedenheit an, die ebenso groß war wie die seine, und er lachte laut auf.
«Kaum zu glauben«, sagte er.»Endlich habe ich mal jemanden hier oben dabei, der sich nicht vor Angst in die Hosen macht.«
Er steckte sich wieder eine Zigarette an und nahm dann einen der zum Brenner führenden Zuleitungsschläuche von einer Gasflasche ab und schraubte ihn auf die nächste. Dazu mußte er den Hahn der leeren Flasche zudrehen, das Verbindungsstück abschrauben, es auf die nächste Flasche aufschrauben und deren Hahn aufdrehen. Es gab zwei Zuleitungen, je eine für die vier Flaschen auf beiden Seiten des Korbes. Er hatte dabei die ganze Zeit die Zigarette im Mund und blinzelte durch den Rauch.
Ich hatte auf der Karte festgestellt, daß wir direkt auf die An- und Abflugschneise von Gatwick zufuhren, wo große Flugzeuge rauf- und runterdonnerten und dabei keinen wabbeligen Ballon erwarteten, der unerlaubterweise ihre Bahn kreuzte.
Seine Freude am Risiko war für meinen Geschmack ein bißchen zu groß. Im Vergleich dazu nahm sich das Reiten von Hindernisrennen unten auf der Erde ziemlich zahm aus. Aber das tat ich ja nicht mehr, durchzuckte es mich, sondern ich gab mich statt dessen mit Leuten ab, die damit drohten, einem die Hände wegzuschießen. und wenn man das bedachte, war ich sehr viel sicherer hier oben bei John Viking dem Verrückten, bei Propangas und Zigaretten und drohenden Zusammenstößen mit Flugzeugen und was sonst nicht allem.
«Gut«, sagte er,»wir bleiben jetzt für anderthalb Stunden, wie und wo wir sind, und lassen uns vom Wind trei-ben. Wenn Ihnen ein bißchen schummerig wird, dann ist das nur der Sauerstoffmangel. «Er nahm wollene Handschuhe aus der Tasche und zog sie sich an.»Ist Ihnen kalt?«
«Ja, ein bißchen.«
Er grinste.»Ich hab Liebestöter unter meinen Jeans und zwei Pullover unter dem Anorak. Tja, Sie müssen halt ein bißchen frieren.«
«Herzlichen Dank. «Ich legte die Karte auf den Boden, stellte einen Fuß darauf und schob meine echte Hand tief in die Tasche meines Baumwollanoraks. Er meinte, daß wenigstens meine Kunsthand keine Frostbeulen kriegen könne. Dann betätigte er den Brenner, sah auf die Uhr, auf die Erde hinunter und auf den Höhenmesser — und schien mit dem Stand der Dinge zufrieden zu sein. Er sah mich ein bißchen verwundert an, und ich wußte, daß er sich nun, da er ein wenig Zeit hatte, die Frage stellte, wie ich eigentlich dahin gelangt war, wo ich gerade war.
«Ich bin eigens nach Highalane Park rausgekommen, um Sie, John Viking, zu sprechen«, sagte ich.
Er sah mich verblüfft an.»Können Sie Gedanken lesen?«
«Immer. «Ich zog die Hand aus der Tasche, steckte sie in eine andere und holte das Taschenbuch über Navigation heraus.»Ich wollte Sie nämlich hierzu befragen. Da steht Ihr Name drin.«
Er besah sich das Buch mit gefurchter Stirn und schlug die Titelseite auf.»Herr im Himmel, ich hab mich schon gewundert, wo das wohl abgeblieben sein könnte. Wie sind Sie da rangekommen?«
«Haben Sie es mal jemandem ausgeliehen?«
«Ich glaube nicht.«»Hm…«, sagte ich.»Wenn ich Ihnen jetzt jemanden beschreibe, könnten Sie mir dann sagen, ob Sie ihn kennen?«
«Schießen Sie los.«
«Ein Mann, etwa achtundzwanzig Jahre alt«, sagte ich.
«Dunkles Haar, gutaussehend, immer zu Späßchen und Witzen aufgelegt, sehr umgänglich, mag die Frauen, ist ein guter Kumpel, hat die Angewohnheit, unter der Socke ein ans Bein geschnalltes Messer mit sich herumzutragen, und ist sehr wahrscheinlich ein Gauner.«
«Ja doch«, sagte er und nickte.»Das ist mein Vetter.«
Kapitel 12
Sein Vetter Norris Abbot. Was der jetzt schon wieder angestellt habe, wollte er wissen, und ich fragte, was es denn zuvor alles gewesen sei.
«Eine Reihe ungedeckter Schecks, für die seine Mutter geradestehen mußte.«
Wo er denn wohne, fragte ich. Das wußte John Viking nicht. Er sehe Norris nur, wenn er gelegentlich mal bei ihm auftauche, zumeist pleite, um sich zum Essen einladen zu lassen.
«Ein Lacher pro Minute, ein oder zwei Tage lang, dann ist er wieder weg.«
«Und wo wohnt seine Mutter?«
«Sie ist tot. Er hat jetzt niemanden mehr. Keine Eltern oder Geschwister. Keine Verwandten außer mir. «Er sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.»Wozu wollen Sie das denn alles wissen?«
«Eine Bekannte von mir sucht ihn. «Ich zuckte die Achseln.
«Nichts Wichtiges.«
Er verlor sofort das Interesse und ließ den Brenner wieder fauchen.»Wir brauchen hier oben doppelt soviel Gas wie in größerer Bodennähe«, erklärte er dann.»Deshalb hab ich auch soviel mit. Und deshalb konnte irgendein neugieriger Schnüffler Popsy auch verraten, daß ich weit rauf und durch die Luftstraße wollte.«
Nach meiner Schätzung konnte die Luftstraße nicht mehr sehr weit entfernt sein.
«Kriegen Sie da keine Schwierigkeiten?«fragte ich.
Das Wolfsgrinsen erschien und verschwand wieder.»Dazu müssen die uns erst mal finden. Wir sind ja auf dem Radarschirm nicht zu sehen. Zu klein für die Instrumente, die sie benutzen. Mit ein bißchen Glück kommen wir durch, ohne daß es jemand merkt.«
Ich hob die Karte vom Boden auf und studierte sie. In fünf zehntausend Fuß würden wir uns abgesehen von den letzten zweihundert Metern vom Erreichen des kontrollierten Luftraumes bis zur Landung durchweg in unerlaubten Bahnen bewegen. Die Untergrenze des Luftkorridors über Brighton lag bei tausend Fuß über Meereshöhe, und die Hügel im Norden der Stadt waren achthundert Fuß hoch. War John Viking dies alles bekannt? Ja, war es.
Als wir eine Stunde und fünfzig Minuten unterwegs gewesen waren, montierte er erneut die Brennstoffzuleitungen von leeren auf volle Flaschen um, und dabei passierte es, daß aus einem der Verbindungsstücke ein Strahl Flüssiggas herausgeschossen kam wie Wasser aus dem undichten Verbindungsstück eines Gartenschlauches. Der Strahl traf auf die freie Seitenwand des Korbes, ungefähr fünfzehn Zentimeter unterhalb des Randes.
John Viking rauchte natürlich wieder.
Das flüssige Gas begann in einem dünnen Rinnsal am Korbgeflecht nach unten zu rieseln. John Viking fluchte und kämpfte mit dem undichten Verbindungsstück, beugte sich dicht darüber — und seine brennende Zigarette entzündete das Gas.
Es kam nicht zu einem großen, alles beendenden Knall. Wie aus einer Düse zischte ein säuberlich gebündelter Feuerstrahl aus dem unteren Leitungsstück und traf auf das Korbgeflecht. John Viking warf die Zigarette über Bord, riß seine Segelmütze herunter und schlug mit weitausholenden Bewegungen auf die brennende Korbwand ein. Derweil gelang es mir, der Düse den Nachschub zu entziehen, indem ich den Hahn der Gasflasche zudrehte.
Als sich die Flammen und der Rauch und das Gefluche gelegt hatten, stellten wir ein großes Loch von fünfzehn Zentimeter Durchmesser in der Korbwand, sonst aber keine Beschädigungen fest.
«Körbe brennen nicht so leicht«, sagte er ruhig, als ob nichts gewesen wäre.»Hab noch keinen doller brennen sehen als den hier.«
Er untersuchte seine Mütze, in die schwarz geränderte Löcher gesengt waren, und schenkte mir einen vier Sekunden währenden, irren Blick seiner leuchtend blauen Augen.»Mit einem Sturzhelm kann man kein Feuer löschen«, sagte er.
Ich lachte ziemlich lange vor mich hin.
Es mußte die Höhe sein, dachte ich, die mich so haltlos kichern ließ.
«Ein Stück Schokolade?«fragte er.
In der Luft waren keine Schilder aufgestellt, die uns verraten hätten, wann wir die Grenzen der Luftstraße passierten. Wir sahen ein paar Flugzeuge in größerer Entfernung, keins in unserer Nähe. Niemand kam angesaust, um uns nach unten zu dirigieren. Wir segelten einfach so dahin, unbehelligt und schnell wie der Wind.
Um zehn nach fünf verkündete er, daß es Zeit zum Abstieg sei, denn wenn wir nicht genau um fünf Uhr dreißig am Boden wären, würden wir disqualifiziert werden — und das wollte er nicht. Er wollte gewinnen. Ums Gewinnen ging es ja schließlich bei der ganzen Sache.
«Wie läßt sich denn feststellen, wann genau wir gelandet sind?«erkundigte ich mich.
Er warf mir einen mitleidigen Blick zu und zeigte mit der Fußspitze auf einen kleinen Kasten, der in einer Ecke neben einer der Gasflaschen am Boden befestigt war.
«Da drin ist ein Barograph, vollgeklebt mit pompösen roten Siegeln. Das macht die Wettkampfleitung vor dem Start. Das Gerät zeigt jede Veränderung des Luftdrucks an. Ist höchst empfindlich. Unsere ganze Reise erscheint darauf wie eine lange Kette von Berggipfeln. Am Boden aber ist die Spur der Nadel ganz gleichmäßig und gerade. Sie sagt den Schiedsrichtern genau, wann man gestartet und wann gelandet ist. Alles klar?«
«Alles klar.«
«Okay, also runter mit uns.«
Er langte nach oben, löste eine am Rahmen des Brenners festgebundene rote Kordel und zog daran.»Man kann damit eine Klappe oben auf dem Ballon öffnen«, erklärte er.»Läßt die heiße Luft raus.«
Seine Vorstellung von einem Sinkflug war typisch für ihn. Die Nadel des Höhenmessers drehte sich rasend schnell, wie der Zeiger einer Uhr mit gebrochener Feder, und der Steiggeschwindigkeitsmesser zeigte tausend Fuß pro Minute — abwärts. Ihm schien das nichts anzuhaben, aber mir wurde leicht übel, und die Ohren taten mir weh. Schlucken machte die Sache ein bißchen erträglicher, aber eben nur ein bißchen. Um mich abzulenken, konzentrierte ich mich auf die Karte und versuchte festzustellen, wohin wir fuhren. Der Ärmelkanal lag wie ein großer, grauer Teppich zu unserer Rechten, und wenn es auch ganz unglaublich zu sein schien, so trieben wir doch, wie ich’s auch drehen und wenden mochte, direkt auf Beachy Head zu.
«Ja«, bestätigte John Viking beiläufig.»Müssen halt sehen, daß wir nicht vom Kliff gepustet werden. Vielleicht ist’s sogar besser, auf dem Strand ein Stück dahinter zu landen…«Er sah auf die Uhr.»Noch zehn Minuten. Wir sind noch immer tausend Fuß hoch… das ist schon in Ordnung. es könnte der Strand werden.«
«Nicht das Meer«, sagte ich beschwörend.
«Wieso nicht? Vielleicht müssen wir sogar.«
«Na ja«, sagte ich,»das hier…«Ich hob den linken Arm.»In diesem handförmigen Stück Plastik steckt eine Menge High-Tech. Eine starke Zange im Daumen und den beiden ersten Fingern. Eine Menge Präzisionsteile und Transistoren und Schaltkreise. Das ins Meer zu tauchen wäre so, als ließe man einen Radioapparat ins Wasser fallen. Die Hand wäre total hin. Und es würde mich zweitausend Pfund kosten, mir eine neue zu besorgen.«
Er war erstaunt.»Sie machen Witze!«
«Nein, keineswegs.«
«Dann lassen wir Sie wohl besser nicht naß werden. Und im übrigen glaube ich jetzt, wo wir so weit unten sind, nicht mehr, daß wir so weit nach Süden wie Beachy Head kommen. Wahrscheinlich weiter östlich davon. «Er hielt inne und sah zweifelnd auf meine linke Hand.»Es wird eine harte Landung werden. Das Flüssiggas ist wegen der großen Höhe sehr kalt. und der Brenner arbeitet dann nicht so gut. Es braucht Zeit, um genügend Luft für eine sanftere Landung warm zu machen.«
Eine sanftere Landung brauchte Zeit… zuviel Zeit,»Los, gewinnen Sie das Rennen«, sagte ich. Das reine Glück ließ sein Gesicht erstrahlen.»Wird gemacht«, sagte er entschieden.»Welcher Ort ist das da unmittelbar vor uns?«
Ich sah auf der Karte nach.»Eastbourne.«
Er blickte auf die Uhr.»Fünf Minuten. «Er sah auf den Höhenmesser, dann auf Eastbourne, auf das wir uns schnell hinabsenkten.»Zweitausend Fuß. Bißchen kitzlig, da auf den Dächern zu landen. Und hier unten ist nicht viel Wind… Aber wenn ich den Brenner noch mal laufen lasse, könnte es passieren, daß wir die Zeit überschreiten… Nein, kein Brenner.«
Tausend Fuß pro Minute, rechnete ich, das waren elf oder zwölf Meilen pro Stunde. Ich war jahrelang sehr oft mit doppelter Geschwindigkeit auf dem Boden aufgeschlagen… allerdings nicht in einem Korb und nicht auf einem Boden, der möglicherweise mit Ziegelsteinmauern verbaut war. Wir fuhren jetzt seitlich am Stadtzentrum vorbei, hatten überall Häuser unter uns. Wir verloren schnell an Höhe.»Noch drei Minuten«, sagte er.
Vor uns, unmittelbar am anderen Ende der Stadt, lag wieder das Meer, und einen Augenblick sah es ganz so aus, als würden wir am Ende doch darin landen. John Viking aber wußte es besser.
«Festhalten!«rief er.»Es ist soweit.«
Er zog kräftig an der roten, nach oben in den Korb hineinführenden Schnur. Irgendwo hoch über uns wurde die Öffnung, durch die die heiße Luft entwich, noch weiter aufgerissen, die Tragkraft des Ballons schwand, und der bebaute Teil von Eastbourne kam mit einem Ruck auf uns zu.
Wir schabten über die Giebel grauer Schieferdächer, schossen schräg über eine Straße und eine Rasenfläche hinab und krachten auf eine breite Betonpromenade, die sieben Meter von den Wellen entfernt am Strand entlanglief.
«Nicht aussteigen! Nicht aussteigen!«rief John Viking mir zu. Der Korb kippte zur Seite und fing an, über den
Beton zu schurren, gezogen von der noch immer halb aufgeblasenen Stoffmasse.
«Ohne unser Gewicht kann er immer noch wegfliegen.«
Da ich wieder zwischen den Gasflaschen eingeklemmt war, war seine Anweisung überflüssig. Der Korb ruckte und schlingerte noch ein paarmal hin und her, und ich mit ihm, und John Viking fluchte und zerrte an seiner roten Kordel — und hatte endlich soviel heiße Luft abgelassen, daß wir zum Stillstand kamen.
Er sah auf die Uhr, und seine blauen Augen leuchteten triumphierend.
«Wir haben’s geschafft. Fünf Uhr neunundzwanzig. Das war ein verdammt gutes Rennen. Das beste überhaupt. Was machen Sie am nächsten Samstag?«
Ich fuhr mit der Bahn nach Aynsford zurück, was eine Ewigkeit dauerte, und als mich Charles am Bahnhof von Oxford abholte, war es schon kurz vor Mitternacht.
«Du hast die Ballonwettfahrt mitgemacht?«wiederholte er ungläubig.»Und hat es Spaß gemacht?«
«Großen.«
«Dein Auto steht noch in Highalane Park?«
«Das kann bis morgen warten«, gähnte ich.»Übrigens hat Nicholas Ashe jetzt einen richtigen Namen. Er heißt Norris Abbot. Die gleichen Initialen, dieser Blödmann.«
«Willst du’s der Polizei mitteilen?«
«Wir sehen erst mal, ob wir ihn finden können.«
Er warf mir einen Seitenblick zu.»Jenny ist heute abend zurückgekommen. Nach deinem Anruf.«
«O nein!«
«Ich wußte wirklich nichts davon.«
Ich nahm an, daß ich ihm Glauben schenkte. Ich hoffte, sie würde vor unserer Ankunft zu Bett gegangen sein, aber dem war nicht so. Sie saß auf dem brokatenen Sofa im Wohnzimmer und sah streitsüchtig aus.
«Ich mag es ganz und gar nicht, daß du so oft herkommst«, sagte sie.
Ein Stich mitten ins Herz von meiner schönen Frau.
Charles sagte besänftigend:»Sid ist hier immer willkommen.«
«Abgelegte Ehemänner sollten soviel Stolz besitzen, nicht dauernd um ihre Schwiegerväter herumzuscharwenzeln, die sich das nur gefallen lassen, weil sie Mitleid mit ihnen haben.«
«Du bist ja eifersüchtig!«sagte ich überrascht.
Sie stand schnell auf, war so wütend, wie ich sie noch nie gesehen hatte.
«Wie kannst du es wagen!«schrie sie.»Er ergreift immer deine Partei. Er hält dich für so verdammt wunderbar. Weil er dich nicht so gut kennt wie ich, nicht weiß, wie stur du bist und gemein. und immer meinst, du wärst im Recht.«
«Ich gehe zu Bett«, sagte ich.
«Und ein Feigling bist du außerdem«, zischte sie erbost.
«Läufst schon vor ein paar schlichten Wahrheiten davon.«
«Gute Nacht, Charles«, sagte ich.»Gute Nacht, Jenny. Schlaf, gut, meine Liebe, und träum was Hübsches.«
«Du…«:, stieß sie hervor.»Du… ich hasse dich, Sid.«
Ich verließ das Wohnzimmer ohne ein weiteres Wort und ging nach oben in das Schlafzimmer, das ich als das meine ansah — das, in dem ich immer schlief, wenn ich jetzt nach Aynsford kam.
Du brauchst mich nicht zu hassen, Jenny, dachte ich unglücklich. Ich hasse mich schon selbst.
Charles fuhr mich am nächsten Morgen nach Wiltshire, wo ich mein Auto abholte, das noch auf dem gleichen Platz stand, auf dem ich es abgestellt hatte, nur jetzt inmitten einer riesigen, völlig leeren Rasenfläche. Kein Peter Rammi-leese war zu sehen, keine Schläger lauerten im Hinterhalt. Alles klar für eine ereignislose Rückkehr nach London.
Als ich die Autotür aufschloß, sagte Charles:»Hör nicht auf das, was Jenny von sich gibt, Sid.«
«Nein.«
«Komm nach Aynsford, wann immer du willst.«
Ich nickte.
«Ich meine das ernst, Sid.«
«Ja, ich weiß.«
«Vermaledeite Jenny!«brauste er auf.
«Ach nein. Sie ist nur unglücklich. Sie…«, ich machte eine Pause und fügte dann hinzu:»Ich glaube, sie braucht Trost. Eine Schulter, an der sie sich ausweinen kann, so was.«
«Mit Tränen kann ich gar nichts anfangen«, erwiderte er streng.
«Nein, ich weiß. «Ich seufzte, stieg ins Auto, winkte ihm einen Abschiedsgruß zu und fuhr über das holprige Gras zur Ausfahrt. Die Hilfe, die Jenny brauchte, würde sie von mir nie annehmen, und ihr Vater wußte nicht, wie er ihr helfen konnte. Noch so ein verdammter Schlamassel, noch so eine blödsinnige Ironie des Schicksals.
Ich fuhr in die Stadt und landete nach kurzer Parkplatzsuche in den Redaktionsräumen von Antiques for All, die sich als nur eine von mehreren Fachzeitschriften herausstellte, die ein Zeitungsverlag hier produzierte. Ich erklärte dem Redakteur von Antiques, einem blonden, ernsten jungen Mann mit dickrandiger Brille, die Situation und meine Wünsche.
«Unsere Versandliste?«sagte er zweifelnd.»Adressenlisten sind absolut vertraulich, wissen Sie.«
Ich erklärte ihm alles noch einmal, bauschte die Geschichte noch ein bißchen mehr auf. Mein treusorgendes Weib hinter Gittern, wenn ich den Betrüger nicht ausfindig machen könne — so in dieser Art.
«Na schön«, sagte er schließlich.»Aber wir haben sie im Computer gespeichert, und Sie müssen ein wenig warten, bis der Ausdruck fertig ist.«
Ich wartete geduldig und erhielt am Ende einen Stapel Papier mit 53000 Namen und Adressen, vielleicht abzüglich einiger verstorbener Bezüger.
«Wir wollen sie wiederhaben«, sagte er mahnend.»Ohne Kritzeleien drauf und vollständig.«
«Wie ist Norris Abbot da rangekommen?«fragte ich. Das wußte er nicht, und weder der Name noch die Beschreibung von Abbot/Ashe sagten ihm irgend etwas.
«Könnten Sie mir zusätzlich noch ein Freiexemplar Ihrer Zeitschrift zur Verfügung stellen?«
Ich bekam auch das und machte mich schnell davon, bevor er seine Großzügigkeit bedauern konnte. Wieder im Auto, rief ich Chico an und bat ihn, in meine Wohnung zu kommen.»Warte unten vor dem Haus auf mich«, sagte ich.»Dann kannst du meine Tasche rauftragen und dir dein Gehalt verdienen.«
Er war da, als ich vor einer freien Parkuhr anhielt, und wir gingen zusammen nach oben. Die Wohnung war leer und still und sicher.
«Eine Menge Lauferei, mein Sohn«, sagte ich, holte die Adressenliste aus der Reisetasche, in die ich sie gepackt hatte, und legte sie auf den Tisch.»Das gehört alles dir.«
Er besah sie sich ohne Begeisterung.»Und was ist mit dir?«
«Rennen in Chester«, antwortete ich.»Eins von den Syndikatspferden läuft morgen dort. Wir treffen uns am Donnerstagmorgen um zehn wieder hier, okay?«
«Ja. «Er dachte nach.»Mal angenommen, unser guter Nicky ist noch nicht soweit und läßt seine Spendenaufrufe erst nächste Woche rausgehen, nachdem wir nichts als Nieten gezogen haben?«
«Hm, ja… Nimm besser ein paar Selbstklebeetiketten mit meiner Anschrift mit und bitte die Leute, uns die Briefe herzuschicken, falls sie welche bekommen.«
«Vielleicht haben wir ja Glück.«
«Man kann nie wissen. Niemand läßt sich gern übers Ohr hauen.«
«Na gut, dann will ich mal anfangen. «Er nahm die Adressenliste und das Freiexemplar der Zeitschrift an sich und wandte sich zum Gehen.
«Ach, Chico… bleib doch bitte noch, bis ich meine Tasche gepackt habe. Ich denke, ich mach mich gleich auf den Weg nach Norden. Warte noch, bis ich fertig bin.«
Er war verwirrt.»Wenn du meinst. Aber wieso?«
«Äh…«
«Na los, Sid, raus damit.«
«Peter Rammileese und zwei Typen waren gestern in Highalane Park hinter mir her. Deshalb wär's mir lieber, du bleibst noch, bis ich hier raus bin.«
«Was für Typen?«fragte er argwöhnisch.
Ich nickte.»Eben solche. Harter Blick und harte Stiefel.«»Typen, die in Tunbridge Wells Leute halb zu Tode treten?«
«Möglicherweise.«
«Du bist ihnen also entwischt, wie ich sehe.«
«In einem Heißluftballon. «Ich erzählte ihm von der Wettfahrt, während ich ein paar Sachen in meinen Koffer packte. Er lachte über die Geschichte, kam dann aber sehr ernst wieder zur Sache.
«Diese beiden Typen von dir, das klingt gar nicht nach den üblichen Mietganoven«, sagte er.»Laß mich mal das Jackett da zusammenlegen. Du trittst ja sonst total zerknittert in Chester auf.«
Er nahm mir das Packen ab, erledigte es schnell und gekonnt.
«Hast du die Ersatzbatterien? Im Bad liegt noch eine. «Ich holte sie.»Weißt du, Sid, diese Syndikate gefallen mir gar nicht. «Er machte die Schlösser zu und trug den Koffer in den Flur.»Laß uns Lucas Wainwright sagen, daß wir von dem Auftrag zurücktreten.«
«Und wer sagt Peter Rammileese Bescheid?«
«Wir. Wir rufen ihn an und sagen’s ihm.«
«Dann mach’s«, sagte ich.»Jetzt gleich.«
Wir standen im Flur und sahen uns an. Dann zuckte er die Achseln und nahm den Koffer auf.»Hast du alles?«fragte er.
«Regenmantel?«Wir gingen hinunter zum Auto und verstauten den Koffer im Gepäckraum,»Hör zu, Sid, paß auf dich auf, ja? Ich mag keine Krankenhausbesuche, das weißt du.«
«Und verschmeiß du mir ja die Adressenliste nicht«, sagte ich.
«Sonst wird der Redakteur von Antiques sehr, sehr böse.«
Ich quartierte mich unbehelligt in einem Motel ein und verbrachte den Abend vor dem Fernseher. Am Nachmittag des folgenden Tages gelangte ich dann problemlos zum Rennen nach Chester.
Die übliche Menschenmenge hatte sich versammelt, stand wie üblich herum und führte die üblichen Gespräche. Es war das erste Mal seit der trübseligen Woche in Paris, daß ich wieder auf eine Rennbahn kam, und es schien mir, als ich sie betrat, daß die Veränderung, die sich in mir vollzogen hatte, deutlich zu sehen sein müßte. Aber natürlich bemerkte niemand das brennende Gefühl der Scham, das mich erfüllte, als ich George Caspar vor der Waage stehen sah, und es gab auch niemanden, der mir anders als sonst begegnet wäre. Ich war es, ich allein, der wußte, daß ich das freundliche Lächeln und die Begrüßung der Menschen nicht verdiente. Ich war ein Betrüger. Ich wand mich innerlich, hatte nicht geahnt, daß ich mich so mies fühlen würde.
Der Trainer aus Newmarket, der mir angeboten hatte, mal wieder mit seinem Lot rauszureiten, war da und wiederholte seine Einladung.
«Also wie steht’s? Komm doch schon am Freitag zu uns, übernachte bei uns und reite dann am Samstag mit zur Morgenarbeit.«
Man hätte mir, so ging mir durch den Kopf, wirklich nichts Schöneres bieten können — außerdem würde es Peter Rammileese und seinen lustigen Gesellen nicht gerade leichtfallen, mich dort ausfindig zu machen.
«Gut, Martin… ja, ich komme sehr gern.«
«Großartig. «Er schien wirklich erfreut zu sein.»Komm am Freitagabend zum Rundgang durch die Ställe.«
Er verschwand in der Waage, und ich fragte mich, ob er mich wohl auch eingeladen hätte, wenn ihm bekannt gewesen wäre, wie ich den Tag der 2000 Guineas verbracht hatte.
Bobby Unwin nagelte mich mit fragendem Blick fest.»Wo hast du denn gesteckt? Ich habe dich gar nicht bei den Guineas gesehen.«
«Ich war nicht dort.«
«Ich dachte, du hättest gar nicht anders gekonnt, als dabei zu sein, wo du dich doch so lebhaft für >Tri-Nitro< interessiert hast.«
«Es ging auch ohne.«
«Ich glaube, du hast gerochen, daß da irgendwas im Busch war, Sid. Dieses ganze Interesse an den Caspars und an >Gleaner< und >Zingaloo<. Los, nun mal raus damit, was weißt du?«
«Nichts, Bobby.«
«Ich glaube dir kein Wort. «Er warf mir einen harten, unversöhnlichen Blick zu und richtete seine Hakennase dann auf erfolgversprechenderes Material in Gestalt eines Spitzentrainers, der gerade eine Pechsträhne hatte. Es würde wohl schwerfallen, dachte ich, ihn im Bedarfsfalle noch einmal dazu zu bewegen, mir behilflich zu sein.
Rosemary Caspar kam, mit einer Freundin plaudernd, daher und rannte fast in mich hinein, bevor noch der eine die Anwesenheit des anderen registriert hatte. Ihr Blick ließ den von Bobby Unwin geradezu liebevoll erscheinen.
«Verschwinden Sie«, sagte sie heftig.»Was haben Sie hier zu suchen?«
Die Freundin blickte einigermaßen überrascht drein. Ich trat schweigend beiseite, was sie noch mehr verwunderte. Rosemary zog sie ungeduldig weiter, und ich hörte die Freundin mit erhobener Stimme sagen:»Aber Rosemary, das war doch Sid Halley.«
Mein Gesicht fühlte sich völlig erstarrt an. Das ist wirklich ein bißchen viel, dachte ich. Ich hätte ihrem Pferd nie zum Sieg verhelfen können, auch dann nicht, wenn ich geblieben wäre. Es war unmöglich gewesen… aber vielleicht hätte ich es doch gekonnt. Ich würde immer glauben, daß ich es vielleicht doch geschafft hätte, wenn ich es nur versucht hätte. Wenn ich nicht eine so wahnsinnige Angst gehabt hätte.
«Hallo, Sid«, sagte eine Stimme neben mir.»Herrlicher Tag, was?«
«O ja, wunderschön.«
Philip Friarly sah lächelnd der sich entfernenden Rosemary nach.»Seit dem Desaster letzte Woche faucht sie jeden an. Arme Rosemary. Nimmt sich die Dinge immer so zu Herzen.«
«Das kann man ihr wohl kaum verübeln«, sagte ich.»Sie hat gesagt, daß es so kommen würde, aber niemand wollte ihr glauben.«
«Hat sie es Ihnen auch gesagt?«fragte er neugierig. Ich nickte.
«Ja, dann«, meinte er verständnisvoll,»sehr ärgerlich für Sie.«
Ich atmete tief durch und zwang mich, das Thema zu wechseln.»Ihr Pferd heute«, sagte ich.»Wollen Sie das mit dem Flachrennen hier nur ein bißchen auf Trab bringen?«
«Ja«, erwiderte er kurz.»Und falls Sie mich fragen wollen, wie es laufen wird, dann muß ich Ihnen sagen, daß das ganz davon abhängt, wer die Anweisungen erteilt und wer sie entgegennimmt.«
«Das ist zynisch.«
«Haben Sie schon irgendwas für mich herausfinden können?«
«Nicht sehr viel. Deshalb bin ich auch hier. «Ich machte eine Pause. Dann fragte ich:»Wissen Sie den Namen und die Adresse von demjenigen, der Ihre Syndikate gegründet hat?«
«Nein, nicht auswendig«, sagte er.»Ich hatte nie persönlich mit ihm zu tun, wissen Sie. Die Syndikate bestanden ja schon, als man mich bat, ihnen beizutreten. Die Pferde waren auch schon angeschafft und die meisten Anteile verkauft.«
«Man hat Sie benutzt«, sagte ich.»Ihren Namen. Als respektables Aushängeschild.«
Er nickte unglücklich.»Das fürchte ich auch.«
«Kennen Sie Peter Rammileese?«
«Wen?«Er schüttelte den Kopf.»Nie von ihm gehört.«
«Er kauft und verkauft Pferde«, klärte ich ihn auf.»Lucas Wainwright meint, daß er es ist, der Ihre Syndikate gegründet hat und der sie auch steuert. Und er ist ein rotes Tuch für den Jockey Club und darf die meisten Rennbahnen nicht betreten.«
«Du liebe Güte. «Er klang bestürzt.»Wenn sich Lucas schon damit befaßt… Was, meinen Sie, sollte ich tun, Sid?«
«Wenn ich’s von Ihrem Standpunkt aus betrachte«, sagte ich,»dann wäre es wohl das beste, denke ich, wenn Sie Ihre Anteile verkaufen oder die Syndikate ganz auflösen und dafür sorgen, daß Ihr Name da so schnell wie möglich rauskommt.«
«In Ordnung, das werde ich machen. Und, Sid… wenn ich mal wieder in Versuchung geführt werde, dann lasse ich erst mal alle Mitglieder des Syndikats von Ihnen überprüfen. Das hätte bei den bestehenden ja eigentlich die Sicherheitsabteilung tun sollen, aber man sieht ja, was dabei herauskommt.«»Wer reitet heute Ihr Pferd?«erkundigte ich mich.
«Larry Server.«
Er wartete auf einen Kommentar, aber ich sagte nichts. Larry Server war ein mittelmäßiger Reiter, mittelmäßig bezahlt, ritt zumeist Flach- und manchmal Hindernisrennen und war meiner Ansicht nach anfällig für krumme Touren.
«Wer sucht den Jockey aus?«fragte ich statt dessen.»Larry Server reitet doch eigentlich nicht sehr häufig für den Trainer Ihres Pferdes.«
«Ich weiß es nicht«, sagte er unsicher.»Natürlich überlasse ich das ganz dem Trainer.«
Ich verzog das Gesicht, nur ein ganz klein wenig.
«Finden Sie das falsch?«sagte er.
«Wenn Sie möchten«, sagte ich,»gebe ich Ihnen mal eine Liste von Jockeys für Ihre Springpferde, bei denen Sie sich darauf verlassen können, daß sie zumindest versuchen, ein Rennen zu gewinnen. Ob sie’s dann auch schaffen, kann ich nicht garantieren, aber man kann schließlich nicht alles haben.«
«Und wer ist jetzt zynisch?«Er lächelte und sagte mit offenkundigem, mir das Herz durchbohrendem Bedauern:»Ich wünschte, Sie ritten sie noch, Sid.«
«Ja. «Ich sagte es lächelnd, aber er hatte das Flackern in meinen Augen, das ich nicht hatte unterdrücken können, sehr wohl bemerkt.
Mit einem Mitgefühl, das mir ganz und gar nicht lieb war, sagte er:»Es tut mir wirklich leid.«
«Es war schön, solange es währte«, erwiderte ich leichthin.
«Und das ist schließlich das Wichtigste.«
Er schüttelte den Kopf, unglücklich über seine eigene Ungeschicklichkeit.
«Sehen Sie mal«, sagte ich,»wenn Sie froh wären, daß ich sie nicht mehr reite, dann würde ich mich doch erheblich unwohler fühlen.«
«Ach ja, das waren schon schöne Zeiten. Ganz außergewöhnlich schöne, nicht wahr?«
«Ja, ohne Frage.«
Zwischen Besitzer und Jockey konnte ein Einvernehmen entstehen, dachte ich, das äußerst eng war. In dem kleinen Bereich, wo sich ihre Daseinssphären berührten, wo Schnelligkeit und Sieg alles war, was zählte, konnte eine heimlich geteilte Freude entstehen, die so fest und dauerhaft verband wie ein gemeinsames Geheimnis. Ich hatte dieses Gefühl nicht oft und nicht bei vielen von den Leuten gehabt, für die ich geritten war, bei Philip Friarly aber so gut wie immer.
Ein Mann löste sich aus einer in unserer Nähe stehenden Gruppe und kam lächelnd auf uns zu.
«Philip, Sid. Nett, Sie beide zu sehen.«
Wir erwiderten seinen Gruß, und das mit echtem Vergnügen, denn Sir Thomas Ullaston, der amtierende Senior Steward, der Chef des Jockey Club und damit mehr oder weniger Herr der gesamten Rennindustrie, war ein vernünftiger Mann und ein sehr fairer, aufgeschlossener Chef. Manchmal ein bißchen hart, wie einige meinten, aber sein Job war nun mal nichts für Weichlinge. In der kurzen Zeit, die er das Amt innehatte, waren schon eine ganze Reihe guter Regelungen eingeführt und vorhandene Ungerechtigkeiten beseitigt worden, und er war so entschlußfreudig, wie sein Vorgänger schwach gewesen war.
«Na, wie geht’s, Sid?«erkundigte er sich.»Mal wieder ein paar nette Ganoven geschnappt in jüngster Zeit?«
«Nicht in jüngster Zeit«, sagte ich bedauernd. Er wandte sich lächelnd an Philip Friarly.»Wußten Sie, daß unser lieber Sid hier die Sicherheitsabteilung um ihre Arbeit bringt? Eddy Keith kam am Montag in mein Büro und beschwerte sich, daß wir Sid viel zu freie Hand ließen. Er verlangte, daß wir ihm die Tätigkeit auf dem Rennplatz untersagen.«
«Eddy Keith?«sagte ich.
«Nun schauen Sie doch nicht so entsetzt drein, Sid«, meinte Sir Thomas scherzhaft.»Ich habe ihm gesagt, daß der Rennsport Ihnen sehr viel zu verdanken habe, von der Rettung der Rennbahn in Seabury bis zu vielem anderem mehr, und daß sich der Jockey Club nie und nimmer in Ihre Arbeit einmischen würde, es sei denn, Sie täten etwas absolut Diabolisches, was ich Ihnen aber im Lichte unserer bisherigen Erfahrungen nicht zutraue.«
«Danke«, sagte ich matt.
«Und Sie dürfen davon ausgehen«, fuhr er mit Bestimmtheit fort,»daß das nicht nur meine persönliche, sondern die offizielle Auffassung des Jockey Club ist.«
«Warum«, fragte ich,»will Eddy Keith mich denn gestoppt sehen?«
Er zuckte die Achseln.»Irgendwas von wegen Zugang zu den Akten des Jockey Club. Sie haben da wohl welche eingesehen, und das war ihm nicht genehm. Ich hab ihm gesagt, daß er halt damit leben müsse, weil ich ganz und gar nicht bereit sei, jemandem Beschränkungen irgendwelcher Art aufzuerlegen, den ich als eine dem Rennsport förderliche Instanz ansähe.«
Ich war mir nur allzu schmerzlich bewußt, wie wenig ich dies alles verdient hatte, aber er ließ mir keine Zeit, Einwände zu erheben.
«Warum kommen Sie beide eigentlich nicht auf einen Drink und ein Sandwich mit nach oben? Kommen Sie, Sid, Philip.«
Er drehte sich um, winkte uns, ihm zu folgen, und ging uns voran.
Wir gingen die Treppe hinauf, an deren Fuß das Schild» Privat «angebracht war und die auf den meisten Rennbahnen den Zugang zu dem gepflegten Luxus der Stewardsloge mit ihrem weichen Teppichboden und der verglasten Frontseite bildete, von der aus man einen guten Ausblick auf die von den weißgestrichenen Rails eingefaßte Bahn hatte. Es standen dort schon ein paar Grüpp-chen zusammen, und ein Ober servierte auf einem Tablett verschiedene Getränke.
