Jenseits des dunklen Portals

Aaron Rosenberg & Christie Golden

Für meine Familie und Freunde und ganz besonders für meine großartige Frau, die mir geholfen hat, den Strom aufzuhalten.

Für David Honigsberg (1958-2007), Musiker, Autor, Computerspieler, Rabbi und ganz besonderer Freund. Zeig dem Himmel, wie man rockt, Amigo.

Prolog

„Wirf schon!“

„Halt die Klappe!“

„Verdammt, würfle endlich!“

„Gut!“, knurrte Gratar und beugte sich vor. Seine kräftigen Schultern spannten sich an. Er schüttelte die Würfel derart schnell, dass die geschlossene Faust fast schon vor den Augen verschwamm. Dann öffnete er die Hand, und die kleinen Knochenwürfel fielen klackernd heraus.

„Ha!“, lachte Brodog. Seine Hauer stießen aus dem Unterkiefer hervor. „Nur eine Eins!“

„Verdammt!“ Gratar setzte sich wieder schmollend auf den Stein, während er Brodog dabei zusah, wie er die Würfel einsammelte und sie erneut kräftig schüttelte. Er wusste nicht, warum er überhaupt noch mit Brodog spielte. Der Orc gewann praktisch immer. Es war fast schon widernatürlich.

Widernatürlich. Der Begriff war für Gratar fast bedeutungslos geworden. Er blickte zu dem knallroten Himmel auf, der sich bis zum Horizont erstreckte. Die Sonne strahlte in der gleichen Farbe.

Die Welt war nicht immer so gewesen. Gratar war alt genug, um sich daran erinnern zu können, dass der Himmel einst blau gestrahlt hatte. Die Sonne war warm und gelb gewesen und die Felder und Täler von sattem Grün. Er war in tiefen, kühlen Seen und Flüssen geschwommen, nicht ahnend, wie wertvoll Wasser einst werden würde. Der unmittelbare Kontakt mit diesem Element stillte eines der grundlegenden Bedürfnisse des Lebens.

Heutzutage aber wurde unverseuchtes Wasser in Fässern geliefert und war streng rationiert.

Gratar erhob sich. Dabei beobachtete er, wie roter Staub aufwirbelte. Sein Hals war knochentrocken. Er nahm den Wasserschlauch und trank einen Schluck. Der Staub bedeckte seine grüne Haut und hellte sein schwarzes Haar auf. Alles war irgendwie rot, als wäre die Welt in Blut getaucht worden.

Widernatürlich!

Aber der Grund, warum er und Brodog hier stationiert waren und ihre Zeit an diesem staubverhangenen Tag mit Glücksspielen vertrödelten, war das Widernatürlichste überhaupt.

Gratar sah zu dem hoch aufragenden Steinbogen hinüber, zwischen dessen Säulen ein schillernder Vorhang aus Energie glitzerte.

Das Dunkle Portal.

Gratar wusste, dass das merkwürdige Tor in eine andere Welt führte, obwohl er selbst es noch nie passiert hatte. Niemand aus seinem Klan war je hindurchgegangen. Doch er hatte beobachtet, wie stolze Krieger der Horde das Portal betraten, um Ruhm im Kampf gegen die Menschen und deren Verbündete zu ernten.

Ab und zu waren ein paar Orcs zurückgekommen, um vom Erfolg der Horde zu berichten. Aber seit einiger Zeit war niemand mehr erschienen. Keine Nachrichten, keine Kundschafter, nichts.

Gratar furchte die Stirn und ignorierte das klackernde Geräusch von Brodogs Würfeln. Etwas am Portal schien... anders geworden zu sein.

Gratar trat näher an das Tor heran. Die Haare auf seinen Armen und der Brust richteten sich auf.

„Gratar! Du bist dran. Was machst du denn da?“

Gratar ignorierte Brodogs Rufen. Blinzelnd schaute er auf die wirbelnden Schleier aus Energie. Was geschah nur in jener merkwürdigen anderen Welt?

Während er den wabernden Schimmer beobachtete, verstärkte der sich plötzlich. Der eben noch für Blicke undurchdringliche Vorhang wurde durchsichtig. Gratar konnte wie durch schwarzes Wasser hindurchsehen. Er blinzelte, schaute genauer hin... und stolperte, nach Atem ringend, rückwärts.

Direkt vor seinen Augen spielte sich eine wilde und brutale Schlacht ab.

„Was ist das?“ Brodog stand mit einem Mal neben ihm, auch er hatte nun das Spiel vergessen und holte tief Luft. Beide schauten eine Sekunde lang tatenlos zu, bevor Gratar sich besann.

„Los!“, rief er Brodog zu. „Berichte, was hier vor sich geht! Mach schon, sag es... dem Kommandanten!“ Brodogs Augen klebten immer noch an der Szene vor ihm. „Oder nein“, zischte Gratar. Er wusste instinktiv, dass sein Kommandant hiermit überfordert sein würde. Ein Orc hingegen war dem gewachsen. „Ner’zhul. Geh zu Ner’zhul... Er weiß gewiss, was zu tun ist.“

Brodog nickte und lief los. Dabei schaute er sich noch ein paarmal um. Gratar hörte, wie sich die Schritte entfernten, doch sein Blick haftete weiter an der Schlacht, die zwar intensiv auf ihn wirkte, nichtsdestotrotz aber sehr fern schien. Er konnte ein paar Orcs sehen. Einige glaubte er zu erkennen. Doch sie kämpften gegen merkwürdige Gestalten, die kleiner und schmächtiger, dafür aber besser gerüstet waren. Die Fremden – sie wurden „Menschen“ genannt, wie Gratar sich erinnerte – waren schnell und so zahlreich wie Mücken. Sie griffen die belagerten Orcs an und überwältigten einen nach dem anderen.

Wie konnten seine Leute solch eine Niederlage verwinden? Wo war Schicksalshammer? Gratar entdeckte keine Spur des massigen, mächtigen Häuptlings. Was war auf der anderen Welt passiert?

Er beobachtete immer noch fasziniert, als sich Schritte näherten. Gratar riss sich mühsam von der Szene los und sah, dass Brodog nicht allein zurückgekehrt war. Einer der Begleiter war größer und stärker als jeder Orc, hatte milchweiße Haut und markante Gesichtszüge. Den Oger-Magier erkannte Gratar am gerissenen Ausdruck in den kleinen Schweinsäuglein.

Wichtiger als dieser ihn überragende Begleiter war der Orc, der auf das Portal zustürmte. Obwohl sein Haar grau war und sein Gesicht schwer gezeichnet, war Ner’zhul der Häuptling des Schattenmondklans. Einst war er der versierteste Schamane gewesen, den die Orcs je hatten. Sein Körper wirkte nach wie vor kräftig und seine braunen Augen scharf. Er starrte in das Portal und das sich undeutlich hinter dem Vorhang abzeichnende Desaster.

„Eine Schlacht also“, sagte Ner’zhul gedankenverloren.

Und zwar eine, die die Horde verliert, dachte Gratar für sich.

„Wie lange hast...“, begann Ner’zhul, kam aber nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden. Plötzlich veränderte sich der Raum, den das Portal begrenzte, und die Energien darin wirbelten wild. Eine Hand durchdrang den Vorhang, als bestünde er aus Wasser. Licht und Schatten ließen die grüne Haut schimmern, die die Barriere durchbrach. Dann folgte ein Kopf, danach der Leib, und schließlich war der Orc durch. Er hielt seine Axt und wirkte verwirrt, als er an Ner’zhul und den anderen vorbeirannte, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Ihm folgte ein weiterer Orc, dann noch einer... und immer mehr, bis eine wahre Flut aus dem Vorhang quoll. Die Orcs rannten, so schnell ihre Füße sie trugen.

Aber es waren nicht nur Orcs. Gratar sah sieben Oger durchbrechen und eine Gruppe, kleinerer, schlankerer Gestalten, die in ihren Gewändern zu versinken schienen.

Ein Krieger erregte Gratars spezielle Aufmerksamkeit. Er war zu groß und massig, um ein richtiger Orc zu sein. Aber seine brutalen Gesichtszüge wiesen auf Ogerblut hin. Dieser Streiter war nicht in Panik verfallen wie die anderen, sondern wirkte zielgerichtet, als würde er auf etwas zu – statt davon weglaufen. Ihm folgte ein riesiger, rabenschwarzer Wolf.

Ein Orc drängelte sich an dem Krieger vorbei, als sie aus dem Portal traten und rief: „Aus dem Weg, Halbblut!“ Doch der Krieger schüttelte nur den Kopf und ignorierte die Beleidigung. Der Wolf aber knurrte den Orc an, bis der Krieger ihn mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen brachte. Augenblicklich gehorchte das Tier und verstummte. Der Krieger legte seine große Hand beruhigend auf den schwarzen Kopf seines Begleiters.

„Was ist geschehen?“, fragte Ner’zhul laut. „Du!“ Der Schamane wies auf eine der unbekannten Gestalten. „Was für eine Art Orc bist du? Warum bedeckst du dein Gesicht? Komm her!“

Die Gestalt blieb stehen, dann zuckte sie mit den Achseln und trat näher an Ner’zhul heran. „Wie du willst“, sagte sie mit kalter Stimme, die ein wenig spöttisch klang. Trotz der Hitze auf der leblosen Erde fröstelte Gratar.

Eine gepanzerte Hand warf die Kapuze zurück, und Gratar schrie erschrocken auf. Vielleicht waren die Gesichtszüge der Kreatur einst angenehm und normal gewesen, das war jedoch lange her. Die Haut war von fahlem Graugrün, und ein Loch klaffte an der Stelle, wo das Ohr auf die Wange traf. Schleim lief daraus hervor. Die aufgedunsenen, aufgeplatzten violetten Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, während die Augen in einem Ausdruck abseitigen Humors und ungezähmter Schläue funkelten.

Dieses Wesen erinnerte an einen Toten.

Selbst Ner’zhul zuckte zurück. Aber er erholte sich rasch. „Wer... bist du?“, fragte er und unterdrückte ein Zittern in seiner Stimme. „Und was willst du hier?“

„Erkennst du mich denn nicht? Ich bin Teron Blutschatten“, antwortete die Gestalt und lachte angesichts des offensichtlichen Unbehagens des Schamanen.

„Unmöglich! Der ist tot und kommt nicht wieder. Getötet von Schicksalshammer, zusammen mit dem Rest des Schattenrats!“

„Ich bin in der Tat tot“, stimmte die Kreatur zu, „dennoch bin ich hier. Dein alter Schüler Gul’dan hat einen Weg gefunden, uns in diesen verrottenden Kadavern wiederzubeleben.“ Er zuckte mit den Achseln, und Gratar konnte hören, wie das leblose Fleisch protestierend knirschte.

„Gul’dan?“ Den alten Schamanen schockierte die Erwähnung des Namens mehr als der Anblick des lebenden Leichnams. „Dein Herr lebt noch? Dann solltest du zu ihm zurückkehren. Du hast mich und die Pfade eines Schamanen verlassen, bist stattdessen seiner Führung gefolgt und ein Hexenmeister geworden. Das war, als du noch gelebt hast, Missgeburt. Dann diene ihm nun auch im Tode!“

Aber Blutschatten schüttelte den Kopf. „Gul’dan existiert nicht mehr. Und das ist ein Glück. Er hat uns alle verraten und Schicksalshammer dazu gezwungen, ihn zu bekämpfen statt wie geplant eine Stadt der Menschen einzunehmen. Dieser Verrat hat uns den Krieg gekostet.“

„Wir... haben verloren?“, stammelte Ner’zhul. „Aber... wie ist das möglich? Die Horde bedeckte einst die ganze Ebene, und Schicksalshammer würde niemals kampflos aufgeben!“

„Oh, er hat gekämpft“, antwortete Blutschatten. „Aber all seine Stärke reichte am Ende nicht aus. Er tötete den Anführer der Menschen, wurde jedoch im Gegenzug selbst überwältigt.“

Ner’zhul war wie erstarrt. Er schaute sich die keuchenden, blutverschmierten Orcs und Oger an, die noch vor Kurzem durch das Portal gestürmt waren. Dann holte er tief Atem, straffte sich und wandte sich dem Oger zu, der ihn begleitet hatte. „Dentarg... ruf die Häuptlinge zusammen. Sag ihnen, sie mögen sich augenblicklich hier versammeln und Waffen und Rüstungen mitbringen. Wir...“

Der Stoß trat ohne Vorwarnung aus dem Portal. Ein mächtiger Energieschub strömte hervor, der sie alle zu Boden warf.

Gratar rang nach Atem, weil die Windböe sämtliche Luft aus ihm herausgepresst hatte. Er kam gerade wieder auf die Beine, als ihn die zweite Entladung traf, noch heftiger als die erste. Diesmal wurden Felsbrocken von den Energien aufgewirbelt, die das Portal speisten. Gestein unterschiedlichster Größe flog ihnen entgegen. Der Energievorhang waberte und wurde schließlich wieder undurchsichtig.

„Nein!“ Ner’zhul rannte auf das Portal zu. Er war nur noch ein paar Schritte entfernt, als der leuchtende Vorhang aufflackerte, sich zusammenzog, kurz in jeder Aktivität innehielt... und schließlich explodierte.

Steine und Staub wirbelten auf. Ner’zhul wurde wie ein alter Knochen durch die Luft gewirbelt und krachte schwer zu Boden. Dentarg brüllte laut, eilte an die Seite seines Meisters und hob ihn hoch, als hätte er keinerlei Gewicht. Der alte Schamane bewegte sich nicht mehr, der Kopf hing schlaff herunter, die Augen waren geschlossen, und er blutete leicht.

Einen chaotischen Moment lang tobte um sie herum ein energetisches Inferno. Die frei werdenden Kräfte heulten wie wütende Geister. Genauso abrupt, wie sie aufgetreten waren, erloschen die Lichter dann auch wieder. Der Vorhang verschwand, und nur das leere Steinportal blieb zurück.

Das Dunkle Portal war... zerstört.

Gratar schaute auf den steinernen Bogen und auf die Krieger der Horde, die das Portal ein letztes Mal auf ihrer Flucht passiert hatten.

Schließlich blickte er zu Dentarg und dem alten Schamanen hinüber, den der Oger erstaunlich sanft auf den Armen trug.

Bei den Ahnen – was sollten sie jetzt bloß tun?

1

„Ner’zhul!“

Blutschatten und Gaz Soulripper betraten das Dorf, als gehörte es ihnen. Eilig stapften sie über den festgetretenen Staub. Neugierige Bewohner streckten die Köpfe aus den Türen oder Fenstern ihrer Hütten, aber nur um sich sofort wieder zurückzuziehen, als die Eindringlinge sie mit einem unheilvollen Blick aus ihren widernatürlich leuchtenden Augen bedachten.

„Ner’zhul!“, rief Blutschatten erneut in schneidendem Befehlston. „Ich will mit dir reden!“

„Ich kenne dich nicht“, knurrte ein Stimme hinter ihm. „Und ich will dich auch nicht kennenlernen. Du befindest dich auf dem Land des Schattenmondklans. Geh – oder stirb.“

„Ich muss mit Ner’zhul reden“, antwortete der Todesritter und wandte sich dem kräftigen Krieger zu, der sich bedrohlich hinter ihm aufgebaut hatte. „Sag ihm, dass Teron Blutschatten da ist.“

Der Orc reagierte bestürzt auf den Namen. „Blutschatten? Du bist ein Todesritter?“ Er verzog das Gesicht und präsentierte, während er Blutschatten und seinen Begleiter musterte, drohend seine Hauer. Dann raffte er offensichtlich allen Mut zusammen. „Ihr seht nicht so gefährlich aus.“

„Wir sind gefährlich genug“, antwortete Soulripper. Er wandte sich ab und nickte jemandem zu, den der Orc nicht sehen konnte. Mehrere Gestalten, deren Gesichter unter den Kapuzen verhüllt waren, traten mit glühenden Augen aus den Schatten der Dorfhütten und bauten sich neben ihrem Anführer auf. Blutschatten lachte, und der Orc schluckte. „Nun hol deinen Meister, damit dir deine Überheblichkeit nicht zum Verhängnis wird.“

„Ner’zhul empfängt niemanden“, erwiderte der Orc. Er begann zu schwitzen, hatte aber offensichtlich seine Befehle, an die er sich halten wollte.

Blutschatten seufzte, ein merkwürdig pfeifendes Geräusch entströmte seinen toten Lungen.

„Dann eben das Verhängnis“, sagte er. Bevor der Orc auch nur eine Antwort geben konnte, schnellte Blutschattens gepanzerte Hand vor, dazu murmelte er etwas.

Der Krieger schnappte nach Luft und fiel auf die Knie. Blutschatten machte eine Faust, und plötzlich lief Blut aus Nase, Augen und Mund des unglücklichen Orcs. Blutschatten hatte sich bereits abgewandt und sein Interesse an der Folterung des unbedeutenden Individuums verloren.

„Schwarze Magie!“, rief einer der Schattenmondkrieger und griff zu seiner Axt. „Tötet die Zauberer, bevor sie uns alle umbringen!“

Seine Mitstreiter machten sich bereit.

Blutschatten wirbelte herum, und seine leuchtenden Augen zogen sich zusammen. „Wenn ihr alle sterben wollt, dann sei es so. Aber ich werde mit Ner’zhul sprechen!“ Dieses Mal streckte er beide Hände aus, und Finsternis umwirbelte seine Fingerspitzen. Sie dehnte sich wie eine schwarze Flamme aus. Der Orc, der die Axt gezogen hatte, und seine Kameraden wurden umgeworfen. Sie wanden sich auf dem Boden und brüllten vor Schmerz.

„Aufhören! Es hat bereits genug Tote gegeben!“

Die Stimme des alten Orcs war voller Autorität. Blutschatten senkte die Arme. Seine Begleiter taten es ihm gleich und beobachteten ihren Anführer.

„Da bist du ja, Ner’zhul“, sagte Blutschatten betont. „Ich hatte mir schon gedacht, dass ich deine Aufmerksamkeit auf diese Weise erringen kann.“ Er wandte sich Ner’zhul zu und war ein wenig überrascht, als er bemerkte, dass das Gesicht des alten Orcs weiß bemalt war. Es wirkte fast wie ein Totenschädel. Als sich ihre Blicke kreuzten, weiteten sich Ner’zhuls Augen.

„Ich... habe von dir geträumt“, murmelte er. „Ich hatte Visionen vom Tod, und jetzt bist du hier.“ Seine langen, grünen Finger berührten den Totenschädel, zu dem sein Gesicht geschminkt war. „Zwei Jahre lang habe ich davon geträumt. Und jetzt bist du zu mir gekommen. Zu uns allen. Du bist hier, um meine Seele zu holen!“

„Absolut nicht. Ich bin hier, um dich zu retten. Aber... du hast teilweise recht. Ich bin deinetwegen hier, allerdings aus anderen Gründen, als du glaubst. Ich will dich zum Anführer machen.“

Ner’zhul war verwirrt. „Anführer? Warum? Damit ich der Horde noch mehr Schaden zufügen kann? Habe ich nicht schon genug angerichtet?“ Der Blick des alten Schamanen wirkte gehetzt. „Nein, so etwas mache ich nicht mehr. Ich habe unser Volk einst direkt in Gul’dans Arme getrieben – und unsere Welt in den Untergang. Die Horde führte ich in eine Schlacht, die uns beinahe vernichtet hätte. Such dir deinen Anführer woanders.“

Blutschatten furchte die Stirn. Es lief nicht wie erwartet, und er konnte Ner’zhul nicht – so wie dessen Klansbrüder – einfach umbringen. Er versuchte es erneut. „Die Horde braucht dich.“

„Die Horde ist tot!“, zischte Ner’zhul. „Die Hälfte unseres Volkes ist fort, gefangen auf dieser schrecklichen Welt und für immer verloren! Wen also sollte ich anführen?“

„Sie sind nicht für immer verloren“, antwortete Blutschatten, und die kühle Sicherheit in seiner Stimme ließ Ner’zhul aufhorchen. „Das Portal ist zerstört, aber es kann repariert werden.“

Das sicherte ihm Ner’zhuls Aufmerksamkeit. „Was? Wie?“

„Ein kleiner Spalt ist auf Azeroth geblieben“, erklärte Blutschatten. „Und diese Seite ist immer noch intakt. Ich habe beim Bau des Dunklen Portals geholfen, ich kann es noch spüren. Ich vermag dir dabei zu helfen, den Spalt so zu erweitern, dass die Horde in der Lage ist, ihn zu passieren.“

Der Schamane schien das einen Moment lang in Betracht zu ziehen, dann aber schüttelte er den Kopf und fiel sichtbar in sich zusammen. „Was hätten wir davon? Die Allianz ist ein zu mächtiger Gegner. Die Horde wird nie gegen sie gewinnen. Unser Volk ist schon so gut wie tot. Alles, was uns bleibt, ist die Wahl der Todesart.“ Wieder berührten seine Finger unbewusst das aufgemalte Gesicht.

Seine Schwäche ekelte Blutschatten an. Man konnte sich kaum vorstellen, dass dieses Wrack, besessen vom eigenen Tod und dem der anderen, einst so geachtet gewesen war.

Doch bedauerlicherweise brauchte er ihn.

„Der Tod ist nicht die einzige Wahl. Nicht, wenn wir das Portal neu errichten und benutzen“, konterte Blutschatten und zwang sich zur Ruhe. „Wir müssen gar nicht gewinnen, wir müssen nicht einmal gegen die Allianz kämpfen. Ich habe einen anderen Plan für die Horde. Wenn ich bestimmte Artefakte in die Hände bekäme... nun, ich habe ein paar Dinge bei Gul’dan gelernt, die...“

„Gul’dan und seine verqueren Pläne. Die reichen sogar über den Tod hinaus und vernichten weiter Leben!“ Ner’zhul starrte Blutschatten finster an. „Du und deine Pläne! Und wie viel Macht erhältst du, wenn du Erfolg hast? Denn Macht ist doch das Einzige, wonach ihr Bastarde vom Schattenrat strebt!“

Blutschattens Geduld, ohnehin noch nie sehr groß, war am Ende. Er packte den alten Schamanen an den Armen und schüttelte ihn wild. „Zwei Jahre sind seit der Zerstörung des Portals vergangen, und du hast dich in deinem Dorf versteckt, während sich die Klans gegenseitig abgeschlachtet haben. Sie bedürfen nur der Führung, dann sind sie wieder mächtig! Mit deinen Anhängern und meinen Todesrittern können wir die Klans dazu zwingen, dass sie dir gehorchen. Nachdem Schicksalshammer tot oder gefangen ist, bist du der Einzige, der sie führen kann. Ich habe das Portal untersucht, den Schaden abgeschätzt, und wie ich bereits sagte, habe ich eine Lösung. Ich habe einige Todesritter dorthin geschickt. Während wir uns hier unterhalten, arbeiten sie an Zaubern, um das Tor wieder zu öffnen. Ich bin mir sicher, dass es gelingt.“

„Und wie sieht die Lösung aus?“, spie Ner’zhul bitter hervor. „Ist dir ein Weg eingefallen, wie wir nach Azeroth zurückkehren und den Krieg gewinnen können, den wir vor zwei Jahren verloren haben? Ich glaube nicht. Wir werden niemals gewinnen.“ Er wandte sich ab und machte einen Schritt auf seine Hütte zu.