«Ich denke, Sie kennen die meisten«, sagte Sir Thomas, der es sich als Gastgeber angelegen sein ließ, uns vorzustellen.»Madelaine, meine Liebe«, sagte er, an seine Frau gewandt,»du kennst doch Lord Friarly und Sid Halley?«Sie reichte uns die Hand.
«Ach ja, Sid«, sagte er dann und berührte meinen Arm. Ich drehte mich um und stand einem weiteren seiner Gäste Auge in Auge gegenüber.
«Sie kennen Trevor Deansgate?«
Kapitel 13
Wir starrten uns an, wahrscheinlich beide gleich fassungslos.
Ich dachte daran, wie er mich beim letzten Mal gesehen hatte — in der Scheune auf dem Rücken liegend, schlotternd vor Angst. Das kann er noch immer in meinem Gesicht sehen, dachte ich. Er weiß, was er aus mir gemacht hat. Ich kann aber nicht einfach dastehen und mich nicht rühren… und doch konnte ich nicht anders. Mein Kopf schien irgendwo über mir und losgelöst vom Rest meines Körpers herumzuschweben, und entsetzlich viel Entsetzliches wurde in vier Sekunden hineingepreßt.
«Die Herren kennen sich?«sagte Sir Thomas, ein wenig verwirrt.
Trevor Deansgate erwiderte:»Ja, wir sind uns mal begegnet.«
Wenigstens war kein Spott zu bemerken, weder in seinem Blick noch in seiner Stimme. Wenn es nicht ziemlich undenkbar gewesen wäre, hätte ich gemeint, daß er eher so aussah, als sei er auf der Hut.
«Einen Drink, Sid?«fragte Sir Thomas, und da merkte ich erst, daß der Ober mit dem Tablett wartend neben mir stand. Ich nahm ein Glas mit whiskyfarbenem Inhalt und versuchte, meine Finger am Zittern zu hindern.
Sir Thomas machte Konversation.»Ich habe Sid gerade gesagt, wie sehr der Jockey Club seine Erfolge zu würdigen weiß, und das scheint ihm die Sprache verschlagen zu haben.«
Weder Trevor Deansgate noch ich sagten etwas. Sir Thomas hob die Augenbrauen ein ganz klein wenig und unternahm einen erneuten Versuch.»Also, Sid, jetzt geben Sie uns mal einen guten Tip fürs Hauptrennen.«
Ich zwang meinen wirren Kopf dazu, wenigstens so zu tun, als gehe das Leben wie gewohnt weiter.
«Oh… ich würde sagen >Winetaster<.«
In meinen Ohren hörte sich meine Stimme sehr angespannt an, aber Sir Thomas schien das nicht wahrzunehmen. Trevor Deansgate blickte auf das Glas in seiner fein manikürten Hand hinab und ließ die Eiswürfel in der goldenen Flüssigkeit kreisen. Ein anderer Gast sprach Sir Thomas an, und dieser wandte sich ab, woraufhin Trevor Deansgates Blick sofort zu meinem Gesicht zurückkehrte, nichts als wilde, nackte Drohung darin. Seine Stimme, schnell und hart, kam direkt aus den primitiven Niederungen, wo Gewalt, Rachsucht und absolute Gnadenlosigkeit herrschen.
«Wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten, werde ich meine Ankündigung wahr machen.«
Er sah mir fest in die Augen, bis er sicher war, daß ich ihn verstanden hatte, und wandte sich dann ebenfalls ab, wobei ich sehen konnte, wie sich die Muskeln seines Oberkörpers unter dem Jackett eindrucksvoll wölbten.
«Sid«, sagte Philip Friarly und trat wieder zu mir,»Lady Ullaston hätte gern gewußt… sagen Sie mal, fühlen Sie sich nicht gut?«
Ich schüttelte den Kopf- ein bißchen schwach.
«Mein lieber Junge, Sie sehen schrecklich blaß aus.«
«Ich… äh…«Ich nahm alles nur sehr undeutlich auf.»Was wollten Sie sagen?«
«Lady Ullaston hätte gern gewußt…«Er sprach längere Zeit, ich hörte ihm zu und antwortete ihm mit einem Gefühl absoluter Unwirklichkeit. Man konnte im Kopf buchstäblich in Stücke gehen, während man mit einem Glas in der Hand dastand und mit der Gattin des Senior Steward plauderte. Schon fünf Minuten später konnte ich mich an kein einziges Wort der Unterhaltung mehr erinnern. Ich konnte auch meine Füße auf dem Teppich nicht mehr spüren. Ich bin völlig am Ende, dachte ich.
Der Nachmittag ging dahin. >Winetaster< wurde im Hauptrennen von einer dunkel glänzenden Stute namens >Mrs. Hillman< geschlagen, und im anschließenden Rennen bugsierte Larry Server Philip Friarlys Syndikatspferd ans Ende des Feldes und blieb dann dort. Mein Zustand wurde nicht besser, und nach dem fünften Rennen kam ich zu dem Schluß, daß es keinen Zweck hatte, noch länger zu bleiben, da ich nicht einmal vernünftig nachdenken konnte.
Draußen vor dem Eingangstor stand wie gewöhnlich die schnatternde Schar der Chauffeure herum, die, an ihre Wagen gelehnt, auf ihre Herrschaften warteten. Und bei ihnen stand auch der Jockey, der seine Lizenz losgeworden war, weil er sich von Rammileese hatte bestechen lassen.
Ich nickte ihm zu, als ich an ihm vorbeiging.»Jacksy.«
«Sid.«
Ich ging zu meinem Auto, schloß es auf, legte mein Fernglas auf den Rücksitz und stieg ein. Ließ den Motor an. Stand eine Weile so da und fuhr dann im Rückwärtsgang bis zum Tor zurück.
«Jacksy?«sagte ich.»Los, steig ein. Ich kaufe.«
«Was denn?«Er kam zum Wagen, öffnete die Beifahrertür und setzte sich neben mich. Ich zog meine Brieftasche aus der Gesäßtasche und warf sie ihm in den Schoß.
«Nimm alles, was drin ist«, sagte ich. Ich fuhr über den Parkplatz bis zur Ausfahrt und dann auf die Straße hinaus.
«Aber du hast mir doch erst vor kurzem ’ne ganze Menge gegeben«, sagte er.
Ich lächelte ihn kurz von der Seite an.»Ja… Aber das hier ist für noch zu leistende Dienste.«
Er zählte die Scheine.»Das alles?«fragte er zweifelnd.
«Ich möchte alles über Peter Rammileese wissen.«
«O nein!«Er tat, als wolle er die Tür öffnen, aber wir fuhren bereits zu schnell.
«Jacksy«, sagte ich,»außer mir hört niemand zu, und ich sag’s keinem. Erzähl mir nur, wieviel er dir gezahlt hat und wofür… und was dir sonst noch so dazu einfällt.«
Er schwieg eine Weile. Dann sagte er:»Nein, Sid, da ist mir mein Leben doch lieber. Man munkelt, daß er sich für einen Spezialjob zwei echte Profis aus Glasgow geholt hat und daß jeder, der ihm jetzt in die Quere kommt, plattgemacht wird.«
«Hast du die beiden Profis schon mal gesehen?«fragte ich und dachte, daß ich diese Frage hätte bejahen können.
«Nein, das ging nur so per Buschtrommel rum.«
«Wußte die Buschtrommel auch zu melden, was das für ein Job ist?«
Er schüttelte den Kopf.
«Irgendwas mit Syndikaten?«
«Sei doch nicht albern, Sid. Alles, was mit Rammileese zu tun hat, hat auch mit Syndikaten zu tun. Der hat bei ungefähr zwanzig das Sagen, vielleicht sind’s auch noch mehr.«
Zwanzig, dachte ich und runzelte die Stirn. Ich sagte:»Wieviel zahlt er denn für so einen Job, wie ihn Larry Server heute gemacht hat?«
«Sid!«protestierte er.
«Wie kriegt er einen wie Larry Server auf ein Pferd, das der normalerweise nie reiten würde?«
«Er bittet den Trainer ganz lieb und nett und mit ’ner Handvoll Dollars.«
«Er besticht auch die Trainer?«
«Dazu braucht’s nicht viel, manchmal. «Er blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin.»Das hast du nicht von mir, aber letzten Herbst gab’s Rennen, da kontrollierte Rammileese alle, aber auch alle Pferde, die an den Start gingen. Die liefen, wie’s ihm paßte.«
«Das ist doch unmöglich«, sagte ich.
«Nein. Diese lange Trockenheit damals, erinnerst du dich? Felder mit nur vier, fünf oder sechs Pferden, weil der Boden so hart war? Ich weiß mit Sicherheit von drei Rennen, bei denen er alle beteiligten Pferde in der Tasche hatte. Die armen Schweine von Buchmachern, die wußten gar nicht, wie ihnen geschah.«
Jacksy zählte das Geld noch einmal.»Weißt du eigentlich, wieviel das hier ist?«
«So ungefähr.«
Ich sah ihn kurz an. Er war fünfundzwanzig, für Flachrennen zu schwer geworden — und man wußte, daß er damit nicht fertig wurde. Die Hindernisjockeys verdienten im großen und ganzen weniger als die Flachbahnkollegen, dazu kamen dann noch die Verletzungen, und nicht jeder fand, wie zum Beispiel ich, Hindernisrennen doppelt so lustig. Jacksy jedenfalls nicht. Aber er war ein recht guter Reiter, und ich war oft genug mit ihm im gleichen Rennen geritten, um zu wissen, daß er einen nicht aus Jux und Tollerei über die Rails beförderte — für einen kleinen Bonus schon, aber nicht aus Jux und Tollerei.
Das Geld bereitete ihm Kummer. Für zehn oder zwanzig Pfund hätte er mir ohne Schwierigkeiten was vorgelogen — aber wir hatten auch eine Menge gemeinsamer Erinnerungen an Umkleidekabinen und Pferde und Regentage und Schlamm und Stürze und Rückmärsche in hauchdünnen Reitstiefeln über den aufgeweichten Turf — und es ist, wenn man kein wirklicher Schurke ist, gar nicht so leicht, jemanden auszunehmen, den man so gut kennt.
«Komisch«, sagte er,»daß du dich mit diesem Detektivkram abgibst.«
«Ja, irre!«
«Nein, mal im Ernst. Ich meine, du bist ja nicht hinter kleinen Fischen her.«
«Nein«, stimmte ich ihm zu. Keine kleinen Fische wie etwa Leute, die Bestechungsgelder kassierten, dachte ich. Meine Sache waren eher die Leute, die sie zahlten.
«Ich hab alle Zeitungen aufgehoben«, sagte er.»Die, die über den Prozeß berichtet haben.«
Ich schüttelte resigniert den Kopf. Zu viele Leute aus der Welt des Rennsports hatten diese Zeitungen aufgehoben, aber was das Verfahren für mich bedeutet hatte, das wußten sie nicht. Der Verteidigung hatte es größtes Vergnügen bereitet, das Opfer in eine peinliche Lage zu bringen, und der Beklagte, dem man vorsätzliche schwere Körperverletzung nach Paragraph soundso, Absatz soundso des Gesetzes über Gewaltverbrechen vorwarf (oder anders gesagt, daß er die linke Hand eines Ex-Jockeys mit einem Schürhaken zertrümmert hatte), war mit ganzen vier Jahren Knast belohnt worden. Es wäre wohl schwer zu sagen gewesen, wem die Verhandlung weniger Spaß gemacht hatte, dem Mann im Zeugenstand oder dem auf der Anklagebank.
Jacksy fuhr fort, unzusammenhängende Bemerkungen zu machen, vermutlich um Zeit zu gewinnen und seine Gedanken zu ordnen.
«Ich bekomme für die nächste Saison meine Lizenz wieder«, sagte er.
«Großartig.«
«Seabury ist eine gute Bahn. Ich reite dort im August. Die Jungs sagen alle, daß es eine gute Bahn ist, auch wenn. «Er sah auf meine Hand.»Na ja. du kannst damit sowieso keine Rennen mehr reiten, ich meine, so wie früher, oder?«
«Also Jacksy, was ist nun?«sagte ich ärgerlich.»Willst du oder willst du nicht?«
Einmal mehr blätterte er die Geldscheine durch, faltete sie dann zusammen und steckte sie in die Tasche.
«Ja, okay. Hier hast du deine Brieftasche.«
«Leg sie ins Handschuhfach.«
Er tat es und blickte dann aus dem Fenster.»Wohin fahren wir eigentlich?«erkundigte er sich.
«Wohin du magst.«
«Mich hat einer im Auto mit nach Chester genommen, der ist inzwischen sicher weg. Kannst du mich ein Stück nach Süden mitnehmen? Ich fahr dann den Rest per Anhalter.«
Also fuhr ich Richtung London, und Jacksy redete.
«Rammileese hat mir das Zehnfache des üblichen Reitgeldes gegeben, wenn ich einen Verlierer geritten habe. Aber hör mal, Sid, du schwörst doch, daß er nichts davon erfährt?«
«Von mir nicht.«
«Na gut, ich denke, ich kann dir vertrauen.«
«Dann red weiter.«»Er kauft ziemlich gute Pferde. Pferde, die gewinnen können. Dann bringt er sie in ein Syndikat ein. Ich schätze, daß er manchmal fünfhundert Prozent Profit macht, nur für den Anfang. Ich weiß von einem, das hat ihn sechstausend gekostet, und er hat davon zehn Anteile zu je dreitausend verkauft. Er hat zwei Kumpel, die sind beim Jockey Club als Besitzer eingetragen, und wenigstens einen von den beiden bringt er in jedes Syndikat rein. Die drehen’s dann so, daß noch irgendeine Galionsfigur dazukommt, damit die Sache proper aussieht.«
«Wer sind die beiden Kumpel von ihm?«
Er schluckte lange, verriet es mir dann aber doch. Der eine Name sagte mir nichts, aber der andere stand auf den Listen aller vier Syndikate, bei denen Philip Friarly als Galionsfigur fungierte.
«Gut«, sagte ich.»Weiter.«
«Die Pferde werden dann von jemand trainiert, der keine Fragen stellt und sie für das doppelte Entgelt so hintrimmt, daß sie ganz nett aussehen. Dann legt Rammileese fest, bei welchem Rennen sie jeweils laufen sollen, und da laufen sie dann weit unter ihrer tatsächlichen Form, verstehst du, bis er plötzlich sagt: >Los!<… und bei Gott, mit einem Mal sitzt du auf ’ner Rakete.«
Er grinste.»Zwanzigfaches Reitgeld für einen Sieger.«
Das klang nach weit mehr, als es in Wirklichkeit war.
«Wie oft bist du für ihn geritten?«
«Meistens ein- oder zweimal die Woche.«
«Wirst du’s wieder tun, wenn du deine Lizenz zurückbekommen hast?«
Er drehte sich zu mir herum, bis er fast mit dem Rücken an der Tür lehnte, und musterte eine ganze Weile die Hälfte meines Gesichts, die er sehen konnte. Sein Schweigen war schon Antwort genug, aber nachdem wir nicht weniger als drei Meilen zurückgelegt hatten, seufzte er tief und sagte schließlich:»Ja.«
Ein bemerkenswerter Vertrauensbeweis.
«Erzähl mir von den Pferden«, sagte ich, und er kam dieser Aufforderung bereitwillig nach. Die Namen einiger waren eine große Überraschung für mich, die Laufbahnen aller so gerade wie die von Nicholas Ashe.
«Jetzt erzähl mir, wie du deine Lizenz losgeworden bist«, sagte ich dann.
Er sei für einen der» kooperationswilligen «Trainer geritten, nur habe dieser Trainer leider keine gleichermaßen kooperationswillige Frau gehabt.»Sie hatte wohl ein kleines Hühnchen mit ihm zu rupfen und verpfiff ihn beim Jockey Club. Schrieb an Thomas Ullaston persönlich, was sagt man dazu? Natürlich hat ihr der ganze beknackte Haufen von Stewards Glauben geschenkt und uns alle gesperrt, ihn, mich und den anderen Jockey, der für ihn ritt, das arme Schwein, denn der hat nie einen Pfennig von Rammileese gekriegt und wußte von allem gar nichts.«
«Wie kommt es eigentlich«, sagte ich beiläufig,»daß niemand vom Jockey Club hinter die Sache mit allen diesen Syndikaten gekommen ist und was gegen Rammileese unternommen hat?«
«Gute Frage.«
Ich warf ihm einen Blick zu, hörte den Zweifel in seiner Stimme und sah die Falten auf seiner Stirn.»Weiter«, sagte ich.
«Hm, ja… Es ist wirklich nur so ein Gemunkel, noch nicht mal ein Gerücht, nur was, was ich so gehört hab. «Er schwieg kurz und sagte dann:»Ich glaube nicht, daß es stimmt.«
«Laß hören.«
«Einer von den Buchmachern… also, ich hab da in Kempton vor dem Eingang rumgelungert, verstehst du, und da kommen diese beiden Buchmacher raus, und der eine von denen sagt, daß der Knabe vom Sicherheitsdienst das schon zurechtbiegen würde, wenn nur die Piepen stimmen. «Er machte erneut eine Pause.»Einer von den Brüdern hat gesagt, ich wäre nie und nimmer gesperrt worden, wenn diese dämliche Trainersfrau ihren Brief an den Sicherheitsdienst geschrieben hätte… statt gleich an den Oberbonzen persönlich.«
«Welcher von den beiden Brüdern hat das gesagt?«
«Hm, äh… daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Guck mich nicht so an, Sid, ich kann’s wirklich nicht. Ist doch schon Monate her. Ich meine, ich hab da ja auch überhaupt nichts drin gesehen, bis ich dann die beiden Buchmacher in Kempton reden gehört hab. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß es im Sicherheitsdienst jemanden gibt, der so korrupt ist. Du vielleicht? Ich meine, nicht in dem vom Jockey Club.«
Sein Wunderglaube war rührend, dachte ich, vor allem angesichts seiner augenblicklichen Schwierigkeiten — aber in früheren Tagen wäre ich wohl auch seiner Meinung gewesen. Waren aber erst einmal Zweifel geweckt, ließ sich sehr wohl erkennen, daß es eine Menge schmutziger Geschäfte gab, die Eddy Keith als Gegenleistung für einen steuerfreien Gewinn zu übersehen bereit gewesen sein könnte. Er hatte den vier Syndikaten mit Friarly an der Spitze grünes Licht gegeben, und das konnte ja auch bei allen zwanzig oder mehr so gelaufen sein. Er könnte sogar die beiden Kumpel von Rammileese auf die Liste der seriösen Besitzer befördert haben, wohl wissend, daß sie eben dies nicht waren. Irgendwie würde ich das alles herausfinden müssen.
«Bring mich bloß nicht bei den Oberbonzen ins Spiel«, sagte Jacksy.»Ich würde das, was ich dir eben erzählt habe, vor den Stewards nicht wiederholen.«
«Ich werde keinem Menschen sagen, daß du mir das alles erzählt hast«, versicherte ich ihm.»Kennst du die beiden Buchmacher, die dir in Kempton begegnet sind?«
«Überhaupt nicht. Ich meine, ich weiß nicht mal, ob es Buchmacher sind. Sie sahen halt ganz so aus. Ich meine, mir kam in dem Augenblick, als ich sie sah, das Wort >Buchmacher< in den Sinn.«
Ein so starker Eindruck konnte wahrscheinlich nicht ganz falsch sein, war aber nur wenig hilfreich — und Jack-sys Wissen schien nun überhaupt erschöpft zu sein. Ich setzte ihn, seinem Wunsch entsprechend, am Ortsrand von Watford ab, und das Letzte, was er noch sagte, war, daß ich, wenn ich Jagd auf Rammileese mache, ihn, Jacksy, da raushalten solle, wie ich es versprochen hätte.
Ich fuhr nach London, aber nicht in meine Wohnung, sondern in ein Hotel und kam mir dabei übervorsichtig vor. Chico meinte jedoch, als ich ihn anrief, daß das ganz vernünftig sei. Ich schlug ihm vor, zum Frühstück ins Hotel zu kommen, und er sagte, er werde da sein.
Und er kam auch, aber ohne allzu großes Jubelgeschrei. Er war den ganzen Vortag herumgezogen und hatte die Leute von der Adressenliste besucht, aber niemand hatte im vergangenen Monat einen Bettelbrief von Ashe erhalten.
«Aber folgendes«, sagte er.»Leute mit den Anfangsbuchstaben A und B und bis K haben ja schon Politur geliefert bekommen, also sind als nächstes die Ps und Rs an der Reihe, was die Lauferei etwas begrenzt.«
«Großartig«, sagte ich.
«Ich habe überall Aufkleber mit deiner Adresse hinterlassen, und ein paar Leutchen haben auch versprochen, uns zu verständigen, wenn was kommen sollte. Ob sie sich die Mühe dann auch wirklich machen…«
«Ein einziger würde uns ja schon genügen«, sagte ich.
«Das stimmt.«
«Hättest du zu einem kleinen Einbruch Lust?«
«Soll mir schon recht sein. «Er bestellte dann erst einmal eine riesige Portion Rührei und Würstchen.»Wo und wozu?«
«Hm. «, sagte ich.»Heute vormittag gehst du auf Erkundung. Und heute abend nach Büroschluß, aber noch vor dem Dunkelwerden, wandern wir zum Portman Square.«
Chico hörte, den Mund noch ziemlich voll, zu kauen auf und schluckte dann sehr vorsichtig, bevor er sagte:»Meinst du mit Portman Square etwa den Jockey Club?«
«Genau.«
«Ist dir noch nicht aufgefallen, daß man da auch vorne zum Haupteingang hineingehen kann?«
«Ich will mich dort mal in aller Ruhe umsehen, ohne daß jemand davon weiß.«
Er zuckte die Achseln.»Na schön. Treffen wir uns nach meiner Erkundungstour wieder hier?«
Ich nickte.»Der Admiral kommt zum Lunch her. Er ist gestern bei der Möbelpoliturfabrik gewesen.«
«Das sollte seinen Augen wohl zu Glanz verholfen haben.«
«Sehr witzig.«
Während er sein Rührei aufaß und sich dann über den Toast hermachte, berichtete ich ihm das meiste von dem, was mir Jacksy über die Syndikate und auch über die Gerüchte von Schmiergeldern in den höheren Regionen zu erzählen gewußt hatte.
«Und das ist’s, wonach wir suchen? Wir stellen Eddy Keiths Büro auf den Kopf, um festzustellen, was er alles nicht getan hat von dem, was er hätte tun sollen?«
«Du hast es erfaßt. Sir Thomas Ullaston, der Senior Steward, sagte mir, daß Eddy bei ihm gewesen sei und sich darüber beschwert habe, daß ich Akten eingesehen hätte. Und Lucas Wainwright kann sie mir nicht zur Verfügung stellen, ohne daß es Eddys Sekretärin erfährt, und die ist Eddy treu ergeben. Wenn ich also was nachschauen will, muß es in aller Stille geschehen.«
Ob wohl ein Einbruch im Jockey Club, fragte ich mich, als etwas» absolut Diabolisches «angesehen werden würde, falls ich erwischt wurde?
«Okay«, sagte Chico.»Ich hab heute noch mein Judo, vergiß das nicht.«
«Die kleinen Scheißer«, sagte ich.»Ja, ich denk dran.«
Charles kam um zwölf und schnupperte die ungewohnte Umgebung wie ein unruhig gewordener Hund.
«Mrs. Cross hat mich benachrichtigt«, sagte er.»Aber warum hier? Warum nicht im >Cavendish<, so wie immer?«
«Es gibt da jemanden, dem ich nicht begegnen möchte«, erwiderte ich.»Der sucht mich hier nicht. Pink Gin?«
«Einen doppelten.«
Ich bestellte die Getränke, und er meinte:»War’s das auch im Falle dieser sechs Tage? Ein Ausweichmanöver?«
Ich antwortete nicht.
Er sah mich fragend an.»Wie ich sehe, schmerzt es dich immer noch, was es auch gewesen sein mag.«»Laß es gut sein, Charles.«
Er seufzte, steckte sich eine Zigarre an und betrachtete mich durch das Feuer des Streichholzes.»Also schön, und wem möchtest du nicht begegnen?«
«Einem Mann namens Peter Rammileese. Wenn dich jemand fragt, weißt du nicht, wo ich bin.«
«Das weiß ich ohnehin nur sehr selten. «Er rauchte mit großem Behagen, füllte seine Lungen und besah sich die Asche, als sei sie etwas überaus Kostbares.»Fährst in Ballons davon.«
Ich lächelte.»Mir ist ein fester Job als Kopilot eines Verrückten angeboten worden.«
«Das wundert mich nicht«, bemerkte er trocken.
«Was hat sich denn in Sachen Wachs ergeben?«
Das wollte er mir erst erzählen, wenn er etwas zu trinken hatte, und als die Getränke da waren, verschwendete er eine Menge Zeit mit Erkundigungen danach, warum ich Perrier und keinen Whisky trank.
«Um einen klaren Kopf zu behalten. Für einen Einbruch«, sagte ich wahrheitsgemäß, aber er glaubte mir nur halb.
«Das Wachs«, sagte er schließlich,»wird in einer Art Familienbetrieb hergestellt, der sich gleich neben einer Firma befindet, deren Hauptprodukt Honig ist.«
«Bienenwachs!«sagte ich ungläubig.
Er nickte.»Bienenwachs, Paraffin und Terpentin, das ist das, was in der Politur drin ist. «Er rauchte genüßlich, nahm sich Zeit.»Eine reizende Dame hat mir sehr nett geholfen. Wir haben viel Zeit damit zugebracht, in den Auftragsbüchern zurückzublättern. Die Leute bestellen selten so große Mengen, wie Jenny es getan hat, und verlangen noch seltener, daß die Dosen in weißen Schachteln, also versandfertig, geliefert werden. «Seine Augen strahlten über der Glut der Zigarre.»Um genau zu sein, waren es nur drei Leute… und alle im vergangenen Jahr.«
«Drei… glaubst du… daß es jedesmal Nicholas Ashe war?«
«Es war jedesmal etwa die gleiche Menge«, sagte er genüßlich.»Verschiedene Namen und Adressen, versteht sich.«
«Die du dir notiert hast?«
«Die ich mir notiert habe. «Er zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Innentasche seines Jacketts und reichte es mir.
«Da sind sie.«
«Wir haben ihn«, sagte ich mit größter Zufriedenheit.»Er ist doch ein Dummkopf.«
«Übrigens tauchte auch ein Polizeibeamter dort auf, der das gleiche Anliegen hatte«, sagte Charles.»Er kam, kurz nachdem ich mir die Namen aufgeschrieben hatte. Es sieht ganz so aus, als ob sie tatsächlich hinter Ashe her wären.«
«Gut. Sag mal… hast du ihnen was von der Adressenliste gesagt?«
«Nein, habe ich nicht. «Er hielt sein Glas gegen das Licht und betrachtete es mit blinzelnden Augen, als sei ein Pink Gin nicht wie der andere und als gelte es deshalb, sich seine Farbe einzuprägen.»Ich fände es ganz schön, wenn du ihn vor ihnen findest.«
«Hm. «Ich dachte darüber nach.»Wenn du meinst, daß Jenny mir dafür dankbar sein wird, irrst du dich.«
«Aber du hättest ihr immerhin aus der Patsche geholfen.«
«Ihr wäre es lieber, wenn das die Polizei täte. «Sie wäre, dachte ich, vielleicht sogar wieder netter zu mir, wenn sie wüßte, daß ich versagt hatte — aber an dieser Art von Nettigkeit lag mir nichts.
Chico rief im Laufe des frühen Nachmittags an.
«Was hast du um diese Tageszeit im Schlafzimmer zu suchen?«verlangte er zu wissen.
«Ich schaue mir die Rennen in Chester im Fernsehen an.«
«Das leuchtet ein«, sagte er resignierend.»Also, ich hab das Gelände erkundet und festgestellt, daß es sich gut machen läßt. Nur mußt du vor vier Uhr durch den Haupteingang reingegangen sein. Ich habe die kleinen Scheißer nach Hause geschickt. So, und nun das, was du zu tun hast. Du gehst zum Eingang rein, klar, als ob du da echt was zu tun hättest. Weiter. Unten in der Eingangshalle gibt’ s zwei Aufzüge. Mit dem einen kommt man zu ein paar Firmen im ersten und zweiten Stock und auch in den dritten, wo sich nur der Jockey Club breitgemacht hat. Das ist dir ja bekannt.«
«Ja«, sagte ich.
«Wenn nun all die kleinen Angestellten und die Obermohren und so weiter nach Hause gegangen sind, bleibt dieser Lift über Nacht mit geöffneter Tür im dritten Stock stehen, damit ihn keiner benutzen kann. Das besorgt der Nachtwächter, der danach aber keinen Rundgang mehr macht, sondern unten hocken bleibt. Ach ja, wenn er mit dem Lift oben fertig ist, geht er durchs Treppenhaus runter und schließt auf jedem Treppenabsatz die Zwischentür zur nächsten Etage ab, also insgesamt drei. Alles klar?«
«Ja.«
«Schön. Dann ist da also noch der andere Lift, der für die oberen vier Etagen des Gebäudes da ist, wo sich acht
Wohnungen befinden, zwei auf jeder. Und zwischen diesen Etagen und dem Jockey Club gibt’s nur eine Tür im Treppenhaus, die abgeschlossen ist.«
«Kapiert«, sagte ich.
«Gut. Ich denke mir jetzt, daß der Portier, oder wie immer man den nennen soll, der unten am Eingang sitzt, dich vielleicht vom Sehen her kennt und es wohl etwas seltsam finden dürfte, wenn du nach Büroschluß dort auftauchst. Du gehst also besser vorher rein und fährst mit dem Lift zu den Wohnungen hoch, und zwar bis ganz nach oben, und da treffen wir uns. Guter Platz, denn da gibt’s so eine Art Bänkchen neben einem der Flurfenster. Nimm dir was zu lesen mit oder so.«
«Wir seh’n uns also später«, sagte ich.
Ich fuhr im Taxi hin, gewappnet mit einer plausiblen Erklärung für meinen Besuch, falls ich in der Halle einem Bekannten begegnete. Aber ich traf niemanden und erreichte völlig problemlos den Lift, der mich nach oben brachte. Dort stand, wie Chico gesagt hatte, neben einem der Fenster eine Bank, auf der ich mich niederließ, um über eine Stunde lang unproduktiv über dies und das nachzudenken. Niemand betrat oder verließ die beiden Wohnungen dort oben. Niemand kam im Lift herauf. Als sich dann seine Türen zum erstenmal öffneten, war es Chico.
Er trug einen weißen Overall und hatte eine Werkzeugtasche bei sich. Ich betrachtete ihn spöttisch von Kopf bis Fuß.
«Na ja«, sagte er, sich verteidigend,»man muß seiner Rolle doch gerecht werden. Auch im Aussehen. Ich war in diesem Kostüm vorhin schon mal da und hab beim Gehen dem Kerl unten gesagt, daß ich Ersatzteile holen müßte. Als ich eben reinkam, hat er mir nur zugenickt. Wenn wir fertig sind, werd ich ihn ablenken, bis du dich verdrückt hast.«
«Wenn’s noch der gleiche Bursche ist.«
«Er geht um acht. Bis dahin sollten wir besser fertig sein.«
«War der Lift zum Jockey Club noch in Betrieb?«erkundigte ich mich.
«Ja, war er.«
«Und die Tür zwischen Jockey Club und vierter Etage ist abgeschlossen?«
«Ja.«
«Dann laß uns runtergehen, damit wir hören, wenn der Portier mit dem Lift raufkommt und ihn da stehenläßt.«
Er nickte. Wir betraten durch die Tür neben dem Lift das Treppenhaus, das schnörkellos nüchtern war und von elektrischem Licht beleuchtet wurde. Dort stellten wir die leicht klappernde Werkzeugtasche ab. Vier Stockwerke tiefer kamen wir an die verschlossene Tür, wo wir stehen blieben und warteten.
Die schmucklose Tür, wahrscheinlich aus Preßspan hergestellt, war auf unserer Seite mit einer silbrigen Metallplatte verstärkt und mit einem versenkten Steckschloß gesichert, gehörte mithin zu jener Art von Hindernissen, die zu überwinden Chico für gewöhnlich nur drei Minuten Zeit kostete.
Wie bei solchen Exkursionen üblich, hatten wir uns Handschuhe mitgebracht. Ich erinnerte mich an eine unserer allerersten Unternehmungen, bei der Chico gemeint hatte:»Einen Vorteil hat deine Hand ja — sie hinterläßt keine Abdrücke. «Ich trug aber trotzdem einen Handschuh drüber, da sie so viel weniger auffiel — falls uns jemand zufällig irgendwo sah, wo wir nichts zu suchen hatten.
Ich hatte mich nie so richtig daran gewöhnen können, irgendwo einzubrechen, jedenfalls nicht so weit, daß mein Pulsschlag sich nicht beschleunigte und mein Atem nicht schneller ging. Und auch Chico, der da über sehr viel mehr Erfahrung verfügte, verriet sich dadurch, daß sich die Haut über seinen Backenknochen straffte, so daß die Lachfält-chen um seine Augen verschwanden. Und so warteten wir mit allen körperlichen Anzeichen von Anspannung, denn wir kannten das Risiko.
Dann hörten wir, wie der Lift heraufkam und stehenblieb. Hielten die Luft an, um mitzubekommen, ob er auch wieder nach unten fahren würde, was er jedoch nicht tat. Statt dessen ließ uns das Geräusch erstarren, mit dem jemand die Tür, hinter der wir uns befanden, aufschloß. Ich fing Chicos erschrockenen Blick auf, als er vom Schloß weg und zu mir auf die andere Seite der Tür sprang, wo wir uns beide flach an die Wand drückten.
Die Tür öffnete sich, bis sie meine Brust berührte. Der Portier hüstelte und schniefte auf der anderen Seite des uns trennenden Holzes und blickte, so stellte ich mir vor, die Treppe hinauf, um sich zu vergewissern, daß alles so war, wie es sein sollte.
Die Tür schloß sich wieder, der Schlüssel drehte sich im Schloß. Ich ließ den angehaltenen Atem langsam und leise zischend entweichen, und Chico bedachte mich mit einem kränklichen Grinsen, das dem allmählichen Nachlassen seiner Anspannung entsprang.
Wir spürten den leichten, durch das Mauerwerk übertragenen Stoß, als die Tür im Stockwerk unter uns zugezogen und abgeschlossen wurde. Chico hob fragend die Augenbrauen, ich nickte, und er machte sich mit einem Bündel Dietriche über das Problem her. Es entstand ein leise kratzendes Geräusch, als er sich in den Mechanismus hineinfummelte, dann folgte ein wenig Kraftaufwand und schließlich der Blick der Befriedigung, als der metallene Riegel in die Tür zurückglitt.
Ohne die Tür hinter uns abzuschließen, gingen wir hinein und befanden uns im vertrauten Hauptquartier des britischen Reitsports. Riesige, teppichbelegte Flächen, bequeme Sessel, gediegenes Mobiliar aus massivem, poliertem Holz und der Geruch erkalteten Zigarrenrauchs.
Die Sicherheitsabteilung war in einem separaten Flur mit kleineren Büroräumen untergebracht, wo wir sehr leicht zu Eddy Keith hineingelangten.
Keine der inneren Türen schien abgeschlossen zu sein, und ich nahm an, daß es da wirklich nicht sehr viel zu stehlen gab, wenn man von elektrischen Schreibmaschinen und ähnlichen Nichtigkeiten absah. Eddy Keiths Aktenschränke ließen sich alle ohne die geringsten Schwierigkeiten aufziehen, ebenso die Schubfächer seines Schreibtisches.
Wir saßen in der strahlenden Abendsonne und lasen die Berichte über die Syndikate, von denen mir Jacksy berichtet hatte. Elf Pferde, deren Namen ich mir, gleich, nachdem er in Watford aus dem Wagen gestiegen war, notiert hatte, um sie nicht zu vergessen. Elf Syndikate, von Eddy ganz offensichtlich überprüft und zugelassen, und die beiden eingetragenen Besitzer, die Kumpel von Rammileese, unweigerlich auf allen Mitgliedslisten. Und wie im Falle der vier, denen Philip Friarly vorstand, fand sich nichts in den Unterlagen, womit sich irgend etwas hätte beweisen lassen. Sie waren sehr sorgfältig, ja, peinlich korrekt angelegt worden — und forderten einen regelrecht zur Überprüfung auf.
Eins war seltsam — alle vier Friarly-Akten fehlten.
Wir durchsuchten den Schreibtisch. Darin verwahrte Eddy ein paar persönliche Dinge — einen batteriebetriebenen
Rasierapparat, Tabletten gegen Verdauungsstörungen, einen Kamm und ungefähr sechzehn Zündholzbriefchen, alle von Spielclubs. Ferner fanden sich einfaches Briefpapier, Schreibgeräte, ein Taschenrechner, ein Terminkalender. Dort waren lediglich die Besprechungen der Rennleitungen eingetragen, an denen er von Amts wegen teilnehmen mußte.
Ich sah auf die Uhr. Viertel vor acht. Chico nickte und fing an, die Akten säuberlich in die Schränke zurückzustellen. Ziemlich enttäuschend, das Ganze, dachte ich. Absolute Fehlanzeige.
Als wir schon fertig zum Aufbruch waren, warf ich noch schnell einen Blick in ein Fach, auf dem» Personal «stand und das schmale Aktenordner mit den Unterlagen aller derzeitigen Mitarbeiter und Versorgungsempfänger des Jockey Club enthielt. Ich suchte nach der Akte von Mason, aber irgend jemand hatte auch die an sich genommen.
«Kommst du?«fragte Chico.
Ich nickte bedauernd. Wir verließen Eddys Büro so, wie wir es vorgefunden hatten, und kehrten zur Tür und ins Treppenhaus zurück. Nichts rührte sich. Das Hauptquartier des britischen Reitsports stand Eindringlingen weit offen, die nun mit leeren Händen wieder abziehen mußten.
Kapitel 14
Aus verschiedenen Gründen niedergeschlagen, fuhr ich am Freitag relativ langsam nach Newmarket.
Der Tag war heiß, und glaubte man dem Wetterbericht, so entwickelte sich gerade eine jener Hitzewellen, wie man sie oft im Mai erleben konnte — Verheißungen eines schönen Sommers, die dann nur selten in Erfüllung gingen. Ich fuhr mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und beschloß, nach Hawaii zu fliegen, um mich dort ein Weilchen an den Strand zu legen — ein recht ausgedehntes Weilchen, wenn’s nach mir ging.