„Vergiss den Krieg! Hör mir zu, alter Mann!“, rief ihm der Todesritter nach. „Wir müssen die Allianz nicht besiegen, weil wir Azeroth nicht erobern müssen.“

Ner’zhul blieb stehen und sah ihn an. „Aber du hast gesagt, du könntest das Portal wieder öffnen. Wenn wir nicht nach Azeroth wollen, ist das doch völlig überflüssig.“

„Wir werden dorthin zurückkehren. Allerdings nicht, um zu kämpfen.“ Blutschatten trat neben ihn. „Wir müssen nur ein paar Artefakte suchen und herbringen. Wenn wir sie erst haben, verlassen wir Azeroth und kehren niemals zurück.“

„Und bleiben hier?“ Ner’zhul wies mit seiner Hand auf das ausgedörrte Land, das sie umgab. „Du weißt so gut wie ich, dass Draenor stirbt. Bald schon wird es uns Zurückgebliebene nicht mehr ernähren können.“

Blutschatten konnte sich nicht daran erinnern, dass der Schamane früher derart langsam von Begriff gewesen war. „Das muss es auch nicht“, versicherte er ihm. Dabei sprach er langsam, wie zu einem Kind. „Wenn wir diese Artefakte haben, können wir sowohl Azeroth als auch Draenor verlassen und anderswohin gehen. Wo es besser ist.“

Jetzt hatte er Ner’zhuls volle Aufmerksamkeit. Ein Hauch von Hoffnung breitete sich über dessen weiß bemaltes Gesicht. Einen langen Moment lang überlegte Ner’zhul, ob er sich lieber in die Abgeschiedenheit des Selbstmitleids zurückziehen... oder die neuen Möglichkeiten akzeptieren sollte.

„Hast du einen Plan?“, fragte ihn der alte Schamane schließlich.

„Allerdings.“

Es folgte eine lange Pause. Blutschatten wartete.

„Ich werde dir zuhören.“ Ner’zhul wandte sich ab und ging zurück in seine Hütte.

Aber diesmal folgten ihm Teron Blutschatten, die Hexenmeister und die Todesritter.

2

„Schaut euch diesen Ort an!“

Genn Graumarn, König von Gilneas, wies auf die vor ihnen aufragende Zitadelle, durch deren Tore sie gerade gingen. Obwohl er ein großer, stämmiger Mann war, wirkte Graumarn gegen die Burg wie ein Zwerg. Der Bogen des Tores war zweimal so groß wie er selbst. Die anderen Könige nickten, als sie ebenfalls darunter hindurchgingen, und bewunderten die dicken Außenmauern, die aus schweren Blöcken errichtet worden waren. Aber Graumarn schnaubte, und sein Stirnrunzeln bewies, dass er ihre Begeisterung nicht teilte.

„Eine Mauer, ein Turm und eine Burg“, polterte er laut und schaute auf die halb fertigen Gebäude hinter ihm. „Dafür haben wir unser Geld ausgegeben?“

„Sie ist groß“, bemerkte Thoras Trollbann, der Herrscher von Stromgarde, und verschwendete wie üblich so wenig Worte wie möglich. „Groß ist beeindruckend.“

Die anderen Könige murmelten zustimmend. Sie alle bedauerten die Kosten. Vor allen Dingen, weil die Anführer der Allianz sie zu gleichen Teilen tragen mussten.

„Wie viel ist dir deine Sicherheit wert?“, meinte ein großer, schlanker Mann ganz vorne. „Qualität hat nun mal ihren Preis.“

Das Murmeln der anderen verstummte angesichts der unterschwelligen Zurechtweisung. Varian, der neu gekrönte König von Sturmwind, wusste, wie es war, wenn man der Sicherheit beraubt wurde. Seine Reich hatte während des ersten Krieges massiv unter den Orcs gelitten. Der größte Teil der Hauptstadt war verwüstet worden.

„In der Tat. Wie geht es mit dem Wiederaufbau voran, Eure Majestät?“, fragte ein in Marinegrün gekleideter dünner Mann höflich.

„Sehr gut, Herr Admiral“, antwortete Varian. Obwohl Daelin Prachtmeer der Herrscher von Kul Tiras war, bevorzugte er den Marinetitel. „Die Steinmetzgilde leistet exzellente Arbeit, und mein Volk und ich sind ihr zu Dank verpflichtet. Das sind gute Handwerker, die es mit den Zwergen aufnehmen können, und die Stadt wird mit jedem Tag größer.“ Er grinste Graumarn an. „Das ist jedes einzelne Kupferstück wert, würde ich sagen.“

Die anderen Könige lachten, und einer von ihnen, groß und breit mit ergrauendem blondem Haar und blaugrünen Augen, erwiderte Trollbanns Blick und nickte zustimmend. Terenas, Herrscher von Lordaeron, hatte den jungen Varian unterstützt, als der Prinz und sein Volk auf der Suche nach Zuflucht vor der Horde waren. Er hatte den jungen Mann in seinem Heim aufgenommen, bis Varian den Thron seines Vaters besteigen konnte. Jetzt war diese Zeit gekommen, und Terenas und sein alter Freund Trollbann waren mit dem Ergebnis hochzufrieden.

Varian war schlau, charmant, ein ehrenhafter junger Mann, der geborene Anführer und für jemanden, der noch so jung war, bereits ein begabter Diplomat. Terenas betrachtete ihn beinahe wie einen eigenen Sohn, und es erfüllte ihn fast mit väterlichem Stolz, wie es dem jungen Mann gelungen war, das Gespräch zu kontrollieren und die anderen Herrscher von den anfänglichen Beschwerden abzulenken.

„Und dort“, fuhr Varian fort und erhob seine Stimme ein wenig, „steht der Mann, der dieses Wunder wahr gemacht hat.“ Der König wies auf einen großen, kräftig gebauten Mann, der sich angeregt mit einigen staubigen Arbeitern unterhielt. Er hatte schwarzes Haar und dunkelgrüne Augen, die funkelten, als er ihnen einen Blick zuwarf. Offensichtlich hatte er die Worte gehört. Terenas erkannte Edwin VanCleef, den Kopf der Steinmetzgilde und Verantwortlichen sowohl für Sturmwinds Wiederaufbau als auch den Bau der Burg von Nethergarde.

Varian lächelte und winkte ihn zu sich. „Meister VanCleef, ich gehe davon aus, dass der Bau gut vorankommt?“

„Das tut er, Euer Majestät, danke“, antwortete VanCleef zuversichtlich. Er schlug mit der Faust gegen die dicke Außenmauer und nickte stolz. „Die hält jedem Ansturm stand, Sire, das kann ich Euch versprechen.“

„Das weiß ich, Meister VanCleef“, stimmte Sturmwinds König zu. „Ihr habt Euch hier selbst übertroffen, und das will schon etwas heißen.“

VanCleef nickte dankend und wandte sich dann ab, als ein anderer Mann bei einem der unvollendeten Gebäude nach ihm rief. „Ich gehe mal besser zurück an die Arbeit, Eure Majestäten.“ Er verneigte sich vor den versammelten Herrschern und entfernte sich dann.

„Schön gemacht“, sagte Terenas leise zu Varian, als sie nebeneinander hergingen. „Graumarn ruhiggestellt und VanCleef gleichzeitig gelobt.“

Der jüngere König nickte. „Es war ein ehrliches Kompliment, und er wird deswegen noch härter arbeiten“, antwortete er ebenso leise. „Und Graumarn beschwert sich doch nur, weil er sich so gerne reden hört.“

„Du bist für dein Alter schon ganz schön weise“, sagte Terenas lachend. „Eigentlich sogar richtig schlau.“

Natürlich konnte Varians versteckter Tadel Graumarn nicht lange ruhigstellen. Als sie den weiten Innenhof überquerten, begann der König von Gilneas erneut zu murren. Und bald schon sprudelten aus seinem dichten schwarzen Bart neue Vorwürfe hervor. „Ich weiß, dass die Männer hart arbeiten“, gab er knurrend zu. Dabei schaute er Varian an, der zurücklächelte. „Aber wozu dienen all diese Bauten?“ Er wies mit seiner Hand über das einzige vollendete Gebäude, als sie das Falltor passierten. „Warum halsen wir uns soviel Ärger und Kosten auf, um eine so große Burg zu bauen? Sie soll nur das Tal, in dem das Portal einst stand, bewachen, oder nicht? Warum hat dafür eine einfache Burg nicht ausgereicht?“

Khadgar, Erzmagier von Dalaran, tauschte müde, aber leicht amüsierte Blicke mit seinem Zaubererkollegen aus. Sie vernahmen Graumarns Stimme, noch bevor sie den großen Raum betraten.

„Schön zu hören, dass Graumarn immer noch der Alte ist“, meinte Antonidas, der Herrscher der Kirin Tor, trocken.

„Ja, manche Dinge ändern sich nie“, antwortete Khadgar und strich sich durch den weißen Bart. Er sah den König an. Die jugendliche Schnelligkeit strafte sein altes, zerfurchtes Gesicht Lügen. „Ihr wollt wissen, was Ihr für Euer Geld bekommen habt?“, sagte er an die Könige gewandt und nickte ihnen grüßend zu, behandelte sie aber ansonsten wie Gleichrangige. Das waren sie auch, denn Khadgar, ein Mitglied der Kirin Tor, war ein Herrscher von eigenen Gnaden.

„Nun, ich verrate es Euch. Die Burg von Nethergarde ist groß. Das muss sie auch sein. Denn eine Menge Leute werden hier leben. Die Magier aus Dalaran und die Soldaten, die sich um weltlichere Bedrohungen kümmern werden. Im Tal unter uns stand einst das Dunkle Portal, der Zugang der Horde in unsere Welt. Wenn sie jemals zurückkehrt, sind wir bereit.“

„Das erklärt die Krieger“, stimmte Prachtmeer zu, „aber was machen die Magier hier? Ein Einziger davon reicht doch sicher aus, um alles zu beobachten und uns über Gefahren zu informieren.“

„Wenn das alles wäre, hättet Ihr recht“, stimmte Khadgar zu und durchquerte den Raum. Seine Schritte waren die eines jungen Mannes, der er ja auch war. Khadgar war nur ein paar Jahre älter als Varian, aber er war durch Medivhs Magie, kurz vor dem Tod des Zauberers, vorzeitig gealtert. „Aber Nethergarde wird schnell mehr als nur ein Wachtposten sein. Ihr könnt unmöglich den Grund für unsere Besorgnis gesehen haben, als Ihr hierherkamt. Etwas hat das Leben aus Draenor abgesaugt. Als das Dunkle Portal geöffnet wurde, hat diese Leblosigkeit auch unsere Welt berührt, das Land rundherum abgetötet und sich ausgebreitet. Nachdem wir das Portal zerstört hatten, dachten wir, dass sich das Land von selbst heilen würde. Das hat es nicht getan. Tatsächlich breitete sich die Verödung weiter aus.“

Die Könige runzelten die Stirn und sahen einander an. Das war ihnen neu.