Martin England stand, als ich bei ihm eintraf, auf dem Hof vor seinen Ställen. Auch er war in Hemdsärmeln und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
«Sid!«sagte er, anscheinend wirklich erfreut.»Das ist ja großartig. Ich wollte gerade meinen Abendrundgang machen. Hast du sehr gut abgepaßt.«
Wir gingen von Box zu Box, dem üblichen Ritual folgend, bei dem der Trainer nach jedem Pferd und seinem Gesundheitszustand sieht, während der Gast Bewunderung und Komplimente äußert und sich hütet, auf Schwachstellen hinzuweisen. Martins Pferde waren mittelmäßig bis gut — so wie er, wie die Mehrzahl der Trainer, auf deren Schultern der Rennsport in erster Linie ruhte und denen die meisten Jockeys Lohn und Arbeit verdankten.
«Ist schon ’ne ganze Weile her, daß du für mich geritten bist«, sagte er, meine Gedanken erratend.
«Zehn Jahre… vielleicht auch mehr.«
«Was wiegst du jetzt, Sid?«
«Etwa dreiundsechzig, vierundsechzig Kilo, ohne Klamotten.«
Weniger als zu dem Zeitpunkt, wo ich die Rennreiterei hatte aufgeben müssen.
«Und recht fit, was?«
«Ich denke, so wie immer«, sagte ich.
Er nickte, und wir gingen von der Seite des Hofes, auf der die Stutfohlen standen, hinüber zur anderen, zu den Hengsten. Er hatte ein gutes Lot von Zweijährigen beisammen, und es freute ihn, als ich ihm das sagte.
«Das hier ist >Flotilla<«, sagte er, zur nächsten Box weitergehend.»Schon dreijährig. Läuft am nächsten Mittwoch beim Dante in York… und wenn das hinhaut, dann auch beim Derby.«
«Er sieht gut aus«, sagte ich.
Martin spendierte seiner Hoffnung auf Ruhm eine Mohrrübe. Auf seinem freundlichen, nicht mehr ganz jugendlichen Gesicht lag Stolz — nicht auf sich selbst, sondern auf das glänzende Fell und das ruhige Auge und die durchtrainierte Muskulatur des prächtigen vierbeinigen Geschöpfes vor ihm. Ich strich dem Pferd über den Hals, klopfte ihm auf die kastanienbraune Schulter und befühlte seine schlanken, harten Vorderläufe.
«Ist wirklich in großartiger Verfassung«, meinte ich.»Sollte dir wohl Ehre machen.«
Er nickte mit einem unter dem Stolz sichtbar werdenden, durchaus normalen Anflug von Besorgnis, und wir gingen weiter, die Reihe der Boxen entlang, klopften Hälse und
Kruppen, unterhielten uns und waren glücklich und zufrieden. Vielleicht war’s das, was mir wirklich fehlte, dachte ich. Vierzig Pferde und harte Arbeit und die alltägliche Routine. Planung und Verwaltung und Papierkram. Die Freude daran, ein Pferd zum Sieger zu machen, und die Traurigkeit, wenn es verlor. Ein erfülltes, befriedigendes Leben an der frischen Luft, das Dasein eines Geschäftsmannes im Sattel.
Ich dachte daran, was Chico und ich nun schon seit so vielen Monaten machten. Ganoven jagen, kleine und große. Ein bißchen von dem Schmutz aufwischen, der in der Rennsportindustrie anfiel. Hin und wieder mal eins verpaßt kriegen. Uns mit all unserem Grips durch Minenfelder tasten und uns mit Leuten abgeben, die mit Kanonen drohten.
Ich käme wohl kaum in Verruf, wenn ich das alles aufgäbe und statt dessen Pferde trainierte. Eine sehr viel normalere Existenz für einen Ex-Jockey, würden alle denken. Eine vernünftige, ordentliche Entscheidung, wenn man allmählich in die Jahre kam. Nur ich… und Trevor Deansgate… nur wir würden wissen, warum ich mich so entschieden hatte. Ich würde mit diesem Wissen sehr alt werden können.
Ich mochte aber nicht.
Am nächsten Morgen ging ich, mit Reithose, Reitstiefeln und Jerseyhemd bekleidet, um halb acht hinunter in den Hof. Obwohl es noch einigermaßen früh am Morgen war, war es doch schon recht warm, und die allgemeine Geschäftigkeit, die Geräusche und der Stallgeruch um mich her hoben meine am Boden liegenden Lebensgeister und ließen sie so etwa in Kniehöhe schweben.
Martin, eine Liste in der Hand, rief mir einen Gutenmorgengruß zu, und ich ging zu ihm, um zu sehen, welches
Pferd er mir zugeteilt hatte. Es gab da einen zu meiner Gewichtsklasse passenden Fünfjährigen, den er wohl für genau richtig hielt.
Ein Stallbursche führte gerade >Flotilla< aus seiner Box auf den Hof, und ich betrachtete den Hengst voller Bewunderung.
«Na los, nun mach schon«, sagte er fröhlich.
«Was denn?«fragte ich.
«>Flotilla< reiten.«
Ich wandte mich vollkommen überrascht dem Pferd zu. Sein bestes Pferd, seine Derby-Hoffnung — und ich völlig aus der Übung und einhändig!
«Willst du nicht?«fragte er.»Das hätte dir vor zehn Jahren ganz selbstverständlich zugestanden. Und sein Jockey ist in Irland, um auf dem Curragh mitzureiten. Also reitest du ihn oder einer von meinen Jungs. und da wärst du mir, um ehrlich zu sein, schon lieber.«
Ich erhob keine Einwände. Schließlich schlug man so ein Himmelsgeschenk nicht aus. Ich hielt ihn zwar für ein bißchen verrückt, aber wenn er unbedingt wollte, hatte ich nichts dagegen. Er half mir in den Sattel, ich paßte die Bügelriemen meiner Beinlänge an und fühlte mich wie ein aus langer Verbannung Heimgekehrter.
«Möchtest du einen Helm?«fragte er und sah sich suchend um, als erwarte er, daß einer aus dem Pflaster des Hofes herauswüchse.
«Danke, dafür nicht.«
Er nickte.»Stimmt, du hast ja nie einen aufgesetzt. «Er selbst trug trotz der Hitze die gewohnte karierte Schirmmütze. Ich war immer am liebsten barhäuptig geritten, die Rennen natürlich ausgenommen. Der Hauptgrund war der, daß ich so gern die Leichtigkeit und die Bewegung der Luft spürte.
«Und eine Peitsche?«
Er wußte, daß ich immer ganz automatisch eine bei mir gehabt hatte, denn eine solche Reitpeitsche half dem Jok-key sehr dabei, das Pferd im Gleichgewicht und auf geradem Kurs zu halten. Ein leichter Schlag die Schulter hinunter tat es schon. Man wechselte die Peitsche je nach Bedarf von der einen in die andere Hand. Ich besah mir die beiden Hände vor mir und dachte, daß ich eine Peitsche doch zu leicht verlieren könnte — und es galt vor allem, mit dem Pferd zurechtzukommen.
Ich schüttelte den Kopf.»Heute nicht.«
«Also gut«, sagte er,»dann mal los.«
Mich in die Mitte nehmend, ritt der ganze Pulk aus dem Hof hinaus und auf den parallel zu den Seitenstraßen angelegten Reitwegen durch Newmarket hindurch zu den weitläufigen Trainingsbahnen auf den Limekilns. Dort schob sich Martin, der den ruhigen Fünfjährigen übernommen hatte, neben mich.
«Gib ihm sechshundert Meter zum Aufwärmen und galoppier dann eine Meile die Teststrecke rauf. Zusammen mit >Gulliver<. Ist für >Flotilla< das letzte Training vor dem Dante, also nimm ihn ruhig ordentlich ran.«
«Ist gut«, sagte ich.
«Warte noch, bis ich da oben bin«, sagte er und deutete in die entsprechende Richtung.»Da kann ich euch besser beobachten.«
«In Ordnung.«
Er ritt zufrieden davon zu einer Anhöhe, die etwa eine halbe Meile entfernt war und von der aus er die gesamte Strecke überblicken konnte. Ich wand den linken Zügel um meine Plastikfinger und wünschte mir sehnlichst, ich könnte den Zug des Pferdemauls darin spüren. Wie leicht konnte mir eine ungeschickte Bewegung unterlaufen, wie leicht konnte ich die Lage des Gebisses verschieben und das Pferd aus dem Gleichgewicht bringen, wenn ich die Zugkraft falsch einschätzte. Der Zügel in meiner Rechten fühlte sich lebendig an, er übertrug Botschaften, sagte >Flotilla< und auf umgekehrtem Wege mir, wohin der Ritt ging und wie und in welcher Geschwindigkeit. Eine ganz persönliche Sprache, uns beiden vertraut, von uns beiden verstanden.
Laß mich bloß keinen Mist bauen, dachte ich. Laß mich nur das schaffen, was ich früher tausendmal geschafft habe, laß mein altes Können wieder da sein, eine Hand hin oder her. Ich konnte ihn den Sieg im Dante und im Derby und überhaupt in allen weiteren Rennen kosten, wenn ich das hier vermasselte.
Der Jockey auf >Gulliver< ritt mit mir im Kreis herum, wartete wie ich auf den Augenblick, wo es losgehen konnte, und beantwortete meine beiläufigen Bemerkungen nur einsilbig oder knurrend. Ich fragte mich, ob er wohl >Flo-tilla< hätte reiten sollen, wenn ich nicht dagewesen wäre. Ich gab die Frage an ihn weiter, und er bejahte sie unwirsch. Pech, dachte ich. Aber deine Zeit kommt auch noch.
Martin winkte uns vom Hügel aus zu. Der Bursche auf >Gulliver< wartete einen gemeinsamen Start nicht ab, sondern gab seinem Pferd gleich die Sporen und schoß in gestrecktem Galopp davon. Du kleiner Scheißkerl du, dachte ich. Aber mach, was du willst, ich werde >Flotilla< so laufen lassen, wie’s Anlaß und Distanz erfordern, und wenn du dich auf den Kopf stellst und mit den Beinen wackelst.
Es war einfach phantastisch, wieder zu reiten. Plötzlich stimmte alles, war alles so selbstverständlich wieder da, als habe es nie eine Unterbrechung gegeben, als hätte ich nie eine Hand verloren. Ich zog den linken Zügel mit der guten wie mit der schlechten Hand und spürte die Vibrationen, die auf beiden Seiten vom Gebiß des Pferdes ausgingen — und wenn mein Reitstil vielleicht auch nicht der vollkommenste war, den man je auf dieser Bahn gesehen hatte, so erfüllte er doch seinen Zweck.
>Flotilla< ging in gleichmäßigem Arbeitsgalopp über den Turf und holte >Gulliver< mühelos ein. Ich hielt ihn dann einen großen Teil der Strecke neben dem anderen Pferd, aber da >Flotilla< das eindeutig bessere war, ließ ich ihn nach sechshundert Metern laufen, und er beendete die Meile in beachtlichem Tempo, was ihn aber ganz und gar nicht überforderte. Der ist fit, dachte ich und ließ ihn in leichten Trab übergehen. Er würde sich, da war ich mir nach diesem Ritt sicher, beim Dante gut schlagen.
Ich sagte das Martin, als ich wieder zu ihm zurückkam. Das freute ihn, und er lachte.»Du kannst wahrhaftig noch reiten. Sah völlig unverändert aus.«
Ich seufzte innerlich. Er hatte mich für einen kurzen Augenblick in das Leben zurückkehren lassen, das ich verloren hatte, aber ich war nicht mehr derselbe wie früher. Ich mochte ja einen Arbeitsgalopp hingekriegt haben, ohne mich dabei zum Narren zu machen, aber das war nun mal nicht der Gold Cup von Cheltenham.
«Ich danke dir für einen wirklich herrlichen Morgen«, sagte ich.
Wir ritten durch die Stadt zu seinem Stall zurück, frühstückten zusammen, und dann fuhr ich mit ihm in seinem Landrover mit zur Rennbahn, um mir auch sein zweites Lot bei der Arbeit anzusehen. Als wir von dieser Fahrt zurückgekehrt waren, saßen wir noch eine Weile in seinem Arbeitszimmer zusammen, tranken Kaffee und unterhielten uns, bis ich schließlich mit einigem Bedauern feststellen mußte, daß die Zeit zum Aufbruch gekommen war.
Das Telefon klingelte. Martin ging dran und hielt mir dann den Hörer hin.
«Ist für dich, Sid.«
Ich dachte, es wäre Chico, aber dem war nicht so. Zu meiner Überraschung war es Henry Thrace, der von seinem Gestüt vor den Toren der Stadt aus anrief.
«Meine Assistentin hat mir erzählt, daß sie Sie auf den Limekilns arbeiten gesehen hat«, sagte er.»Ich wollte ihr ja erst nicht glauben, aber sie war ganz sicher. Ihr Kopf, kein Helm, kein Irrtum möglich. Mit den Pferden von Martin England, sagte sie, und da hab ich halt mal versucht, ob ich Sie bei ihm erreiche.«
«Was kann ich für Sie tun?«fragte ich.
«Eigentlich ist’s eher umgekehrt«, erwiderte er.»Zumindest glaube ich das. Ich hab Anfang der Woche einen Brief vom Jockey Club bekommen, ganz offiziell und so, in dem sie mich aufforderten, sie sofort zu verständigen, falls >Gleaner< oder >Zingaloo< eingehen sollten, und auch die Kadaver nicht wegschaffen zu lassen. Als ich den Brief gelesen hatte, rief ich Lucas Wainwright an, von dem er unterzeichnet war, und wollte wissen, was zum Henker das alles zu bedeuten habe, und da sagte er mir, daß Sie es eigentlich seien, der informiert werden wolle, wenn eines der beiden Tiere einginge. Er teile mir das in aller Vertraulichkeit mit, sagte er.«
Mein Mund wurde plötzlich ganz trocken.
«Sind Sie noch dran?«
«Ja«, sagte ich.
«Dann berichte ich Ihnen wohl besser gleich, daß >Glea-ner< soeben eingegangen ist.«
«Wann?«fragte ich und kam mir sehr dumm vor.»Ah… wie?«Mein Herz schlug plötzlich mindestens doppelt so schnell. Wie war das mit Überreaktionen? dachte ich und spürte, wie mich die Angst schmerzhaft durchzuckte.
«Eine Stute, die er decken sollte, wurde rossig, und da haben wir die beiden zusammengebracht«, sagte er.»Heute morgen. Vor vielleicht einer Stunde. Die Hitze hat ihn stark schwitzen lassen. Ist ja auch ziemlich heiß in der Deckstation, wenn da die Sonne draufbrennt. Na ja, er hat die Stute gedeckt, ist auch wieder runtergekommen, hat dann aber plötzlich zu schwanken angefangen, ist zu Boden gegangen und praktisch sofort verendet.«
Ich zwang mich zum Sprechen.»Wo ist er jetzt?«
«Noch in der Deckstation. Wir brauchen sie heute morgen nicht mehr, deshalb hab ich ihn erst mal da liegen lassen. Ich habe versucht, beim Jockey Club anzurufen, aber es ist ja Samstag, und Lucas Wainwright ist nicht da, und als mir meine Assistentin dann erzählte, daß Sie hier in Newmarket wären.«
«Ja«, sagte ich und atmete einmal tief durch.»Eine Obduktion. Sie wären doch einverstanden, oder?«
«Sehr wichtig, würde ich sagen. Von wegen der Versicherung und so.«
«Ich werde versuchen, Ken Armadale zu erreichen«, sagte ich.
«Vom Equine Research Establishment. Ich kenne ihn… wäre er Ihnen recht?«
«Wüßte keinen Besseren.«
«Ich rufe Sie wieder an.«
«Gut«, sagte er und legte auf.
Ich stand da, hatte Martins Telefonhörer in der Hand und sah in düstere Fernen. Das ist zu früh, dachte ich. Viel zu früh.
«Was ist denn?«fragte Martin.
«Gerade ist ein Pferd, über das ich Erkundigungen eingezogen habe, verendet.«- Allmächtiger Gott! — »Darf ich dein Telefon noch mal benutzen?«fragte ich.
«Aber bitte.«
Ken Armadale meinte, er sei gerade bei der Gartenarbeit und würde viel lieber ein totes Pferd aufschneiden. Ich erbot mich, ihn abzuholen, und er erwiderte, daß er mich erwarte. Meine Hand, stellte ich flüchtig fest, zitterte jetzt.
Ich rief Henry Thrace wieder an und sagte ihm Bescheid. Dankte Martin für seine große Gastfreundschaft. Bugsierte meinen Koffer und mich selbst in mein Auto und holte Ken Armadale von seinem stattlichen, neugebauten Haus am südlichen Stadtrand von Newmarket ab.
«Wonach halte ich Ausschau?«fragte er.
«Herz, denke ich.«
Er nickte. Er war ein kräftiger, dunkelhaariger Mann, etwa Mitte dreißig und in der veterinärmedizinischen Forschung tätig. Ich hatte schon mehrfach mit ihm zu tun gehabt, oft genug jedenfalls, um mich mit ihm zu verstehen und ihm zu vertrauen — und soweit ich es beurteilen konnte, ging es ihm mit mir nicht anders. Eine berufsbedingte Freundschaft, die bis zu einem Bier im Pub, aber nicht bis zu Weihnachtskarten reichte, jene Art von Beziehung, die unverändert blieb und sich im Bedarfsfalle leicht reaktivieren ließ.
«Irgendeine Besonderheit?«erkundigte er sich weiter.
«Ja… nur weiß ich nicht, was für eine.«
«Das klingt mysteriös.«
«Warten wir mal ab, was Sie finden.«
>Gleaner<, dachte ich. Wenn es drei Pferde gab, um die ich mich ganz bestimmt nicht kümmern durfte, dann waren das >Gleaner<, >Zingaloo< und >Tri-Nitro<. Ich wünschte mir, ich hätte Lucas Wainwright nicht gebeten, diese Briefe für mich zu schreiben, den einen an Henry Thrace, den anderen an George Caspar. Sollten diese Pferde eingehen, so bitte ich Sie, mich davon zu unterrichten… aber doch nicht so bald schon, nicht so entsetzlich schnell.
Ich fuhr auf den Hof von Henry Thrace und brachte das Auto mit einem scharfen Ruck zum Stehen. Er kam aus dem Haus, um uns zu begrüßen, und dann gingen wir zusammen zur Deckstation hinüber. Wie die meisten Baulichkeiten dieser Art bestand auch diese nur aus vier mit einer Doppeltür versehenen Wänden, etwa drei Meter hoch, darüber eine Fensterreihe und dann das Dach. Der überdachten Reitbahn von Peter Rammileese sehr ähnlich, dachte ich, nur kleiner.
War es draußen schon heiß, so hier drinnen erst recht. Das tote Pferd lag an der Stelle, an der es auf dem sägemehlbestreuten Boden zusammengebrochen war — ein trauriger, brauner Haufen mit milchig-grauen Augen.
«Ich hab den Abdecker angerufen«, sagte Ken.»Die Jungs sind gleich da.«
Henry Thrace nickte. Es war unmöglich, die Obduktion an Ort und Stelle durchzuführen, da der Blutgeruch noch tagelang in der Luft hängen und alle Pferde in Unruhe versetzen würde, die hier hereingebracht wurden. Wir warteten also die kurze Zeit, bis der Lastwagen mit der Seilwinde eintraf, und als der Kadaver verladen war, folgten wir der Fuhre bis zur Abdeckerei, wo die Verluste der Ställe von Newmarket zu Hundefutter verarbeitet wurden. Klein und hygienisch, alles sehr sauber.
Ken Armadale öffnete die Tasche, die er mitgebracht hatte, und gab mir einen abwaschbaren Nylonoverall zum Schutz von Hemd und Hose. Der Pferdekadaver lag jetzt in einem Raum mit weiß gekalkten Wänden und Betonfußboden. Im Boden Rinnen und ein Abfluß. Ken drehte einen Hahn auf, so daß Wasser aus einem neben dem Pferd liegenden Schlauch lief, und zog sich dann lange Gummihandschuhe an.
«Alles bereit?«sagte er.
Ich nickte, und er machte den ersten langen Schnitt. Wie schon bei früheren Gelegenheiten, war es auch hier der Geruch, den ich an den nun folgenden zehn Minuten am wenigsten mochte. Ken dagegen schien ihn gar nicht wahrzunehmen und überprüfte mit methodischer Sorgfalt die inneren Organe. Nachdem er den Brustkorb geöffnet hatte, entnahm er ihm Lunge und Herz und trug die gesamte blutige Masse zu dem Tisch, der unter dem einzigen Fenster des Raumes stand.
«Das ist seltsam«, sagte er nach einer Weile.
«Was denn?«
«Sehen Sie mal.«
Ich trat neben ihn und besah mir die Stelle, auf die er zeigte, aber ich hatte nicht seine Kenntnisse und so sah ich nur einen blutbedeckten Gewebeklumpen mit hart aussehenden Knorpelwülsten darin.
«Sein Herz?«fragte ich.
«Genau. Schauen Sie sich mal die Klappen an…«Er wandte mir das Gesicht zu, die Stirn gerunzelt.»Er ist an etwas gestorben, was Pferde eigentlich gar nicht kriegen. «Er dachte über das Gesagte nach.»Ein Jammer, daß wir keine Blutprobe entnehmen konnten, bevor er verendet ist.«
«Bei Henry Thrace steht noch ein Pferd, das die gleiche Geschichte hat«, sagte ich.»Von dem können Sie Ihre Blutprobe bekommen.«
Er hatte sich über das Herz gebeugt, richtete sich jetzt aber wieder auf und sah mich groß an.
«Sie erzählen mir wohl besser mal, was hier gespielt wird, Sid«, meinte er.»Und das vielleicht draußen, wo wir ein bißchen frische Luft atmen können.«
Wir gingen hinaus, und da wurde mir gleich wieder besser. Er stand da und hörte mir zu, die Handschuhe und die ganze Vorderseite seines Overalls blutbeschmiert, während ich mit dem im hinteren Teil meines Kopfes sitzenden Entsetzen rang und völlig ohne Gefühl und Ausdruck allein aus dem vorderen sprach.
«Es sind… oder waren… vier«, sagte ich.»Vier, von denen ich weiß. Alle vier Spitzenpferde, galten den ganzen Winter lang als Favoriten für die Guineas und das Derby. Erste Klasse, absolute Spitze. Alle aus ein und demselben Stall. Sie waren alle in der Woche vor den Guineas in Topform, sahen großartig aus. Sie gingen alle als hohe Favoriten an den Start und versagten kläglich. Sie litten alle an einer leichten Virusinfektion, die sich aber nicht entwickelte. Und bei allen stellte man hinterher Herzgeräusche fest.«
Ken sah immer finsterer drein.»Fahren Sie fort.«
«Da war >Bethesda<, die vor zwei Jahren in den 1000 Guineas lief. Sie kam danach in ein Gestüt und ging beim Fohlen ein. Herzversagen.«
Ken holte tief Luft.
«Dann dieser hier«, fuhr ich fort.»>Gleaner<. War im vergangenen Jahr der Favorit der 2000 Guineas. Er bekam danach einen echten Herzschaden und dazu noch Arthritis. Das andere Pferd, das hier bei Henry Thrace steht, ging topfit an den Start und konnte sich hinterher vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten.«
Ken nickte.»Und welches ist das vierte?«
Ich blickte zum Himmel empor. Blau und klar. Ich bringe mich selbst um, dachte ich. Dann sah ich ihn wieder an und sagte:»Das ist >Tri-Nitro<.«»Sid!«Er war schockiert.»Das ist doch erst ganze zehn Tage her.«
«Um was handelt es sich denn nun?«fragte ich.»Was stimmt mit ihnen nicht?«
«Ich müßte noch ein paar Tests machen, um ganz sicher zu sein«, erwiderte er.»Aber die Symptome, die Sie mir beschrieben haben, sind sehr typisch, und bei den Herzklappen gibt’s kein Vertun. Das Pferd ist an Rotlauf eingegangen, eine Erkrankung, die eigentlich nur bei Schweinen auftritt.«
Ken sagte:»Wir müssen das Herz als Beweismittel aufheben.«
«Ja«, stimmte ich zu.
Lieber Gott…
«Würden Sie mir bitte mal einen von den Plastiksäcken da bringen?«sagte er.»Halten Sie ihn auf. «Er legte das Herz hinein.»Wir fahren nachher am besten gleich noch ins Institut. Ich meine… ich weiß, daß ich da irgendwo einen Artikel rumliegen habe, in dem es um Schweinerotlauf bei Pferden geht. Wir könnten da mal reinschauen, wenn Sie wollen.«
«Selbstverständlich«, sagte ich.
Er schälte sich aus seinem blutverschmierten Overall.»Hitze und Erschöpfung, das hat den Burschen hier geschafft. Eine tödliche Verbindung bei einem Herzen in diesem Zustand. Sonst hätte er vielleicht noch jahrelang weitergelebt.«
Welche Ironie, dachte ich bitter.
Er verstaute alles wieder in seiner Tasche, und wir fuhren zu Henry Thrace zurück. Eine Blutprobe von >Zinga-loo<? Aber klar doch, sagte er. Ken zapfte dem Pferd, wie mir schien, so viel Blut ab, daß man ganze Landstriche damit hätte überfluten können, aber was war für ein solches Tier schon ein Liter! Wir nahmen von Henry noch dankbar einen wiederbelebenden Whisky an und brachten dann unsere Trophäen ins Equine Research Establishment an der Bury Road.
Kens Arbeitszimmer lag neben einem großen Laborraum, wo er den Plastikbeutel mit >Gleaners< Herz mit zum Ausguß nahm um, wie er mir sagte, das noch darin enthaltene Blut herauszuspülen.
«Jetzt schauen Sie sich’s noch mal an«, sagte er, als er fertig war.
Diesmal konnte ich deutlich sehen, wovon er gesprochen hatte. An den Rändern der Herzklappen waren überall kleine, knötchenartige Auswüchse zu erkennen, cremig weiß, an Blumenkohlsprossen erinnernd.
«Diese Wucherungen«, sagte er,»hindern die Klappen daran, sich richtig zu schließen. Machen das Herz ungefähr so wirkungsvoll wie eine lecke Pumpe.«
«Ja, das kann man sehen.«
«Ich leg das in den Tiefkühlschrank und sehe dann mal die Fachzeitschriften nach diesem Artikel durch.«
Während er mit der angekündigten Suche beschäftigt war, saß ich auf einem harten Stuhl in seinem zweckmäßig eingerichteten Arbeitszimmer. Ich betrachtete meine Finger. Bog und streckte sie wieder. Das alles darf gar nicht wahr sein, dachte ich. Vor drei Tagen erst hatte ich Trevor Deansgate in Chester getroffen. Wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten, werde ich meine Ankündigung wahr machen.
«Hier ist’s ja!«rief Ken aus und strich eine aufgeschlagene Zeitschrift glatt.»Soll ich Ihnen die relevanten Stellen vorlesen?«
Ich nickte.
«Schweinerotlauf trat — im Jahre 1938 — bei einem Pferd in Gestalt der vegetativen Endocarditis auf, bei Schweinen die chronische Form der Krankheit. «Er sah auf.»Das sind diese blumenkohlartigen Gewächse.«
«Aha.«
Er las weiter.»Im Jahr 1944 trat plötzlich eine Mutationsform des Schweinerotlauf-Erregers auf, und zwar im Labor einer auf die Herstellung von Antiseren spezialisierten Firma, und führte bei den für die Gewinnung von Serum benutzten Pferden zu akuter Endocarditis.«
«Übersetzen Sie mir das«, sagte ich.
Er lächelte.»Damals pflegte man noch Pferde zu benutzen, um Vakzine, also Impfstoffe, zu gewinnen. Man injiziert dem Pferd die Schweinekrankheit, wartet, bis es Antikörper entwickelt, und extrahiert dann das Serum. Mit diesem Serum impft man dann gesunde Schweine und verhindert so, daß sie an Rotlauf erkranken. Das gleiche Verfahren wie bei den Impfstoffen, die beim Menschen eingesetzt werden, also gegen Pocken und so weiter. Standardmethode.«
«Okay«, sagte ich.»Lesen Sie weiter.«
«Was nun geschah, war, daß die Pferde, statt Antikörper zu entwickeln, selbst erkrankten.«
«Aber wie konnte das denn geschehen?«
«Das wird hier nicht ausgeführt. Man müßte die betreffende pharmazeutische Firma befragen, bei der es sich, wie ich sehe, um Tierson in Cambridge handelt. Die würden Ihnen das wohl erklären können, wenn Sie danach fragten. Ich kenne da auch jemanden, falls Sie eine Empfehlung brauchen.«
«Das ist doch schon so lange her«, sagte ich.
«Mein lieber Freund, Erreger sterben nicht. Die sind wie Zeitbomben, warten nur drauf, daß sich irgendein Hohlkopf leichtfertige Spielereien erlaubt. Manche Labors halten sich solche virulenten Stämme jahrzehntelang, Sie würden staunen.«
Er blickte wieder in die Zeitschrift und sagte dann:»Sie lesen die nächsten Abschnitte besser selbst. Sieht so aus, als seien sie einigermaßen verständlich formuliert. «Er schob mir die Zeitschrift über den Tisch zu, und ich las ab der Stelle, auf die er mit dem Finger zeigte.
1. 24–48 Stunden nach der intramuskulären Injektion der reinen Kultur setzt die Entzündung einer oder mehrerer Herzklappen ein. Zu diesem Zeitpunkt sind außer einem leichten Temperaturanstieg und gelegentlicher Beschleunigung des Pulsschlages keine weiteren Symptome feststellbar, es sei denn, das Pferd wird sehr großen Belastungen ausgesetzt, in welchem Falle es zu einer Störung der Blutzufuhr zur Lunge und zu aurikularer Fibrillation kommt. Beides verursacht einen schweren Erschöpfungszustand, der erst nach 2–3 Stunden Ruhe überwunden wird.
2. Zwischen dem zweiten und dem sechsten Tag erhöhen sich Temperatur und Anzahl der weißen Blutkörperchen, das Pferd ist kraftlos und frißt nicht. Es kann dies leicht als» Virusinfektion «fehldiagnostiziert werden. Eine genauere Untersuchung mit dem Stethoskop ergibt jedoch, daß zunehmend stärker werdende Herzgeräusche vorhanden sind. Nach ungefähr zehn Tagen wird, wenn das Pferd keinen größeren Beanspruchungen ausgesetzt wird, als sie Schritt oder leichter Trab darstellen, die Temperatur wieder normal, und es hat den Anschein, als habe sich das Tier wieder erholt. Das Herzgeräusch ist aber nach wie vor da, weshalb es erforderlich ist, auch weiterhin auf jedes schnelle Arbeiten zu verzichten, da dies zu schweren Atembeschwerden führt.
3. Während der folgenden Monate entwickeln sich an den Herzklappen Wucherungen, und es kann zudem zu Arthritis in einigen Gelenken, vor allem der Extremitäten, kommen. Der Zustand ist von Dauer und verschlechtert sich fortlaufend, und der Tod kann sehr plötzlich nach größeren Anstrengungen oder bei sehr heißem Wetter eintreten, manchmal Jahre nach der auslösenden Infektion.
Ich sah auf.»Genau das ist’s doch, oder nicht?«sagte ich.
«Paßt wie die Faust aufs Auge.«
Ich sagte nachdenklich:»Eine intramuskuläre Injektion der reinen Kultur… das schließt doch wohl jeden Unfall oder Zufall vollkommen aus?«
«Absolut«, sagte er.
«George Caspar hat seinen Stall in diesem Jahr mit Alarmglocken und Wachen und Hunden so total dichtgemacht, daß da niemand mit einer Spritze voller lebender Krankheitserreger auch nur in die Nähe von >Tri-Nitro< hätte kommen können.«
Er lächelte.»Man braucht dazu keine Riesenspritze. Kommen Sie mit ins Labor, ich zeig’s Ihnen.«
Ich folgte ihm, und wir gingen zu einem der Schränke mit Schiebetüren, die eine ganze Wand einnahmen. Er öffnete ihn und zog ein Schubfach heraus, in dem sich viele kleine Einwegpackungen aus Plastik befanden.
Er riß eine auf und schüttete den Inhalt auf seine Handfläche — eine Injektionsnadel, die an einer Plastikkapsel von der Größe einer Erbse saß. Das Ganze sah aus wie ein winziger Pfeil mit einem kleinen Bällchen am einen Ende, beides zusammen etwa so lang wie ein kleiner Finger.
Er nahm die Kapsel auf und drückte sie zusammen.»Halten Sie das jetzt in eine Flüssigkeit, dann können Sie etwa einen halben Teelöffel davon aufsaugen. Und man braucht nicht mal soviel reine Kultur, um eine Erkrankung herbeizuführen.«
«Man könnte das Ding also durchaus so in der Hand verstecken, daß es niemand sieht«, sagte ich.
Er nickte.»Und dann dem Pferd einfach einen Klaps geben. Geht ruckzuck. Ich benutze diese Dinger manchmal bei Pferden, die vor einer Spritze scheuen. «Er zeigte mir, wie’s gemacht wurde, hielt die Nadel so zwischen Daumen und Zeigefinger, daß sie nach unten zeigte.»Rein mit der Nadel und drücken«, sagte er.
«Könnten Sie mir eine davon überlassen?«
«Gewiß doch, gern«, erwiderte er und gab mir eine Pak-kung.
Ich steckte die Packung ein. Lieber Gott im Himmel!
Ken sagte langsam:»Wir könnten im übrigen vielleicht noch etwas für >Tri-Nitro< tun.«
«Was heißt das?«
Er überlegte kurz, blickte auf die große Flasche mit dem Blut von >Zingaloo<, die auf dem Abtropfbrett neben dem Ausguß stand.
«Vielleicht gelingt es uns, ein Antibiotikum zu finden, das die Krankheit heilt.«
«Ist es dafür nicht schon zu spät?«fragte ich.
«Zu spät für >Zingaloo<, ja. Aber ich glaube nicht, daß sich diese Wucherungen sofort entwickeln. Angenommen, >Tri-Nitro< wurde infiziert… na, sagen wir mal.«»Sagen wir mal vor haargenau zwei Wochen, nach dem Abschlußtraining.«
Er sah mich belustigt an.»Schön, sagen wir also vor zwei Wochen. Sein Herz hat schon Probleme, aber die Wucherungen haben noch nicht zu wachsen angefangen. Wenn er das richtige Antibiotikum bald bekommt, wäre eine vollständige Ausheilung vorstellbar.«
«Sie meinen, er würde wieder voll einsatzfähig?«
«Sehe nicht, was dagegen spräche.«
«Worauf warten Sie dann noch?«sagte ich.
Kapitel 15
Ich verbrachte den größten Teil des Sonntags an der See, fuhr von Newmarket nach Nordosten und an die ausgedehnten, fast menschenleeren Strande Norfolks. Nur, um irgendwohin zu fahren, etwas zu tun, mir die Zeit zu vertreiben.
Obwohl die Sonne schien, bewirkte der von der Nordsee her wehende Wind, daß sich nur wenige Mutige an den Strand verirrten. Ein paar kleinere Häuflein hockten hinter Windschutzwänden aus Segeltuch und beobachteten ihre unverzagten Kinder, die Sandburgen bauten.
Ich saß in einer Mulde in den Dünen, von Büscheln rauhen Seegrases umgeben. Ich ließ mich von der Sonne bescheinen und beobachtete die auf den Strand laufenden Wellen. Später ging ich am Strand spazieren, zertrat die von Würmern aufgeworfenen Sandhügel. Oder ich stand da und blickte aufs Meer hinaus, wobei ich den linken Oberarm abstützte und das Gewicht des Apparates weiter unten spürte, das nicht übermäßig groß war, aber immer gegenwärtig.
Einsame Orte hatten mir schon oft geholfen, mich zu entspannen und zu erholen, aber an diesem Tag wollte das nicht gelingen. Die Dämonen begleiteten mich. Der Preis des Stolzes… und der Sicherheit. Wenn du nur nicht immer soviel von dir verlangen würdest, hatte Charles einmal gesagt, könntest du es viel leichter haben. Das stimmte aber eigentlich nicht. Man war, wie man war. Oder zumindest war man, wie man war, bis jemand daherkam und einen kaputtmachte.
In Newmarket gab es den Spruch, daß man ein Niesen auf den Limekilns noch auf der zwei Meilen entfernten Rennbahn hören könne. Daß ich bei der Obduktion von >Gleaner< dabeigewesen war, würde George Caspar innerhalb von vierundzwanzig Stunden erfahren. Und Trevor Deansgate ebenfalls, mit absoluter Sicherheit. Ich konnte mich immer noch davonmachen. Dachte ich. Es war noch nicht zu spät. Reisen. An anderen Stränden, unter anderen Himmeln spazierengehen. Ich konnte immer noch dem Grauen entfliehen, das er in mir wachrief. Ich konnte immer noch… weglaufen.
Ich kehrte der Küste den Rücken und fuhr wie betäubt nach Cambridge. Übernachtete dort im» University Arms Hotel «und suchte am Montagmorgen die pharmazeutische Firma namens Tierson auf. Ich fragte dort nach einem Mr. Livingston, der etwa sechzig, gräulich und hager war. Wenn er sprach, machte sein Mund kleine, knabbernde Bewegungen. Sieht zwar aus wie ein vertrockneter alter Kauz, hatte Ken Armadale gemeint, hat aber einen blitzgescheiten Kopf.
«Mr. Halley, nicht wahr?«sagte Livingston und schüttelte mir am Empfang die Hand.»Mr. Armadale hat mich angerufen und mir erklärt, was Sie wünschen. Ich glaube, ich kann Ihnen da helfen, ja, das kann ich wohl. Kommen Sie, kommen Sie nur, hier entlang.«
Er ging mit kleinen Schritten vor mir her und sah sich immer wieder nach mir um, um sich zu vergewissern, daß ich ihm noch folgte. Das schien eine Vorsichtsmaßnahme zu sein, die ich einem häufigeren Verschwinden von Besuchern verdankte, handelte es sich bei dem Werksgelände doch um ein wahres Labyrinth offensichtlich wahllos zusammengefügter gläserner Gänge, Labors und kleiner Gärten.
«Das alles hier ist halt gewachsen«, sagte er, als ich eine entsprechende Bemerkung machte.»Aber da sind wir schon. «Er führte mich in ein großes Labor, durch dessen gläserne Wände man auf der einen Seite einen weiteren Gang, auf der zweiten einen Garten und auf der dritten ein weiteres Labor sehen konnte.
«Das ist unsere Versuchsabteilung«, sagte er und wies mit ausladender Handbewegung auf die beiden Laborräume.»Die meisten unserer Laboratorien dienen der kommerziellen Herstellung von Impfstoffen, aber hier drin basteln wir an neuen herum.«
«Und lassen alte wieder auferstehen?«fragte ich.
Er sah mich scharf an.»Ich muß doch sehr bitten. Ich dachte, Sie seien gekommen, um Informationen einzuholen, und nicht, um uns der Fahrlässigkeit zu bezichtigen.«
«Tut mir leid«, sagte ich beschwichtigend.»Da haben Sie völlig recht.«
«Na gut, dann stellen Sie Ihre Fragen.«
«Äh, ja. Wie ist es gekommen, daß die Pferde, die hier in den vierziger Jahren zur Gewinnung von Serum benutzt wurden, an Schweinerotlauf erkrankt sind?«
«Hm«, sagte er.»Kurz, bündig, zur Sache. Wir haben darüber einen Artikel veröffentlicht, nicht wahr? Vor meiner Zeit, versteht sich. Aber ich habe davon erfahren. Ja. Nun, es ist möglich. Es ist möglich, ist geschehen. Hätte es aber nicht dürfen. Reine Unachtsamkeit, verstehen Sie? Ich hasse Unachtsamkeit. Hasse sie.«
Kein Fehler, schoß es mir durch den Kopf. Bei dieser Art von Geschäft konnte Unachtsamkeit ja schließlich tödliche Folgen haben.
«Wissen Sie irgend etwas darüber, wie die Herstellung des Rotlauf-Antiserums funktioniert?«erkundigte er sich.
«So gut wie nichts.«
«Aha«, sagte er.»Dann werde ich’s Ihnen erklären wie einem Kind. Recht so?«
«Sehr«, sagte ich.
Er warf mir erneut einen strengen Blick zu, in dem diesmal aber auch Amüsiertheit lag.
«Man injiziert einem Pferd lebende Krankheitserreger. Können Sie mir folgen? Ich spreche jetzt von der Vergangenheit, als man noch mit Pferden arbeitete. Wir benutzen schon seit den fünfziger Jahren keine Pferde mehr, wir nicht und auch nicht Burroughs Wellcome oder Bayer in Deutschland. Das gehört der Vergangenheit an, verstehen Sie?«
«Ja«, sagte ich.
«Das Blut des Pferdes entwickelt Antikörper, um den Erreger zu bekämpfen. Das Pferd erkrankt nicht, weil das eine Krankheit ist, die Schweine bekommen, Pferde jedoch nicht.«
«Das könnte wirklich auch ein Kind verstehen«, sagte ich.
«Sehr schön. Nun kommt es vor, daß die verwendeten Erreger an Wirksamkeit verlieren, und um sie wieder virulent zu machen, läßt man sie durch Tauben gehen.«
«Durch Tauben gehen?«sagte ich, um größte Höflichkeit bemüht.
Er hob die Augenbrauen.»Übliches Verfahren. Man läßt einen schwachen Stamm durch Tauben gehen, um ihm seine Virulenz wiederzugeben.«
«Aber natürlich«, sagte ich.
Der spöttische Unterton in meiner Stimme ließ ihn auffahren.
«Mr. Halley«, sagte er vorwurfsvoll,»liegt Ihnen nun daran, das alles zu erfahren, oder nicht?«»Doch, durchaus«, sagte ich demütig.
«Also bitte. Nun, der virulente Stamm wurde den Tauben wieder entnommen und in Glasschälchen getan, in denen sich ein Nährboden aus Blut befand. «Er unterbrach sich, bedachte das Ausmaß meiner Ignoranz.»Lassen Sie es mich so sagen. Die lebenden, virulenten Erreger wurden von den Tauben in kleine Glasschälchen mit Blut transferiert, wo sie sich dann vermehrten, bis die Menge groß genug war, um sie einem Pferd zu injizieren.«
«Alles klar«, sagte ich.»Das verstehe ich.«
«Schön. «Er nickte.»Nun handelte es sich bei dem Blut in den Schälchen um Rinderblut.«
«Aha«, sagte ich.
«Aber auf Grund einer dummen Unachtsamkeit eines Mitarbeiters wurden diese Schälchen eines Tages mit Pferdeblut gefüllt. Das führte dann zu einem mutierten Stamm des Krankheitserregers. «Er schwieg eine Weile.»Mutationen sind Veränderungen, die plötzlich und ohne erkennbaren Grund auftreten, überall in der Natur.«
«Aha«, sagte ich wieder.
«Niemandem war klar, was da passiert war«, fuhr er fort.»Bis der mutierte Stamm den Serumpferden injiziert wurde und sie alle an Schweinerotlauf erkrankten. Der mutierte Stamm erwies sich als bemerkenswert konstant. Die Inkubationszeit betrug immer vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden, und stets kam es zu Endocarditis… also zu einer Entzündung der Herzklappen.«
Ein jüngerer Mann in offenem, weißem Kittel betrat den Raum nebenan, und ich sah mit halber Aufmerksamkeit zu, wie er dort herumzuwerkeln begann.
«Was wurde aus diesem mutierten Stamm?«fragte ich.
Livingstons Lippen knabberten und knabberten, aber schließlich sagte er doch:»Wir haben wahrscheinlich einen Teil davon aufbewahrt, möchte ich annehmen, so quasi als Kuriosität. Aber natürlich ist er inzwischen stark geschwächt, und um die volle Virulenz wiederherzustellen, müßte man ihn.«
«Ja«, sagte ich.»Man müßte ihn durch Tauben gehen lassen.«
Er fand das keineswegs komisch.»Sehr richtig.«
«Und diese ganze Durch-Tauben-Schicker ei und Übertragerei auf Nährböden. welches Maß an Kenntnissen ist dazu erforderlich?«
Er sah mich erstaunt an.»Ich könnte das ohne weiteres machen.«
Ich nicht. Für alle Injektionen, die ich bisher machen mußte, hatten mir immer kleine, säuberlich in Schachteln verpackte Ampullen zur Verfügung gestanden.
Der Mann im Nebenraum öffnete Schranktüren, suchte ganz offensichtlich nach irgend etwas.
«Könnte es außer hier bei Ihnen sonst noch irgendwo auf der Welt etwas von diesem mutierten Stamm geben? Ich meine, hat die Firma mal was davon abgegeben?«erkundigte ich mich.
Die Lippen spitzten sich, die Augenbrauen gingen nach oben.
«Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Mr. Livingston. Er sah durch die Glasscheiben und winkte dem Mann nebenan zu.
«Da müßten Sie Barry Shummuck fragen. Der weiß das vielleicht. Mutierte Stämme sind sein Fach.«
Shummuck, Shummuck… den Namen kenne ich doch, dachte ich. Ich… großer Gott!
Der Schock traf mich wie ein Blitz und nahm mir fast den Atem. Ich kannte in der Tat jemanden nur allzu gut, dessen richtiger Name Shummuck war.
Ich schluckte und mich fröstelte.»Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Mr. Shummuck«, sagte ich.
Livingston war der geborene Plauderer und sah auch nichts Verkehrtes darin. Er zuckte die Achseln.»Er hat sich hocharbeiten müssen. Die Ochsentour. Man hört ihm das auch noch an. War ziemlich verbiestert. Die Welt schuldete ihm etwas, so in der Art. Hinweise auf Studentendemos. Seit neuestem ist er ruhiger geworden. Und was seine Arbeit angeht, da ist er gut.«
«Sie mögen ihn nicht, wie?«fragte ich.
Er fuhr erschrocken hoch.»Das habe ich nicht gesagt.«
Wohl aber sein Gesicht und seine Stimme. Ich fragte aber nur:»Was hat er für einen Akzent?«
«Nördlich, würde ich sagen. Ich weiß es nicht genau. Wieso?«
Barry Shummuck sah niemandem ähnlich, den ich kannte. Ich fragte langsam:»Wissen Sie, ob er… einen Bruder hat?«
Livingstons Gesicht nahm einen überraschten Ausdruck an.
«Ja doch, hat er. Komische Geschichte, der ist Buchmacher. «Er dachte nach.»Sein Name… irgendwas wie Terry. Nein, nicht Terry… Trevor heißt er. Sie kommen manchmal zusammen her, die beiden. ein Herz und eine Seele.«
Barry Shummuck gab seine Suchaktion auf und wandte sich zur Tür.
«Würden Sie gern seine Bekanntschaft machen?«fragte Mr. Livingston.
Ich schüttelte — sprachlos — den Kopf. In einem Gebäude voller virulenter Krankheitserreger, mit denen er umzuge-hen verstand und ich nicht, dem Bruder von Trevor Deansgate vorgestellt zu werden, war das letzte, was ich wollte.
Shummuck trat durch die Tür hinaus auf den Korridor mit den gläsernen Wänden und wandte sich in unsere Richtung.
O nein! dachte ich.
Er kam zielstrebig den Gang entlang und stieß die Tür des Labors auf, in dem wir standen. Steckte Kopf und Schultern herein.
«Morgen, Mr. Livingston«, rief er.»Haben Sie irgendwo meine Schachtel mit den Dias gesehen?«
Der Grundton seiner Stimme war der gleiche — selbstbewußt und ein klein wenig abweisend. Der Akzent Manchester, aber viel stärker. Ich verbarg den linken Arm halb hinter dem Rücken und wünschte inständig, daß er wieder gehen möge.
«Nein«, sagte Mr. Livingston mit einem Anflug von Freude.
«Aber Barry, haben Sie gerade.«
Livingston und ich standen vor einem Arbeitstisch, auf dem sich eine Reihe Metallständer und etliche leere Glasgefäße befanden. Ich drehte mich nach links, den Arm noch hinter dem Rücken, und warf mit der Rechten ungeschickt einen der Ständer und zwei Gläser um.
Das Klirren klang schlimmer, als es war. Livingstons Lippen spitzten sich zu einem überrascht-verärgerten Knabbern, dann stellte er die umgefallenen Gläser wieder auf. Ich griff nach dem metallenen Ständer, der recht schwer war und genügen mußte.
Ich drehte mich wieder der Tür zu.
Sie schloß sich gerade, und Barry Shummuck schritt mit wehendem Kittel durch den Flur davon.
Ich atmete langsam und zittrig durch die Nase aus und stellte den Ständer behutsam ans Ende der Reihe zurück.
«Er ist weg«, sagte Mr. Livingston.»Wie schade.«
Ich fuhr nach Newmarket und ins Equine Research Establishment zu Ken Armadale zurück.
Ich fragte mich, wie lange der geschwätzige Mr. Livingston wohl brauchen würde, um Barry Shummuck von dem Besuch eines Herrn namens Halley zu erzählen, der sich für Schweinerotlauf bei Pferden interessiert hatte.
Mir war ein bißchen übel — und das anhaltend.
«Er ist gegen alle gewöhnlichen Antibiotika resistent gemacht worden«, sagte Ken Armadale.»Saubere Arbeit.«
«Wie meinen Sie das?«
«Man kann doch nie sicher sein, daß das Pferd nicht sofort eine Spritze kriegt, wenn es erhöhte Temperatur hat, und wenn der Erreger dann von jedem x-beliebigen Antibiotikum abgetötet würde, könnte sich die Krankheit gar nicht erst entwickeln.«
Ich seufzte.»Und wie macht man ihn resistent?«
«Man verabreicht winzige Dosen von Antibiotika, bis er immun ist.«
«Das ist, technisch gesehen, recht schwierig, oder nicht?«
«Doch, ziemlich.«
«Haben Sie schon mal etwas von Barry Shummuck gehört?«
Er zog die Stirn in Falten.»Nein, ich glaube nicht.«
Die angstgepeinigte innere Stimme riet mir dringend, den Mund zu halten, abzuhauen, mich in Sicherheit zu bringen und wegzufliegen… nach Australien… in eine ferne Wüste.
«Gibt’s hier einen Kassettenrecorder?«fragte ich ihn.
«Ja. Ich benutze ihn, um meine Berichte auf Band zu sprechen, während ich am Operieren bin. «Er ging hinaus, holte ihn, stellte ihn auf seinen Schreibtisch und legte eine neue Kassette ein.
«Sprechen Sie einfach«, sagte er.»Er hat ein eingebautes Mikrophon.«
«Bleiben Sie bitte und hören Sie zu«, sagte ich.»Ich möchte… einen Zeugen haben.«
Er sah mich nachdenklich an.»Sie sehen recht mitgenommen aus… Kein leichtes Spiel, was Sie da treiben, wie?«
«Nicht immer.«
Ich stellte den Recorder an und gab zunächst — als Einleitung — meinen Namen, den Ort der Aufnahme und das Datum an. Dann schaltete ich ihn wieder ab und sah auf die Finger hinab, die ich brauchte, um die entsprechenden Tasten zu drücken.
«Was ist los, Sid?«fragte Ken.
Ich sah ihn an und senkte den Blick wieder.»Nichts.«
Ich mußte es tun, dachte ich. Ich mußte es unbedingt tun. Ich würde niemals wieder ins Lot kommen, wenn ich es nicht tat.
Wenn ich zu wählen hätte — und es schien mir, daß ich nun zu wählen hatte —, würde ich mich für seelische Intaktheit entscheiden und mit dem Preis abfinden müssen. Vielleicht konnte ich mit körperlich empfundener Angst fertig werden. Vielleicht konnte ich mit allem fertig werden, was meinem Körper widerfuhr, selbst mit völliger Hilflosigkeit. Niemals aber — und das sah ich endlich mit absoluter Klarheit — konnte ich damit fertig werden, daß ich mich selbst verachtete.
Ich drückte gleichzeitig auf» Start «und» Aufnahme«-und brach unwiderruflich das Versprechen, das ich Trevor Deansgate gegeben hatte.
Kapitel 16
Gegen Mittag rief ich Chico an und erzählte ihm, was ich über Rosemarys Pferde in Erfahrung gebracht hatte.
«Es läuft alles darauf hinaus«, sagte ich,»daß diese vier Pferde einen Herzschaden hatten, weil ihnen eine Schweinekrankheit injiziert worden ist. Es gibt da eine ganze Menge sehr komplizierter Informationen zu der Frage, wie das bewerkstelligt worden ist, aber damit können sich die Stewards jetzt befassen.«
«Eine Schweinekrankheit?«fragte Chico ungläubig.
«Ja, genau. Der große Buchmacher Trevor Deansgate hat einen Bruder, und der arbeitet bei einer Firma, die Impfstoffe herstellt, mit denen Leute gegen Pocken und Diphtherie und so weiter geimpft werden. Und die beiden haben den Plan ausgeheckt, den heißen Favoriten Schweinerotlaufbazillen zu spritzen.«
«Worauf die dann natürlich verloren«, sagte Chico.»Und der Buchmacher sackte die Kohlen ein.«
«Du sagst es.«
Es war schon eigenartig, Trevor Deansgates Plan in erzählenden Worten wiederzugeben und über ihn selbst zu sprechen, als wäre er bloß eines unserer gewohnten Rätsel.
«Wie hast du das alles denn rausgefunden?«wollte Chico wissen.
«Im Stall von Henry Thrace ist >Gleaner< eingegangen,
und bei der Obduktion hat sich dann ergeben, daß es Rotlauf war. Als ich zu der pharmazeutischen Firma kam, be-gegnete mir ein Mann namens Shummuck, der mit ungewöhnlichen Erregerstämmen befaßt ist, und da fiel mir ein, daß Shummuck der eigentliche Name von Trevor Deansgate ist. Und Trevor Deansgate genießt die Freundschaft von George Caspar… und alle betroffenen Pferde, von denen wir wissen, kommen aus dem Stall von George Caspar.«
«Bißchen wacklig, wie?«sagte Chico.
«Ein bißchen, ja. Aber damit kann sich jetzt der Sicherheitsdienst befassen.«
«Eddy Keith?«bemerkte er skeptisch.
«Diese Geschichte kann er einfach nicht vertuschen, keine Bange.«
«Hast du’s Rosemary schon berichtet?«
«Noch nicht.«
«Schon ein bißchen zum Lachen«, sagte Chico.
«Hm.«
«Tja, Sid, mein Freund«, sagte er,»heute ist unser Erfolgstag. Wir haben nämlich auch Nicky Ashe am Haken.«
Nicky Ashe, ein Messer in der Socke. Ein Kinderspiel, verglichen mit. verglichen mit.
«He«, kam Chicos Stimme bekümmert aus dem Hörer,»freust du dich denn nicht?«
«Doch, natürlich. Was heißt übrigens am Haken?«
«Er hat ein paar von diesen schwachsinnigen Briefen losgelassen. Ich war heute morgen in deiner Wohnung, nur so, um mal nachzusehen, und da hab ich zwei Umschläge mit unseren Aufklebern drauf gefunden.«
«Großartig«, sagte ich.
«Ich hab sie aufgemacht. Beide kamen von Leuten, deren Name mit P anfängt. Lohn für all die Rumlatscherei.«
«Wir haben also den Spendenaufruf?«
«Aber ja doch. Ist haargenau derselbe Bettelbrief, den deine Frau hatte, natürlich mit ’ner anderen Adresse, an die das Geld geschickt werden soll. Hast du einen Stift?«
«Ja.«
Er las mir die Adresse vor — es handelte sich um Clifton, einen Ortsteil von Bristol. Ich besah sie mir nachdenklich. Ich konnte sie entweder direkt an die Polizei weitergeben oder sie erst einmal überprüfen. Letzteres hatte in einer ganz bestimmten Hinsicht sehr viel für sich.
«Du, Chico«, sagte ich,»ruf doch bitte mal bei Jenny in Oxford an und frag nach Louise McInnes. Bitte sie, mich im >Rutland Hotel< hier in Newmarket anzurufen.«
«Angst vor deiner Ollen, was?«
«Machst du’s?«
«Na klar. «Er lachte und legte auf. Als wenig später das Telefon klingelte, war allerdings nicht Louise am anderen Ende, sondern wieder Chico.
«Sie ist aus der Wohnung ausgezogen«, sagte er.»Deine Frau hat mir ihre neue Nummer gegeben. «Er diktierte sie mir.»Sonst noch was?«
«Kannst du mit deinem Kassettenrecorder morgen nachmittag zum Jockey Club am Portman Square kommen? Sagen wir, vier Uhr?«
«Wie beim letzten Mal?«
«Nein«, sagte ich.»Diesmal Haupteingang, wir beide.«
Zu meiner großen Erleichterung war Louise zu Hause. Als ich ihr gesagt hatte, was ich ihr sagen wollte, mochte sie es gar nicht glauben.
«Sie haben ihn wirklich und wahrhaftig gefunden?«
«Na ja«, entgegnete ich,»wahrscheinlich. Würden Sie mitfahren, um ihn zu identifizieren?«
«Ja. «Keinerlei Zögern.»Wann und wohin?«
«Ist irgendwo in Bristol. «Ich machte eine kleine Pause und sagte dann zögernd:»Ich bin im Augenblick in Newmarket. Ich könnte Sie heute nachmittag in Oxford abholen, und dann könnten wir gleich weiterfahren. Vielleicht erwischen wir ihn noch heute abend… oder sonst halt morgen früh.«
Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie:»Ich bin aus Jennys Wohnung ausgezogen.«
«Ja.«
Wieder Schweigen, dann ihre Stimme, ruhig und entschlossen:»Alles klar.«
In Oxford wartete sie schon vor dem Haus auf mich und hatte auch eine Reisetasche dabei.
«Hallo«, sagte ich und stieg aus dem Auto.
«Hallo.«
Wir sahen uns an. Ich küßte sie auf die Wange. Sie lächelte auf eine Art und Weise, die ich für freudige Zustimmung halten mußte, und verstaute dann ihre Tasche neben der meinen im Kofferraum.
«Du kannst dich aber jederzeit wieder zurückziehen«, sagte ich.
«Du auch.«
Wir stiegen jedoch beide ins Auto, und ich fuhr nach Bristol und fühlte mich zufrieden und sorgenfrei. Trevor Deansgate würde noch nicht angefangen haben, nach mir zu suchen. Peter Rammileese und seine Jungs hatten sich eine Woche nicht blicken lassen, und niemand außer Chico wußte, wohin ich unterwegs war. Die schattenreiche Zukunft, dachte ich, sollte mir nicht die schöne Gegenwart verderben. Ich beschloß, an erstere überhaupt nicht mehr zu denken, und im großen und ganzen gelang mir das auch.
Wir fuhren zunächst zu dem kleinen Landhotel, von dem mir mal jemand erzählt hatte. Es lag hoch über der Schlucht des Avon und war in seinem Komfort den Bedürfnissen wohlhabender amerikanischer Touristen angepaßt.
«Da kommen wir doch nie und nimmer rein«, sagte Louise, als sie seiner ansichtig wurde.
«Ich hab angerufen.«
«Wie überaus umsichtig! Ein oder zwei Zimmer?«
«Eins.«
Sie lächelte, als ob ihr das durchaus recht sei, und man führte uns in ein großes, holzgetäfeltes Zimmer mit großen Perserteppichen, antiken Möbeln und einem weißen Himmelbett, das oben — amerikanischem Stil entsprechend — eine Einfassung aus gekräuseltem Musselin hatte.
«Mein Gott!«sagte Louise.»Und ich hatte ein Motel erwartet!«
«Von dem Himmelbett habe ich nichts gewußt«, sagte ich ein bißchen lahm.
«Wow!«sagte sie und lachte.»Das hier ist jedenfalls sehr viel lustiger.«
Wir stellten unsere Reisetaschen ab, machten uns in dem modern ausgestatteten, diskret hinter der Holztäfelung verborgenen Bad frisch und kehrten zum Auto zurück — und Louise lächelte den ganzen Weg bis zur neuen Wohnung von Nicholas Ashe still vor sich hin.
Es war ein wohlhabend aussehendes Haus in einer wohlhabend aussehenden Straße. Eine grundsolide Angelegenheit mit fünf oder sechs Schlafzimmern, stand es gediegen und weiß gestrichen und wenig aufschlußreich in der frühen Abendsonne.
Ich hielt ziemlich dicht davor an einer Stelle an, von der aus wir sowohl die Haustür als auch die Garageneinfahrt überblicken konnten. Louise hatte mir berichtet, daß Nik-ky oft gegen sieben nach einem harten Arbeitstag an der Schreibmaschine einen Spaziergang machte. Vielleicht tat er das heute auch — wenn er überhaupt da war.
Vielleicht auch nicht.
Weil es so warm war, hatten wir die Seitenfenster heruntergekurbelt. Ich steckte mir eine Zigarette an, und der Rauch blieb fast unbewegt in der Luft stehen, da keinerlei Wind wehte. Sehr friedlich, da so zu warten, dachte ich.
«Wo kommst du eigentlich her?«fragte Louise.
Ich blies einen Rauchring.»Ich bin der posthume, illegitime Sohn eines zwanzigjährigen Fensterputzers, der unmittelbar vor der Hochzeit von seiner Leiter fiel.«
Sie lachte.»Sehr elegant formuliert.«
«Und du?«
«Die eheliche Tochter des Managers einer Glasfabrik und einer Stadträtin, beide noch am Leben und in Essex wohnhaft.«
Wir befragten uns nach etwaigen Geschwistern — ich hatte keine, sie zwei, einen Bruder und eine Schwester. Nach unserer Ausbildung, wovon ich ein bißchen und sie eine ganze Menge vorzuweisen hatte. Nach dem Leben im allgemeinen, wovon sie ein wenig und ich etwas mehr gesehen hatte.
Eine Stunde verstrich in der stillen Straße. Ein paar Vö-gel sangen. Gelegentlich fuhren Autos vorbei. Männer kamen von der Arbeit und bogen in die Einfahrten ihrer Häuser ein. In der Ferne wurden Türen zugeschlagen. Nichts rührte sich bei dem Haus, das wir beobachteten.
«Du bist sehr geduldig«, sagte Louise.
«Ich habe schon Stunden damit zugebracht, manchmal.«
«Ganz schön fad.«
Ich sah in ihre klaren, intelligenten Augen.»Nicht heute abend.«
Es wurde sieben, wurde später — aber kein Nicky erschien.
«Wie lange bleiben wir?«
«Bis es dunkel ist.«
«Ich habe Hunger.«
Eine weitere halbe Stunde verging. Ich erfuhr, daß sie gern Curry aß und Paella, Rhabarber aber verabscheute. Ich erfuhr auch, daß ihr die Doktorarbeit, an der sie schrieb, schwer zu schaffen machte.
«Ich liege so weit hinter dem Plan zurück«, sagte sie,»und… ach du liebe Güte, da ist er ja!«
Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Ich folgte ihrem Blick und sah Nicholas Ashe.
Er kam nicht aus der Haustür, sondern von der Seite des Gebäudes. Mein Alter, vielleicht etwas jünger. Größer, aber von meiner schlanken Statur. Meine Farben — dunkles Haar, leicht gelockt, dunkle Augen. Schmale Kinnpartie. Alles gleich.
Er sah mir jedenfalls ähnlich genug, daß es mich wie ein Schock traf, war aber zugleich auch ganz anders. Ich zog meine Minikamera aus der Tasche, spannte sie wie üblich mit den Zähnen und machte ein Foto von ihm.
Als er die Pforte erreicht hatte, blieb er stehen und sah zurück zum Haus. Von dort kam eine Frau gerannt und rief:»Ned, Ned, so warte doch auf mich.«
«Ned!«sagte Louise und rutschte tiefer in ihren Sitz.»Wird er mich nicht sehen, wenn er hier vorbeikommt?«
«Nicht, wenn ich dich küsse.«
«Na gut, dann tu’s«, sagte sie. Ich machte jedoch erst noch eine Aufnahme. Die Frau sah älter aus, um die vierzig. Schlank, gutaussehend, erregt. Sie schob ihren Arm in den seinen und sah ihn an — mit anbetendem Blick, wie selbst aus einer Entfernung von etlichen Metern deutlich zu erkennen war. Er schaute zu ihr hinab und lachte fröhlich, dann küßte er sie auf die Stirn, schwenkte sie in einem kleinen Bogen herum und hinaus auf den Bürgersteig, legte ihr den Arm um die Taille und kam dann sehr gutgelaunt und mit leicht hüpfendem Schritt auf uns zugegangen.
Ich riskierte aus dem Schatten des Wageninneren heraus noch eine Aufnahme, beugte mich dann zu Louise hinüber und küßte sie voller Enthusiasmus.
Die beiden gingen draußen vorbei. Auf unserer Höhe angelangt, mußten sie uns — oder zumindest meinen Rük-ken — entdeckt haben, denn beide kicherten plötzlich fröhlich los, Liebende, die ihr Geheimnis mit anderen Liebenden teilten. Sie wären fast stehengeblieben, gingen dann aber doch weiter, und ihre Schritte wurden immer leiser, bis sie nicht mehr zu hören waren Ich setzte mich widerwillig auf.
Louise sagte:»Wow!«, aber ob sich das auf den Kuß bezog oder auf die Nähe von Ashe, war mir nicht ganz klar.
«Er ist völlig unverändert«, sagte sie dann.
«Casanova höchstpersönlich«, bemerkte ich trocken.
Sie warf mir einen schnellen Blick zu, und ich erriet, daß sie sich die Frage stellte, ob ich wohl auf seinen Erfolg bei Jenny eifersüchtig war. Ich dagegen fragte mich, ob sich Jenny wohl deshalb zu ihm hingezogen gefühlt hatte, weil er mir so ähnlich war, oder ob sie erst von mir und dann von ihm angezogen worden war, weil wir beide ihrem Bild von einem sexuell attraktiven männlichen Wesen entsprachen. Sein Äußeres beunruhigte mich stärker, als mir lieb war.
«Na gut«, sagte ich,»das wär's erst einmal. Suchen wir uns was zu essen.«
Ich fuhr zum Hotel zurück, und wir gingen vor dem Essen noch mal hinauf aufs Zimmer, weil Louise meinte, sie habe ihren Rock und die Bluse schon den ganzen Tag an und wolle sich gern noch umziehen.
Ich nahm das Ladegerät aus meiner Reisetasche und stöpselte es ein. Dann holte ich eine leere Batterie aus meiner Jackentasche, rollte den Hemdsärmel hoch, nahm die in meinem Arm befindliche aus ihrer Halterung und steckte beide in das Ladegerät. Schließlich holte ich eine aufgeladene Batterie aus der Reisetasche und schob sie in die leere Halterung im Arm. Und Louise sah mir zu.
«Ist das… abstoßend für dich?«fragte ich sie.
«Nein, natürlich nicht.«
Ich zog den Ärmel wieder herunter und knöpfte die Manschette zu.
«Wie lange reicht so eine Batterie?«wollte sie wissen.
«Bei starker Beanspruchung sechs Stunden. Normalerweise etwa acht.«
Sie nickte bloß mit dem Kopf, als ob Leute mit elektrischen Armen so alltäglich wären wie Leute mit blauen Augen. Wir gingen zum Essen hinunter, wählten Seezunge und zum Nachtisch Erdbeeren, und wenn sie nach Meeresalgen geschmeckt hätten, wäre es mir auch egal gewesen. Das lag nicht nur an Louise, sondern auch daran, daß ich seit dem Morgen dieses Tages damit aufgehört hatte, mich selbst zu zerfleischen, und langsam wieder zu innerem Frieden fand. Ich konnte es regelrecht spüren, und es war wunderbar.
Nach dem Essen saßen wir auf einem kleinen Sofa in der Hotelhalle nebeneinander und tranken unseren Mokka.
«Natürlich brauchen wir jetzt, wo wir Nicky haben, nicht über Nacht hierzubleiben«, meinte sie.
«Möchtest du nach Hause fahren?«fragte ich.
«Etwa genausogern wie du.«
«Wer verführt hier eigentlich wen?«sagte ich.
«Mm«, meinte sie lächelnd.»Das kommt alles so unerwartet.«
Sie blickte ruhig auf meine linke Hand hinab, die zwischen uns auf dem Sofa lag. Ich wußte nicht, was sie dachte, aber einer plötzlichen Eingebung folgend sagte ich:»Berühr sie.«
Sie sah schnell auf.»Was?«
«Berühr sie. Faß sie an.«
Sie bewegte die rechte Hand zaghaft darauf zu, bis ihre Finger die harte, leblose Plastikhaut berührten. Sie zog sie nicht wieder zurück, in ihrem Gesicht zuckte kein Ekel auf.
«Innen ist sie aus Metall«, sagte ich.»Zahnrädchen, Gestänge, Stromkreise. Drück stärker drauf, dann kannst du es fühlen.«
Sie tat es, und ich sah ihre Überraschung, als sie die Form der inneren Realitäten erkundete.
«Da ist auch ein Schalter drin«, erklärte ich weiter.»Man kann ihn von außen nicht sehen, er sitzt unmittelbar unterhalb des Daumens. Man kann damit die Hand abschalten, wenn man will.«
«Und warum sollte man das wollen?«
«Sehr nützlich, wenn man Sachen tragen muß. Zum Beispiel eine Aktentasche. Man schließt die Finger um den Griff und stellt dann den Strom ab, und die Hand bleibt geschlossen, ohne daß man selbst dauernd dafür sorgen muß.«
Ich griff mit der rechten Hand hinüber und betätigte den Schalter, um ihr zu zeigen, wie es gemacht wurde.
«Ist wie ein Druckschalter bei einer Tischlampe«, sagte ich.
«Fühl mal. Drück ihn.«
Sie fummelte ein Weilchen herum, denn der Schalter war wirklich nicht ganz leicht zu finden, wenn man die Stelle nicht genau kannte, aber schließlich hatte sie ihn, stellte den Strom ab und wieder an. Ihr Gesicht zeigte nur Konzentration, sonst nichts.
Sie spürte, daß eine gewisse Anspannung in mir nachließ, und sah vorwurfsvoll auf.
«Du wolltest mich nur auf die Probe stellen, was?«sagte sie.
Ich lächelte.»Ja, wahrscheinlich.«
«Du bist gemein.«
Mich ritt unversehens der Teufel.»Ich kann sogar«, sagte ich, die Linke mit der Rechten haltend,»die Hand, wenn ich sie ein paarmal so herumdrehe, hier am Gelenk ganz abschrauben.«
«Tu’s nicht«, sagte sie entsetzt.
Ich lachte vor Freude. Ich hätte nie gedacht, daß ich jemals in der Lage sein würde, so mit meiner Hand umzugehen.
«Warum kann man sie da abschrauben?«fragte sie.
«Ach… Wartung, Reparatur, solche Sachen.«
«Du siehst so verändert aus«, sagte sie.
Ich nickte. Sie hatte recht.»Komm, laß uns ins Bett gehen.«
«Was für eine Riesenüberraschung«, sagte sie eine ganze Weile später.»Ich hätte nie und nimmer gedacht, daß du als Liebhaber so sanft bist.«
«Zu sanft?«
«Nein, ich fand’s sehr schön.«
Wir lagen schläfrig im Dunkeln. Sie selbst war empfänglich und großzügig gewesen und hatte mir die Sonne reinsten Entzückens scheinen lassen. Es war schade, dachte ich verschwommen, daß Sex so verdorben war durch Tabus und Techniken und Therapeuten und Schuldgefühle und Voyeurismus und das ganze kommerzielle Tamtam. Wenn zwei Menschen, wie von der Natur vorgesehen, zusammenkamen, sollten sie sich selbst überlassen bleiben — wenn man nicht zuviel erwartete, käme man viel besser zurecht. Man war so, wie man war. Selbst wenn ein Mädchen es gewollt hätte, hätte ich nie den aggressiven, sexuellen Draufgänger mimen können, denn ich hätte, dachte ich ironisch, sicher mittendrin angefangen, über mich selbst zu lachen. Und es war so, wie es gewesen war, sehr schön gewesen.
«Louise«, sagte ich.
Keine Antwort.
Ich drehte mich ein wenig, um noch bequemer zu liegen, und glitt wie sie in den Schlaf.
Ich wurde wie üblich früh wach und sah einige Zeit später zu, wie das Tageslicht auf ihrem schlafenden Gesicht immer heller wurde. Das blonde Haar lag so wirr um ihren
Kopf wie an dem Tag, an dem ich sie kennengelernt hatte, und ihre Haut sah weich und frisch aus. Als sie wach wurde, lächelte sie schon, bevor sie noch die Augen aufgeschlagen hatte.
«Guten Morgen«, sagte ich.
«Morgen.«
Sie schob sich in dem großen Bett, dessen sich oben am Betthimmel kräuselnder Musselinbesatz uns wie ein Rahmen umgab, näher zu mir.
«Als wenn man auf Wolken schliefe«, sagte sie.
Sie stieß gegen die harte Schale meines linken Armes, und es zuckte kurz in ihren Augen, als ihr wieder einfiel, was es war.
«Du schläfst doch nicht damit, wenn du allein bist, oder?«sagte sie.
«Nein.«
«Dann nimm sie ab.«
Ich sagte lächelnd:»Nein.«
Sie sah mich lange und nachdenklich an.
«Jenny hat schon recht, wenn sie meint, du wärst härter als Stahl«, sagte sie dann.
«Nein, das bin ich nicht.«
«Sie hat mir erzählt, daß du dir in dem Augenblick, als dir der Kerl den Arm zerschmetterte, in aller Ruhe zurechtgelegt hättest, wie du ihn schlagen könntest.«
Ich verzog das Gesicht.
«Stimmt das?«wollte sie wissen.
«In gewisser Weise ja.«
«Jenny hat gesagt…«
«Um ehrlich zu sein«, unterbrach ich sie,»ich würde lieber über dich sprechen.«»Ich bin nicht interessant.«
«Das nenne ich die richtige Anmache«, sagte ich.
«Worauf wartest du dann!«
«Ich mag dein verschämtes, jungmädchenhaftes Erröten so gern.«
Ganz leicht nur berührte ich ihre Brust, und das schien bei ihr die gleiche Wirkung zu haben wie bei mir. Unverzügliche Erregung, zu gegenseitiger Freude.
«Wolken«, sagte sie glücklich.»Woran denkst du dabei?«
«Beim Sex?«
Sie nickte.
«Ich fühle. Das ist kein Denken.«
«Manchmal sehe ich Rosen… an einem Spalier… scharlachrot und rosa und golden. Manchmal gezackte Sterne. Diesmal müßten es weiße Musselinwölkchen sein.«
Ich fragte sie — hinterher.
«Nein, nur hellster Sonnenschein. Fast blendend hell.«
Das Sonnenlicht war auch in Wirklichkeit in unser Zimmer geströmt und ließ den ganzen weißen Betthimmel durchsichtig schimmern.
«Warum wolltest du gestern abend die Vorhänge nicht zuziehen?«fragte sie.»Magst du die Dunkelheit nicht?«
«Ich mag nicht schlafen, wenn meine Feinde wach sind und nahe.«
Ich hatte den Satz gedankenlos von mir gegeben. Die Bedeutung des Gesagten kam erst danach über mich wie ein eiskalter Regenguß.
«Wie ein Tier«, sagte sie. Und dann:»Was ist los?«
Erinnere dich so an mich, wie ich bin, dachte ich. Und sagte laut:»Wie wär’s mit Frühstück?«
Wir fuhren nach Oxford zurück. Ich brachte den Film zum Entwickeln, und dann aßen wir im» Les Quat’ Saisons «zu Mittag, wo die köstliche Päte de turbot und das traumhafte Quenelle de brocket soufflee dazu beitrugen, die Schatten noch ein bißchen länger von mir fernzuhalten. Mit dem Kaffee aber kam der unvermeidliche Augenblick.
«Ich muß um vier in London sein«, sagte ich.
Louise meinte:»Wann willst du wegen Nicky zur Polizei gehen?«
«Ich komme am Donnerstag wieder her, also übermorgen, um die Fotos abzuholen. Dann erledige ich auch das. «Ich überlegte kurz.»Schenken wir der Dame in Bristol noch zwei glückliche Tage.«
«Armes Ding.«
«Sehe ich dich am Donnerstag?«fragte ich.
«Wenn du nicht blind bist.«
Chico lehnte mit resigniertem Gesichtsausdruck an dem Gebäude am Portman Square, als warte er schon seit Stunden auf mich. Als ich zu Fuß auf ihn zukam, stieß er sich mit einem Schulterschwung von der Wand ab und sagte:»Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen, was?«
«Der Parkplatz war voll.«
An seinem Handgelenk hing der schwarze Kassettenrecorder, den wir gelegentlich benutzten, ansonsten trug er Jeans, ein Freizeithemd und kein Jackett. Das warme Wetter war nicht vorübergegangen, sondern hatte sich mit einem nahezu ortsfesten Hochdrucksystem festgesetzt, weshalb auch ich in Hemdsärmeln war. Immerhin hatte ich aber einen Schlips um und ein Jackett über dem Arm. Im dritten Stock standen alle Fenster weit offen, so daß der Straßenlärm heraufdröhnte, und Sir Thomas Ullaston, der hinter seinem Schreibtisch saß, bewältigte die Obliegenheiten des Tages in einem blaßblauen Hemd mit weißen Streifen.