„Wir begannen die Lage zu analysieren und entdeckten, dass nach der Zerstörung des Portals ein kleiner Dimensionsspalt geblieben ist.“

Die versammelten Herrscher schnappten nach Luft.

„Habt ihr einen Weg gefunden, diese Verödung aufzuhalten?“, fragte Prachtmeer.

„Ja, haben wir. Allerdings mussten mehrere von uns zusammenarbeiten.“ Er furchte die Stirn. „Unglücklicherweise konnten wir das bereits beschädigte Land nicht mehr regenerieren. Diese Gegend war einst der schwarze Morast, und wir haben es geschafft, den nördlichen Teil zu schützen und in seinem ursprünglichen Zustand zu bewahren. Aber den südlichen Teil konnten wir aus unerklärlichen Gründen nicht neu begrünen.“ Er schüttelte den Kopf. „Jemand nannte es die Verwüsteten Lande, und irgendwie ist der Name hängen geblieben. Ich bezweifle, dass je wieder etwas darauf wächst.“

„Immerhin habt ihr die Verödung aufgehalten und die restliche Welt gerettet“, meinte Varian. „Das ist erstaunlich genug, wenn man bedenkt, wie schnell der Effekt sich ausgebreitet hat.“

Khadgar neigte den Kopf und nahm das Lob an. „Wir haben mehr geschafft, als ich zu hoffen wagte“, stimmte er zu. „Aber weniger, als mir lieb gewesen wäre. Doch ein Kontingent von Magiern muss ständig hier stationiert sein, um den Bereich zu überwachen und sicherzustellen, dass wir kein Stück von Azeroth mehr an diese merkwürdige Verödung verlieren. Die Magier beobachten währenddessen den Spalt. Und das, werte Majestäten, ist der Grund, warum Nethergarde so groß sein muss und warum es so viel kostet.“

„Besteht wirklich die Gefahr, dass sich der Spalt erneut öffnet?“, fragte Trollbann. Die anderen wandten sich erneut Khadgar zu und erwarteten eine Antwort, aber sie fürchteten, wie sie ausfallen würde.

Er konnte die Sorge auf ihren Gesichtern ablesen – die Sorge, wieder neu zu erleben, was vor acht Jahren geschehen war, als sich das Portal geöffnet hatte und die Orcs hindurchgeströmt waren, beunruhigte sie alle.

Khadgar setzte zu einer Antwort an, wurde aber von einem schrillen Schrei unterbrochen. „Ich glaube, das letzte Mitglied ist mit seinem Greif eingetroffen und auf dem Wehrgang gelandet“, sagte er.

Die Frau, die kurz darauf den Saal betrat, war groß und unglaublich schön. Abgewetztes grün-braunes Leder umhüllte ihre schlanke Gestalt. Ihr goldenes Haar war zerzaust, und sie schob es unbewusst hinter ihre langen, spitzen Ohren. So anmutig und grazil sie auch wirkte, war Alleria Windläufer doch eine ausgezeichnete Waldläuferin, Kundschafterin und Kämpferin. Und eine Expertin, was das Überleben in der Wildnis anging. Viele der Anwesenden hatten mit ihr zusammen gekämpft. Und sie verdankten ihr Leben ihren scharfen Augen, ihren schnellen Reaktionen und den starken Nerven.

„Khadgar“, sagte sie laut vernehmlich, als sie neben ihn trat. Sie war so groß, dass sie ihm beinahe auf Augenhöhe entgegentreten konnte.

„Alleria“, antwortete er. Liebevolle Erinnerungen erwärmten das Wort. Sie waren noch vor gar nicht so langer Zeit Waffengefährten gewesen, gute Freunde, die einen großen Kampf bestritten hatten. Aber in ihrem grünäugigen Blick lag keine Wärme, genauso wenig in dem Gesicht, das zwar schön, aber ausdruckslos war, wie aus Stein gemeißelt. Alleria war höflich, mehr nicht. Innerlich seufzte Khadgar, als er durch die Tür schritt und ihr bedeutete, ihm zu folgen.

„Ich hoffe, es geht um etwas Wichtiges“, sagte sie beim Eintreten und grüßte die versammelten Herrscher. Trotz ihres gertenschlanken Körpers und dem jugendlich goldenen Haar, war sie deutlich älter als die menschlichen Herrscher, was sie immun gegen ihr majestätenhaftes Auftreten machte. Sie spottete gern darüber. „Ich habe Orcs gejagt.“

„Du jagst immer Orcs“, konterte Khadgar schärfer als beabsichtigt. „Deshalb wollte ich dich ja unter anderem auch hier haben.“

Er wartete, bis er ihre volle Aufmerksamkeit und die der Könige hatte. „Ich habe gerade erklärt, dass wir einen Dimensionsspalt im Dunklen Portal entdeckt haben, Alleria. Und seit Neuestem sind die Energien, die dort durchströmen, dramatisch angestiegen.“

„Was soll das bedeuten?“, wollte Graumarn wissen. „Wollt Ihr uns sagen, dass es stärker wird?“

Der junge, aber alt wirkende Erzmagier nickte. „Ja. Wir glauben, dass sich der Spalt ausdehnt.“

„Hat die Horde einen Weg gefunden, das Portal zu reaktivieren?“, fragte Terenas, der genauso schockiert war wie die anderen.

„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, antwortete Khadgar. „Aber selbst wenn sie kein stabiles Portal errichten können, werden die Orcs, sobald der Spalt groß genug ist, wieder Zugang zu unserer Welt haben.“

„Ich wusste, dass das passieren würde!“, brüllte Graumarn. „Ich wusste, dass wir diese grünhäutigen Monster noch nicht los sind!“

Neben ihm verzog sich Allerias Mund, ihre Augen waren weit aufgerissen voller... Anteilnahme?

„Wie bald?“, fragte Trollbann. „Und wie viele?“

„Ich weiß nicht, wie viele“, antwortete Khadgar kopfschüttelnd. „Wie bald? Sehr bald. Vielleicht schon in wenigen Tagen.“

„Was braucht Ihr?“, fragte Terenas leise.

„Ich brauche die Armee der Allianz“, antwortete Khadgar. „Ich brauche die ganze Armee hier, für den Fall, dass der Spalt sich ausdehnt. Es ist gut möglich, dass eine zweite Horde in dieses Tal strömt.“ Er lächelte plötzlich. „Die Söhne Lothars werden erneut gebraucht.“

Die Söhne Lothars. So hatten sie sich selbst genannt, die Veteranen des Zweiten Kriegs. Der Sieg hatte einen hohen Preis gefordert: den Tod des Löwen von Azeroth, Anduin Lothar. Der Mann, dem alle willig gefolgt waren. Khadgar war dabei gewesen, als er fiel. Erschlagen vom Orc-Häuptling Orgrim Schicksalshammer. Und er war dabei gewesen, als sein Freund Turalyon, jetzt General der Allianzarmee, Lothar rächte, indem er Schicksalshammer gefangen nahm. Lothars Schützling war aus seinem Schatten getreten und setzte das heldenhafte Vermächtnis fort. Und so waren die Söhne Lothars entstanden.

„Seid Ihr Euch sicher wegen des Spalts?“, fragte Terenas vorsichtig, bemüht, den Zauberer nicht zu beleidigen. Was, wie Khadgar fand, eine gute Idee war. Aber in diesem Fall fühlte er sich nicht angegriffen.

„Ich wünschte, ich wäre es nicht. Der Energiepegel steigt definitiv an. Bald schon wird die Kraft ausreichen, um den Spalt auszuweiten, sodass die Orcs von Draenor in unsere Welt gelangen können.“ Er fühlte sich plötzlich müde, als hätte ihn die Nachricht irgendwie ausgezehrt. Er schaute wieder zu Alleria hinüber, die den Blick bemerkte und eine Augenbraue hob, sonst aber nicht reagierte.

„Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen“, erklärte Varian. „Ich sage, wir sammeln die Armee der Allianz und machen sie bereit für den Krieg, für alle Fälle.“

„Abgemacht“, sagte Terenas, und die anderen nickten zustimmend.

„Wir müssen General Turalyon informieren“, fuhr Varian fort.

Alleria versteifte sich ein wenig, ein undeutbares Gefühl blitzte über ihr Gesicht, und Khadgars Augen zogen sich zusammen.

Einst waren die elfische Waldläuferin und der menschliche Paladin mehr als bloße Waffengefährten gewesen. Sie taten einander gut, hatte Khadgar immer gedacht. Allerias Alter und Weisheit stärkten Turalyons Geist. Und seine Jugend und Unschuld machten die erschöpfte Elfe sanfter.

Aber etwas war passiert. Khadgar hatte nie erfahren, was, und war höflich genug, um nicht nachzufragen. Eine alarmierend kühle Distanz war zwischen Turalyon und Alleria entstanden.

Sie hatten Khadgar leidgetan, nun fragte er sich, ob sie dadurch Probleme hatten.

Varian schien die subtile Veränderung an Alleria nicht bemerkt zu haben. Er fuhr fort: „Als Oberkommandierender der Allianzarmee ist es seine Aufgabe, die Soldaten zu sammeln und sie auf das hier vorzubereiten. Er befindet sich derzeit in Sturmwind und hilft uns, die Verteidigung aufzubauen und unsere Männer auszubilden.“

Khadgar hatte eine Idee, die zwei Probleme auf einmal löste. „Alleria, du kannst schneller als jeder andere zu Turalyon reisen. Nimm den Greif und flieg nach Sturmwind. Berichte ihm, was geschehen ist, und teil ihm mit, dass er die Allianzarmee sofort zusammenrufen muss.“

Die elfische Waldläuferin schaute Khadgar an, ihre grünen Augen blitzten wütend. „Sicherlich kann auch jemand anders diese Aufgabe übernehmen“, sagte sie scharf.

Aber Khadgar schüttelte den Kopf. „Die Wildhammerzwerge kennen dich und vertrauen dir“, antwortete er. „Und diese Knaben müssen ihre eigenen Arrangements treffen.“ Er seufzte. „Bitte, Alleria, um Himmels Willen, finde ihn, berichte ihm, was geschehen ist, und hol ihn her.“

Und vielleicht könnt ihr beide eure Differenzen beilegen... oder euch zumindest entscheiden zusammenzuarbeiten, dachte er.

Allerias Miene verhärtete sich zu einer unerbittlichen, ausdruckslosen Maske. „Ich tue, was du verlangst.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und verließ die Halle.

„Khadgar hat recht“, sagte Terenas, als er sie weggehen sah. „Wir alle müssen unsere Truppen zusammenrufen und Vorräte herbeibeschaffen, und das sofort.“

Die anderen Könige nickten. Selbst Graumarn war einverstanden. Der Gedanke an eine zurückkehrende Horde hatte ihn massiv erschreckt. Gemeinsam gingen sie zur Tür, zurück in den Schlosshof und von da aus durch die großen Tore, die sie erst vor gerade mal einer Stunde durchschritten hatten.