«Kommen Sie herein, Sid«, rief er mir zu, als er mich unter seiner Tür erscheinen sah.»Ich habe schon auf Sie gewartet.«
«Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte ich und gab ihm die Hand.»Das ist Chico Barnes, wir arbeiten zusammen.«
Er gab Chico die Hand.»Schön«, sagte er dann.»Jetzt, wo Sie da sind, wollen wir gleich mal Lucas Wainwright und die anderen dazuholen. «Er drückte auf den Knopf seiner Sprechanlage und gab seiner Sekretärin entsprechend Bescheid.»Und bringen Sie noch ein paar Stühle, seien Sie so gut.«
Das Büro füllte sich langsam mit sehr viel mehr Menschen, als ich erwartet hatte, aber ich kannte alle gut genug, um mit ihnen reden zu können. Die Spitze der Administration in voller Besetzung, etwa sechs Leute, durchweg ehrbare, welterfahrene Männer, die im eigentlichen Sinne den Rennsport lenkten. Chico, leicht nervös, besah sie sich wie Vertreter einer fremden Rasse und war sehr erleichtert, als man ihm einen Tisch beschaffte, auf dem er seinen Recorder abstellen konnte. Er zog sich hinter dieses Möbelstück zurück wie hinter einen Schutzwall. Ich angelte in meinem Jackett nach der Kassette und reichte sie ihm.
Lucas Wainwright kam herein, dicht gefolgt von Eddy Keith, der mich nur kalt ansah — der große, gutmütig-derbe Eddy, dessen freundschaftliche Gefühle für mich langsam dahinschwanden.
«Nun, Sid«, sagte Sir Thomas,»da wären wir also alle beisammen. Sie haben mir gestern am Telefon erklärt, daß Sie herausgefunden hätten, wie >Tri-Nitro< für die 2000
Guineas müde gemacht worden ist, und wie Sie sehen, sind wir… alle sehr interessiert. «Er lächelte.»Schießen Sie also los.«
Ich paßte mein Verhalten dem ihren an, war ruhig und leidenschaftslos, als ob ich mir der Drohungen Trevor Deansgates überhaupt nicht mehr bewußt wäre — obwohl sie mir doch dauernd quälend im Kopf herumgingen.
«Ich habe… äh… alles auf Band aufgenommen«, sagte ich.
«Sie werden da gleich zwei Stimmen hören, nämlich meine und die von Ken Armadale vom Equine Research Establishment, den ich gebeten habe, die veterinärmedizinischen Details zu erläutern, da das nicht mein Fach ist.«
Die wohlfrisierten Köpfe nickten. Nur Eddy Keith blickte starr vor sich hin. Ich warf Chico einen Blick zu, der daraufhin die Starttaste drückte — und meine körperlose Stimme tönte laut in die gebannte Stille hinein.
«Hier spricht Sid Halley, ich befinde mich im Equine Research Establishment, es ist Montag, der 14. Mai…«
Ich hörte mir die einfachen Sätze an, mit denen der Sachverhalt dargelegt wurde. Identische Symptome bei vier Pferden, die verlorenen Rennen, die Herzgeräusche. Meine Bitte, über Lucas Wainwright weitergeleitet, mich zu verständigen, wenn eines der drei noch lebenden Pferde eingehen sollte. Die Obduktion von >Gleaner<, wobei Ken Armadale meinen schlichten Bericht sehr viel ausführlicher wiederholte. Seine Stimme, die — wiederum nach mir — im einzelnen erklärte, wie Pferde mit einer Schweinekrankheit hatten infiziert werden können. Seine Stimme, die sagte:»Ich habe lebende, aktive Erreger in den Läsionen an >Gleaners< Herzklappen und auch in dem Blut, das >Zingaloo< abgenommen wurde, gefunden.«- und meine Stimme, die fortfuhr:»Ein mutierter Stamm des
Krankheitserregers wurde im Labor der Firma Tierson in Cambridge auf folgende Art und Weise produziert…«
Die Sache war nicht gerade leicht verständlich, weshalb ich die Gesichter der Zuhörer beobachtete. Ich konnte aber feststellen, daß sie begriffen hatten, worum es ging, vor allem, nachdem Ken Armadale alles noch einmal erläutert und meine Ausführungen bestätigt hatte.
«Was Motiv und Gelegenheit angeht«, sagte meine Stimme,»so kommen wir jetzt zu einem Mann namens Trevor Deansgate.«
Sir Thomas’ lauschend vorgebeugter Kopf fuhr hoch, und er starrte mich verständnislos an. Erinnerte sich ohne Zweifel daran, daß Trevor Deansgate in Chester in der Loge des Jockey Club sein Gast gewesen war. Erinnerte sich vielleicht auch daran, daß er mich und Trevor Deansgate dort zusammengebracht hatte.
Bei den anderen Zuhörern hatte der Name eine ähnliche Reaktion ausgelöst. Sie alle kannten ihn entweder persönlich oder wußten doch von ihm — von dieser aufstrebenden, einflußreichen Kraft unter den Buchmachern, von dem mächtigen Mann, der sich bis in die höchsten gesellschaftlichen Höhen hinaufgearbeitet hatte. Trevor Deansgate war ihnen ein Begriff, und ihre Gesichter verrieten, wie schockiert sie waren.
«Trevor Deansgates richtiger Name ist Trevor Shummuck«, sagte meine Stimme.»Und bei der Firma Tierson gibt es einen wissenschaftlichen Mitarbeiter namens Barry Shummuck, der sein Bruder ist. Beide Brüder, die sich sehr gut verstehen, sind mehrfach zusammen in den Labors von Tierson gesehen worden.«
O Gott, dachte ich. Meine Stimme sprach weiter, und ich hörte bruchstückhaft an mein Ohr dringen, was sie sagte. Ich hab’s getan, dachte ich, jetzt gibt es kein Zurück mehr.
«… Es handelt sich dabei um das Labor, in dem der mutierte Erregerstamm entstand… es ist unwahrscheinlich, daß es nach so langer Zeit noch irgendwo anders Teilmengen davon gibt… Trevor Deansgate besitzt ein Pferd, das von George Caspar trainiert wird. Trevor Deansgate hat ein gutes Verhältnis zu Caspar… sieht sich häufig die Morgenarbeit an und frühstückt bei ihm. Trevor Deansgate konnte ein Vermögen machen, wenn er im voraus wußte, daß die Favoriten des Guineas und des Derby nicht gewinnen würden. Trevor Deansgate hatte die Mittel in der Hand, um dafür zu sorgen: die Krankheitserreger; sein Motiv: Geld; und die Gelegenheit: Zugang zu Caspars streng bewachtem Stall. Es erscheint deshalb geboten, seine Aktivitäten genauer unter die Lupe zu nehmen.«
Meine Stimme verstummte, und nach ein oder zwei Minuten schaltete Chico den Recorder ab. Auch er sah ein bißchen benommen aus, als er die Kassette herausnahm und sie behutsam auf den Tisch legte.
«Das ist ja unglaublich«, sagte Sir Thomas schließlich, aber nicht so, als glaube er es tatsächlich nicht.»Was meinen Sie, Lucas?«
Lucas Wainwright räusperte sich.»Ich meine, wir sollten Sid zu seiner außerordentlich guten Arbeit gratulieren.«
Mit Ausnahme von Eddy Keith waren alle seiner Meinung und taten es, was mich sehr verlegen machte. Ich fand es sehr großzügig von Lucas, daß er das überhaupt gesagt hatte, denn schließlich hatte ja der Sicherheitsdienst selbst negative Dopingtests durchgeführt und es dabei bewenden lassen. Aber andererseits, ging mir dann durch den Kopf, hatte der Sicherheitsdienst auch keine Rosemary Caspar gehabt, die mit Perücke und voller Hysterie bei ihm erschienen war. Und sie hatten nicht den Vorteil gehabt, daß sich ihnen Trevor Deansgate selbst als
Schurke zu erkennen gab, ehe sie ihn überhaupt verdächtigten, und üble Dinge androhte, falls sie ihn nicht in Ruhe ließen.
Wie Chico ganz richtig bemerkt hatte, schreckten unsere Erfolge den Feind dermaßen auf, daß er uns schon fertigzumachen versuchte, bevor wir noch wußten, warum.
Eddy Keith saß sehr still da und beobachtete mich nur. Ich erwiderte seinen Blick, und das wahrscheinlich mit der gleichen trügerischen Ausdruckslosigkeit. Woran er dachte, konnte ich nicht erraten. Ich jedenfalls dachte an unseren Einbruch in sein Büro — und wenn er diesen Gedanken lesen konnte, dann war er Hellseher.
Sir Thomas und seine Verwaltungsfachleute, die sich untereinander beraten hatten, hoben die Köpfe und hörten zu, als Lucas Wainwright eine Frage an mich richtete.
«Glauben Sie wirklich, Sid, daß es Deansgate selber war, der den Pferden die Injektion verabreicht hat?«Er schien es für unwahrscheinlich zu halten.»Er konnte ja wohl nicht gut in der Nähe der Pferde mit einer Spritze herumhantieren… und das gleich viermal.«
«Ich dachte zunächst auch«, antwortete ich,»daß es ein anderer gewesen sein könnte… etwa einer der Arbeitsjok-keys oder sogar ein Tierarzt. «Inky Poole und Brothersmith, dachte ich, würden mich wegen Verleumdung drankriegen, wenn sie das hätten hören können.»Aber es gibt eine Methode, mit der es so gut wie jeder fertigbrächte.«
Ich suchte erneut in den Taschen meines Jacketts und zog die Einwegpackung mit der an einer erbsengroßen Blase sitzenden Injektionsnadel hervor. Ich gab sie Sir Thomas, der sie öffnete und den Inhalt auf seinen Schreibtisch kippte.
Alle sahen hin. Verstanden sofort. Waren überzeugt.
«Es ist wahrscheinlicher, daß er es selbst erledigt hat«, sagte ich,»denn es wäre ihm sicher zu riskant gewesen, einen Mitwisser zu haben, der ihn dann in der Hand hätte.«
«Ich finde es verblüffend«, sagte Sir Thomas mit offensichtlicher Aufrichtigkeit,»wie Sie diese Dinge immer alle herausbekommen, Sid.«
«Aber ich.«
«Ja, ja«, sagte er lächelnd.»Wir alle wissen schon, was Sie sagen wollen. Im Herzen sind Sie immer noch Jok-key.«
Es trat ein Schweigen ein, das sehr lange zu dauern schien. Dann sagte ich:»Sie irren sich, Sir. Das da«- ich zeigte auf die Kassette —»das ist es, was ich jetzt bin. Und von nun an sein werde.«
Sein Gesichtsausdruck ernüchterte sich, er runzelte die Stirn, und es sah ganz so aus, als überprüfe er die Meinung, die er sich von mir gebildet hatte — wie es in letzter Zeit viele andere auch getan hatten. Er und auch Rosemary mochten in mir ja immer noch den Jockey sehen, ich aber tat das nun nicht mehr. Als er wieder das Wort ergriff, war seine Stimme eine Oktave tiefer und klang nachdenklich.
«Wir haben Sie unterschätzt. «Er machte eine Pause und fuhr dann fort:»Ich habe durchaus gemeint, was ich in Chester gesagt habe, nämlich daß Sie im Rennsport eine sehr positive Rolle spielen, aber ich muß auch zugeben, daß ich es mit Blick auf den Detektiv nicht ganz so ernst gemeint habe. «Er schüttelte langsam den Kopf.»Es tut mir leid.«
Lucas Wainwright sagte energisch:»Es ist uns allen inzwischen sehr viel deutlicher geworden, was für eine Rolle Sid übernommen hat. «Er war des Themas müde und wartete wie stets darauf, sich der nächsten Aufgabe zuwenden zu können.
«Haben Sie schon irgendwelche Vorstellungen, Sid, was Sie als nächstes unternehmen werden?«
«Mit den Caspars sprechen«, sagte ich.»Ich dachte mir, ich fahre morgen mal zu ihnen rauf.«
«Gute Idee«, meinte Lucas.»Hätten Sie was dagegen, wenn ich mitkäme? Die Geschichte ist jetzt natürlich Sache des Sicherheitsdienstes.«
«Und zu gegebener Zeit Sache der Polizei«, sagte Sir Thomas leicht bedrückt. Er betrachtete jede gerichtliche Verfolgung von Straftaten im Rennsport als Schande für die gesamte Industrie und neigte dazu, Leuten einiges durchgehen zu lassen, wenn ihre Verfolgung zu einem rufschädigenden Skandal führen konnte. Im großen und ganzen teilte ich diese Auffassung und hielt es genauso — allerdings nur, wenn die Angelegenheit unter der Hand so zu regeln war, daß es keine Wiederholung geben würde.
«Wenn Sie mitkommen, Commander«, sagte ich zu Lucas Wainwright,»darf ich Sie vielleicht bitten, einen Termin mit den Caspars auszumachen. Könnte sein, daß sie nach York fahren wollen. Ich wollte einfach relativ früh in Newmarket sein und dann auf gut Glück bei ihnen vorbeischauen, aber das ist Ihnen sicher nicht so lieb.«
«Ganz und gar nicht«, sagte er knapp.»Ich rufe sofort mal bei ihnen an.«
Er eilte in sein Arbeitszimmer, und ich steckte die Kassette in die Plastikhülle zurück und übergab sie Sir Thomas.
«Ich habe alles auf Band aufgenommen, weil die Geschichte doch ziemlich kompliziert ist und Sie es sich vielleicht gern noch mal anhören möchten.«
«Da haben Sie sehr recht daran getan, Sid«, sagte einer der Verwaltungsleute kläglich.»Diese ganze Geschichte mit den Tauben da.«
Lucas Wainwright kam wieder zurück.»Die Caspars sind in York, haben aber ein Luft-Taxi genommen und kommen heute abend zurück. George Caspar möchte sich morgen früh seine Pferde noch bei der Arbeit ansehen, bevor er wieder nach York fliegt. Ich habe seinem Sekretär gesagt, daß es sehr wichtig ist und ich Caspar unbedingt sprechen muß, und wir haben ein Treffen für elf Uhr vereinbart. Ist Ihnen das recht, Sid?«
«Ja, sehr.«
«Holen Sie mich hier ab? Sagen wir, neun Uhr?«
Ich nickte.»Okay.«
«Ich bin in meinem Büro und sehe die Post durch.«
Eddy Keith warf mir einen letzten, ausdruckslosen Blick zu und entfernte sich, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Sir Thomas und die anderen Herren schüttelten mir und auch Chico die Hand, und als wir im Lift nach unten fuhren, meinte er:»Beim nächsten Mal küssen sie dich auch noch.«
«Das bleibt nicht so.«
Wir gingen zusammen zu der Stelle, wo ich mein Auto abgestellt hatte, aber nicht hätte abstellen dürfen. Ein Strafzettel steckte unter dem Scheibenwischer. Immer dasselbe.
«Fährst du zur Wohnung zurück?«fragte Chico und faltete sich in den Beifahrersitz.
«Nein.«
«Du denkst, die Jungs mit den Stiefeln sind noch immer.«
«Trevor Deansgate«, sagte ich.
Chicos Gesicht nahm einen halb spöttischen, halb verständnisvollen Ausdruck an.
«Angst, daß er dich jetzt zu Hackfleisch macht?«
«Er hat’s inzwischen sicher erfahren… von seinem Bruder«, sagte ich — und die mich beharrlich begleitende Angst durchfuhr mich so stark, daß ich erschauerte.
«Ja, schon möglich. «Ihn bekümmerte das nicht weiter.»Hör mal, ich habe dir diesen Bettelbrief mitgebracht…«Er langte in seine Hosentasche und zog ein vielfach gefaltetes und leicht angeschmuddeltes Stück Papier hervor. Ich beäugte es angewidert, las es dann durch. Haargenau das gleiche Schreiben, das Jenny verschickt hatte, nur diesmal mit einem schwungvollen» Elizabeth More «unterzeichnet und mit der Cliftoner Anschrift im Briefkopf.
«Ist dir eigentlich klar, daß dieser schmierige Fetzen Papier vielleicht als Beweisstück vorgelegt werden muß?«
«Hab’s halt in die Tasche stecken müssen«, sagte er, sich verteidigend.
«Was hast du denn sonst noch da drin? Komposterde?«
Er nahm mir den Brief aus der Hand, legte ihn ins Handschuhfach und kurbelte das Fenster runter.
«Heiß, was?«
«Hm.«
Ich drehte die Scheibe auf meiner Seite ebenfalls herunter, ließ den Motor an und fuhr ihn zu seiner Wohnung in der Finchley Road.
«Ich übernachte wieder in dem Hotel«, sagte ich.»Und, hör mal… begleite mich doch bitte morgen nach Newmarket.«
«Klar, wenn du willst. Aber wozu?«
Ich zuckte die Achseln und sagte möglichst unbeschwert:»Als Leibwächter.«
Er war überrascht, sagte verblüfft:»Du hast doch wohl
nicht wirklich Angst vor ihm… vor diesem Deansgate. oder?«
Ich rutschte ein bißchen im Sitz hin und her und seufzte.»Ich fürchte doch.«
Kapitel 17
Am frühen Abend telefonierte ich mit Ken Armadale. Er wollte wissen, wie die Sitzung beim Jockey Club gelaufen war, und klang im übrigen sehr zufrieden mit sich, wozu er ja auch durchaus einigen Grund hatte.
«Dieser Rotlaufstamm ist gegen praktisch alle gängigen Antibiotika immun gemacht worden«, sagte er.»Sehr gründlich. Aber ich denke, es gibt da doch noch ein kleines Grüppchen, mit dem er sich wahrscheinlich gar nicht abgegeben hat, weil niemand auf die Idee kommen würde, sie in ein Pferd reinzupumpen. Sie sind nämlich selten und sehr teuer. Aber alles spricht dafür, daß sie die erwünschte Wirkung haben könnten. Jedenfalls hab ich mal etwas davon besorgt.«
«Großartig«, sagte ich.»Und wo?«
«In London. In einem der Lehrkrankenhäuser. Ich habe mit dem Pharmakologen dort gesprochen, und er hat mir zugesagt, ein bißchen davon in einen Karton zu packen und am Empfang Ihres Hotels zu hinterlegen, wo Sie’s dann abholen können. Steht >Halley< drauf.«
«Also, Ken, Sie sind einfach phantastisch.«
«Um’s zu bekommen, mußte ich meine Seele verpfänden.«
Am nächsten Morgen holte ich das Päckchen von der Rezeption ab und fuhr zum Portman Square, wo Chico bereits auf den Treppenstufen stand und einmal mehr auf mich wartete. Lucas Wainwright kam herunter und meinte, wir sollten, wenn’s recht wäre, mit seinem Auto fahren. Ich dachte an die viele Fahrerei der letzten vierzehn Tage und nahm sein Angebot dankend an. Wir ließen den Scimitar auf dem Parkplatz stehen, der am Vortag besetzt gewesen war — eine behelfsmäßige Angelegenheit auf einem noch leeren Baugrundstück —, und machten uns in einem großen Mercedes mit Klimaanlage auf den Weg nach Newmarket.
«Ist viel zu heiß«, sagte Lucas und stellte die Kühlung an.
«Falsche Jahreszeit.«
Er war im korrekten Anzug gekommen, worauf Chico und ich zugunsten von Jeans und Freizeithemd verzichtet hatten.
«Nettes kleines Auto, das Sie da fahren«, sagte Chico bewundernd.
«Sie hatten auch mal einen Mercedes, nicht wahr, Sid?«erkundigte sich Lucas.
Ich bejahte seine Frage, und wir unterhielten uns den halben Weg nach Suffolk hinauf über Autos. Lucas Wainwright fuhr gut, aber so ungeduldig, wie er alles andere auch tat. Ein Pfeffer-und-Salz-Typ, dachte ich. Braunes Haar mit grauen Strähnen, bräunliche Augen mit kleinen Flecken in der Iris. Braun-grau gemustertes Hemd und eine nichtssagende Krawatte. Pfeffer und Salz sein Benehmen, seine Sprechweise, sein ganzes Verhalten.
Schließlich stellte er die Frage, die er irgendwann ja mal stellen mußte:»Und wie kommen Sie mit den Syndikaten voran?«
Chico, der auf dem Rücksitz saß, gab ein Geräusch von sich, das halb Lachen, halb Prusten war.
«Äh…«, sagte ich.»Bedauerlich, daß Sie danach fragen, muß ich gestehen.«
«Das klingt nicht gut«, sagte Lucas mit gerunzelter Stirn.
«Nun ja«, sagte ich,»es ist da ganz zweifellos was im Gange, aber bisher haben wir noch nicht sehr viel mehr als Gerüchte und Geschichten vom Hörensagen erfahren können. «Ich hielt kurz inne, sagte dann:»Besteht irgendeine Aussicht, daß wir vielleicht doch ein Honorar bekommen?«
Er war grimmig amüsiert.»Ich kann’s vielleicht unter der Rubrik > Allgemeine Hilfeleistungen für den Jockey Club< verbuchen.
Kann mir nicht vorstellen, daß die Chefs Einwände erheben, ich meine, nach gestern.«
Chico hob hinter Lucas Wainwrights Rücken eine Hand mit nach oben zeigendem Daumen, und ich dachte mir, daß ich das Thema angesichts des günstigen Klimas vielleicht noch ein bißchen vertiefen sollte, um wenigstens das wieder reinzuholen, was ich an Jacksy gezahlt hatte.
«Wollen Sie, daß wir es weiter versuchen?«fragte ich.
«Aber ja. «Er nickte mit Entschiedenheit.»Unbedingt.«
Wir erreichten nach guter Fahrzeit Newmarket, und der Wagen kam auf der sehr gepflegten Zufahrt zu George Caspars Haus langsam ausrollend zum Stehen.
Es waren keine weiteren Autos zu sehen — mit Sicherheit jedenfalls nicht der Jaguar von Trevor Deansgate. Normalerweise müßte er an diesem Tag eigentlich in York sein, um sich seinen Geschäften als Buchmacher zu widmen. Allerdings war ich nicht überzeugt, daß das wirklich der Fall war.
George, der nur Lucas Wainwright erwartet hatte, war über meinen Anblick keineswegs erfreut, und als Rose-mary die Treppe herunterkam und mich unten im Flur stehen sah, ging sie sofort mit schrillen Mißfallensbekundungen auf mich los.
«Raus hier!«schrie sie.»Wie können Sie es wagen, dieses Haus zu betreten!«
Zwei rote Flecke brannten auf ihren Wangen, und sie sah fast so aus, als wolle sie mich eigenhändig vor die Tür setzen.
«Aber nicht doch«, sagte Lucas Wainwright und wand sich wie üblich mit der Verlegenheit des Marineoffiziers, der sich unziemlichem weiblichem Verhalten konfrontiert sieht.»George, würden Sie so gut sein und Ihre Frau veranlassen, sich erst einmal anzuhören, was wir beide Ihnen zu sagen haben?«
Rosemary wurde nach einigem Widerstreben dazu gebracht, sich in ihrem eleganten Wohnzimmer auf einem Stuhl niederzulassen, während Chico und ich müßig in bequemen Sesseln saßen und es Lucas Wainwright überließen, über Schweinekrankheiten und Herzgeräusche zu berichten.
Die Caspars hörten mit zunehmender Verwirrung und Bestürzung zu, und als Lucas den Namen Trevor Deansgate erwähnte, stand George auf und fing an, sehr erregt im Zimmer auf und ab zu gehen.
«Das ist doch unmöglich«, sagte er schließlich.»Trevor, nein. Wir sind befreundet.«
«Haben Sie ihn nach dem abschließenden Trainingslauf in die Nähe von >Tri-Nitro< kommen lassen?«fragte ich.
Das Gesicht von George gab die Antwort.
«Am Sonntagmorgen«, sagte Rosemary mit harter, kalter Stimme.»Er ist an dem Sonntag rausgekommen. Das tut er häufig. George und er machten einen Rundgang durch die Ställe. «Sie machte eine kleine Pause.»Trevor gibt Pferden gern einen Klaps. Klopft ihnen aufs Hinterteil. Es gibt so Leute. Manche tätscheln den Hals, andere ziehen an den Ohren. Trevor klopft auf Hinterteile.«
Lucas sagte:»Sie werden zu gegebener Zeit als Zeuge vor Gericht aussagen müssen, George.«
«Ich werde ganz schön blöde dastehen, was?«sagte dieser sauer.»Da stopf ich den Stall mit Wachen voll und nehm dann selbst Deansgate mit rein.«
Rosemary sah mich mit versteinertem, unversöhnlichem Blick an.
«Ich habe Ihnen ja gesagt, daß man sie müde gemacht hat. Ich hab’s Ihnen gesagt, aber Sie haben mir nicht geglaubt.«
Lucas sah sie überrascht an.»Aber ich dachte, Sie hätten das richtig verstanden, Mrs. Caspar. Sid hat Ihnen doch geglaubt. Es war Sid, der das alles ermittelt hat, nicht der Jockey Club.«
Ihr Mund öffnete sich und blieb offen stehen — sie war sprachlos.
«Schauen Sie«, sagte ich verlegen,»ich habe Ihnen hier ein Geschenk mitgebracht. Ken Armadale vom Equine Research Establishment hat einen Haufen Arbeit für Sie geleistet und meint nun, >Tri-Nitro< könnte vielleicht geheilt werden, und zwar mit Hilfe von Antibiotika, die nur sehr schwer zu bekommen sind. Und die habe ich Ihnen aus London mitgebracht.«
Ich stand auf, ging mit der Pappschachtel zu Rosemary hinüber, drückte sie ihr in die Hand und küßte sie auf die Wange.
«Es tut mir aufrichtig leid, Rosemary, daß es nicht rechtzeitig vor den 2000 Guineas zu schaffen war. Vielleicht reicht’s ja zum Derby… auf jeden Fall aber zum Irish Derby und zum Diamond Stakes und zum Arc de Tri-omphe… doch, >Tri-Nitro< wird bis dahin wieder fit sein.«
Und Rosemary Caspar, diese harte, so schwer zu beeindruckende Frau, brach in Tränen aus.
Wir waren erst gegen fünf Uhr wieder in London, da Lucas Wainwright darauf bestanden hatte, auch noch Ken Armadale und Henry Thrace einen persönlichen Besuch abzustatten. Der Chef des Sicherheitsdienstes des Jockey Club war bemüht, die ganze Geschichte zu einer hochoffiziellen Angelegenheit zu machen. Er war sichtlich erleichtert, als Ken seine Leute, die nach den verunglückten Rennen die Blutuntersuchungen durchgeführt hatten, von jeder Schuld freisprach.
«Der Erreger wandert schnurstracks zu den Herzklappen und ist im akuten Stadium im Blut nicht aufzuspüren, selbst wenn man an eine Krankheit dächte und nicht nur nach Drogen suchte. Erst später. und auch nur manchmal… gelangt er in die Blutbahn, wie es bei >Zingaloo< der Fall war, als wir ihm die Blutprobe abnahmen.«
«Soll das bedeuten«, verlangte Lucas zu wissen,»daß man, wenn man jetzt in diesem Augenblick das Blut von >Tri-Nitro< untersuchte, das Vorhandensein der Krankheit gar nicht nachweisen könnte?«
«Sie würden nur Antikörper finden«, erklärte Ken. Das schmeckte Lucas nicht.»Wie können wir dann aber vor Gericht beweisen, daß er sie hat?«
«Nun ja«, sagte Ken,»man könnte zum Beispiel heute die Zahl der Rotlauf-Antikörper ermitteln und dann noch einmal in einer Woche. Die Zahl hätte sich bis dahin drastisch erhöht, was beweisen würde, daß das Pferd die Krankheit hat, weil es sie ja abzuwehren versucht.«
Lucas schüttelte bekümmert den Kopf.»Einem Gericht wird so was kaum reichen.«
«Halten Sie sich an >Gleaner<«, sagte ich, und Ken pflichtete mir bei.
Danach verschwand Lucas in den Räumen des Jockey Club in der High Street, und Chico und ich zogen uns derweil in die Bar des» White Hart «zurück, um etwas zu trinken. Uns war sehr heiß.
Ich wechselte die Batterien aus. Reine Routine. Der Tag zog sich hin.
«Laß uns nach Spanien fahren«, sagte ich.
«Spanien?«
«Irgendwohin.«
«Ich hätte gegen eine Senorita nichts einzuwenden.«
«Du bist wirklich unmöglich.«
«Wer im Glashaus sitzt.«
Wir bestellten einen zweiten Drink und tranken — und uns war immer noch heiß.
«Was meinst du, wieviel wir kriegen?«fragte Chico.
«Mehr oder weniger das, was wir verlangen werden.«
George Caspar hatte gesagt, daß uns der Besitzer von >Tri-Nitro< die Welt zu Füßen legen wolle, falls das Pferd sich wieder erholte.
«Ein Honorar würde schon genügen«, hatte ich trocken erwidert.
Chico fragte:»Und was wirst du verlangen?«
«Ich weiß nicht«, sagte ich.»Vielleicht fünf Prozent von seinen Preisgeldern.«
«Da könnte er sich nicht beklagen.«
Schließlich und endlich brachen wir dann in dem angenehm kühlen Wagen in Richtung Süden auf und hörten uns im Radio die Übertragung der Dante Stakes in York an.
Zu meinem größten Vergnügen ging >Flotilla< als Sieger durchs Ziel.
Chico schlief danach auf dem Rücksitz ein, Lucas fuhr so ungeduldig wie auf der Hinfahrt, und ich saß still da und dachte an Rosemary und Trevor Deansgate und Nicholas Ashe und Trevor Deansgate und Louise und Trevor Deansgate.
Ein Stich nach dem anderen. »Ich werde meine Ankündigung wahr machen.«
Lucas setzte uns an der Einfahrt zu dem Parkplatz ab, auf dem ich den Scimitar stehengelassen hatte. Der würde jetzt ein richtiger Glutofen sein, dachte ich, wo er doch den ganzen Tag in der prallen Sonne gestanden hatte. Chico und ich gingen über den ungepflasterten, steinigen Platz zu ihm hin.
Chico gähnte.
Ein Bad, dachte ich. Ein kühler Drink. Abendessen. Wieder irgendwo ein Hotel suchen… nicht in der Wohnung schlafen.
Neben meinem Auto war ein Landrover mit einem für zwei Pferde ausgelegten Transporter geparkt. Komisch, dachte ich arglos, so einen mitten in London zu sehen. Chico, der noch immer gähnte, ging zwischen dem Anhänger und dem Scimitar durch und wartete darauf, daß ich die Wagentür aufschloß.
«Da drin wird’s bullig heiß sein«, sagte ich, suchte in meiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel und sah dabei nach unten in den Wagen.
Chico gab einen erstickten Laut von sich. Ich blickte auf und dachte verwirrt, wie ungeheuer schnell sich doch so ein langweiliger, heißer Nachmittag in eine eiskalte Katastrophe verwandeln konnte.
Ein großer Mann stand zwischen dem Pferdeanhänger und meinem Auto und hielt Chico, der mit dem Gesicht zu mir stand, fest mit seinem linken Arm umklammert. Er hielt ihn mehr oder weniger aufrecht, denn Chicos Kopf hing schlaff nach vorn.
In seiner rechten Hand hielt der Mann einen kleinen Knüppel mit birnenförmiger Verdickung.
Der zweite Mann ließ die Laderampe an der Rückseite des Anhängers herunter.
Es fiel mir nicht schwer, die beiden wiederzuerkennen. Als ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, hatte ich bei einer Wahrsagerin gesessen, der meine Zukunftsaussichten nicht sonderlich gefallen hatten.
«Rein in den Anhänger, Freundchen«, sagte der, der Chico festhielt, zu mir.»Die rechte Box, Bürschchen. Ruhig und ganz fix. Sonst muß ich deinem Freund noch ein paar verpassen. Auf die Augen, Bürschchen, oder ins Genick.«
Auf der anderen Seite des Scimitar murmelte Chico etwas Unverständliches vor sich hin und bewegte dabei den Kopf. Der große Mann hob seinen Schlagstock und stieß erneut ein paar kurze, eindeutig schottisch eingefärbte Worte aus.
«Rein in den Hänger«, sagte er.»Rein mit dir, ganz nach vorne.«
Vor Wut kochend, ging ich hinten um mein Auto herum und über die Rampe in den Pferdeanhänger hinein. In die rechte Box, wie er gesagt hatte, und ganz nach vorn. Der zweite Mann hielt sich vorsichtig außer Reichweite, und sonst war niemand auf dem Parkplatz zu sehen.
Mir wurde bewußt, daß ich immer noch meine Autoschlüssel in der Hand hielt, und ich steckte sie ganz automatisch in die Hosentasche zurück. Schlüssel, Taschentuch, Geld… und in der linken Tasche nur eine leere Batterie. Keine Waffe irgendwelcher Art. Ein Messer im Strumpf, dachte ich. Ich hätte von Nicholas Ashe lernen sollen.
Der Mann, der Chico hielt, kam jetzt zur Rückseite des Anhängers. Halb trug und halb zerrte er sein Opfer in die linke Box.
«Ein Mucks, Bürschchen«, sagte er und blickte über die Trennwand in der Mitte zu mir herüber,»und ich geb deinem Freund hier was drauf. Auf die Augen, Bürschchen, und aufs Maul. Versuch um Hilfe zu schreien, Bürschchen, und deinem Freund bleibt nicht mehr viel, das wie’n Gesicht aussieht. Klar?«
Ich dachte an Mason in Tunbridge Wells, der nur so dahinvegetierte und blind war.
Ich sagte gar nichts.
«Ich bin während der ganzen Fahrt hier bei deinem Freund«, sagte Chicos Bewacher.»Denk dran, Bürschchen.«
Der zweite Mann hob die Rampe, schloß den Anhänger und sperrte das Sonnenlicht aus, so daß sofort tiefe Nacht um uns war. Viele dieser Anhänger hatten zwar an der hinteren Seite oben eine Öffnung — dieser aber nicht.
Mein Zustand ließ sich am besten mit dem Wort Erstarrung umschreiben.
Der Motor des Landrovers wurde angelassen, der Anhänger setzte sich in Bewegung und wurde rückwärts aus der Parklücke geschoben. Das reichte schon aus, um mich gegen die Seitenwand kippen zu lassen und mir zu zeigen, daß ich in aufrechter Haltung nicht sehr weit kommen würde.
Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, die doch nicht tiefschwarz war, weil die Rampe nicht an allen Stellen dicht schloß. Auch wenn das von keinerlei Bedeutung war, konnte ich schließlich erkennen, welche Umbauten vorgenommen worden waren, um aus dem Pferdeanhänger ein ausbruchssicheres Transportmittel zu machen: die zusätzliche Platte an der Rückseite, mit der die Öffnung geschlossen worden war, die normalerweise der Belüftung diente, und noch eine weitere im Innenraum, die dafür sorgte, daß die mittlere Trennwand nicht nur bis Kopfhöhe, sondern bis zum Dach des Hängers reichte.
Was den Rest anbetraf, so handelte es sich dabei nach wie vor um eine Box, die so stabil gebaut war, daß sie dem Gewicht und den Hufschlägen eines Pferdes standhielt. Ich saß hilflos auf dem mit lehmigem Schmutz bedeckten, im übrigen aber nackten Boden, und die finstersten Mordgedanken gingen mir durch den Kopf.
Nach all der ungeplanten Herumfahrerei hatte ich Lucas Wainwrights Angebot, mit seinem Wagen zu fahren, dankbar angenommen — und hirnrissigerweise mein Auto den ganzen Tag an einem Ort stehen lassen, wo es jeder sehen konnte. Sie mußten meine Spur gestern beim Jockey Club aufgenommen haben, dachte ich. Entweder gestern oder heute morgen. Aber gestern war der Parkplatz voll gewesen, und ich hatte das Auto irgendwo auf der Straße stehen lassen und ein Knöllchen dafür bekommen.
Ich war nicht in meiner Wohnung gewesen. Ich war nicht nach Aynsford hinausgefahren. Ich war nicht im» Cavendish «oder an sonst einem der Orte gewesen, die ich regelmäßig aufsuchte.
Ich war nur beim Jockey Club gewesen.
Ich saß da und fluchte und dachte an Trevor Deansgate.
Die Fahrt dauerte weit über eine Stunde — eine heiße, durchrüttelnde, deprimierende Zeit, die ich im wesentlichen damit zubrachte, mir ganz bewußt nicht die Frage zu stellen, was an ihrem Ende wohl auf uns warten mochte. Nach einer Weile konnte ich Chico durch die Trennwand hindurch sprechen hören, aber nicht verstehen, was er sagte. Die ausdruckslose, dröhnende, aus Glasgow stammende Stimme antwortete in kürzeren Sätzen, grollte wie Donner.
Zwei Profis aus Glasgow, hatte Jacksy gesagt. Der bei Chico war mit Sicherheit einer. Nicht der gewöhnliche, draufhauende, hirnlose Schläger, sondern ein beinharter Kerl mit Grips — und deshalb um so schlimmer.
Schließlich hörte das Stoßen und Schlingern auf, und ich konnte hören, wie die Anhängerkupplung gelöst wurde und der Landrover davonfuhr. In der plötzlichen Stille hörte ich ganz deutlich, wie Chico sagte:
«Was geht denn hier vor?«Er klang immer noch ziemlich groggy.
«Das wirst du bald genug erfahren, Bürschchen.«
«Wo ist Sid?«wollte Chico nun wissen.
«Sei still, Bürschchen.«
Ein Schlag war nicht zu hören, aber Chico war still.
Der Mann, der die Rampe hochgehoben und geschlossen hatte, kam und ließ sie wieder herunter, und das Abendlicht dieses Mittwochs strömte zu uns in den Anhänger.
«Raus«, sagte er.
Er wich ein Stück zurück, als ich vom Boden aufstand, und er hielt eine Heugabel in Bereitschaft, die spitzen Zinken auf mich gerichtet.
Ich starrte aus der Tiefe des Pferdeanhängers nach draußen und wußte, wo wir uns befanden. Der abgekoppelte
Hänger stand in einem Gebäude, und dieses Gebäude war die Reithalle auf dem Hof von Peter Rammileese.
Holzverkleidete Wände, Fensterluken oben im Dach, wegen der Hitze geöffnet. Niemand konnte von draußen hier hineinsehen.
«Raus!«sagte der Mann erneut und hob ruckartig die Heugabel.
«Mach, was er sagt, Bürschchen«, erklang die drohende Stimme des Mannes drüben bei Chico.»Und ein bißchen plötzlich.«
Ich tat, was er sagte.
Ging die Rampe hinunter und betrat den schallschluk-kenden, bräunlichen Sägemehlboden der Reithalle.
«Da rüber!«Er gestikulierte mit der Forke.»An die Wand.«
Seine Stimme war rauher als die von Chicos Bewacher, und sein Akzent noch ausgeprägter. Er wirkte so einschüchternd, daß mir keine andere Wahl blieb.