„Auf geht’s“, flüsterte Khadgar, als er die Könige abziehen sah. „Geht und sammelt die Söhne Lothars. Ich bete nur, dass es nicht schon zu spät ist.“

3

Die Axt schien zu singen, als sie mit viel Kraft geführt wurde. Die Klinge fing das Licht ein und glitzerte, als dürste sie nach Blut. Der Kämpfer, der sie bewegte, lachte wie wahnsinnig, öffnete seinen schwarz tätowierten Mund fast unmöglich weit und stieß den Schrei aus, der ihm seinen Namen eingebracht hatte. Das lange, schwarze Haar wehte im Wind, die roten Augen glühten, während er den eingebildeten Feind immer wieder aufschlitzte und seine Bewegungen perfektionierte.

In einem echten Gefecht wäre der Gegner jetzt Hackfleisch gewesen. Grom Höllschrei grunzte und wirbelte herum – eine Demonstration purer Kraft, verstärkt durch Können.

Als jemand nach ihm rief, tauchte er aus dem roten Nebel auf, der ihn selbst bei reinen Übungskämpfen überkam.

„Grom!“

Grom Höllschrei senkte Blutschrei, seine Axt. Das Übungsgefecht hatte ihn nur wenig angestrengt. Er schaute auf und sah eine ältere, aber beeindruckende Gestalt, die auf ihn zukam.

„Kargath“, antwortete er und wartete, bis der Häuptling des Klans der zerschmetterten Hand zu ihm kam. Sie schüttelten sich die Hände... jeweils die Rechte. Kargath hatte seine linke Hand vor langer Zeit verloren und sie durch eine gefährlich aussehende Sensenklinge ersetzt.

„Schön, dich zu sehen.“

„Gleichfalls, das scheint auch für alle anderen hier zu gelten“, sagte der ältere Häuptling und nickte in Richtung der sich versammelnden Orcs. „Ner’zhul hat Boten zu jedem Klan geschickt, wie mir berichtet wurde.“

Grom nickte, sein schwarz tätowierter Mund bildete eine grimmige Linie. Einige der Boten stammten auf Wunsch des alten Schamanen von ihm.

„Er plant irgendetwas.“ Grom schulterte die schwere Axt. Gemeinsam schritten die beiden Häuptlinge durch das Tal zu den Ruinen des Dunklen Portals, vorbei an den Kriegern beider Klans. Hier und da wurde ein wenig herumgeflachst, aber immerhin bekämpfte sich niemand. Bis jetzt jedenfalls. „Aber was?“

„Das ist doch egal“, antwortete Kargath. „Alles ist besser als das hier!“ Er fuhr geistesabwesend mit den Fingern über das Sensenblatt. „In den letzten beiden Jahren haben wir absolut nichts getan. Gar nichts! Und warum? Weil die Allianz uns geschlagen hat? Na und? Weil das Portal zerstört wurde? Sicherlich können unsere Magier ein neues bauen! Wir brauchen etwas, das wir bekämpfen können. Ansonsten verrotten wir bei lebendigem Leibe.“

Grom nickte. Kargath war der geborene Krieger. Er lebte, um zu kämpfen und zu töten. Grom konnte das verstehen. Und was Kargath gesagt hatte, stimmte. Sie waren eine kämpferische Rasse. Regelmäßiger Kampf schärfte die Sinne und stärkte die Glieder. Ohne das wurden sie weich.

Er hatte seinen Klan durch Kämpfe gegen andere Klans fit gehalten. Und er vermutete, dass Kargath das Gleiche getan hatte, obwohl sie nicht gegeneinander angetreten waren. Man konnte immer noch Patrouillen und Kundschafter angreifen, aber nur solange, bis es zu einem echten Krieg kam. Und gegen seine eigene Art zu kämpfen, interessierte ihn nicht. Ner’zhul hatte die Horde geschaffen, er hatte die Klans zu einer Einheit geformt. Und selbst nach all dieser Zeit betrachtete Grom sie immer noch als zusammengehörig.

Wenn die Kämpfer des Kriegshymnenklans gegen die Krieger der Donnerfürsten antraten, oder die Redwalker gegen die Bladewinds, bekämpften sie ihre eigenen Kameraden. Orcs, mit denen sie hätten zusammenarbeiten sollen, statt sie anzugreifen.

Während der Schlacht spürte er immer noch denselben Blutrausch, dieselbe derbe Freude, wenn Blutschrei eine Schneise durch die Feinde schlug.

Aber hinterher fühlte er sich leer und manchmal sogar ein wenig schmutzig.

Immer wieder fragte er sich, was passiert war, als sie die Ruinen und die Gestalt, die danebenstand, erreichten. Wann hatte es angefangen, mit der Horde bergab zu gehen? Sie waren zahlreicher als die Grashalme gewesen, die einst die Ebenen bedeckt hatten, und mehr, als es Wassertropfen im Ozean gab. Wenn sie marschiert waren, hatte der Donner ihrer Schritte ganze Berge erschüttert.

Wie konnte solch eine Armee verlieren?

Es war Gul’dans Schuld gewesen, dessen war Grom sich sicher. Die tote Ebene war einst mit Getreide und Gras überzogen gewesen. Die vertrockneten und geschwärzten Bäume... der Himmel, der dunkel geworden war und rot wie Blut... all das war von den Hexenmeistern verursacht worden und ihrem Streben nach einer Macht, die nie für orcische Hände gedacht war.

Aber es war noch mehr als das. Sie hatten Draenor verdammt, sie alle, dabei hatte Gul’dan hinter jedem Schritt der Hexenmeister gesteckt. Und es war seine Schuld, dass die Horde darin versagt hatte, die andere Welt zu erobern und sich Untertan zu machen.

Immerhin hatte der verschlagene Zauberer Grom davon überzeugt, während der ersten Schlacht auf Draenor zurückzubleiben, statt seinen Platz in der Vorhut einzunehmen.

„Wir brauchen dich hier“, hatte Gul’dan behauptet. „Du und der Kriegshymnenklan, ihr gehört zu unseren besten Kämpfern, und wir müssen euch nur für alle Fälle als Reserve im Hintergrund halten. Wir brauchen auch jemanden, der auf Draenor zurückbleibt und unsere Interessen vertritt. Jemand Mächtigen, jemanden, dem wir vertrauen. Jemanden wie dich!“

Grom war so naiv gewesen, dem Hexenmeister zu glauben. Er hatte zugesehen, wie die Horde von Schwarzfaust und Orgrim Schicksalshammer durch das Portal an jenen merkwürdigen Ort namens Azeroth geführt worden war. Und er hatte die Berichte gehört, erst Berichte von ihren schnellen Siegen – und dann von ihrer endgültigen Niederlage.

Grom knurrte leise. Wenn er nur dabei gewesen wäre! Er hätte die letzte Schlacht herumreißen können, davon war er überzeugt. Zusammen mit Schicksalshammer hätte er die Stadt der Menschen am See eingenommen und Truppen hinter dem verräterischen Gul’dan und seinen Schergen hergeschickt. Dann hätten sie Lordaeron eingenommen und sich von dort aus ausgebreitet und wären über das Land gekommen, bis niemand sich ihnen mehr hätte entgegenstellen können.

Grom schüttelte den Kopf. Die Vergangenheit war unveränderlich. Schwarzfaust war tot, sein alter Freund Durotan ebenso. Schicksalshammer war gefangen, das Dunkle Portal zerstört, Gul’dan fort und die Horde nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Aber vielleicht würde sich jetzt etwas ändern.

Der Häuptling des Kriegshymnenklans knurrte und zuckte zusammen, als er das erste Mal in das Gesicht des Schamanen blickte. Weiße Farbe bedeckte Ner’zhuls Wangen, Oberlippe, Nase, Augenbrauen und Stirn und machte sie so weiß wie Knochen. Und das war wohl auch die Absicht, erkannte Grom. Der alte Schamane hatte sein Gesicht bemalt, damit es wie ein Totenschädel aussah.

„Grom Höllschrei und Kargath Messerfaust!“, rief Ner’zhul aus. Seine Stimme war noch immer stark und klar. „Seid willkommen!“

„Warum hast du uns gerufen?“, fragte Kargath unverblümt und geradeheraus.

„Ich habe Neuigkeiten“, antwortete der Schamane. „Neuigkeiten und einen Plan.“

Grom schnaubte. „Zwei lange Jahre hast du dich von uns zurückgezogen. Wie kannst du Neuigkeiten haben?“ Wut und Zweifel färbten seine Stimme. Er zeigte auf Ner’zhuls bemaltes Gesicht. „Du hast dich von Gul’dan verdrängen lassen. Du hast nicht aus dem Becher getrunken, und du schmollst wie ein Kaninchen in seinem Bau. Und jetzt verkündest du, dass du einen Plan hast und kommst aus der Abgeschiedenheit zurück mit einem Gesicht wie die Toten. Ich glaube nicht, dass ich deinen Plan hören will.“

Er konnte den Schmerz in seiner eigenen Stimme vernehmen. Trotz allem, was mit Gul’dan geschehen war, trotz all des Misstrauens von Beratern, Schamanen und Hexenmeistern und ähnlichem während dieser Zeit wollte er immer noch, dass Ner’zhul der Schamane war, den Grom aus seiner Jugendzeit kannte. Der starke, ernste, weise Orc, der die zerstrittenen Klans zu einer Einheit geformt hatte. Trotz seiner bissigen Worte wollte Grom, dass er unrecht hatte.

Ner’zhul berührte die Maske auf seinem Gesicht und seufzte tief. „Lange habe ich vom Tod geträumt. Mit ihm gesprochen. Ich habe den Tod meines Volkes gesehen, den Tod aller, die ich liebte. Und so trage ich dieses Bild, um sie zu ehren. Ich wollte euch eigentlich nicht wieder anführen. Doch jetzt glaube ich, dass ich es meinem Volk schulde.“

„So wie beim letzten Mal?“, schrie Kargath. „Uns in den Verrat führen? In die Niederlage? Ich schicke dich persönlich in den Tod, von dem du ja so sehr fasziniert bist! Mit meinen eigenen Händen, wenn du das noch einmal versuchst, Ner’zhul!“ Er drohte dem Schamanen mit seiner Sensenhand.

Ner’zhul setzte zu einer Antwort an, hielt aber inne, als er hinter sich etwas bemerkte. Er wandte sich um, und Grom sah eine massige Gestalt eintreffen. Einen Oger, der alle Orcs weit überragte.

„Gibt es etwas Neues, Dentarg?“, rief Ner’zhul, als sein Assistent über die Lichtung kam, die das Portal von den anwesenden Orcs trennte. „Ich hatte dich ausgeschickt, um die anderen Klans zu suchen und sie hier zu versammeln. So wie ich es auch euch beiden aufgetragen hatte“, erinnerte er Grom und Kargath. „Aber bislang sehe ich nur Krieger vom Schattenmondklan, vom Kriegshymnenklan und vom Klan der zerstörten Hand. Wo ist der Rest?“

„Die Lightning Blades haben versprochen zu kommen“, versicherte ihm Grom. „Aber sie haben einen langen Anreiseweg, weshalb es noch ein oder zwei Tage dauern kann.“ Er schüttelte den Kopf. „Weder die Donnerfürsten noch die Lachenden Schädel haben zugehört.“ Er knurrte. „Sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig abzuschlachten.“

„Das ist genau der Grund, warum wir handeln müssen!“, rief Ner’zhul. „Wir vernichten uns selbst und jeden anderen, wenn wir hier nur herumsitzen und nichts tun.“ Er bleckte die Zähne. „All die Arbeit, alles, was ich unternommen habe, um die Horde zu formen, bricht weg, die Klans zerfallen und bekämpfen sich untereinander. Wenn wir dagegen nicht bald etwas unternehmen, werden wir wieder in die alten Zeiten zurückfallen, als die Klans sich nur zum Kämpfen gesehen haben, abgesehen von den jährlichen Treffen... wenn überhaupt!“

„Was hast du geglaubt, was während der zwei Jahre, in denen du dich versteckt hast, passiert ist?“, zischte Grom. „Wir verstehen, dass du von der Explosion verwundet wurdest. Aber selbst nachdem deine Wunden verheilt waren, kamst du niemals zu uns. Wir warteten lange auf deinen Rat, doch vergebens. Natürlich haben wir dann alles auf unsere Art geregelt! Natürlich haben wir einander bekämpft. Du hast uns verlassen, damit du vom Tod träumen konntest, Ner’zhul. Und das ist das Ergebnis.“

„Ich weiß“, sagte Ner’zhul leise und voller Schmerz.