Ich ging und hatte dabei das Gefühl, als gehörten meine Füße gar nicht mehr mir.
«An die Wand da, Gesicht zu mir.«
Hinter dem Mann mit der Gabel stand — was ich aus dem Anhänger nicht hatte sehen können — Peter Rammileese. Auf seinem Gesicht lag eine häßliche Mischung aus Befriedigung, Spott und Vorfreude — etwas ganz anderes als die vorsichtige Konzentration seiner beiden Handlanger. Er hatte, so nahm ich an, vorhin den Landrover weggefahren.
Chicos Bewacher brachte diesen an den Rand der Laderampe und hielt ihn dort fest. Halb stand Chico und halb lehnte er sich gegen den Schotten, lächelte ein bißchen und war völlig durcheinander.
«Hallo, Sid«, sagte er.
Der Mann, der ihn hielt, hob seinen Schlagstock und sagte zu mir:»Jetzt hör mal gut zu, Bürschchen. Du bleibst mucksmäuschenstill stehen. Keine Bewegung. Wenn du dich rührst, mach ich deinen Freund so schnell so platt, daß du’s gar nicht mitkriegst. Verstanden?«
Ich antwortete ihm nicht. Gleich darauf nickte er dem mit der Heugabel auffordernd zu.
Der kam langsam und vorsichtig auf mich zu, zeigte mir die Zinken seiner Forke.
Ich blickte zu Chico hinüber. Sah den Schlagstock. Sah die Schäden, die ich nicht riskieren durfte.
Ich stand… ganz still.
Der Mann mit der Heugabel hob diese an, bis ihre Zinken nicht mehr auf meine Magengegend, sondern auf mein Herz gerichtet waren, und dann noch höher. Langsam, vorsichtig kam er immer näher, bis eine Zinke meine Kehle berührte.
«Halt still«, sagte der Mann bei Chico warnend.
Ich hielt still.
Die Zinken der Gabel glitten an meinem Hals vorbei, auf jeder Seite eine, unterhalb meines Kinns, bis ihre Spitzen auf die Holzfläche in meinem Rücken trafen. Schoben dabei meinen Kopf nach hinten. Nagelten mich an die Bretterwand, ohne mir irgendeine Verletzung zuzufügen. Besser, als wenn sie mir durch die Haut gefahren wären, dachte ich benommen, was aber kaum dazu angetan war, meine Selbstachtung zu stärken.
Als er die Forke da hatte, wo er sie haben wollte, stieß er den Stiel kräftig nach vorn, so daß sich die Zinken in das Holz gruben. Dann stemmte er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Stiel, damit ich die Gabel nicht verrücken und mich befreien konnte. Ich war mir selten so hilflos und töricht vorgekommen.
Der andere Mann wirkte plötzlich ganz entspannt, schleppte Chico die Laderampe hinunter und verpaßte ihm einen kräftigen Stoß ins Kreuz, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Kraftlos wie eine Stoffpuppe flog er in die weichen Sägespäne, und sein Bewacher kam zu mir herüber, um sich davon zu überzeugen, daß die Kraft, die mich an Ort und Stelle festhielt, ausreichte.
Er nickte seinem Partner zu.»Konzentrier dich ganz auf den hier«, sagte er zu ihm,»und kümmre dich nicht um das andre Bürschchen. Das mach ich schon.«
Ich sah mir ihre Gesichter an, die ich nie wieder vergessen würde.
Die harten, abgestumpften Züge. Die kalten Augen, wachsam und gefühllos. Das schwarze Haar und die blasse Haut. Die kleinen Köpfe auf den stämmigen Nacken. Die Ohren und die schweren Kinne mit den schwärzlichen Bartstoppeln. Ende dreißig, vermutete ich. Beide waren einander sehr ähnlich — und beide gingen mit der methodischen Brutalität des erfahrenen Söldners vor.
Peter Rammileese, der jetzt nähertrat, wirkte im Vergleich mit ihnen geradezu harmlos. Trotz der Mißbilligung seiner Kumpanen legte er die Hand auf den Mistgab elstiel und versuchte, daran zu rütteln. Es schien ihn zu überraschen, daß es nicht ging.
Er wandte sich an mich und sagte:»Sie werden Ihre Rotznase nicht mehr in Sachen stecken, die Sie nichts angehen, wenn das hier vorbei ist.«
Ich würdigte ihn keiner Antwort. Hinter den dreien kam plötzlich Chico auf die Beine, und einen kurzen Augenblick lang hoffte ich, daß er die Betäubung nur vorgetäuscht hatte, in Wirklichkeit hellwach war und bereit, seine Judokünste zu wirkungsvollem Einsatz zu bringen.
Aber das war nur ein Augenblick. Der Tritt, den er dem
Manne verpaßte, der ihn festgehalten hatte, hätte nicht einmal ein Kartenhaus zum Einsturz bringen können. In hilfloser Wut mußte ich mit ansehen, wie der Schlagstock erneut auf seinen Schädel niedersauste, ihn in die Knie gehen ließ und sein Hirn noch mehr benebelte.
Der Mann mit der Heugabel tat das, was ihm aufgetragen worden war, und konzentrierte sich ganz darauf, den auf den Gabelstiel ausgeübten Druck nicht schwächer werden zu lassen. Ich zerrte daran und wand mich verzweifelt, um mich zu befreien, aber meine Anstrengungen blieben vergeblich. Der große Mann bei Chico löste seinen Hosengürtel.
Ich sah mit ungläubigem Staunen, daß das, was er da um seine Taille gehabt hatte, gar kein Ledergürtel war, sondern eine längere, dünne, feingliedrige Kette, wie man sie etwa in Standuhren findet. An einem Ende hatte er eine Art Griff befestigt, den er nun in die Hand nahm. Dann schlug er weit ausholend zu, so daß das freie Ende durch die Luft sauste und sich um Chico wand.
Chicos Kopf schoß hoch, seine Augen und sein Mund öffneten sich weit vor Staunen, als habe der neue Schmerz wie ein Flammenwerfer die Nebel des alten vertrieben. Der Mann holte erneut aus, und wieder sauste die Kette auf Chico hinab, und ich konnte mich schreien hören:»Ihr Schweine, ihr verdammten Schweine…«, was aber nicht das geringste änderte.
Chico kam schwankend auf die Beine und machte ein paar stolpernde Schritte, wollte seinem Peiniger entkommen, aber der folgte ihm und schlug, offenbar stolz auf sein Tun, mit nicht nachlassender Grausamkeit auf ihn ein.
Ich schrie zusammenhanglose Worte heraus, schrie, er solle aufhören… spürte Zorn und Schmerz und die Qual des Gedankens, daß ich an all dem schuld war. Wenn ich
Chico nicht nach Newmarket mitgenommen hätte… wenn ich nicht solchen Schiß vor Trevor Deansgate gehabt hätte… weil ich Angst gehabt hatte, war Chico hier… jetzt…
o Gott… dieses Schwein. Aufhören… aufhören… Ich zerrte an der Mistgabel und konnte mich nicht losreißen.
Chico wankte, stolperte, kroch auf allen vieren ziellos in der Reithalle umher und blieb schließlich nicht weit von mir entfernt im Sägemehl liegen, das Gesicht nach unten. Der dünne Baumwollstoff seines Hemdes zuckte jedesmal, wenn die Kette ihn traf, und ich sah, wie hier und da blutigrote Streifen das Gewebe färbten.
Chico. Gott im Himmel.
Erst als er vollkommen bewegungslos dalag, hörte die Quälerei auf. Der Mann blieb neben ihm stehen, blickte abschätzend auf ihn hinab und hielt seine Kette locker in der Hand.
Peter Rammileese sah irgendwie verwirrt und erschrocken aus, obwohl er es doch gewesen war, der das alles arrangiert, der uns hierher gebracht hatte.
Zum ersten Mal wandte jetzt der Mann mit der Heugabel den Blick von mir ab und der Stelle zu, wo Chico lag. Das hatte nur eine winzige Verlagerung seines Gewichtes zur Folge, verminderte aber doch den Druck an meinem Hals. Ich zerrte mit einer Kraft an dem Stiel, auf die er nicht gefaßt war, und es gelang mir tatsächlich, von der Wand loszukommen — und es war nicht der Mann bei Chico, auf den ich mit blutrünstiger Wut zustürzte, sondern Peter Rammileese, der mir näher war.
Ich schlug ihm mit aller Kraft ins Gesicht — und ich schlug ihn mit meiner linken Hand, einem Knüppel, in dem hochentwickelte Technik im Wert von gut zweitausend Pfund steckte.
Er kreischte auf und legte die Arme schützend um den
Kopf, und ich sagte in wilder Wut» Dreckskerl!«und schlug noch einmal zu, traf diesmal seine Rippen.
Das war der Moment, wo sich der Mann bei Chico mit mir zu befassen begann, und ich entdeckte wie Chico, daß das erste, was man spürte, ein Staunen war. Der schneidende Schmerz war unglaublich heftig, und nach der Wucht des Aufpralls folgte ein anhaltendes Brennen. Ich ging mit einer Wut auf den Kerl los, von der ich nicht gedacht hätte, daß ich sie empfinden könnte — und jetzt war er es, der vor mir zurückwich.
Den nächsten Hieb seiner Kette fing ich mit meinem gefühllosen Arm auf. Das freie Ende wickelte sich um den Unterarm, und ich zog mit solcher Heftigkeit daran, daß ihm der Griff, ein Stück zusammengenähtes Leder, aus der Hand flog und auf mich zugesaust kam. Wären nur wir beide dort in der Halle gewesen, hätte ich Chico gerächt und uns den Weg aus der Reithalle freigekämpft, denn die Art und Weise, wie ich ihn attackierte, hatte nichts mit Kaltblütigkeit zu tun.
Ich fing den Ledergriff auf, und als sich die feingliedrige Kette von meinem Arm gelöst hatte, schwang ich sie kreisend über dem Kopf und ließ sie ihm dann mit voller Wucht um die Schultern sausen. Seinen weit aufgerissenen Augen und dem zornerfüllten, schottischen Aufschrei entnahm ich, daß er zum ersten Mal am eigenen Leibe erfuhr, was er bisher nur anderen angetan hatte.
Zu diesem Zeitpunkt aber griff die Reserve ein, der Heugabelmann — und wenn ich vielleicht auch mit einem hätte fertigwerden können, gegen zwei hatte ich keine Chance.
Er ging mit den tückischen Zinken auf mich los, und obwohl ich ihnen auswich wie ein Stierkämpfer, packte sein Kumpan mit beiden Händen meinen rechten Arm, wild entschlossen, sich seine Kette wiederzuholen. Ich fuhr mit einem Satz zu ihm herum und schlug ihm mit der Innenseite meines metallenen Handgelenks so hart aufs Ohr, daß ich den Aufprall durch meinen Ellbogen und Oberarm bis hinauf in die Schulter spüren konnte.
Für einen Sekundenbruchteil sah ich ihm aus nächster Nähe in die Augen, erkannte darin die ganze Erfahrung des harten Schlägers und wußte, daß er sich nicht auf die Laderampe des Pferdeanhängers setzen und jammern würde, wie es Peter Rammileese getan hatte.
Der Schlag gegen seinen Kopf hatte seinen Griff trotzdem so gelockert, daß ich mich von ihm losreißen und wegspringen konnte, den Griff der Kette noch immer fest umklammert. Ich drehte mich um und suchte den Heugabelmann. Der hatte seine Waffe inzwischen beiseite geworfen und löste gerade seinen Gürtel. Ich stürzte auf ihn zu, während er noch mit beiden Händen an seiner Taille herumfummelte, und machte auch ihn mit den Realitäten der von ihnen gewählten Kriegführung bekannt.
In der halben Sekunde, in der die beiden Schotten vom Schock wie erstarrt waren, machte ich kehrt und rannte auf die Tür los, hinter der es irgendwo Menschen, Hilfe und Sicherheit geben mußte.
Durch Sägemehl zu rennen ist so, als liefe man durch Sirup, und obwohl ich bis zur Tür kam, kam ich nicht hinaus, denn es handelte sich um ein riesiges Ding, wie ein großes Stück Wand, das sich auf Rollen nach einer Seite hin aufschieben ließ und mit einem schweren, in den Boden versenkten Riegel verschlossen war.
Der Heugabelmann holte mich dort ein, bevor ich den Riegel hochkriegte, und ich bekam zu spüren, daß es sich auch bei seinem Gürtel nicht um Leder, aber auch nicht um eine Kette aus dem Inneren einer Standuhr handelte, sondern eher um eine, mit der man Wachhunde ankettet. Weniger Biß, mehr Wucht.
Ich hatte nach wie vor die dünne Kette und warf mich, weil ich eben noch an dem Riegel gezerrt hatte, in gebückter Haltung herum, so daß sie sich um seine Beine wand. Er stöhnte laut und warf sich auf mich, und ich hatte plötzlich den anderen Burschen direkt hinter mir, so daß nun beide mich packten und ich ihnen von da an leider keinen Schaden mehr zufügen konnte, obwohl ich es an weiteren Versuchen durchaus nicht fehlen ließ.
Der Große bekam seine Kette wieder, weil er stärker war als ich und meine Hand gegen die Wand schlug, um ihren Griff zu lockern, während der andere mich fest umklammert hielt. Und ich dachte, ich werd’s euch, verdammt noch mal, nicht leichtmachen, ihr sollt ruhig was tun für euer Geld — und riß mich wieder los und war auf und davon, so daß sie hinter mir her mußten, durch die Halle und um den Pferdeanhänger herum und an den Wänden entlang und wieder zurück zur Tür.
Es gelang mir sogar, die Heugabel aufzuheben und sie damit eine Weile auf Distanz zu halten, dann schleuderte ich sie nach dem einen und verfehlte ihn leider. Und weil man Schmerzen in vieles andere verwandeln kann, um sie nicht zu spüren, entfesselte ich in mir noch mehr Ärger und Wut und Zorn und konzentrierte mich ganz auf diese Gefühle, um einen Schutzschild zu haben.
Ich endete — wie Chico — stolpernd und schwankend und kriechend und schließlich bewegungslos auf dem weichen Untergrund ausgestreckt. Nicht weit von der Tür entfernt… aber sehr weit von jeder Hilfe.
Sie werden aufhören, jetzt, wo ich stillhalte, dachte ich… sie werden gleich aufhören — und sie taten es.
Kapitel 18
Ich lag mit dem Gesicht in den Sägespänen und hörte, wie sie keuchend über mir standen — beide atmeten schwer nach der Anstrengung.
Peter Rammileese war offensichtlich zu ihnen getreten, denn ich hörte seine Stimme ganz nah, voll von Gehässigkeit und undeutlich murmelnd.
«Macht ihn kalt«, sagte er.»Hört jetzt nicht auf, sondern macht ihn kalt.«
«Den kalt machen?«sagte der Mann, der Chicos Bewacher gewesen war.»Sie spinnen wohl!«Er hustete, sog schnaufend Luft ein.»Das Bürschchen.«
«. hat mir den Kiefer gebrochen.«
«Dann machen Sie ihn doch selber kalt. Wir tun’s jedenfalls nicht.«
«Und wieso nicht? Er hat Ihnen das halbe Ohr abgesäbelt.«
«Jetzt kommen Sie mal zu sich, Mann. «Er hustete wieder.»Wir hätten doch innerhalb von fünf Minuten die Bullen am Hals. Wir sind schon viel zu lange hier unten. Uns haben zu viele Leute gesehen. Und das Bürschchen hier hat für jeden Wetter in Schottland Geld gewonnen. Wir säßen in weniger als einer Woche im Bau.«
«Ich will, daß ihr ihn kaltmacht«, sagte Peter Rammi-leese hartnäckig.
«Sie zahlen doch gar nicht«, sagte der Schotte ruhig, noch immer schwer atmend.»Wir haben unseren Auftrag
ausgeführt, und damit hat sich’s. Wir gehen jetzt zu Ihnen rein, trinken ein Bierchen, und wenn’s dunkel ist, laden wir die beiden wie besprochen irgendwo ab. Und dann ist Sense. Wir fahren noch heute nacht zurück in den Norden, wir sind nämlich schon viel zu lange hier unten.«
Sie gingen weg, schoben die Tür auf und traten hinaus auf den Hof Ich hörte das knirschende Geräusch der Kieselsteine unter ihren Füßen, hörte, wie die Tür sich wieder schloß und dann mit metallischem Scharren der Riegel an der Außenseite zugeschoben wurde, der verhindern sollte, daß Pferde hinausgelangten, und wohl auch für Menschen ausreichte.
Ich bewegte den Kopf ein wenig, um meine Nase aus den Sägespänen herauszubekommen, sah nur deren Farbe, da sie viel zu dicht vor meinen Augen waren, um sie im einzelnen erkennen zu können, blieb einfach liegen, wo ich lag, und fühlte mich formlos, wie zu Brei zerquetscht, dumm und geschlagen. Gelee. Lebendes Gelee. Rot. Brennend. Wie in einem Schmelzofen verglühend.
Es wurde wirklich ein Haufen romantischer Schwachsinn geschrieben, dachte ich, von wegen daß man vor Schmerzen ohnmächtig würde. Das wurde man keineswegs, weil die Natur das gar nicht vorgesehen hatte, der Mechanismus dazu fehlte. Die sensorischen Nerven hatten keine pannensichere Ab schaltvorrichtung, sondern übermittelten so lange Botschaften, wie es Botschaften zu übermitteln gab. Es hatte sich über die Jahrtausende kein anderes System entwickelt, weil es nicht erforderlich gewesen war. Nur der Mensch, dieses wildeste aller Tiere, fügte seinem Artgenossen Schmerzen um der Schmerzen willen zu.
Ich dachte: Ich habe das schon mal kurz geschafft, nach viel zu langer Zeit. Ich dachte: Dies hier ist nicht so schlimm wie damals, also werd ich wach bleiben, also denke ich mir besser etwas aus, worüber ich nachdenken kann. Wenn man schon nicht verhindern konnte, daß die Botschaft weitergeleitet wurde, so konnte man doch immerhin die Rezeptoren ablenken und dafür sorgen, daß sie ihr keine große Beachtung schenkten — wie bei der Akupunktur. Und ich hatte im Laufe der Jahre auf diesem Gebiet eine Menge Übung gehabt.
Ich dachte an eine Nacht, die ich in einem Zimmer verbracht hatte, von dem aus man die Krankenhausuhr sehen konnte. Um mich von meinem ziemlich fürchterlichen Zustand abzulenken, hatte ich die Minuten gezählt. Das heißt, wenn ich die Augen schloß und fünf Minuten zählte, dann sollten, wenn ich sie wieder aufmachte, eigentlich fünf vergangen sein. Aber jedesmal, wenn ich die Augen öffnete, um nachzusehen, waren erst vier herum. Das war eine sehr lange Nacht gewesen. Heute wußte ich Besseres zutun.
Ich dachte an John Viking in seinem Ballon und stellte mir vor, wie er über den Himmel dahinfuhr, die blauen Augen strahlend vor Freude darüber, daß er gerade wieder gegen irgendwelche Sicherheitsbestimmungen verstoßen hatte. Ich dachte an >Flotilla< und meinen morgendlichen Ritt in Newmarket und an seinen Sieg in den Dante Stakes in York. Ich dachte an Rennen, die ich geritten und die ich gewonnen oder verloren hatte. Und ich dachte an Louise, ziemlich viel an Louise und an Himmelbetten.
Hinterher schätzte ich, daß Chico und ich über eine Stunde lang bewegungslos dort gelegen waren, obwohl ich in dieser Phase kein klares Zeitgefühl hatte. Der erste, wahrnehmbare Einbruch der unerfreulichen Gegenwart in mein Bewußtsein war das Geräusch des scharrend zurückgezogenen, an der Außenseite der Tür befindlichen Riegels. Dann wurde die Tür knirschend ein Stück aufgeschoben. Sie wollten uns, hatten sie gesagt, nach Einbruch der Dunkelheit irgendwo abladen — aber es war noch gar nicht dunkel.
Auf dem weichen Untergrund waren keine Schritte zu hören, weshalb das nächste, was ich vernahm, eine Stimme war.
«Schlafen Sie?«
«Nein«, sagte ich.
Ich drehte den Kopf ein wenig und sah den kleinen Mark, der im Schlafanzug neben mir kauerte und mich mit der ganzen Besorgtheit eines sechsjährigen Jungen anschaute. Hinter ihm stand die Tür gerade so weit offen, daß er seinen schmächtigen Körper hatte hindurchzwängen können. Auf der anderen Seite der Tür, draußen auf dem Hof, stand der Landrover.
«Sieh doch mal nach, ob mein Freund da wach ist«, sagte ich.
«Okay.«
Er richtete sich auf und ging zu Chico hinüber, und ich hatte mich, als er mit seinem Lagebericht zurückkam, aus meiner liegenden in eine kniende Stellung hochgearbeitet.
«Er schläft«, sagte er und sah mich ängstlich an.»Ihr Gesicht ist ja ganz naß. Ist Ihnen heiß?«
«Weiß dein Vater, daß du hier bist?«fragte ich.
«Nein, tut er nicht. Ich mußte früh ins Bett, aber ich hab eine Menge Gezanke gehört. Ich glaub, ich hab mich gefürchtet.«
«Wo ist dein Papa jetzt?«erkundigte ich mich.
«Im Wohnzimmer. Mit so Freunden von ihm. Er hat sich im Gesicht weh getan und ist stinkwütend.«
Ich brachte so etwas wie ein Lächeln zustande.»Sonst noch was?«»Mama hat ihn gefragt, was er denn erwartet hätte, und sie haben dann alle was getrunken. «Er überlegte ein Weilchen.
«Einer von den Freunden hat gesagt, sein Trommelfell ist geplatzt.«
«Wenn ich du wäre«, sagte ich,»dann würde ich ganz schnell wieder in mein Bett gehen, damit sie dich nicht hier erwischen. Sonst kriegt dein Papa vielleicht auch auf dich ’ne Stinkwut, und das wäre sicher nicht lustig, könnte ich mir vorstellen.«
Er schüttelte den Kopf.
«Also dann… Gute Nacht«, sagte ich.
«Gute Nacht.«
«Und laß die Tür offen«, sagte ich noch.»Ich mach sie dann zu.«
«Ist gut.«
Er bedachte mich mit einem vertrauensvollen, ein bißchen verschwörerischen Lächeln und drückte sich durch die Tür hinaus, um sich zurück in sein Bett zu schleichen.
Ich kam auf die Beine, wankte ein wenig umher, erreichte dann aber doch die Tür.
Der Landrover stand ungefähr drei Meter entfernt. Wenn der Schlüssel steckte, dachte ich, warum dann erst darauf warten, daß die uns irgendwo abluden? Zehn Schritte. Ich lehnte mich gegen die grau-grüne Karosserie und schaute durch die Seitenscheibe.
Schlüssel. Im Zündschloß.
Ich ging in die Reithalle und zu Chico zurück, kniete mich neben ihn, weil das wesentlich weniger anstrengend war, als sich zu ihm hinabzubeugen, und sagte:»Los, wach auf! Zeit zu gehen.«
Er stöhnte.
«Chico, du mußt gehen. Ich kann dich nicht tragen.«
Er öffnete die Augen. Noch immer ziemlich durcheinander, dachte ich, aber doch schon sehr viel besser.
«Steh auf«, drängte ich.»Wir können hier abhauen, du mußt es nur versuchen.«
«Sid…«
«Ja«, sagte ich.»Los, komm.«
«Laß mich, ich kann nicht.«
«Und wie du kannst, verdammt noch mal. Du brauchst bloß zu sagen >Hol der Geier diese Schweine<, und schon geht’s ganz leicht.«
Es ging schwerer, als ich gedacht hatte, aber dann schaffte ich es doch, ihn halb hochzukriegen und ihm den Arm um die Taille zu legen. So schwankten wir auf einem Zickzackkurs zur Tür wie ein besoffenes Liebespaar.
Dann durch die Tür und zum Landrover. Kein wütender, unsere Entdeckung signalisierender Schrei vom Haus her
— und da das Wohnzimmer auf der anderen Seite des Gebäudes lag, würden sie, wenn wir Glück hatten, nicht mal das Anlassen des Motors hören.
Ich schob und stieß Chico auf den Beifahrersitz, schloß die Wagentür neben ihm möglichst leise und ging dann um das Auto herum zur Fahrerseite.
Der Landrover, dachte ich mißmutig, war was für Linkshänder — alle Bedienungselemente mit Ausnahme des Blinkerhebels befanden sich auf dieser Seite. Und ob es nun daran lag, daß ich noch zu schwach oder die Batterie leer oder der Mechanismus der Hand beschädigt worden war, weil ich sie als Schlagstock benutzt hatte — die Finger meiner linken Hand ließen sich kaum noch bewegen. Ich fluchte vor mich hin und machte alles mit der Rechten, was ziemliche Verrenkungen erforderte und sehr weh getan hätte, wenn ich es nicht so eilig gehabt hätte.
Ich ließ den Motor an. Löste die Handbremse. Legte den ersten Gang ein. Erledigte dankbar alles übrige mit den Füßen und fuhr los. Nicht gerade ein sanftes Anfahren, aber immerhin. Der Landrover rollte zum Tor, und wir fuhren hinaus. Ganz instinktiv bog ich in die Richtung ab, die von London weg führte, weil eine innere Stimme mir sagte, daß sie uns, wenn sie unser Verschwinden bemerkten und sich an die Verfolgung machten, wohl eher auf dem Weg in die Stadt vermuten würden.
Die» Hol der Geier diese Schweine«-Haltung hielt sich zwei, drei Meilen und ein paar knifflige, einhändige Gangwechsel lang, erlitt jedoch einen ernsten Rückschlag, als ich auf die Tankanzeige blickte und feststellen mußte, daß der Zeiger schon fast bei Null stand.
Die Frage, wohin wir denn nun fahren sollten, mußte also geklärt werden, und zwar sofort. Aber bevor ich mich entschieden hatte, kamen wir um eine Kurve und hatten eine Tankstelle vor uns, die noch geöffnet war. Meinen Augen kaum trauend, bog ich in die Einfahrt und brachte unser Gefährt ruckend vor einer der Zapfsäulen zum Stehen.
Geld in der rechten Hosentasche, zusammen mit meinen Autoschlüsseln und einem Taschentuch. Ich zog alles hervor und bündelte die zerknitterten Geldscheine. Öffnete das Seitenfenster, gab sie dem Tankwart, der herangetreten war, und sagte, daß ich dafür Benzin haben wolle.
Der Tankwart war sehr jung, noch im Schulalter, und sah mich neugierig an.
«Alles in Ordnung?«fragte er.
«Es ist sehr heiß«, sagte ich und wischte mir mit dem Taschentuch das Gesicht ab. Ein paar Sägespäne fielen mir aus den Haaren. Ich mußte wohl wirklich ein bißchen seltsam aussehen.
Der Junge nickte jedoch nur und steckte die Zapfpistole in den Einfüllstutzen des Landrovers, der sich direkt hinter der Fahrertür befand. Er sah an mir vorbei zu Chico hinüber, der mehr lag als saß, die Augen jetzt offen.
«Was fehlt denn dem?«
«Betrunken«, sagte ich.
Der Junge sah mich an, als dächte er, daß wir das wohl beide seien, aber er sagte nichts mehr, schraubte, als er mit Benzineinfüllen fertig war, die Kappe auf den Einfüllstutzen und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Ich absolvierte einmal mehr meinen etwas mühsamen Rechtshänderstart und fuhr wieder auf die Straße hinaus. Nach etwa einer Meile bog ich in eine Nebenstraße ab, brachte ein paar Kurven hinter mich und hielt an.
«Was ist?«fragte Chico.
Ich sah ihm in die noch immer benommen blickenden Augen. Muß entscheiden, wohin wir fahren sollen, dachte ich. Ich mußte es für Chico entscheiden, denn was mich anbetraf, wußte ich es schon. Ich hatte mich entschieden, nachdem ich festgestellt hatte, daß ich den Landrover bewegen konnte, ohne dauernd irgendwas um- oder anzufahren, als sich bei der Tankstelle, die dankenswerterweise aufgetaucht war, ergeben hatte, daß ich genug Geld für Benzin dabei hatte, und als ich den Jungen nicht gebeten hatte, Hilfe in Gestalt von Polizisten und Ärzten herbeizuholen.
Krankenhäuser und Bürokratie und Fragen und Herumgeschubstwerden — das alles waren Dinge, die mir überaus verhaßt waren. Ich würde mich dem nicht aussetzen, wenn es nicht um Chicos willen sein mußte.
«Wo waren wir heute?«fragte ich ihn.
Nach einer Weile antwortete er:»Newmarket.«:
«Wieviel ist zwei mal acht?«
Schweigen. Dann:»Sechzehn.«
Ich saß da, empfand so etwas wie matte Dankbarkeit angesichts seines langsam wieder arbeitenden Verstandes und sammelte Kräfte. Der Schwung, der mich in den Landrover und bis zu dieser Stelle befördert hatte, war dahin und hatte ein Vakuum hinterlassen, in das Feuer und Kraftlosigkeit zurückgeströmt waren. Ich würde, dachte ich, weitermachen können, wenn ich mir nur ein bißchen Zeit ließ. Stehvermögen und Energie waren Schwankungen unterworfen, und was man im einen Augenblick nicht schaffte, schaffte man im nächsten.
«Ich brenne«, sagte Chico.
«Mm.«
«Das war zuviel.«
Ich sagte nichts. Er bewegte sich, versuchte, sich in seinem Sitz aufzurichten, und ich sah an seinem Gesicht, daß ganz plötzlich die Erinnerung an das Geschehene wieder da war. Er schloß die Augen und sagte:»Mein Gott!«-und nach einer Weile sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an und fragte:»Du auch?«
«Mm.«
Der lange, heiße Tag versank langsam in der Abenddämmerung. Wenn ich mich nicht aufraffte, dachte ich, würde ich nirgendwo mehr hinkommen.
Die Hauptschwierigkeit war nach wie vor, daß es sehr riskant, wenn nicht sogar höchst gefährlich war, einen Landrover mit nur einer Hand zu fahren, denn ich mußte bei jedem Gangwechsel das Steuerrad loslassen und mit der rechten Hand nach links greifen, um den Ganghebel zu betätigen. Dieses Problem ließ sich nur lösen, wenn es mir gelang, wenigstens einmal noch den oben am Schalthebel sitzenden Knopf mit den Fingern der linken Hand fest zu umfassen, denn dann konnte ich den Strom abschalten, und die Hand würde dort liegenbleiben, bis sie neue Instruktionen erhielt.
Ich versuchte es — und mit Erfolg. Dann ließ ich den Motor an und schaltete das Abblendlicht ein. Wenn ich bloß etwas Trinkbares hätte, dachte ich, und startete zu der langen Heimreise.
«Wohin fahren wir?«erkundigte sich Chico.
«Zum Admiral.«
Ich wählte die südliche Route über Sevenoakes, Kingston und Colnbrook, dann ein Stück über die M4 bis zum Autobahnkreuz Maidenhead und weiter auf der M40 bis nördlich von Marlow und auf der Ringstraße im Norden um Oxford herum. Und dann die letzte Etappe bis Aynsford.
Landrover werden nicht um des Fahrkomforts willen gebaut und schütteln folglich ihre Insassen gehörig durch. Chico stöhnte immer wieder auf, fluchte und schwor, sich nie wieder in so einen Schlamassel hineinziehen zu lassen. Schwäche und Übelkeit zwangen mich zweimal anzuhalten, aber es war nicht viel Verkehr, und so erreichten wir das Haus von Charles schon nach dreieinhalb Stunden — unter den gegebenen Umständen keine schlechte Zeit.
Ich schaltete den Motor ab und meine linke Hand an, konnte aber meine Finger trotzdem nicht bewegen. Das fehlte gerade noch, dachte ich verzweifelt, wäre die letzte, diesen Scheißabend krönende Demütigung, wenn ich mich von meiner Hand losfummeln, den elektrischen Teil von mir am Schalthebel hängen lassen müßte. Warum, warum nur konnte ich nicht zwei Hände haben wie jeder andere Mensch auch?
«Streng dich nicht so an«, sagte Chico,»dann schaffst du’s spielend.«
Ich gab ein Husten von mir, das halb Lachen und halb Schluchzen war, und da öffneten sich die Finger ein klein wenig, und die Hand fiel vom Ganghebel herab.
«Sag ich doch«, murmelte Chico.
Ich legte den rechten Arm auf das Steuer und ließ den Kopf darauf sinken. Ich fühlte mich völlig erschöpft und deprimiert und.. - bestraft. Und irgend jemand mußte sich doch irgendwie dazu aufraffen, ins Haus zu gehen und Charles Bescheid zu sagen, daß wir da waren.
Dieses Problem löste sich dadurch, daß er im Morgenmantel zu uns herauskam, angestrahlt von dem Licht, das aus seiner offenen Haustür strömte. Ich bemerkte ihn aber erst, als er neben dem Landrover stand und durch die Scheibe hereinblickte.
«Sid?«fragte er ungläubig.»Bist du das?«
Ich zwang mich, den Kopf zu heben, die Augen zu öffnen und zu sagen:»Ja.«
«Es ist nach Mitternacht«, sagte er.
Es gelang mir, wenigstens in meine Stimme ein Lächeln zu bringen.»Du hast doch gesagt, ich könnte jederzeit herkommen.«
Eine Stunde später lag Chico oben im Bett, und ich saß ausgestreckt auf dem Goldsofa, barfuß, die Füße hochgelegt, wie so oft.
Charles kam ins Wohnzimmer und berichtete, daß der Arzt mit Chico fertig sei und auf mich warte, aber ich sagte, er solle ihm danken und ihn nach Hause schicken.
«Er gibt dir auch etwas zum Einschlafen, wie Chico.«
«Ja, und genau das ist’s, was ich nicht möchte. Und ich hoffe, daß er sich angesichts von Chicos Gehirnerschütterung mit seinen Medikamenten zurückgehalten hat.«
«Das hast du ihm selbst doch schon sechsmal gesagt, als er kam. «Er machte eine Pause.»Er wartet auf dich.«
«Es ist mir ernst, Charles«, sagte ich.»Ich möchte nachdenken. Ich möchte einfach nur hier sitzen und nachdenken, also sag dem Doktor bitte gute Nacht und geh ins Bett.«
«Nein«, sagte er,»das geht doch nicht.«
«Und ob das geht. Es muß gehen, solange ich mich noch.«
Ich schwieg. Solange ich mich noch so gerupft fühle, dachte ich — aber das konnte man nicht laut sagen.
«Das ist aber ganz und gar nicht vernünftig.«
«Nein. Aber die ganze Geschichte ist nicht vernünftig. Das ist ja der springende Punkt. Deshalb geh bitte und laß mich darüber nachdenken.«
Mir war früher schon aufgefallen, daß man manchmal, wenn man eine Verletzung erlitten hatte, sehr klar denken konnte und der Verstand mit großer Schärfe arbeitete. Diese Zeit durfte man nicht ungenutzt verstreichen lassen, soweit einem daran gelegen war.
«Hast du Chicos Haut gesehen?«bohrte er.
«Oft«, sagte ich schnippisch.
«Ist deine auch in diesem Zustand?«
«Ich hab noch nicht nachgeschaut.«
«Du kannst einen wirklich zur Weißglut treiben.«
«Ja, ja«, sagte ich.»Geh ins Bett.«
Als er gegangen war, saß ich da und erinnerte mich bewußt und lebhaft an die entsetzlichen physischen und psy-chischen Schmerzen, die zu verdrängen ich mich bis zu diesem Augenblick so angestrengt hatte.
Es war zuviel gewesen, wie Chico gesagt hatte.
Zuviel. Warum?
Charles kam um sechs wieder herunter, im Morgenmantel und mit seinem unbewegtesten Gesichtsausdruck.
«Du bist ja immer noch hier«, sagte er.
«Ja.«
«Kaffee?«
«Tee«, sagte ich.
Er ging, machte welchen und kam mit zwei großen, dampfenden Bechern wieder. Er stellte meinen auf ein Tischchen neben dem Sofa und ließ sich dann in seinem Sessel nieder. Die leer blickenden Augen waren nun fest auf mich gerichtet.
«Und?«sagte er.
Ich rieb mir die Stirn.»Wenn du mich ansiehst«, sagte ich zögernd,»ich meine, normalerweise, nicht jetzt. Wenn du mich also anschaust, was siehst du dann?«
«Das weißt du doch.«
«Siehst du dann ein Bündel von Ängsten und Selbstzweifeln, Gefühlen von Scham und Nutzlosigkeit und Unzulänglichkeit?«
«Natürlich nicht. «Er schien die Frage eher amüsant zu finden, nippte an seinem kochendheißen Tee und sagte, nun wieder ernst:»Solche Gefühle zeigst du nie.«
«Niemand tut das«, sagte ich.»Jeder hat seine Außen-und seine Innenseite, und die beiden können sehr verschieden voneinander sein.«
«Ist das eine eher allgemeine Beobachtung?«
«Nein. «Ich nahm den Becher auf und blies über die dampfende Oberfläche des Tees.»Ich bin für mich selbst ein einziger Wust von Unsicherheit und Angst und Dummheit. Für andere dagegen… tja, was Chico und mir gestern abend passiert ist, liegt an dem Bild, das andere von uns haben. «Ich nahm vorsichtig einen Schluck. Wie immer, wenn Charles Tee machte, war er so stark, daß der Löffel drin stand. Ich trank ihn sehr gern so, jedenfalls manchmal. Ich fuhr fort:»Wir haben seit dem Beginn unserer Tätigkeit als Ermittler ziemlich großes Glück gehabt. Anders gesagt, die Jobs waren relativ leicht zu erledigen, was uns den Ruf eingetragen hat, erfolgreich zu sein — und dann ist unser Ruf langsam größer geworden, als durch die Realität gerechtfertigt ist.«
«Die natürlich«, bemerkte Charles trocken,»so aussieht, daß ihr ein paar schwachköpfige Tagediebe seid.«
«Du weißt schon, wie ich es meine.«
«Ja, gewiß. Thomas Ullaston hat mich gestern morgen angerufen. Sagte, es sei wegen des Einsatzes der Stewards in Epsom, aber ich hatte den Eindruck, daß er mir vor allem sagen wollte, was er so über dich denkt. Er meinte, ganz grob zusammengefaßt, daß es schade wäre, wenn du heute noch Jockey wärst.«
«Nein, das wäre einfach großartig«, seufzte ich.
«Da ist nun also gestern jemand über dich und Chico hergefallen, um euch an einem neuerlichen Erfolg zu hindern?«
«Nicht ganz.«
Ich berichtete ihm, zu welchem Ergebnis mich meine Überlegungen der vergangenen Nacht geführt hatten, und sein Tee wurde kalt.
Als ich geendet hatte, saß er eine Weile schweigend da und sah mich mit seiner undurchdringlichsten Miene an.