Grom verkniff sich weitere wütende Worte im Angesicht von des Schamanen Scham und Schande.

„Der Bladewindklan wird sich mit uns vereinen“, brach Kargath die unangenehme Stille. „Aber die Redwalker verweigerten sich uns. Sie sagten, dass die Horde jetzt nichts anderes mehr sei als eine Erinnerung und dass jeder Klan sich nun um sich selbst kümmern müsse.“ Er knurrte wütend. „Ich hätte ihren Häuptling an Ort und Stelle erschlagen, wenn du es nicht anders befohlen hättest.“

„Du wärst im Gegenzug getötet worden“, erklärte Ner’zhul. „Oder du hättest auf deiner Flucht den gesamten Klan abschlachten müssen. Ich wollte dein Leben nicht riskieren oder das der anderen, solange es noch eine Chance gibt, dass sie zur Vernunft gebracht werden können.“ Er spitzte den Mund. „Wir werden sie uns bald vornehmen, keine Angst.“ Er sah sich um. „Was ist mit den anderen?“ Seine Augen zogen sich zusammen. „Was ist mit den Knochenmalmern?“

Grom knurrte erneut. „Ich habe einen Boten zu Hurkan Skullsplinter gesendet“, sagte er. „Er schickte mir dessen Körperteile zurück.“

„Die Knochenmalmer wären eine große Hilfe in der Schlacht“, bemerkte Kargath und strich über seine Sense. „Sie sind exzellente Kämpfer auf dem Schlachtfeld.“ Dann schüttelte er den Kopf. „Sie wurden sogar noch wilder, seit das Portal zerstört wurde. Aber man kann sie weder kontrollieren noch ihnen trauen.“

Ner’zhul nickte. „Was ist mit dem Weißklauenklan?“, fragte er Dentarg.

Der Oger blickte finster. „Tot, die meisten davon“, antwortete er. „Sehr viele wurden von den anderen Klans getötet, bevor die Wahrheit über Gul’dan und seine Hexenmeister ans Licht kam. Selbst nach Durotans Exil und Tod machten die Weißklauen nie ein Hehl aus ihrer Sympathie für die Frostwölfe. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Die Überlebenden sind weit verstreut.“ Er schüttelte den Kopf. „In Wahrheit sind sie eigentlich kein Klan mehr.“

Ner’zhul verspürte einen Hauch von Schuld bei Durotans Erwähnung. Er hatte den jetzt toten Häuptling der Frostwölfe einst gewarnt und versucht, einiges von dem Schaden, den er angerichtet hatte, wiedergutzumachen. Aber am Ende hatte es nichts genützt. Gul’dans Schattenrat hatte Durotan gefunden und einen der ehrenhaftesten Orcs, den er kannte, getötet.

Aber Bedauern und Selbstmitleid führten zu nichts. Er konzentrierte sich wieder auf Dentargs Worte und wurde wütend.

„Der Weißklauenklan war einer der ältesten und stolzesten. Jetzt sind sie kaum mehr als klanlose Barbaren! Ist unsere Rasse so verkommen? O nein! Wir müssen die Horde neu entstehen lassen und den Bund zwischen allen Orcs erneuern! Nur als geeinte Rasse können wir darauf hoffen, ehrenhaft zu überleben.“

Dentarg fiel auf die Knie. „Du weißt, ich lebe, um dir zu dienen, Meister“, sagte er schlicht.

Grom sah den älteren Orc an. Seine Augen verengten sich. „Berichte von deinem Plan, Ner’zhul“, verlangte er und achtete darauf, dass seine Worte von den Orcs auf der Lichtung verstanden wurden. „Erkläre ihn uns. Und wenn er gut ist... werden wir dir folgen.“

Kargath neigte den Kopf. „Ich stimme Höllschrei zu“, sagt er.

Ner’zhul betrachtete die drei einen Moment lang, dann nickte er. „Wir warten, bis die Lightning Blades und die Bladewinds eintreffen“, sagte er. „Dann gehen wir erneut zu den anderen, den Donnerfürsten, den Lachenden Schädeln und den Redwalkern und selbst zum Knochenmalmerklan. Unser Volk muss vereint werden.“

„Und was, wenn sie sich trotzdem verweigern?“, knurrte Kargath.

„Dann werden wir sie überreden“, antwortete Ner’zhul. Sein grimmiger Tonfall ließ keinen Zweifel an der Bedeutung dieser Worte.

Kargath brüllte zustimmend und hob seinen Sensenarm so hoch, dass er das Sonnenlicht reflektierte.

Ner’zhul wandte sich an Grom. „Nun zu dir, Grom“, sagte er leise. „Während wir auf die anderen Klans warten, offenbare ich dir die Einzelheiten meines Plans und gebe dir eine Aufgabe.“

Groms rote Augen leuchteten. „Sag mir, was du von mir erwartest.“

Die Totenmaske auf Ner’zhuls Gesicht ließ sein Lächeln zu einer Grimasse werden. „Da gibt es etwas, das du für mich suchen sollst...“

4

„Kämpfer des Kriegshymnenklans – zum Angriff!“

Grom riss Blutschrei hoch und ließ das Sonnenlicht auf dem Axtblatt glitzern. Dann stürmte er vorwärts und schwang die Waffe in hohem Bogen. Sie sang förmlich, als die Klinge durch die Luft schnitt.

Seine Krieger kämpften tapfer und erzeugten dabei die Kampfgeräusche, nach denen der Klan benannt war. Viele begannen auch zu singen, wobei es weniger um die Worte als um den Rhythmus ging. Die pulsierenden Schläge brachten ihr Blut in Wallung und ließen gleichzeitig den Mut ihrer Feinde sinken.

Allerdings blieb die erhoffte Wirkung diesmal aus – denn dieser Gegner kannte keine Angst.

Der Erste kam in Reichweite und brüllte etwas Unverständliches. Blutschrei traf ihn am Hals und schnitt glatt durch das Fleisch, durchtrennte Knochen und Sehnen. Der Kopf fiel, den Mund noch zum Schrei geöffnet, der Schaum vor den Lippen rot vor Blut. Der grüne Körper brach zusammen, obwohl er den sinnlosen Versuch unternahm, noch im Sturz mit dem Hammer zuzuschlagen.

Blut spritzte wie ein warmer, roter Regen über Groms Gesicht. Er grinste und leckte es sich von den Lippen.

Ein Knochenmalmer weniger, um den man sich sorgen musste.

Um ihn herum metzelten die Kriegshymnenkrieger den Knochenmalmerklan nieder. Normalerweise waren die Knochenmalmer selbst wild genug, um ihre Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber Grom hatte seine Krieger vorbereitet. „Sie sind wie wilde Tiere“, hatte er sie gewarnt. „Sie sind stark und haben keine Angst vor Schmerz. Doch sie sind auch nicht sonderlich schlau, sie koordinieren ihre Angriffe nicht. Sie greifen einfach instinktiv an. Ihr seid die besseren Kämpfer. Konzentriert euch, achtet auf die Flanken, arbeitet mit euren Brüdern zusammen, und wir werden sie wie Grashalme ummähen.“ Seine Leute hatten gejubelt, und bislang schienen sie sich an seine Taktik zu halten. Aber er fragte sich, wie lange es noch dauern mochte, bis ihr eigener Blutrausch sie überwältigte und jeden klaren Gedanken beiseitefegte, so wie bei ihren Vettern vom Knochenmalmerklan.

Er spürte es selbst, das süße, heiße Gefühl, das seinen Puls beschleunigte und ihn mit Kraft erfüllte. Als Blutschrei einen angreifenden Gegner von der Schulter bis zur Hüfte spaltete, fühlte Grom, wie ihn Freude und Wut durchströmten. Sein Geist wurde berauscht, seine Sinne geschärft, und eine Woge der Kampflust erfasste ihn. Er wollte sich dem Blutrausch ergeben, dem Lied des Kampfes, sich der Wonne des Todes, der Zerstörung und des Sieges hingeben.

Aber das würde er nicht tun. Er war Grom Höllschrei, Häuptling des Kriegshymnenklans. Er hatte eine Verpflichtung. Und um sie zu erfüllen, brauchte er einen klaren Kopf.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Ein schwerer Orc hob einen seiner Krieger hoch und schleuderte ihn in eine Gruppe seiner Leute. Dann schnappte er sich einen der gefallenen Orcs, riss ihm einen Arm aus und benutzte diesen als bluttriefende Keule.

Darauf hatte Grom gewartet. Gedankenschnell lief er auf den Krieger zu. Dabei schlug er jeden Knochenmalmer um, der ihm im Weg stand, und stieß seine eigenen Krieger beiseite. Schließlich war er nur noch eine Körperlänge von dem verrückten Orc entfernt.

„Hurkan!“, brüllte er. Er ließ Blutschrei kreisen, um sich Platz zu schaffen. Nun war ihm die notwendige Aufmerksamkeit sicher, und sein Gebrüll war selbst über den Kampf lärm zu verstehen. „Hurkan Skullsplinter!“

„Grom!“, entgegnete der Häuptling des Knochenmalmerklans und hielt den abgerissenen Arm hoch. „Schau, ich habe einen deiner Orcs. Zumindest teilweise!“ Hurkan lachte brüllend, Geifer spritzte aus seinem Mund.

„Ruf deine Krieger zurück, Hurkan!“, verlangte Grom. „Ruf sie zurück, oder wir werden jeden Einzelnen töten!“

Hurkan hob den abgerissenen Arm als Antwort hoch, und um ihn herum verharrten viele seiner Krieger, um zu hören, was ihr Häuptling zu sagen hatte. „Glaubst du, wir fürchten den Tod?“, fragte Hurkan überraschend ruhig.

„Ich weiß, dass du das nicht tust“, antwortete Grom. „Nur, warum willst du euer Leben wegwerfen, während du gegen dein eigenes Volk kämpfst, wenn du stattdessen Menschen auf Azeroth töten könntest?“

Der Häuptling des Knochenmalmerklans neigte den Kopf. „Azeroth? Das Portal wurde zerstört, Höllschrei, oder hast du das vergessen?“ Er grinste, ein gemeiner Gesichtsausdruck entblößte seine zerbrochenen Zähne. „Allerdings bist du ja nie selbst auf dieser Welt gewesen.“

Groms Kopf hämmerte, und sein Blick färbte sich einen Moment lang rot. Er verspürte große Lust, Hurkan den Spott aus dem Gesicht zu prügeln, am liebsten mit Blutschreis Klinge. Aber er wusste, dass der Häuptling ihn nur provozieren wollte, und dieses Wissen half ihm, seine Wut zu kontrollieren.

„Das warst du auch nicht“, gab er zurück, wobei er sich beherrschen musste, um nicht loszubrüllen. „Doch jetzt bekommen wir alle unsere Chance. Ner’zhul sagt, dass er das Portal erneut öffnen kann. Die Horde wird auf jene Welt zurückkehren und sie diesmal erobern.“

Hurkan lachte. Ein krächzendes Geräusch, das tief begann und sich zu einem schrillen Ton steigerte. „Ner’zhul! Der vertrocknete alte Schamane. Er hat uns diesen ganzen Mist doch erst eingebrockt. Dann hat er sich aus dem Staub gemacht und versteckt. Und jetzt will er, dass wir wieder nach seiner Pfeife tanzen? Was hätten wir denn davon?“

„Die Möglichkeit, Menschen zu töten, viele Menschen“, antwortete Grom. „Die Möglichkeit, Ruhm und Ehre zu erlangen. Die Möglichkeit, neues Land zu erobern, das grün und fruchtbar ist.“ Er deutete um sich herum. Nagrand war immer noch grün und üppig, anders als der Rest von Draenor. Das lag vermutlich daran, dass die Knochenmalmer nicht viel mit den Hexenmeistern zu tun gehabt hatten. Dennoch wusste Grom, dass der Klan der Knochenmalmer, wie alle Orcs, verzweifelt nach neuen Feinden suchte, die er bekämpfen konnte.

„Was müssten wir dafür tun?“, fragte Hurkan. Er hielt immer noch den abgerissenen Arm von Groms Krieger in der Hand.

Grom furchte die Stirn. Vielleicht war das der geeignete Moment, um den Wahn, der den Verstand des Häuptlings der Knochenmalmer umnebelte, zu durchdringen. Grom hatte heule ein paar gute Krieger verloren. Aber wenn er es schaffte, Hurkan auf Linie zu bringen, ohne einen weiteren einbüßen zu müssen, war er zufrieden. Wenn es nach ihm ging, würde keiner seiner Leute mehr in Stücke gerissen werden.

„Zwei Dinge. Erstens: Unterwirf dich und deinen Klan Ner’zhuls Befehl“, antwortete Grom. „Befolge seine Befehle und kämpfe mit den anderen Klans statt gegen sie.“

Hurkan grunzte. „Gebt uns etwas, das wir bekämpfen können, und wir lassen den Rest von euch in Frieden“, versprach er.

„Ihr werdet mehr als genug Feinde bekommen“, versicherte ihm Grom. Er verlagerte den Griff um seine Axt. Er glaubte nicht, dass Hurkan der zweiten Forderung ebenso schnell nachgeben würde. „Es gibt noch etwas. Ner’zhul will das da...“ Und er zeigte darauf.

Hurkan sah verwirrt nach unten. Er furchte die Stirn, als er erkannte, dass Grom auf den Totenschädel um seinen Hals wies. Der Schädel eines Orcs, verwittert von Jahren der Beanspruchung. Tiefe Furchen verliefen darin.

Der Häuptling der Knochenmalmer schaute ihn finster an. „Nein. Den bekommt er nicht.“ Er legte eine Hand schützend auf das Schmuckstück. „Das ist nicht irgendein Schädel. Der stammt von Gul’dan!“

„Bist du dir da so sicher?“, fragte Grom und hoffte, damit Zweifel zu säen. „Ich habe gehört, dass er auf Azeroth gestorben ist.“

„Das stimmt“, sagte Hurkan. „Zerfetzt von Dämonen, sagt man, auf einer Insel, die er der See entrissen hat. Getötet von seiner eigenen Macht und seinem Stolz.“ Er lachte schallend. „Aber immerhin überlebte einer seiner Hexenmeister. Der entkam dem Tempel, den sie dort entdeckt hatten. Auf seinem Weg nach draußen fand er Gul’dans Überreste, in Fetzen gerissen, sagte er.“ Der Häuptling der Knochenmalmer zuckte mit den Achseln. „Selbst im Tod war noch Macht vorhanden, glaubte zumindest der Hexenmeister. Besonders im Kopf. Also nahm er ihn mit.“ Er lachte. „Scheinbar ist Gul’dan doch noch nach Draenor zurückgekehrt!“

„Wie bist du daran, gekommen?“, fragte Grom.

Wieder zuckte Hurkan mit den Achseln. „Ein Krieger tötete den Hexer und nahm ihm den Schädel ab. Ich habe den Krieger getötet und ihn an mich genommen. Oder vielleicht waren auch noch ein paar andere dazwischen. Was soll’s. Nachdem ich ihn gesehen hatte und erfuhr, wessen Schädel das ist, musste ich ihn haben. Und jetzt gehört er mir.“ Er grinste erneut. „Und ich werde ihn nicht abgeben, Nicht an Ner’zhul oder sonst jemanden.“

Grom nickte. „Ich verstehe.“

Sein Angriff erfolgte plötzlich und geschmeidig. Blutschrei schnitt schon durch die Luft, als er auf seinen Gegner zusprang.

Aber Hurkan war ein erfahrener Krieger, und diesmal war sein Geist klar. Er wich zur Seite aus, die Axt glitt an seiner Schulter vorbei, und er wirbelte herum. Seine gewaltige Faust erwischte Grom an der Wange, und Schmerzen durchfuhren ihn, doch er ignorierte sie.

Hurkan griff sich einen Knüppel von einem der getöteten Krieger und schlug damit nach Grom. Grom tänzelte beiseite, der Knüppel verpasste seine Brust knapp, und er schlug erneut zu. Blutschrei erwischte Hurkan am Oberarm. Die Axt schnitt lief ins Fleisch.

Grom war sich vage bewusst, dass ihn die versammelten Orcs beobachteten, um zu sehen, wer gewann. Er wusste, dass mehr als nur sein eigenes Leben von diesem Kampf abhing. Aber er hatte kaum mehr als eine Sekunde Zeit für solche Gedanken, wenn er gewinnen wollte.

Hurkan bewies, dass er ein würdiger Gegner war. Der Häuptling des Knochenmalmerklans war so groß wie Orgrim Schicksalshammer und fast so schnell. Und Hurkan war kein Dummkopf, sondern ein gerissener alter Krieger. Wer aufpasste, konnte in seinem Gegner lesen und dessen Aktionen vorausahnen. Das bewies Hurkan, als er sich unter einem weiteren Schlag hinwegduckte, hochkam und beide Hände gegen Groms Brust schlug, sodass dieser mehrere Schritte zurückstolperte.

Doch der Moment der Klarheit ging vorbei. Grom konnte bereits sehen, wie sein Gegner die Augen verdrehte und sich Schaum vor seinem Mund bildete. Hurkan atmete angestrengt, seine Schläge wurden heftiger, kamen dafür aber weniger präzise.

Grom wehrte die wilden Angriffe mit Leichtigkeit ab, obwohl seine Arme unter den Schlägen litten. Er fletschte die Zähne zu einem wilden Grinsen und spürte, wie der Blutrausch in ihm aufstieg. Grom lief Gefahr, ebenso davon übermannt zu werden wie Hurkan. Doch das ließ der Häuptling des Kriegshymnenklans nicht zu. Er war der Herr, nicht der Blutrausch. Es war an der Zeit, den Kampf zu beenden. Er duckte sich unter Hurkans letztem Schlag, atmete tief ein und rammte seinen Kopf in das Gesicht des Knochenmalmers. Dessen schwarz tätowierter Mund öffnete sich fast unmöglich weit, und ein wilder, markerschütternder Schrei dröhnte durch die Luft.

Hurkans Gebrüll war ein tiefer Gegenpart, als er seine großen Hände an die blutenden Ohren presste und vor Schmerz auf die Knie sank. Blut lief ihm aus Nase und Augen und tröpfelte aus dem offenen Mund. Groms legendärer Kriegsschrei verwandelte sich in ein triumphales Lachen, als er Blutschrei in einem eleganten Bogen führte und Hurkan den Kopf von den massigen Schultern schlug.

Der Torso bewegte sich noch, seine Arme schlugen um sich. Eine Sekunde lang blieb er stehen, als würde er mit anderen Sinnen lauschen, dann fiel er zu Boden. Dort blieb Hurkan liegen, zuckte aber noch leicht.

Grom schaute ihn an, dann trat er vor den Leichnam.

Glücklicherweise war der Schädel unbeschädigt. Grom sah ihn sich an, dachte an Gul’dan, dachte an Ner’zhul. Er erinnerte sich an alles, was während der letzten Jahre geschehen war. Dann zog er einen Stoffbeutel hervor, legte Gul’dans Schädel hinein und verstaute den gefährlichen Gegenstand sicher.

Teron Blutschatten hatte mit Grom vor dessen Abreise gesprochen. Der Todesritter hatte ihn davor gewarnt, den Schädel direkt zu berühren. Obwohl Grom den Todesritter – dieses widernatürliche Ding, das irgendwie von den Toten zurückgekehrt war und einen menschlichen Körper besetzte – nicht mochte und ihm misstraute, beachtete er die Warnung. Gul’dan war schon im Leben gefährlich gewesen, sodass sich Grom nicht vorstellen konnte, dass die Überreste des Zauberers auch im Tode noch Macht hatten.

Mit Blutschrei in der einen Hand und dem Beutel in der anderen straffte er sich und schaute über die versammelten Orcs. „Wer spricht jetzt für den Knochenmalmerklan?“, fragte er laut.

Bin großer, kraftvoll gebauter junger Orc trat ihm entgegen. Er trug einen aus Orc-Knochen gemachten Gürtel und einen Armschutz, der aus der Wirbelsäule eines Ogers gefertigt war. Ein schwerer, mit Dornen bestückter Knüppel lag auf seiner Schulter. „Ich bin Tagar Rückenbrecher“, verkündete er stolz, obwohl sein Blick unbehaglich auf Hurkans enthaupteter Leiche ruhte, bevor er sich Grom zuwandte. „Ich führe die Knochenmalmer jetzt an.“

Grom deutete mit dem Beutel auf ihn. „Ich habe mir den Schädel genommen. Jetzt frage ich dich, Tagar Rückenbrecher, willst du dich uns anschließen oder Hurkan?“

Der neue Häuptling zögerte. „Bevor ich antworte, habe ich eine Frage, Grom Höllschrei. Du willst, dass wir Ner’zhul folgen. Warum tust du das? Du hast selbst gesagt, dass er all den Ärger verursacht hat!“

Der brutal wirkende Krieger war also nicht so dumm, wie er aussah. Grom entschied, dass er eine Antwort verdient hatte. „Es stimmt. Ner’zhul ist für all den Ärger verantwortlich“, antwortete Grom, „weil er diesem Verräter die Kontrolle überlassen hat.“ Er gestikulierte mit dem Beutel. „Und weil er Gul’dan ungehindert agieren ließ. Aber davor war Ner’zhul weise und hat die Klans gut beraten. Und er hat die Horde gegründet, was eine gute Sache ist. Ich folge ihm jetzt, weil er geschworen hat, das Dunkle Portal erneut zu öffnen. Ich hätte schon beim ersten Mal dabei sein sollen, um Menschen auf Azeroth zu töten, aber Gul’dan hat das verhindert. Jetzt bekomme ich meine Chance.“ Er lachte. „Ner’zhul hat mir gesagt, dass Gul’dans Schädel benötigt wird, um das Portal zu öffnen. Es erfüllt mich mit Freude, dass ausgerechnet er, der mir den ersten Zugang verweigert hat, jetzt mein Schlüssel wird. Deshalb, Knochenmalmer, folge ich Ner’zhul. – Jetzt bist du dran. Komm zurück zur Horde. Oder...“ Er hob Blutschrei erneut und wirbelte so stark damit, dass die Waffe sang. Es war ein an- und abschwellendes Klagelied über Blut und Chaos. „... wir schlachten euch alle hier ab, bis zum letzten Säugling. Und zwar sofort.“

Er warf den Kopf zurück und brüllte. Hinter ihm begannen seine Krieger zu singen. Sie stampften mit den Beinen, schwangen ihre Waffen im Rhythmus, bis die ganze Ebene erbebte.