Dann sagte er:»Das klingt alles ganz danach, als sei der gestrige Abend… entsetzlich gewesen.«
«Nun ja, das war er wohl.«
Wieder Schweigen. Dann:»Und was nun?«
«Ich hab mich gefragt«, sagte ich zaghaft,»ob du heute vielleicht ein, zwei Dinge für mich erledigen könntest, weil ich… äh.«
«Natürlich kann ich das«, sagte er.»Worum geht’s?«
«Heute ist Donnerstag, dein London-Tag. Würde es dir etwas ausmachen, mit dem Landrover statt mit dem Rolls runterzufahren und ihn gegen mein Auto auszutauschen?«
«Wenn du willst«, sagte er und sah mich nicht gerade entzückt an.
«Das Ladegerät liegt da drin, in meiner Reisetasche.«
«Selbstverständlich, wird gemacht.«
«Und könntest du vorher in Oxford noch ein paar Fotos abholen? Auf denen ist Nicholas Ashe drauf.«
«Sid!«
Ich nickte.»Wir haben ihn gefunden. In meinem Wagen liegt auch ein Brief mit seiner neuen Adresse. Ein Bettelbrief, wie gehabt.«
Er schüttelte angesichts der Dummheit von Nicholas Ashe den Kopf.»Noch weitere Aufträge?«
«Ja, tut mir leid, noch zwei. Der eine für London, aber der ist einfach. Der andere dagegen… könntest du auch nach Tunbridge Wells fahren?«
Als ich ihm erklärt hatte, worum es ging, willigte er ein, obwohl es bedeutete, daß er seine Teilnahme an der Vorstandssitzung, die für diesen Nachmittag anberaumt war, absagen mußte.
«Ach ja, und würdest du mir bitte deine Kamera leihen, weil meine auch im Auto liegt… und ein frisches Hemd?«»In dieser Reihenfolge?«
«Ja, bitte.«
Obwohl ich mir wünschte, daß ich mich noch ein paar Jahrtausende lang nicht zu bewegen brauchte, rappelte ich mich wenig später vom Sofa auf und ging mit dem Fotoapparat von Charles nach oben, um Chico einen Besuch abzustatten.
Er lag auf der Seite und starrte mit ebenso trübem wie leerem Blick in den Raum, stand noch unter der nur langsam nachlassenden Wirkung des Schlafmittels. Immerhin war er präsent genug, um matt zu protestieren, als ich ihm eröffnete, daß ich ihn gern fotografieren würde.
«Verpiß dich.«
«Denk an Bardamen.«
Ich zog die Decke und das Bettuch fort, mit denen er zugedeckt war, und machte Aufnahmen von seinen sichtbaren Verletzungen, vorn und auf dem Rücken — die unsichtbaren ließen sich nicht dokumentieren. Dann deckte ich ihn wieder zu.
«Tut mir leid«, sagte ich.
Er antwortete nicht, und ich fragte mich, ob meine Entschuldigung eigentlich der Tatsache gegolten hatte, daß ich ihn gestört, oder eher der, daß ich ihn mit so schlimmen Folgen in mein Leben hineingezogen hatte. Wir würden bei dieser Syndikatsgeschichte eins draufkriegen, hatte er gesagt, und er hatte recht gehabt.
Ich verließ sein Zimmer und gab Charles seine Kamera zurück.»Bitte sie, uns bis morgen früh Vergrößerungen anzufertigen«, sagte ich.»Sag ihnen, daß sie für polizeiliche Ermittlungen gebraucht würden.«
«Aber du hast doch gesagt, die Polizei sollte nicht…«:, warf Charles ein.
«Ja, stimmt. Aber wenn die hören, daß die Bilder für die Polizei sind, dann kommen sie nicht auf die Idee, selber hinzugehen, wenn sie sehen, was sie da vergrößern.«
«Ich nehme an, dir ist noch nie in den Sinn gekommen«, sagte Charles und reichte mir ein frisches Hemd,»daß deine Ansichten über dich falsch und die von Thomas Ul-laston zutreffend sein könnten?«
Ich rief Louise an und sagte ihr, daß ich es doch nicht schaffen würde, mich an diesem Tag mit ihr zu treffen. Es sei etwas dazwischen gekommen, entschuldigte ich mich unter Rückgriff auf diese schon klassische Ausflucht, und sie antwortete mir mit der Desillusioniertheit, die das verdiente.
«Na ja, ist ja auch egal.«
«Mir ist es aber nicht egal«, sagte ich.»Wie wär's also heute in einer Woche? Und was hast du in den Tagen danach vor?«
«Tagen?«
«Und Nächten.«
Ihre Stimme klang jetzt schon wieder sehr viel fröhlicher.
«Arbeit an meiner Dissertation.«
«Wie lautet denn das Thema?«
«Zur Erscheinungsform und Häufigkeit von Wolken, Rosen und Sternen im Leben der emanzipierten Durchschnittsfrau.«
«Ach, Louise«, sagte ich,»ich werde dir. äh. dabei helfen, so gut ich kann.«
Sie lachte und legte auf, und ich ging in mein Zimmer und zog mein schmutziges, durchgeschwitztes Hemd aus. Besah mir kurz mein Abbild im Spiegel, was mir aber keinerlei Freude bereitete. Zog mir das weiche Baumwoll-hemd von Charles an und legte mich aufs Bett. Ich lag auf der Seite, wie Chico, und spürte, was er spürte. Irgendwann schlief ich ein.
Am Abend ging ich wieder nach unten und setzte mich wie zuvor aufs Sofa, um auf Charles zu warten. Wer jedoch kam, war Jenny.
Sie kam herein, sah mich und war sofort verärgert. Dann betrachtete sie mich etwas eingehender und sagte:»O nein, nicht schon wieder!«
Ich sagte nur:»Hallo.«
«Was ist’s denn diesmal? Wieder die Rippen?«
«Nichts.«
«Dazu kenne ich dich zu gut. «Sie setzte sich ans andere Ende des Sofas, neben meine Füße.»Was machst du hier?«
«Auf deinen Vater warten.«
Sie sah mich mürrisch an.»Ich werde die Wohnung in Oxford verkaufen«, sagte sie.
«So?«
«Ich mag sie nicht mehr. Louise McInnes ist ausgezogen, und alles da erinnert mich zu sehr an Nicky.«
Sie brach ab, und ich fragte nach kurzem Schweigen:»Erinnere ich dich an Nicky?«
Sie hob erstaunt den Kopf und sagte schnell:»Natürlich nicht!«Und dann langsamer:»Aber er…«Sie verstummte wieder.
«Ich habe ihn gesehen«, sagte ich.»Vor drei Tagen in Bristol. Und er sieht mir ähnlich, ein bißchen jedenfalls.«
Sie war wie vor den Kopf gestoßen und sprachlos.
«Ist dir das nie aufgefallen?«fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
«Du hast versucht zurückzukehren«, sagte ich.»Zu dem, was uns beide mal verbunden hat, am Anfang.«
«Das stimmt nicht!«Aber ihre Stimme verriet, daß sie es besser wußte. Sie hatte mir das ja auch selbst mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben an dem Abend, als ich nach Aynsford gekommen war, um die Suche nach Ashe zu beginnen.
«Wo willst du denn hinziehen?«erkundigte ich mich.
«Was interessiert dich das?«
Ich nahm an, daß es mich in gewissem Maße immer interessieren würde, aber das war mein Problem, nicht ihres.
«Wie hast du ihn gefunden?«wollte sie wissen.
«Er ist ein Dummkopf.«
Diese Bemerkung gefiel ihr gar nicht. Ihr feindseliger Blick ließ deutlich erkennen, wem von uns beiden sie den Vorzug gab.
«Er lebt mit einer anderen Frau zusammen«, sagte ich.
Sie sprang wütend auf, und ich erinnerte mich ein wenig zu spät daran, daß ich wirklich nicht von ihr berührt werden wollte.
«Erzählst du mir das aus purer Bosheit?«wollte sie wissen.
«Ich erzähle dir das, damit du ihn aus deinem Leben streichst, bevor er vor Gericht gestellt wird und ins Gefängnis wandert. Du wirst verdammt unglücklich werden, wenn du’s nicht tust.«
«Ich hasse dich«, sagte sie.
«Das ist nicht Haß, sondern verletzter Stolz.«
«Wie kannst du so etwas sagen!«
«Aber Jenny«, sagte ich.»Ich gestehe dir offen, daß ich immer noch viel für dich tun würde. Ich habe dich lange geliebt, und es ist mir nicht gleichgültig, was aus dir wird. Es bringt doch gar nichts, wenn wir Ashe finden und er an deiner Stelle wegen Betruges verurteilt wird, aber du nicht aufwachst und ihn endlich so siehst, wie er ist. Ich möchte dich wütend auf ihn machen. Um deinetwillen.«
«Das wird dir nicht gelingen«, stieß sie hervor.
«Dann geh«, sagte ich.
«Was?«
«Geh, ich bin müde.«
Sie stand da und sah ebenso verwirrt wie zornig aus — und in diesem Augenblick kam Charles zurück.
«Hallo«, sagte er und nahm die herrschende Atmosphäre mit Mißbilligung in sich auf.»Hallo, Jenny.«
Alter Gewohnheit folgend, ging sie zu ihm hin und küßte ihn auf die Wange.
«Hat Sid dir schon erzählt, daß er deinen Freund Ashe gefunden hat?«fragte er.
«Er konnte es gar nicht erwarten.«
Charles hatte einen großen, braunen Umschlag in der Hand. Den öffnete er jetzt, zog seinen Inhalt heraus und gab ihn mir — die drei Aufnahmen von Ashe, die ganz gut geworden waren, und den neuen Spendenaufruf.
Jenny trat mit unsicheren Schritten zu mir und blickte auf das Foto, das zuoberst lag.
«Sie heißt Elizabeth More«, sagte ich langsam.»Und sein richtiger Name ist Norris Abbot. Sie nennt ihn Ned.«
Das Foto — es war das dritte, das ich gemacht hatte — zeigte die beiden, wie sie lachend und eng umschlungen auf mich zugekommen waren, sich gerade anschauten. Das Glück auf ihren Gesichtern war in aller Deutlichkeit festgehalten.
Ich reichte Jenny wortlos den Brief. Sie entfaltete ihn, sah auf die Unterschrift und wurde sehr blaß. Sie tat mir leid, hätte aber nicht gewollt, daß ich es auch sagte.
Sie schluckte und gab den Brief an ihren Vater weiter.
«Gut«, sagte sie nach einer Weile.»Übergib die Sache der Polizei.«
Sie setzte sich wieder aufs Sofa, wobei so etwas wie emotionale Erschöpfung ihre Glieder kraftlos zu machen, ihren Rücken zu krümmen schien. Sie sah mich an.
«Soll ich dir jetzt danken?«fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
«Eines Tages werd ich’s wohl tun, denke ich.«
«Nicht nötig.«
Sie fuhr aufgebracht hoch.»Da, du machst es schon wieder!«
«Was denn?«
«Du machst mir Schuldgefühle. Ich weiß ja, daß ich manchmal ziemlich fies zu dir bin. Aber nur, weil du mir Schuldgefühle machst und ich dir das heimzahlen will.«
«Aber weswegen fühlst du dich denn schuldig?«
«Weil ich dich verlassen habe. Weil unsere Ehe schiefgegangen ist.«
«Das war doch aber nicht deine Schuld«, entgegnete ich.
«Nein, es war deine. Dein Egoismus, deine Sturheit. Dein verdammter Siegeswille. Du tätest wirklich alles, um nur ja zu gewinnen. Du mußt immer gewinnen. Du bist so hart. Hart gegen dich selbst. Bist dir selbst gegenüber unbarmherzig. Damit konnte ich nicht leben. Niemand kann das. Frauen möchten einen Mann, der auch mal zu ihnen kommt, um sich trösten zu lassen. Der sagt, du, ich brauche dich, tröste mich, küß mir meine Sorgen fort. Aber du… du kannst das nicht. Du baust immer eine Mauer um dich auf und schlägst dich in aller Stille mit deinen Problemen rum, wie jetzt auch. Erzähl mir doch nicht, daß du nicht verletzt wärst, denn das habe ich schon zu oft an dir gesehen… die Art, wie du dir dann den Kopf hältst… und diesmal ist’s sehr schlimm, das kann ich wohl sehen. Aber du würdest nie sagen, komm, Jenny, halt mich fest, hilf mir, ich möchte weinen, du nicht. Oder?«
Sie hielt inne und machte eine traurige, kleine Handbewegung in die Stille hinein.
«Siehst du?«sagte sie dann.»Du bringst es nicht über die Lippen.«
Nach einer weiteren, sehr langen Pause sagte ich:»Nein.«
«Gut«, sagte sie,»aber ich brauche einen Mann, der sich nicht so total unter Kontrolle hat. Ich brauche einen, der keine Angst vor Gefühlen hat, einen, der schwächer ist. Ich kann in dieser Art von Fegefeuer, zu dem du dein Leben machst, nicht existieren. Ich brauche einen, der auch mal zusammenbrechen kann, ich brauche halt… einen ganz normalen Mann.«
Sie stand auf, kam zu mir und küßte mich auf die Stirn.
«Ich habe lange gebraucht, bis mir das alles klar geworden ist«, sagte sie.»Und bis ich es aussprechen konnte. Aber jetzt bin ich froh, daß ich es geschafft habe. «Sie wandte sich ihrem Vater zu.
«Sag Mr. Quayle, daß ich von Nicky geheilt bin und keine Schwierigkeiten mehr machen werde. Ich glaube, ich fahre nach Hause, in meine Wohnung. Ich fühle mich jetzt sehr viel besser.«
Sie ging mit Charles zur Tür, blieb dort noch einmal stehen und drehte sich zu mir um.»Auf Wiedersehen, Sid«, sagte sie.
«Auf Wiedersehen«, antwortete ich — und ich wollte noch sagen: Komm, Jenny, halt mich fest, hilf mir, ich möchte weinen. Aber ich konnte es nicht.
Kapitel 19
Am folgenden Tag fuhren Charles und ich in seinem Rolls-Royce nach London — ich immer noch in ziemlich ermattetem Zustand und Charles der Ansicht, daß wir alles auf Montag verschieben sollten.
«Nein«, sagte ich.
«Aber selbst für dich ist das beängstigend… und dir graut doch davor.«
Wenn mir vor etwas graute, dachte ich, dann war es Trevor Deansgate, der bestimmt nicht stillhalten würde, bloß weil ich auch noch andere Probleme hatte. Was den Zweck dieser Fahrt anbetraf, war» Grauen «ein zu starkes Wort — und» Widerwille «ein zu schwaches. Vielleicht war» Abscheu «angemessen.
«Wir bringen das lieber heute hinter uns«, sagte ich.
Er erhob keine weiteren Einwände. Er wußte, daß ich recht hatte, sonst hätte ich ihn auch gar nicht dazu überreden können, mich zu fahren.
Er setzte mich am Portman Square am Eingang zum Jockey Club ab, fuhr dann zum Parkplatz, um den Wagen dort abzustellen, und kam zu Fuß nach. Ich wartete in der Eingangshalle auf ihn, und dann fuhren wir zusammen im Lift nach oben, er in seinem der City vorbehaltenen Anzug, ich nur in Hemd und Hose, das heißt ohne Jackett und Krawatte. Es war immer noch sehr heiß. Dieses Wetter dauerte nun schon eine Woche an, und es sah ganz so aus,als seien alle Menschen braungebrannt und gesund, nur ich nicht.
Im Lift war ein großer Spiegel angebracht. Aus dem starrte mich mein Gesicht an, grau und hohlwangig, über der Stirn, etwa in Höhe des Haaransatzes, der rote Streifen eines verheilenden Schnitts und seitlich am Unterkiefer ein schwärzlicher Bluterguß. Abgesehen davon sah ich aber doch ruhiger, weniger ramponiert und normaler aus, als ich mich fühlte, was mich sehr erleichterte. Wenn ich mich zusammennahm, müßte ich eigentlich in der Lage sein, den schönen Schein aufrechtzuerhalten. Wir gingen auf direktem Wege in das Büro von Sir Thomas Ullaston, der uns bereits erwartete. Begrüßung, Händeschütteln, das Übliche.
Dann sagte Sir Thomas zu mir:»Ihr Schwiegervater hat mir gestern am Telefon gesagt, daß Sie mir etwas sehr Beunruhigendes mitzuteilen hätten. Er wollte mir nicht verraten, worum es sich handelt.«
«Nein, nicht am Telefon«, bestätigte ich.
«Na, dann setzen Sie sich mal. Charles… Sid. «Er bot uns Stühle an und hockte sich selbst auf die Kante seines riesigen Schreibtisches.»Sehr wichtige Angelegenheit, hat Charles gesagt, und da bin ich und höre. Schießen Sie los.«
«Es geht um die Syndikate«, sagte ich. Ich fing an, ihm zu erzählen, was ich bereits Charles erzählt hatte, aber er unterbrach mich nach wenigen Minuten.
«Moment, Sid«, sagte er,»das ist doch wohl keine Geschichte, die nur uns hier etwas angeht, oder? Ich denke, wir sollten ein paar von den anderen dazubitten, damit auch sie sich anhören können, was Sie zu sagen haben.«
Ich hätte es vorgezogen, wenn er das nicht getan hätte, aber er zitierte die gesamte Schar der Großkopfeten herbei— den Bürochef, den Verwaltungschef, den Sekretär der Stewards, den Chef der Lizenzabteilung, der für die Registrierung der Besitzer zuständig war, und den Chef der Kontrollabteilung, in dessen Bereich alle Disziplinarfragen fielen. Sie kamen ins Zimmer, besetzten die bereitstehenden Stühle und wandten mir zum zweiten Mal innerhalb von vier Tagen ihre ernsten und höflichen Gesichter zu, um sich Resultate meiner Ermittlungstätigkeit anzuhören.
Ich verdankte es wohl dem Dienstag, ging mir durch den Kopf, daß sie bereit waren, mich nochmals anzuhören. Trevor Deansgate hatte mir zu einer Autorität verholfen, die ich ohne ihn nie gehabt hätte, jedenfalls nicht in diesem Raum und in diesem Kreis.
Ich sagte:»Lord Friarly, für den ich früher geritten bin, hat mich vor einiger Zeit gebeten, mir vier Syndikate genauer anzusehen, bei denen er als Repräsentant fungiert. Die Pferde liefen unter seinen Farben, und er war nicht sehr glücklich über ihre Leistungen. Das war nicht verwunderlich, denn die Quoten tanzten rauf und runter wie ein Jo-Jo, und die Rennergebnisse entsprachen dem. Lord Friarly gewann den Eindruck, daß er nur als Fassade benutzt wurde, hinter der recht üble Dinge vor sich gingen, und das gefiel ihm nicht.«
Ich schwieg einen Augenblick. Mir war sehr bewußt, daß das Bisherige nur eine leichte Plauderei war im Vergleich zu dem, was meine Zuhörer nun erwartete.
«Am gleichen Tag, es war draußen in Kempton, ersuchte mich Commander Wainwright, genau die gleichen vier Syndikate unter die Lupe zu nehmen, die, wie ich sagen muß, in einem Maße manipuliert worden sind, daß eigentlich schon längst ein öffentlicher Skandal fällig gewesen wäre.«
Auf den glatten Gesichtern zeichnete sich Überraschung ab. Sid Halley — das war doch nun wirklich nicht der
Mann, um von Commander Wainwright mit der Überprüfung von Syndikaten beauftragt zu werden. Normalerweise war das ja wohl die Aufgabe des Sicherheitsdienstes.
«Lucas Wainwright sagte mir, daß alle vier Syndikate von Eddy Keith genauestens überprüft und dann zugelassen worden seien, und er bat mich herauszufinden, ob das irgendeine unerfreuliche Bedeutung haben könnte.«
Wie sehr ich mich auch bemüht hatte, meinen Vortrag von jeder Dramatisierung freizuhalten, so war der Reaktion der Versammelten doch zu entnehmen, daß das Ganze als ziemlicher Schock kam. Man mußte beim Rennsport schon damit rechnen, daß er Schurken und Ganoven anzog, das hatte er immer getan — aber Korruption im Hauptquartier selbst? Niemals!
«Ich kam hierher zum Portman Square«, fuhr ich fort,»um mich anhand der Unterlagen von Eddy Keith, der davon nichts wußte, über die Syndikate zu informieren und mir ein paar Notizen zu machen. Ich erledigte das im Arbeitszimmer von Lucas, der mir bei dieser Gelegenheit gestand, daß er vor sechs Monaten einem Mann namens Mason bereits den gleichen Auftrag wie mir erteilt hätte. Dieser Mason sei in den Straßen von Tunbridge Wells überfallen und mit fürchterlichen, durch Tritte verursachten Kopfverletzungen dort liegengelassen worden. Er vegetiere heute nur noch so dahin und sei blind. Lucas erzählte mir ferner, daß der Mann, der die Syndikate zusammengebracht habe und auf dessen Kappe die Manipulationen gingen, ein gewisser Peter Rammileese aus Tunbridge Wells sei.«
Auf den Gesichtern erschienen tiefe Falten.
«Danach war ich… äh… eine Woche nicht da und verlor leider auch die Notizen, die ich mir gemacht hatte, so daß ich noch mal herkommen mußte. Bei dieser Gelegenheit entdeckte Eddy Keith, daß ich Einsicht in seine Unterlagen genommen hatte, worüber er sich bei Ihnen, Sir Thomas… Sie erinnern sich daran?… beschwerte.«
«Ja, das stimmt. Ich habe ihm gesagt, er solle deswegen nicht so ein Theater machen.«
Ein paar der Anwesenden lächelten, und die Anspannung ließ ganz allgemein ein bißchen nach. Ich verspürte große Müdigkeit in mir.
«Fahren Sie fort, Sid«, sagte Sir Thomas.
Fortfahren, dachte ich. Ich wünschte mir, ich würde mich weniger schwach, weniger zittrig und weniger zerschlagen fühlen. Ich mußte aber weitermachen, da ich nun mal angefangen hatte. Los, mach weiter, fahr fort!
Ich sagte:»Nun ja, Chico Barnes, der am Dienstag mit mir zusammen hier gewesen ist…«Alle nickten.»Also, Chico und ich fuhren nach Tunbridge Wells, um dort Peter Rammileese aufzusuchen. Er war zufällig nicht zu Hause. Seine Frau und sein Sohn waren da, aber seine Frau war vom Pferd gefallen, und Chico begleitete sie und den Sohn ins Krankenhaus, so daß nur noch ich dort übrigblieb… und ein unverschlossenes Haus. Da habe ich. äh. mich mal ein bißchen umgeschaut.«
Die Gesichter sagten zwar» Aber, aber«, nicht jedoch die Münder.
«Ich suchte nach Hinweisen auf eine direkte Verbindung zu Eddy Keith, aber das ganze Haus war geradezu anormal sauber aufgeräumt und sah verdächtig danach aus, als sei es gezielt für einen Besuch der Steuerfahndung hergerichtet worden.«
Die Gesichter deuteten ein Lächeln an.
«Lucas hatte mich gleich zu Anfang darauf hingewiesen, daß er mir, da der Auftrag inoffiziell sei, keine Bezahlung anbieten könne, mir statt dessen aber im Bedarfsfall Hilfestellung geben würde. Ich bat ihn deshalb, mir in der Angelegenheit Trevor Deansgate zu helfen, und das hat er auch getan.«
«Und wie, Sid?«
«Ich bat ihn, einen Brief an Henry Thrace zu schreiben, in dem er diesen aufforderte, den Jockey Club sofort zu verständigen, wenn >Gleaner< oder >Zingaloo< eingehen sollten. Wenn das geschähe, wollte Lucas mir Bescheid geben, damit ich eine gründliche Untersuchung durchführen und eine Obduktion veranlassen könnte.«
Alle nickten, erinnerten sich.
«Und dann«, berichtete ich weiter,»entdeckte ich, daß mir Peter Rammileese im Nacken saß, er und zwei sehr große Burschen, die ganz so aussahen, als brächten sie es fertig, Leuten den Schädel einzutreten und sie blind in den Straßen von Tunbridge Wells liegenzulassen.«
Kein Lächeln.
«Diesmal konnte ich ihnen entwischen und verbrachte die folgende Woche damit, in möglichst unvorhersehbarer Weise in England herumzufahren, damit niemand wußte, wo ich zu finden sei. In diesen Tagen, in denen ich vor allem eine ganze Menge über >Gleaner< und über Herzklappen erfuhr, wurde mir auch zugetragen, daß die beiden Riesen in Diensten von Peter Rammileese für irgendeinen speziellen, seine Syndikate betreffenden Job eigens aus Schottland importiert worden seien. Und ich hörte Gerüchte, daß es ganz oben im Sicherheitsdienst jemanden geben solle, der angeblich gegen angemessene Bezahlung krumme Dinge wieder geradebiege.«
Sie waren erneut schockiert.
«Wer hat Ihnen das gesagt, Sid?«wollte Sir Thomas wissen.
«Jemand, auf den Verlaß ist«, sagte ich nur und dachte mir, daß sie einen gesperrten Jockey wie Jacksy vielleicht weit weniger verläßlich finden würden als ich.
«Fahren Sie fort.«
«Eigentlich kam ich bei den Syndikaten nicht so recht voran, aber Peter Rammileese glaubte anscheinend das Gegenteil, denn er und seine zwei Muskelmänner stellten Chico und mir eine Falle. Das war vorgestern.«
Sir Thomas überlegte kurz und sagte dann:»Ich dachte, Sie wollten vorgestern mit Lucas nach Newmarket zu den Caspars fahren. Also einen Tag, nachdem Sie uns hier von Trevor Deansgate berichtet hatten.«
«Ja, wir sind auch in Newmarket gewesen. Und ich beging den Fehler, mein Auto den ganzen Tag über und für jedermann sichtbar hier ganz in der Nähe stehenzulassen. Da warteten dann die beiden Burschen auf uns, als wir zurückkamen. Und… äh… sie entführten Chico und mich, und wir landeten auf dem Hof von Peter Rammileese in Tunbridge Wells.«
Sir Thomas runzelte die Stirn. Die anderen hörten meinem sachlichen Bericht weiterhin ruhig zu, denn obwohl ihnen klar sein mußte, daß es da nicht ohne Gewaltanwendung abgegangen sein konnte, waren sie sich doch stillschweigend darin einig, daß so etwas nun einmal vorkam.
Es hatte wohl selten eine stillere, aufmerksamere Zuhörerschaft gegeben, dachte ich.
«Sie setzten Chico und mir ziemlich arg zu«, sagte ich.»Aber wir kamen schließlich doch wieder raus, und zwar dank des kleinen Sohns von Rammileese, der uns zufällig die Tür aufmachte. So endeten wir nicht auf den Straßen von Tunbridge Wells, sondern im Haus meines Schwiegervaters in der Nähe von Oxford.«
Alle sahen auf Charles, der nickte.
Ich holte tief Luft.»Ungefähr zu diesem Zeitpunkt«, sagte ich,»fing ich an, alles andersherum zu sehen.«
«Wie meinen Sie das, Sid?«
«Bis dahin hatte ich geglaubt, die beiden Schotten sollten uns daran hindern, bei den Syndikaten das zu finden, was wir suchten.«
Alle nickten. Natürlich.
«Aber angenommen, das Gegenteil wäre der Fall. Angenommen, ich wäre auf die Syndikate angesetzt worden, um in die Falle gelockt werden zu können. Angenommen, die Falle wäre Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens gewesen.«
Schweigen.
Ich war beim schwierigsten, härtesten Teil meines Berichts angelangt und brauchte die Reserven an Durchstehvermögen und Willenskraft, die ich nicht hatte. Ich spürte nur, wie Charles, der völlig unbeweglich neben mir saß, versuchte, mir etwas von seiner Stärke abzugeben.
Und ich spürte, wie ich zitterte. Trotzdem bemühte ich mich, in sachlichem, kaltem Ton weiterzusprechen und die Dinge zu sagen, die ich nicht sagen mochte, die aber gesagt werden mußten.
«Man zeigte mir einen Feind, nämlich Peter Rammi-leese. Man lieferte mir einen Grund dafür, daß ich zusammengeschlagen wurde, nämlich die Syndikate. Man bereitete mich darauf vor, daß so etwas geschehen würde, nämlich durch Mason und sein Schicksal. Man lieferte mir den Hintergrund zu dem, was geschah — und zwar einen Hintergrund, den ich akzeptieren würde.«
Vollkommene Stille und leere, verständnislose Gesichter.
«Wenn jemand«, fuhr ich fort,»aus heiterem Himmel so über mich hergefallen wäre, hätte ich keine Ruhe gegeben, bis ich herausgefunden hätte, wer das gewesen war und warum er es getan hatte. Deshalb dachte ich jetzt: Mal angenommen, jemand wollte mich attackieren, aber unbedingt so, daß ich nicht dahinterkommen würde, wer’s gewesen war und aus welchem Grund er’s getan hatte. Dann würde ich, wenn man mir einen falschen Wer und ein falsches Warum lieferte, damit zufrieden sein und der Sache nicht weiter nachgehen.«
Ein oder zwei Köpfe nickten ganz leicht.
«Und ich habe auch eine Weile an diesen Wer und dieses Warum geglaubt«, sagte ich.»Aber als der Angriff dann erfolgte, war er so unverhältnismäßig. und aus dem, was einer der Angreifer sagte, konnte ich schließen, daß es gar nicht Peter Rammileese war, der sie bezahlte, sondern jemand anderes.«
Stille.
«Als wir uns schließlich ins Haus des Admirals gerettet hatten, fing ich an nachzudenken. Und ich dachte: Wenn der Angriff das Entscheidende war, Peter Rammileese ihn aber nicht veranlaßt hatte, wer war es dann gewesen? Als ich die Sache erst einmal so herum sah, konnte es eigentlich nur einen Wer geben: die Person, die die Fährte gelegt hatte, der ich folgen sollte.«
Die Gesichter erstarrten.
Ich sagte:»Es war Lucas selbst, der uns in den Hinterhalt gelockt hat.«
Alle brachen in lautstarken, wirren, einhelligen Protest aus, rutschten verlegen auf ihren Stühlen herum und mieden meinen Blick, da sie einen, der so schieflag, der so verblendet und so beklagenswert lächerlich war, nicht anschauen mochten.
«Nein, Sid, also wirklich«, sagte Sir Thomas.»Wir haben den größten Respekt vor Ihnen«- die anderen schau-ten drein, als gehöre der größte Respekt jetzt der Vergangenheit an —»aber so etwas können Sie nicht sagen.«
«Ich hätte es wirklich«, entgegnete ich langsam,»vorgezogen, wenn ich nicht hier hätte erscheinen und es sagen müssen. Und ich werde auch nichts mehr sagen, wenn Sie nichts mehr hören wollen. «Ich rieb mir erschöpft die Stirn, und Charles setzte zu einer Bewegung an, als wolle er mich stützen, unterließ es dann aber.
Sir Thomas blickte erst Charles und dann mich an — und was immer er in unseren Gesichtern sah, reichte aus, seine entschiedene Ungläubigkeit in Verwirrung zu verkehren.
«In Ordnung«, sagte er ernst.»Wir hören.«
Die anderen sahen alle so aus, als wollten sie eben das nicht tun, aber wenn der Senior Steward dazu bereit war, dann genügte das.
Ich sagte müde und ohne jede Befriedigung:»Um das Warum verstehen zu können, ist es erforderlich, sich die Ereignisse der vergangenen Monate anzusehen, den Zeitraum, in dem Chico und ich… nun ja, äh… trieben, was wir halt treiben. Und dies, wie Sie selbst gesagt haben, Sir Thomas, mit einigem Erfolg. Wir hatten Glück… hatten zumeist mit leichteren Problemen zu tun… äh… von denen wir den größten Teil lösen konnten. Unser Erfolg war so groß, daß ein paar Gangster versucht haben, uns zu stoppen, sobald wir nur auf der Bildfläche erschienen sind.«
Die Ungläubigkeit der Anwesenden war noch nicht geschwunden, aber sie schienen zumindest zu verstehen, daß zuviel Erfolg Gegenmaßnahmen provozieren konnte. Das unbehagliche Herumrutschen auf den Stühlen hörte langsam auf.
«Wir waren darauf vorbereitet, mehr oder weniger jedenfalls«, sagte ich.»In einigen Fällen erwies es sich sogar als hilfreich, da es uns anzeigte, daß wir uns dem wunden Punkt näherten. Normalerweise ist es so, daß man uns ein paar angeheuerte Schläger mit oder ohne komische Verkleidung auf den Hals schicke, die uns zur Warnung Hiebe verpassen und uns zu verstehen geben, daß wir die Finger von der Sache lassen sollen. Einen Rat«, fügte ich trocken hinzu,»den wir noch nie befolgt haben.«
Sie sahen mich wieder an — und sei es nur von der Seite.
«Nun denn, so allmählich hört man auf, in mir den Jok-key zu sehen, und begreift, daß das, was Chico und ich machen, wohl doch kein Witz ist. Und dann kriegen wir auch noch verliehen, was man als Gütesiegel des Jockey Clubs bezeichnen könnte — und plötzlich sind wir in den Augen der wirklich großen Schurken eine permanente Bedrohung.«
«Haben Sie Beweise dafür, Sid?«fragte Sir Thomas.
Beweise… wenn Trevor Deansgate nicht hier erschien und seine Drohungen vor Zeugen wiederholte, hatte ich keine Beweise. Ich sagte:»Ich bin nur bedroht worden… bisher gab’s nur Drohungen.«
Pause. Keiner sagte etwas, deshalb sprach ich weiter.
«Ich weiß aus verläßlicher Quelle«, sagte ich leicht amüsiert,»daß man sich nicht traut, die Sache zu lösen, indem man Chico und mich beseitigt, weil man fürchtet, daß Leute, die früher durch meine Siege Geld gewonnen haben, in Wut geraten und die Mörder verpfeifen könnten.«
Hier und da ein vorsichtiges Lächeln inmitten der allgemeinen Ablehnung einer derartigen Melodramatik.
«Wie dem auch sei, ein solcher Mord würde wohl genau die Ermittlungen zur Folge haben, die er eigentlich verhindern sollte.«
Das gefiel ihnen schon besser.
«Das nächstbeste nach Mord ist die dauerhaft wirkende Abschreckung. Eine Maßnahme also, die Chico und mir die Arbeit so vergällt, daß wir künftig lieber Bürsten verkaufen. Etwas, was uns davon abhält, uns jemals wieder als Ermittler zu betätigen.«
Ganz plötzlich schien es so, als verstünden sie, was ich sagte. Die anfangs vorhandene, ernste Aufmerksamkeit war wieder da. Ich hielt es für sicher, den Namen Lucas Wainwright wieder ins Spiel zu bringen, und als ich es tat, blieben die heftigen Reaktionen aus.
«Wenn Sie sich einmal für einen Moment vorstellen könnten, daß es im Sicherheitsdienst tatsächlich jemanden gibt, der bestechlich ist, und daß es sich dabei um seinen Direktor handelt, dann möchte ich Sie bitten, sich in die Lage von Lucas zu versetzen und mir zu sagen, ob Sie sehr angetan davon wären, wenn ein unabhängiger Ermittler Erfolge in einem Bereich erzielt, der bislang ausschließlich der Ihre gewesen ist. Würde es Sie, wenn Sie er wären, freuen, Sid Halley hier im Jockey Club zu sehen und zu erleben, wie der Senior Steward ihm gratuliert und ihm unbeschränkte Vollmacht gibt, in sämtlichen Bereichen des Rennsports zu operieren?«
Jetzt starrten mich alle an.
«Würden Sie nicht vielleicht auch fürchten, daß dieser Sid Halley eines Tages über etwas stolpern, etwas herausfinden könnte, was er unter gar keinen Umständen herausfinden darf? Und würden Sie in diesem Augenblick nicht vielleicht auch zu der Ansicht gelangen, daß diese Gefahr ein für allemal beseitigt werden muß? Wie man Unkrautvernichter auf Brennesseln sprüht, bevor sie einen stechen.«
Charles räusperte sich.»Ein Präventivschlag«, sagte er ruhig,»könnte für einen pensionierten Commander durchaus etwas Verlockendes haben.«
Allen fiel ein, daß Charles Admiral gewesen war, und sie blickten nachdenklich drein.
«Lucas ist auch nur ein Mensch«, sagte ich.»Der Titel eines Direktors des Sicherheitsdienstes klingt zwar großartig, aber so groß ist der Sicherheitsdienst nun auch wieder nicht. Ihm gehören doch landesweit nur ganze dreißig hauptamtliche Mitarbeiter an, oder irre ich mich da?«
Alle schüttelten den Kopf.
«Und ich nehme nicht an, daß er ein Vermögen verdient. Es hat auch schon Polizisten gegeben, die Bestechungsgelder angenommen haben. Nun ja, und Lucas kommt dauernd mit Leuten in Berührung, die vielleicht sagen, na, wie wär's mit einem kleinen Tausender bar auf die Hand, Commander, und Sie helfen uns, daß dieses kleine Pro-blemchen da aus der Welt kommt?«
Die Gesichter zeigten wieder Schockiertheit.
«Das kommt nun mal vor«, sagte ich sanft.»Bestechung ist ein blühendes Gewerbe. Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie etwas dagegen haben, daß der Chef des Sicherheitsdienstes die Augen vor Betrügereien verschließt, aber es handelt sich dabei doch wohl eher um einen Vertrauensbruch als um etwas hundsgemein Böses.«
Was er Chico und mir angetan hatte, war sehr wohl etwas hundsgemein Böses, aber darum ging es mir hier nicht.
«Was ich damit sagen möchte«, fuhr ich fort,»ist, daß im größeren Zusammenhang der allgemein auf dieser Welt herrschenden Unmoral die Unredlichkeit von Lucas nicht besonders ins Gewicht fällt.«
Ihre Gesichter verrieten Zweifel, aber das war besser als ablehnendes Kopf schütteln. Wenn man sie dazu bringen konnte, in Lucas einen kleineren Sünder zu sehen, würden sie eher glauben, was er getan hatte.
«Wenn man vom Gedanken der Abschreckung ausgeht«, sagte ich,»sieht man alles mit den Augen der anderen Seite. «Meine Müdigkeit ließ mich verstummen. Ich würde gern ein paar Wochen lang nur schlafen, dachte ich.
«Sprechen Sie weiter, Sid.«
«Nun ja. «Ich seufzte.»Lucas mußte das kleine Risiko eingehen, mich auf etwas anzusetzen, bei dem er selbst beteiligt war, weil es für ihn ja darauf ankam, die Fäden in der Hand zu behalten. Er muß einen fürchterlichen Schrecken bekommen haben, als Lord Friarly ihm berichtete, daß er, Friarly, mich gebeten hatte, diese vier Syndikate zu überprüfen. Wenn er zu diesem Zeitpunkt schon mit dem Gedanken gespielt haben sollte, sich meiner zu entledigen, dann wurde ihm wohl in diesem Augenblick klar, wie das bewerkstelligt werden könnte.«
Ein paar Köpfe nickten heftig, sahen den Zusammenhang.
«Lucas muß sicher gewesen sein, daß ich, wenn ich ein bißchen an der Oberfläche herumkratzte, ihm nicht sehr nahe kommen würde, was ja in der Tat auch der Fall war. Aber er verringerte das Risiko noch dadurch, daß er meine Aufmerksamkeit auf Eddy Keith lenkte. Es war ungefährlich, mich auf Eddys Beteiligung an den fragwürdigen Machenschaften der Syndikate anzusetzen, da es eine solche Beteiligung natürlich gar nicht gab. Da konnte ich ewig suchen und würde nichts finden. «Ich machte eine kleine Pause.»Ich glaube allerdings, daß mir überhaupt nicht die Zeit gelassen werden sollte, irgend etwas herauszufinden. Ich glaube, daß es nur viel länger dauerte, bis man uns zu fassen bekam, als nach dem ursprünglichen Plan vorgesehen war.«
Uns zu fassen… mich zu fassen. Sie hatten es nur auf mich abgesehen, aber wir beide… das war noch besser für sie. und schlimmer für mich.
«Es dauerte länger als vorgesehen? Wie meinen Sie das?«fragte Sir Thomas.
Nimm dich zusammen, dachte ich. Los, weiter.
«Von Lucas’ Standpunkt aus gesehen, war ich sehr langsam«, sagte ich.»Ich beschäftigte mich mit dieser >Glea-ner<-Geschichte und hatte in der Syndikatsangelegenheit eine Woche, nachdem er mir den Auftrag erteilt hatte, noch gar nichts unternommen. Dann wurde ich direkt über Peter Rammileese und Mason informiert, und er hätte erwarten dürfen, daß ich sofort nach Tunbridge Wells fuhr. Ich fuhr aber ganz woanders hin, war eine weitere Woche weg. In dieser Woche hat Lucas Chico viermal angerufen, um zu fragen, wo ich denn stecke.«
Schweigen und wieder gespannte Aufmerksamkeit.
«Als ich zurückkehrte, hatte ich, wie gesagt, meine Notizen verloren und mußte noch einmal zu Lucas ins Büro. Ich erzählte ihm bei dieser Gelegenheit, daß Chico und ich am folgenden Tag, am Samstag, nach Tunbridge Wells zu Peter Rammileese fahren wollten. Ich nehme an, daß es, wenn wir tatsächlich Samstag gefahren wären, da schon zur… äh… Abschreckung gekommen wäre. Wir fuhren jedoch noch am gleichen Nachmittag, also am Freitag, hinaus, und da war Peter Rammileese nicht zu Hause.«
Hatte denn gar keiner Durst? fragte ich mich. Wo blieb denn der Kaffee? Mein Mund war ganz trocken, und alle Knochen taten mir weh.
«An ebendiesem Freitagmorgen bat ich Lucas, den Brief an Henry Thrace zu schreiben. Ich bat ihn außerdem, ja, flehte ihn geradezu an, meinen Namen im Zusammenhang mit der >Gleaner<-Sache nicht zu erwähnen, da mich dies das Leben kosten könne.«
In Falten gelegte Stirnen forderten eine genauere Erklärung.
«Ja… also, Trevor Deansgate hatte mich mit einer in diese Richtung gehenden Warnung aufgefordert, sämtliche Ermittlungen bezüglich dieser Pferde einzustellen.«
Es gelang Sir Thomas, die Augenbrauen zu heben und gleichzeitig ein Stirnrunzeln anzudeuten.
«Sind das die Drohungen, von denen Sie vorhin gesprochen haben?«erkundigte er sich.
«Ja, und er hat sie noch einmal wiederholt, als Sie uns… nun ja… als Sie uns in der Loge in Chester miteinander bekannt gemacht haben.«
«Großer Gott!«
«Mir lag sehr daran, daß im Falle von >Gleaner< der Jok-key Club die Untersuchungen durchführte, damit Trevor Deansgate nicht erfuhr, daß ich etwas damit zu tun hatte.«
«Sie haben also seine Drohungen ernst genommen«, sagte Sir Thomas nachdenklich.
Ich schluckte.»Sie waren… auch ernst gemeint.«
«Ich verstehe«, sagte Sir Thomas, obwohl er das nicht konnte.
«Fahren Sie fort.«
«Ich habe Lucas von diesen Drohungen nichts gesagt«, setzte ich meinen Bericht fort,»sondern ihn nur gebeten, mich nicht mit >Gleaner< in Zusammenhang zu bringen. Aber es dauerte gar nicht lange, da hatte er Henry Thrace schon mitgeteilt, daß es eigentlich ich und nicht der Jockey Club sei, der im Falle von >Gleaners< Tod verständigt werden wolle. Ich dachte zunächst, daß er vielleicht nicht aufgepaßt oder es einfach vergessen hatte, aber inzwischen bin ich der Auffassung, daß es mit voller Absicht geschehen ist. Alles, was zu meinem Tode führen konnte, war ihm willkommen, selbst wenn er nicht wußte, wie das erreicht werden würde.«
Die Gesichter verrieten Zweifel. Zweifel waren möglich.
«Nun, Peter Rammileese — oder Lucas — spürte mich bei meinem Schwiegervater auf, und am Montag folgten mir Peter Rammileese und seine beiden Schotten zu der Reitveranstaltung in Tunbridge Wells. Dort versuchten sie eine Entführung, aber die Sache klappte nicht. Danach blieb ich acht Tage unsichtbar für sie, was sie ungeheuer frustriert haben muß.«
Die Gesichter erwarteten voller Spannung das Weitere.
«In diesen acht Tagen erfuhr ich, daß Peter Rammileese nicht vier Syndikate manipulierte, sondern eher so an die zwanzig, und daß er unterschiedslos Trainer und Jockeys bestach. Zu dieser Zeit hörte ich auch von dem bestechlichen Spitzenmann des Sicherheitsdienstes, der sich all dem gegenüber blind stellte, und ich bedaure zutiefst, sagen zu müssen, daß ich glaubte, es müsse sich dabei um Eddy Keith handeln.«
«Das ist ja wohl verständlich«, sagte Sir Thomas.
«Nun, jedenfalls kamen dann Chico und ich am Dienstag hierher, und Lucas wußte nun endlich, wo ich war. Er schlug vor, am Mittwoch mit nach Newmarket zu fahren, und brachte uns höchstpersönlich in seinem superteuren, klimatisierten Vier-Liter-Mercedes hin. Und obwohl ihm sonst immer so viel daran liegt, keine Zeit zu vertrödeln und Dinge zügig zu erledigen, verbrachte er in Newmarket viele Stunden untätig, in denen er, wie ich jetzt glaube, auf die Aufstellung der Falle wartete, bei der nichts übereilt werden sollte, damit diesmal wirklich nichts schiefging. Und dann fuhr er uns dahin, wo die beiden Schotten schon auf uns warteten, und wir liefen geradewegs in den Hinterhalt hinein. Die Schotten erledigten den Spezialjob, für den sie angeheuert worden waren, nämlich Chico und mich abzuschrecken, und ich hörte dabei, wie einer von ihnen zu Peter Rammileese sagte, daß sie nun, wo sie ihren Auftrag ausgeführt hätten, auf schnellstem Wege in den Norden zurückkehren würden, da sie sich schon viel zu lange im Süden aufhielten.«
Sir Thomas machte einen leicht mitgenommenen Eindruck.
«Ist das alles, Sid?«
«Nein, da ist noch Mason.«
Neben mir bewegte sich Charles, zog erst die Füße unter den Stuhl, schob sie dann wieder nach vorn und schlug endlich die Beine übereinander.
«Ich habe meinen Schwiegervater gestern gebeten, nach Tunbridge Wells zu fahren und sich nach Mason zu erkundigen.«
Charles sagte mit dem eindrucksvollsten Näseln, dessen er fähig war:»Sid bat mich festzustellen, ob dieser Mason überhaupt existiert. Ich sprach in Tunbridge Wells mit der Polizei. Sehr hilfsbereit, alle. Sie haben niemals jemanden namens Mason oder sonstwen halb totgetreten und blind auf ihren Straßen gefunden.«
«Lucas hatte mir das Schicksal von Mason sehr detailliert geschildert«, sagte ich.»Das klang alles sehr überzeugend, und natürlich glaubte ich ihm die Geschichte. Aber hat von Ihnen schon mal jemand von einem für den Sicherheitsdienst tätigen Mason gehört, der so schwer verletzt wurde?«
Sie schüttelten wortlos und finster die Köpfe, und ich verschwieg ihnen, daß mir die Zweifel an der Existenz Masons gekommen waren, als ich in dem Aktenschrank mit der Aufschrift» Personal «keine Unterlagen über ihn gefunden hatte. Selbst wenn es im Dienste der guten Sache geschehen war, würde unser Einbruch in die Räume des Jockey Club wohl kaum ihre Zustimmung finden.
Eine gewisse Düsternis hatte sich auf die Gesichter herabgesenkt, aber es gab immer noch offene Fragen, und es war Sir Thomas, der sie in Worte faßte.
«Ihre umgekehrte Betrachtung der Dinge hat offenbar aber doch eine Schwäche, Sid, nämlich die, daß diese Abschreckung… Sie nicht abgeschreckt hat.«
Nach kurzem Schweigen sagte ich:»Da bin ich nicht ganz so sicher. Denn weder Chico noch ich würden weitermachen können, wenn das bedeutete… wenn wir glaubten… etwas Derartiges könne sich wiederholen.«
«Was genau könne sich wiederholen, Sid?«
Ich antwortete nicht. Ich merkte, wie Charles mich mit seinem ausdruckslosesten Blick von der Seite ansah. Dann erhob er sich ruhig, durchquerte den Raum und gab Sir Thomas den Umschlag, in dem die Aufnahmen von Chico steckten.
«Es war eine Kette«, kommentierte ich in sachlichem Ton. Die Fotos wurden herumgereicht, niemand sagte etwas. Ich mühte mich nicht zu erraten, was sie dachten, sondern hoffte nur, daß sie die Aufforderung nicht aussprechen würden, die, da war ich mir leider sicher, kommen mußte — und Sir Thomas sagte auch prompt:»Hat man Ihnen das auch angetan?«
Ich nickte zögernd.
«Würden Sie bitte mal Ihr Hemd ausziehen, Sid?«
«Hören Sie«, sagte ich,»was bringt das denn? Ich stelle keine Strafanzeige wegen tätlichen Angriffs auf uns oder wegen schwerer Körperverletzung oder wegen sonst etwas dieser Art. Es wird keine Polizei geben, kein Gerichtsverfahren, nichts. Ich habe das alles, wie Sie wohl wissen, schon einmal durchgemacht und will es nicht, absolut nicht noch einmal erleben. Diesmal wird kein Lärm gemacht. Es ist lediglich erforderlich, Lucas davon zu unterrichten, daß ich weiß, was passiert ist, und ihn, wenn Sie das für richtig halten, aufzufordern, von seinem Posten zurückzutreten. Mit weiteren Schritten ist doch nichts zu gewinnen. Sie wollen doch wohl keinen öffentlichen Skandal, der dem gesamten Rennsport nur schaden kann.«
«Ja, aber…«
«Da ist noch dieser Peter Rammileese«, sagte ich.»Vielleicht kann ja Eddy Keith jetzt endlich Ordnung in die Syndikatsgeschichte bringen. Und dann würde es Peter Rammileese nur noch tiefer reinreiten, wenn er damit prahlte, daß er Lucas gekauft hat, weshalb ich glaube, daß er das lassen wird. Und ich bezweifle auch, daß er ein Wort über Chico und mich verlieren wird.«
Ausgenommen vielleicht, dachte ich mit einem gewissen Sarkasmus, daß er sich über die Schläge beschwert, die ich ihm verpaßt habe.
«Und was ist mit den beiden Burschen aus Glasgow?«fragte Sir Thomas.»Sollen die etwa ungeschoren davonkommen?«
«Das wäre mir lieber, als noch einmal als Opfer vor Gericht erscheinen zu müssen«, erwiderte ich. Ich lächelte matt:»Man könnte wohl sagen, daß mich die Sache mit meiner Hand für den Rest meines Lebens von Prozeduren dieser Art abgeschreckt hat.«
Ein gewisses Maß an beherrschter Erleichterung stahl sich auf die Gesichter und in die Atmosphäre unserer Verhandlung.
«Trotzdem«, sagte Sir Thomas.»Der Rücktritt eines Direktors der Sicherheitsabteilung ist keine ganz so einfache Sache. Wir alle müssen entscheiden, ob das, was Sie vorgetragen haben, ausreicht oder nicht. Die Fotos von Mr. Barnes allein tun’s nicht. Also bitte… ziehen Sie Ihr Hemd aus.«
Hol’s der Geier, dachte ich. Ich mochte nicht — und der Widerwille auf ihren Gesichtern verriet mir, daß sie es auch gar nicht sehen wollten. Mir war das Ganze zutiefst verhaßt. Mir war verhaßt, was uns da passiert war, ich empfand nur Abscheu. Ich wünschte, ich wäre nie hergekommen.
«Sid«, sagte Sir Thomas ernst,»Sie müssen.«
Ich knöpfte mein Hemd auf, erhob mich und zog es aus. Das einzige noch vorhandene rosa Stück an mir war der Plastikarm, der Rest bestand aus dunklen Flecken, die von roten Striemen durchzogen waren. Jetzt, wo sich die Blutergüsse erst so richtig verfärbten, sah alles sehr viel schlimmer aus, als es sich anfühlte. Ich wußte wohl, daß der Anblick ziemlich abstoßend war, an diesem Tage mehr denn je. Deshalb hatte ich auch darauf bestanden, zu diesem Zeitpunkt im Portman Square zu erscheinen. Ich hatte ihnen meine Verletzungen nicht zeigen wollen, aber auch gewußt, daß sie darauf bestehen würden und daß ich mich dem nicht würde entziehen können — und wenn das schon so war, dann würde es an diesem Tage am überzeugendsten wirken. Der menschliche Geist war von tückischer Ambivalenz, wenn es darum ging, Feinde zu besiegen.
In einer Woche oder so würden die meisten Flecken und Striemen wieder verschwunden sein, und ich bezweifelte, daß auch nur eine einzige Narbe zurückbleiben würde. Es war ja gerade darauf angekommen, die empfindlichen Nerven unter der Haut zu traktieren, aber nur vorübergehend und ohne Spuren zu hinterlassen. Wenn keine Verletzungen mehr zu sehen waren, konnten die Schotten, sollten sie denn vor Gericht gestellt werden, sicher sein, daß sie ziemlich glimpflich davonkommen würden. Bei der Hand, die nicht zu übersehen gewesen war, hatte das Urteil auf vier Jahre gelautet. Da lag der augenblickliche Kurswert von ein paar durch Schmerzen unbehaglich ge-machten Tagen wahrscheinlich bei etwa drei Monaten. Wenn es bei Raub in Verbindung mit Gewalt zu höheren Gefängnisstrafen kam, dann war es immer der Raub, der die Haftzeit verlängerte, nicht die Gewalt.
«Drehen Sie sich bitte um«, sagte Sir Thomas.
Ich drehte mich um und nach einer Weile wieder zurück. Keiner sagte ein Wort. Charles blickte so gelassen drein, wie es ihm nur möglich war. Sir Thomas erhob sich, trat zu mir und besah sich alles noch etwas eingehender. Dann nahm er mein Hemd vom Stuhl auf und hielt es mir hin, damit ich es wieder anzöge.
Ich sagte:»Danke«, fuhr hinein und knöpfte es zu. Steckte es nicht sehr ordentlich in meine Hose. Setzte mich.
Es schien sehr viel Zeit zu vergehen, bis Sir Thomas auf den Knopf der Sprechanlage drückte und zu seiner Sekretärin sagte:»Seien Sie doch so gut und bitten Sie Commander Wainwright, zu mir zu kommen.«
Wenn die versammelten Administratoren des Jockey Club noch irgendwelche Zweifel gehabt haben sollten, dann zerstreute sie Lucas selbst. Er betrat mit schwungvollem Schritt und völlig ahnungslos den mit Schweigen gefüllten Raum, und als er auch mich dort sitzen sah, blieb er ganz unvermittelt stehen, als sei die Verbindung zwischen seinem Gehirn und seinem Bewegungsapparat schlagartig unterbrochen worden.
Das Blut wich aus seinem Gesicht, und seine graubraunen Augen starrten aus einer verödeten Landschaft zu mir herüber. Mir ging durch den Kopf, daß ich in Trevor Deansgates Augen so ausgesehen haben mußte, als wir uns in der Loge der Stewards in Chester begegnet waren. Ich dachte, daß Lucas mit größter Wahrscheinlichkeit in diesem Augenblick seine Füße auf dem Teppich nicht spürte.
«Lucas«, sagte Sir Thomas.»Setzen Sie sich.«
Lucas tastete sich zu einem freien Stuhl, den Blick nach wie vor fest auf mich gerichtet, als könne er nicht glauben, daß ich wirklich da war, oder als könne er mich durch sein unverwandtes Starren zum Verschwinden bringen.
Sir Thomas räusperte sich.»Lucas, Sid Halley hier hat uns einige Dinge berichtet, die wohl einer Erklärung bedürfen.«
Lucas hörte kaum zu. Lucas sagte zu mir:»Sie können nicht hier sein.«
«Und warum nicht?«fragte ich zurück.
Alle warteten darauf, daß Lucas antwortete, aber er tat es nicht.
Sir Thomas sagte schließlich:»Sid hat schwere Anschuldigungen gegen Sie erhoben. Ich werde sie Ihnen vortragen, Lucas, und dann können Sie in der Ihnen geeignet erscheinenden Weise dazu Stellung nehmen.«
Er wiederholte mehr oder weniger das, was ich den Versammelten berichtet hatte — ohne Emphase und fehlerfrei. Die unparteiische Instanz, dachte ich, die den Dingen die Hitze nimmt, das Leidenschaftliche auf das Einleuchtende reduziert. Lucas schien zuzuhören, blickte aber die ganze Zeit immer nur mich an.
«Sie werden verstehen«, sagte Sir Thomas am Ende seines Vortrages,»wie sehr wir daran interessiert sein müssen, daß Sie Stellung nehmen und das Gesagte entweder bestätigen oder widerlegen.«
Jetzt wandte Lucas den Blick von mir ab und sah sich ziellos im Raum um.
«Das ist natürlich alles reiner Quatsch«, sagte er.
«Weiter«, sagte Sir Thomas.
«Das hat er sich doch nur ausgedacht. «Sein Verstand arbeitete wieder, und er arbeitete schnell. In gewissem Maße war auch die alte Forschheit wieder da.»Ich habe ihm mit Sicherheit nicht den Auftrag erteilt, irgendwelche Syndikate zu überprüfen. Ich habe ihm mit Sicherheit nicht gesagt, daß ich irgendwelche Zweifel an Eddys Zuverlässigkeit hätte. Ich habe nie mit ihm über diesen Phan-tasie-Mason gesprochen. Er hat das alles erfunden.«
«Und wozu?«fragte ich.
«Wie soll ich das wissen?«
«Ich habe nicht erfunden, daß ich zweimal hier gewesen bin, um mich über die vier Syndikate zu informieren und mir Notizen zu machen«, sagte ich.»Ich habe nicht erfunden, daß Eddy sich beschwert hat, weil ich ohne sein Wissen Einsicht in die Unterlagen genommen habe. Ich habe nicht erfunden, daß Sie meinen Mitarbeiter Chico viermal in meiner Wohnung angerufen haben. Ich habe nicht erfunden, daß Sie uns nach der Rückkehr aus Newmarket auf dem Parkplatz hier in der Nähe abgesetzt haben. Ich habe auch Peter Rammileese nicht erfunden, der vielleicht dazu… äh… zu einer Aussage bewegt werden könnte. Ich wäre im übrigen wohl auch in der Lage, diese beiden Schotten auf zutreiben, wenn ich es versuchte.«
«Wie das?«wollte er wissen.
Ich würde den kleinen Mark fragen, dachte ich. Er würde im Laufe der Zeit eine ganze Menge über die Freunde erfahren haben, der kleine Mark mit seinen scharfen Ohren.
Laut aber sagte ich:»Glauben Sie nicht, daß ich diese Schotten erfunden habe?«
Er sah mich unbewegt an.
«Ich könnte auch anfangen«, sagte ich langsam,»nach den wahren Gründen für das alles zu suchen. Die Korruptionsgerüchte bis zu ihren Wurzeln zurückverfolgen. Herausfinden, wer Ihnen außer Peter Rammileese noch ermöglicht, Mercedes zu fahren.«
Lucas Wainwright schwieg. Ich wußte nicht, ob ich wirklich all das zuwege bringen würde, was ich eben angedroht hatte, aber er würde sich in diesem Punkt wohl kaum auf eine Wette einlassen wollen. Wenn er mich nicht für fähig gehalten hätte, hätte er ja nicht versucht, mich loszuwerden. Ich berief mich auf sein Urteil, nicht auf meins.
«Wären Sie damit einverstanden, Lucas?«fragte Sir Thomas. Lucas blickte weiter in meine Richtung und schwieg.
«Andererseits«, sagte ich,»meine ich, daß die Sache erledigt wäre, wenn Sie zurückträten.«
Er starrte nun statt meiner Sir Thomas an. Dieser nickte mit dem Kopf.»Das wäre alles, Lucas. Nur Ihre Rücktrittserklärung, jetzt gleich und schriftlich. Wenn wir die bekommen, sehe ich keinen Grund, warum wir noch weitere Schritte unternehmen sollten.«
So ungeschoren war wohl noch nie jemand davongekommen, aber Lucas mußte es in diesem Moment schlimm genug vorkommen. Sein Gesicht war angespannt und blaß, um seinen Mund zuckte es.
Sir Thomas zog einen Bogen Papier aus einer Schublade seines Schreibtisches und einen vergoldeten Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts.
«Setzen Sie sich hierher, Lucas.«
Er stand auf und bedeutete Lucas, er solle sich an den Schreibtisch setzen.
Commander Wainwright ging mit steifen Beinen zum Schreibtisch und ließ sich zitternd auf dem ihm zugewiesenen Platz nieder. Dann schrieb er ein paar Worte, die ich danach zu lesen bekam: Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Posten des Direktors des Sicherheitsdienstes beim Jockey Club. Lucas Wainwright.
Er blickte in die ernsten Gesichter um sich herum, sah die Leute, die ihn gekannt, die ihm vertraut, die tagtäglich mit ihm zusammengearbeitet hatten. Seit seinem Eintritt in Sir Thomas’ Arbeitszimmer hatte er kein Wort zu seiner Verteidigung gesagt, keinerlei Einspruch erhoben. Ich dachte: Wie merkwürdig muß es für alle sein, sich mit der Notwendigkeit einer so tiefgreifenden Neuorientierung konfrontiert zu sehen.
Er stand auf, der Salz-und-Pfeffer-Mann, und ging zur Tür.
Als er an mir vorbeikam, blieb er kurz stehen und sah mich mit leerem, verständnislosem Blick an.
«Was braucht es«, sagte er,»um Sie zu stoppen?«
Ich antwortete nicht.
Was es brauchte, lag entspannt auf meinem Knie: vier kräftige Finger und einen Daumen — und Unabhängigkeit.
Kapitel 20
Charles und ich fuhren nach Aynsford zurück.
«Du kriegst trotzdem eine ordentliche Portion Gerichtsverhandlungen ab«, sagte er.»Da sind ja noch Ashe und Deansgate.«
«Es ist nicht so schlimm, wenn man nur als ganz gewöhnlicher Zeuge hin muß.«
«Das warst du inzwischen ja auch schon ein paar Mal.«
«Ja«, sagte ich.
«Ich frage mich, was Lucas Wainwright jetzt wohl machen wird.«
«Das weiß der liebe Gott.«
Charles warf mir einen Seitenblick zu.»Freust du dich denn überhaupt nicht?«
«Worüber soll ich mich denn freuen?«Ich war erstaunt.
«Über den besiegten Feind.«
«Ach ja?«sagte ich.»Und du, bei deinen Schlachten, was hast du gemacht, wenn du einen Feind ertrinken sahst? Dich gefreut? Ihn unter Wasser gedrückt?«
«Ihn gefangengenommen«, sagte er.
Nach einer Weile sagte ich:»Sein Leben wird von jetzt an wohl Gefängnis genug sein.«
Charles lächelte sein verstohlenes Lächeln und fragte zehn Minuten später:»Und vergibst du ihm auch?«
«Stell doch nicht so schwere Fragen.«
Liebe deine Feinde. Vergib. Vergiß. Ich war noch nie ein guter Christ, dachte ich. Ich konnte es schaffen, Lucas nicht zu hassen. Daß ich ihm vergeben konnte, glaubte ich nicht — vergessen jedenfalls würde ich nie.
Wir erreichten Aynsford, wo mir Mrs. Cross, die gerade ein Tablett nach oben in ihr Zimmer trug, berichtete, daß Chico sich sehr viel besser fühle, aufgestanden und in der Küche zu finden sei. Ich begab mich dorthin und fand ihn allein am Tisch sitzen und auf einen Becher Tee hinabstarren.
«Hallo«, sagte ich.
«Hallo.«
Ihm brauchte man nichts vorzumachen. Ich goß mir auch einen Becher Tee ein und setzte mich ihm gegenüber an den Tisch.
«War ziemlich übel, was?«fragte er.
«Ja.«
«Und ich war ganz schön weggetreten.«
«Mm.«
«Du nicht. Hat alles noch schlimmer gemacht.«
Wir saßen eine Weile schweigend da. In seinem Blick war eine Art Dumpfheit, die aber nichts mehr mit einer Gehirnerschütterung zu tun hatte.
«Glaubst du«, fragte er,»daß sie deinen Kopf nur deshalb in Ruhe gelassen haben?«
«Weiß ich nicht.«
«Könnte aber sein.«
Ich nickte. Wir tranken in kleinen Schlucken von unserem Tee.
«Was haben sie gesagt, heute?«fragte er.»Die Obermohren?«»Sie haben zugehört, Lucas ist zurückgetreten, Ende der Geschichte.«
«Für uns nicht.«
«Nein.«
Ich bewegte mich steif auf meinem Stuhl.
«Was machen wir?«
«Mal sehen.«
«Ich könnte nicht…«Er verstummte. Er sah müde, krank und völlig mutlos aus.
«Nein«, sagte ich,»ich auch nicht.«
«Sid… ich glaube… ich habe genug.«
«Was willst du machen?«
«Judo unterrichten.«
Und ich, dachte ich, könnte mir meinen Lebensunterhalt mit Versicherungen, Wertpapieren, Warentermingeschäften und Kapitalerträgen verdienen. Ein Lebensunterhalt. aber kein Leben.
Wir tranken deprimiert unseren Tee aus, fühlten uns zerschlagen und schwach und taten uns leid. Wenn er nicht weitermachte, dachte ich, konnte ich’s auch nicht. Ihm verdankte ich, daß mir der Job Spaß machte. Seine Natürlichkeit, seine Gutherzigkeit, seine Fröhlichkeit — ich brauchte sie. In vieler Hinsicht funktionierte ich ohne ihn einfach nicht. In vieler Hinsicht lag mir auch gar nichts daran zu funktionieren, wenn ich ihn nicht einbeziehen konnte.
Nach einer Weile sagte ich:»Du würdest dich langweilen.«
«Ich? Mit Wembley und ohne Schmerzen und mit den kleinen Scheißern?«
Ich rieb mir die juckende Schnittwunde an der Stirn.
«Und überhaupt«, sagte er,»warst du es doch, der letzte Woche schon aufgeben wollte.«»Na ja… ich laß mich nun mal nicht gern…«Ich brach ab.
«Schlagen«, ergänzte er.
Ich nahm die Hand herunter und sah ihm in die Augen. Es lag darin dasselbe, was plötzlich auch in seiner Stimme gewesen war — das Bewußtsein der Doppeldeutigkeit des Wortes. Ein Aufblitzen ironischer Amüsiertheit. Die Andeutung zurückkehrenden Lebens.
«Ja. «Ich lächelte schief.»Ich laß mich nicht gern schlagen. War noch nie mein Fall.«
«Also hol der Geier die Ganoven?«
Ich nickte.»Auf sie mit Gebrüll.«
«In Ordnung.«
Wir saßen noch lange dort am Küchentisch, aber jetzt war uns beiden sehr viel wohler.
Drei Tage später, am Montagabend, fuhren wir nach London zurück, und Chico kam, nachsichtig gegen meine Befürchtungen, die er nicht ernst nahm, mit in meine Wohnung.
Das vormals heiße Wetter hatte zur Normalität zurückgefunden, das heißt, ein warmer Sprühregen nieselte vom Himmel herab. Die Straßen waren von der öligen Patina, die die heißen, trockenen Autoreifen hinterlassen hatten, ziemlich glatt, und in Westlondon ertranken die Vorgärten in Rosen. Noch zwei Wochen bis zum Derby… und vielleicht würde >Tri-Nitro< dort laufen, wenn die Infektion abklang, denn abgesehen davon war er in guter Form.
Die Wohnung war still und leer.
«Sag ich doch«, meinte Chico und lud meine Reisetasche im Schlafzimmer ab.»Soll ich auch unterm Sofa nachschauen?«
«Wo du nun schon da bist.«
Er erhob die Augen zum Himmel und machte sich dann an eine sorgfältige Überprüfung der ganzen Wohnung.
«Nur Spinnen«, sagte er.»Und die haben alle Fliegen gefangen.«
Wir gingen wieder nach unten zu meinem Auto, und ich fuhr ihn nach Hause.
«Freitag«, sagte ich,»fahre ich für ein paar Tage weg.«
«So? Ein sündiges Wochenende?«
«Kann man nie wissen. Ich ruf dich an, wenn ich wieder da bin.«
«Und von jetzt an nur noch die lieben, sanften Gangster, okay?«
«Klar, die großen lassen wir außen vor«, sagte ich.
Er grinste, nickte mir zu und verschwand im Haus. Ich fuhr wieder zurück. In der Dämmerung gingen überall die Lichter an.
Zu Hause angekommen, fuhr ich in den Hinterhof, um den Wagen in der Garage, die ich dort gemietet hatte, zu verstecken.
Ich schloß die Rolltür auf und schob sie hoch. Knipste das Licht an. Fuhr das Auto hinein. Stieg aus. Schloß das Auto ab. Steckte die Schlüssel in die Tasche.
«Sid Halley«, sagte eine Stimme.
Eine Stimme? Seine Stimme.
Trevor Deansgate.
Ich stand noch an der Wagentür, die ich gerade abgeschlossen hatte, war zu Stein erstarrt.
«Sid Halley.«
Mir war, als hätte ich schon die ganze Zeit gewußt, daß das passieren würde. Irgendwann, irgendwo — genau wie er gesagt hatte. Seine Drohungen waren ernst gemeint gewesen. Er hatte erwartet, daß man ihnen Glauben schenkte. Ich hatte ihnen geglaubt.
O Gott, dachte ich, es ist zu früh. Es ist immer zu früh. Laß ihn nur meine Angst nicht sehen, laß ihn nichts merken. Lieber Gott… gib mir Mut.
Ich drehte mich langsam zu ihm um.
Er war einen Schritt in die Garage hereingekommen, stand im Licht, und der dünne Nieselregen war wie ein hinter ihm aufgespanntes, silbrig-graues Tuch.
Er hielt die Schrotflinte in der Hand, hatte den Doppellauf auf mich gerichtet.
Links von mir war eine Garagenwand, hinter mir ebenfalls, und rechts von mir das Auto — und bei den Garagen hinter den Wohnhäusern waren nie viele Menschen anzutreffen. Und selbst wenn jemand käme, würde er bei dem Regen wohl kaum lange hier herumtrödeln.
«Ich habe auf Sie gewartet«, sagte er.
Er steckte wie immer in feinem Nadelstreifen. Er verbreitete wie immer die Aura der Macht um sich.
Seine Augen und seine Gewehrläufe sahen mich unverwandt an, während er mit der linken Hand schnell nach oben und hinten griff und den Rand des Rolltores zu fassen bekam. Mit einem scharfen Ruck zog er es bis fast auf den Boden herunter und schloß uns damit ein. Dann hielten wieder beide sauberen, manikürten, von weißen Manschetten umgebenen Hände das Gewehr.
«Ich warte mit Unterbrechungen schon seit Tagen auf Sie. Seit letztem Donnerstag.«
Ich sagte nichts.
«Letzten Donnerstag haben mich zwei Polizisten aufgesucht. George Caspar hat angerufen. Der Jockey Club hat mir angekündigt, daß man gegen mich vorgehen würde.
Mein Anwalt hat mir gesagt, daß ich meine BuchmacherLizenz loswerden würde. Ich dürfte wahrscheinlich keine Rennbahn mehr betreten und könnte sogar im Gefängnis landen. Seit diesem Donnerstag warte ich auf Sie.«
Wie beim letzten Mal war seine Stimme an sich schon eine Drohung, schwer von der rauhen Wirklichkeit des städtischen Dschungels.
«Die Polizei ist auch im Labor gewesen. Mein Bruder verliert seinen Job. Seine Karriere, für die er so hart gearbeitet hat, ist hin.«
«Mir kommen gleich die Tränen«, sagte ich.»Sie haben beide gespielt. Sie haben verloren. Verdammtes Pech.«
Seine Augen verengten sich, und die Gewehrläufe verschoben sich ein paar Zentimeter, von der Reaktion seines Körpers bewegt.
«Ich bin hergekommen, um das zu tun, was ich gesagt habe.«
Gespielt… verloren… genau wie ich.
«Ich habe hier in der Nähe im Auto gesessen und gewartet«, sagte er.»Ich wußte, daß Sie irgendwann zurückkommen würden. Ich wußte es ganz sicher. Ich brauchte nur zu warten. Ich habe seit letzten Donnerstag den größten Teil meiner Zeit hier verbracht und auf Sie gewartet. Und heute abend sind Sie endlich nach Hause gekommen… mit Ihrem Freund da. Aber ich wollte nur Sie, allein… also habe ich weiter gewartet. Und Sie sind wieder hergekommen. Ich wußte, daß Sie am Ende wieder herkommen würden.«
Ich sagte nichts.
«Ich bin gekommen, um das zu tun, was ich zu tun versprochen habe. Ihnen die Hand wegschießen. «Er schwieg einen Augenblick.»Warum flehen Sie mich nicht an, es nicht zu tun? Warum gehen Sie nicht auf Ihre verdammten Knie und bitten mich, Sie zu schonen?«
Ich antwortete nicht, bewegte mich nicht. Er gab ein kurzes Lachen von sich, in dem keinerlei Freude lag.
«Meine Drohung hat Sie nicht aufhalten können, nicht wahr? Nicht sehr lange jedenfalls. Ich dachte, sie würde es. Ich dachte, kein Mensch würde das Risiko eingehen, beide Hände zu verlieren. Bloß um mich zu erledigen. Nicht für so eine Bagatelle. Sie sind schon ein verdammter Idiot, Sie.«
Im großen und ganzen stimmte ich ihm da zu. Und ich zitterte innerlich und war bemüht, ihn das nicht sehen zu lassen.
«Sie bringt nichts aus der Fassung, was?«
Er spielt mit mir, dachte ich. Er muß doch wissen, daß ich Angst habe. Jeder würde sich unter diesen Umständen zu Tode ängstigen. Er will, daß ich in Schweiß ausbreche… will, daß ich um Gnade flehe… und das… das tu ich nicht… auf keinen Fall.
«Ich bin hergekommen, um’s zu tun«, sagte er.»Seit Tagen sitze ich hier und denke daran. Denke an Sie, an Sie ohne Hände… nur zwei solche Stümpfe… zwei Plastikhaken.«
Geh zum Teufel, dachte ich.
«Heute«, fuhr er fort,»heute habe ich angefangen, auch an mich zu denken. Ich schieße Sid Halley die rechte Hand ab, und was habe ich davon?«Er sah mich mit noch größerer Eindringlichkeit an.»Ich habe die Genugtuung, Sie erledigt, aus dem halben Krüppel einen ganzen gemacht zu haben. Ich kriege meine Rache… eine schreckliche, schöne Rache. Und was kriege ich sonst noch? Zehn Jahre vielleicht. Man kann für schwere Körperverletzung auch lebenslänglich kriegen, wenn sie schwer genug ist. Beide Hände, das wäre vielleicht schwer genug. Das habe ich gedacht, als ich heute hier saß und wartete. Und ich habe daran gedacht, mit was für Gefühlen sie mir im Knast begegnen würden, weil ich Ihnen die andere Hand weggeschossen habe. Ausgerechnet Ihnen. Da wär's schon besser, Sie gleich umzubringen. Das habe ich gedacht.«
Ich dachte benommen, daß ich auch nicht ganz sicher war, ob ich nicht lieber tot wäre.
«Heute abend«, sagte er,»nachdem Sie für zehn Minuten zurückgekommen und dann wieder weggefahren waren, habe ich mir vorgestellt, wie ich im Gefängnis verfaule, Jahr für Jahr, und mir dabei dauernd wünsche, ich hätte genug Verstand gehabt und die Finger von Ihnen gelassen. Ich sagte mir, daß es sich nicht lohnt, bloß für die Gewißheit, Sie so oder so erledigt zu haben, jahrelang im Knast zu sitzen. Deshalb habe ich mich kurz vor Ihrer Rückkehr entschlossen, es nicht zu tun. Ich wollte Sie bloß zwingen, mich auf Knien anzuwinseln. Das sollte meine Rache sein. Ich wollte Sie immer daran erinnern, Ihr ganzes Leben lang. Ich wollte aller Welt erzählen, wie Sie vor mir gekrochen sind. Wollte alle damit zum Kichern bringen.«
Mein Gott! dachte ich.
«Ich hatte vergessen«, sagte er,»was Sie für ein Bursche sind. Daß Sie Nerven aus Stahl haben. Nein, ich werde Sie nicht erschießen. Wie ich schon sagte, es lohnt nicht.«
Er drehte sich abrupt um, bückte sich und schob eine Hand unter die Rolltür. Hob sie an, schob sie nach oben.
Der Nieselregen draußen sah im Dunkeln aus wie ein Schwarm kleiner, silberner Fischchen, und die frische Nachtluft wehte sanft zu uns in die Garage.
Er stand einen Augenblick bewegungslos da und brütete vor sich hin, das Gewehr in der Hand — und dann gab er mir zurück, was er mir in der Scheune genommen hatte.
«Gibt’s denn absolut gar nichts«, sagte er bitter,»wovor Sie sich fürchten?«