Grom leckte sich die Lippen und hob die Axt. Dann sah er in Tagars weit aufgerissene Augen. „Was ist nun?“, knurrte er. „Blutschrei will wieder geschwungen werden. Soll meine Klinge menschliches Blut kosten... oder das der Knochenmalmer?“

5

„Was?“ Turalyon, General der Allianzstreitkräfte und Paladin der Silbernen Hand, starrte höchst erstaunt auf die kleine Gestalt, die vor ihm saß.

„Eine Rattenplage!“, erklärte der Gnom.

„Als Ihr gesagt habt, Ihr hättet ein Problem mit der Natur, die den ganzen Untergrundbahnbau gefährden könnte“, sagte Turalyon langsam, „nahm ich an, dass Ihr Probleme mit einem unterirdischen See hättet – oder vielleicht Kreaturen...“ Turalyons Stimme wurde leiser. „Aber Ihr habt schon Ratte gesagt, oder?“

„Allerdings!“ Der Tüftler Gelbin Mekkadrill, Konstruktionschef des mechanischen Transportsystems zwischen Sturmwind und Eisenschmiede, schauderte. „Schrecklich, dieses Ungeziefer. Einige dieser Biester waren so groß!“

Mekkadrill hielt die Hände etwa fünfzehn Zentimeter weit auseinander. Wenn man seine kleinwüchsige Gestalt berücksichtigte, mochte das durchaus beachtlich sein. Aber hatte der Ingenieur wirklich wegen eines Problems mit Ratten eine Krisensitzung mit dem General der Allianz einberufen?

Turalyon war sich immer noch nicht sicher, was er von den kleinen Kerlen halten sollte, die gute Freunde der Zwerge waren.

Wenn Mekkadrill, der vor ein paar Jahren auf Empfehlung des Zwergenkönigs Magni Bronzebart nach Sturmwind gekommen war, ein typischer Vertreter seiner Art war, mussten sie ein neugieriges Völkchen sein. Mekkadrill redete schnell und benutzte dabei Begriffe, die Turalyon völlig fremd waren. Der Gnomenabgeordnete reichte Turalyon nicht einmal bis zur Hüfte und wurde von dem großen Stuhl, in dem er jetzt saß, fast verschluckt. Seine Augen ragten gerade so über den Tischrand, und als Mekkadrill kurzzeitig verärgert war, hüpfte er einfach auf den Tisch, um auf der Bauskizze, die er zwei Minuten nach seinem Eintreffen auf dem Tisch ausgebreitet hatte, etwas zu zeigen.

„Sie haben den Prototyp vollständig eingenommen und die Verkabelung durchgebissen, und zwar hier, hier und hier“, fuhr Mekkadrill fort und wies mit seinem kleinen Finger auf die Konstruktionszeichnung. „Wir kommen da nicht ran, und selbst wenn, können wir es nicht reparieren, ohne dass wir noch mehr Leute verlieren. Die letzte Mannschaft, die wir reingeschickt haben... nun, das war kein sehr schöner Anblick.“ Sein Blick wirkte ernst.

Turalyon nickte. Die Idee, eine Bahn zu bauen, war ihm brillant erschienen, als sie kurz nach dem Zweiten Krieg aufgekommen war. Der Wiederaufbau von Sturmwind kam nur langsam voran.

Es war eine lange und gefährliche Reise von Eisenschmiede nach Sturmwind, und König Bronzebart hatte sich über die Verspätungen beim Nachschub mächtig aufgeregt.

Wie immer fühlte sich Turalyon den technischen Planungen nicht gewachsen, wenn Mekkadrill mit Fortschrittsmeldungen oder Problemen zu ihm kam. Er war ein Paladin, ein Krieger durch Bestimmung und Priester aufgrund seiner Ausbildung. Er wusste kaum etwas über einfache Konstruktionen, und diese Bahn überforderte ihn deutlich. Besonders wenn Mekkadrill so schnell redete.

Turalyon hatte erkannt, dass Gnome ungeheuer intelligent waren, und er war gewillt, an den Nutzen zu glauben, wenn diese... neumodische Apparatur auch nur einen Teil von dem konnte, was Mekkadrill versprach.

Er erinnerte sich an ihr erstes Gespräch.

„Wie sicher ist das?“, hatte er gefragt.

„Nun... also, wir arbeiten im Grenzbereich der aktuellen Technologie, das müsst Ihr verstehen“, hatte Mekkadrill gesagt und sich durch den Backenbart gefahren. „Aber ich bin bereit, darauf zu wetten, dass es so sicher ist wie die sicherste gnomische Konstruktion!“

Etwas am Klang der Stimme erregte in Turalyon den Verdacht, dass das nicht viel zu besagen hatte. Doch er war kein Konstrukteur, und es war ja auch vorangegangen.

Bis zu diesem Rattenproblem.

„Ich verstehe, dass Ratten für Euch viel größer sind und deshalb für Eure Leute bedrohlicher als auf meine wirken“, sagte Turalyon so diplomatisch, wie er nur konnte. Obwohl er sich fragte, warum Bronzebart das Problem nicht von der Eisenschmiedeseite her gelöst hatte. „Und es geht natürlich nicht an, dass sie sich durch die Kabel fressen. Ich werde einige meiner Männer nach Eisenschmiede schicken. Sie... nun, werden die Ratten jagen und Euch bei den Reparaturen helfen.“

Turalyon hätte Altvater Winter sein können, so wie Mekkadrill reagierte. „Danke, danke! Das ist ausgezeichnet. Damit sind wir binnen Kürzestem wieder im Plan. Und dann können wir endlich dieses leidige Unterwasserproblem angehen.“ Der Gnom rutschte vom Stuhl und hielt Turalyon seine Hand entgegen, dann schüttelte er sie wild.

„Sprecht mit Aramil“, sagte Turalyon und verwies ihn an die ehemalige Wache der Burg, die jetzt als Turalyons Assistent in nichtmilitärischen Angelegenheiten agierte. „Er wird sich darum kümmern.“

Turalyon sah den Gnom gehen und wandte sich wieder dem Papierkram zu. Dutzende Briefe von so vielen Leuten, die alle etwas von ihm wollten. Er fuhr sich mit der Hand durch das kurzgeschorene, blonde Haar und seufzte. Ein Spaziergang würde ihm gut tun.

Die Luft war sauber und klar, als er nach draußen trat, obwohl die Wolken tief hingen. Er ging den Kanal entlang und schaute kurz auf sein Spiegelbild in dem jetzt sauberen Wasser. Turalyon war bis zu dem Tag vor zwei Jahren, als er und seine Männer in die Stadt gekommen waren, noch nie in Sturmwind gewesen. Und weil er die Stadt vorher nicht gekannt hatte, litt er auch nicht so ob ihres Zustands. Die berühmten Kanäle waren mit Steinen und Müll verstopft gewesen, mit Dreck... mit geschändeten Leichen.

Sie hatten die Toten respektvoll begraben, den Dreck entfernt. Jetzt konnten die Kanäle wieder ungehindert fließen und die verschiedenen Bereiche der Stadt verbinden. Turalyon richtete seinen Blick auf die roten Dächer und den weißen Stein, der im schwindenden Licht grau wirkte. Der Zwergenbereich beherbergte zahlreiche hart arbeitende Männer, die mit Mekkadrill gekommen waren. Sie lebten in der Nähe des Bereichs rund um die Kathedrale.

Es donnerte, als er dort eintraf. Er schaute auf das erhabene Gebäude, eines der ersten, das bereits völlig fertig gestellt war. Die Orcs hatten es schwer beschädigt, aber selbst da war die Kathedrale noch ein Hort der Sicherheit gewesen. Der Feind hatte nicht erkannt, dass darunter große Räume und Katakomben lagen. Dutzende Menschen hatten sich dort versteckt, geschützt von den Steinen, während über ihnen der Terror regierte.

Es war eines der wenigen Gebäude, das groß genug war, um die Flüchtlinge im Frühstadium des Wiederaufbaus unterzubringen. Und selbst jetzt kamen die Leute in Scharen, wenn sie krank waren, verletzt oder nur ein wenig Erleuchtung durch das Licht brauchten.

So wie Turalyon.

„Uff!“ Er stolperte. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er zwei Kinder nicht gesehen hatte, bis sie in ihn hineingerannt waren.

„Verzeihung!“, rief der Junge. Das Mädchen sah mit ernsten, braunen Augen zu ihm auf. Turalyon lächelte und strich ihr durchs Haar, während er mit dem Jungen redete. „Mit dieser Stärke wirst du eines Tages ein guter Soldat“, sagte er.

„O ja, das hoffe ich doch. Glaubt Ihr, dass alle Orcs tot sind, bevor ich alt genug bin, um sie töten zu können?“

Turalyons Lächeln verschwand. „Ich bin mir sicher, du wirst der Allianz gut dienen“, sagte er und umging die Frage. Dieses feurige Verlangen nach Kampf und die Wut, die es im Herzen hervorrief, hatten Turalyon jemanden gekostet, den er liebte. Er würde nichts tun, um Rassenhass in einem Kind zu fördern.

Mit der Hand auf dem Kopf des Mädchens murmelte er einen Segen. Licht erschien um ihren Kopf, und einen Moment lang leuchtete das Kind. Turalyon hob die andere Hand und segnete den Jungen ebenfalls. Ehrfurcht strahlte in beiden Augenpaaren, die ihn ansahen.

„Das Licht segne euch beide. Und jetzt geht ihr am besten nach Hause. Es sieht nach Regen aus.“

Der Junge nickte und nahm die Hand seiner Schwester. „Danke, Herr Paladin!“ Die beiden liefen heim. Es war nicht weit. Turalyon erkannte, dass sie im Haus neben der Kathedrale lebten. Dem Waisenhaus.

So viele Waisen. So viele Leben verloren.

Es donnerte erneut, und die ersten Regentropfen fielen. Dann goss es in Strömen. Turalyon seufzte, zog seinen Umhang um sich, lief die Stufen zur Kathedrale hinauf und wurde selbst auf diesem kurzen Stück nass bis auf die Knochen. Der Geruch von Weihrauch und der leise, fast unhörbare Gesang von irgendwo aus dem Gebäude beruhigten ihn sofort.

Er war daran gewöhnt, Befehle zu erteilen und Schlachten zu schlagen. Oftmals endeten sie damit, dass er von seinem eigenen Blut oder dem der Orcs bedeckt war. Es tat gut, zurück zur Kirche zu kommen und sich seiner Wurzeln als einfacher Priester zu erinnern.

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er seine Brüder sah, die Ritter der Silbernen Hand, die hier ihren Dienst genauso wie auf dem Schlachtfeld versahen. Erzbischof Alonsus Faol hatte den Orden vor drei Jahren gegründet. Und auf seinen Befehl hin dienten die Paladine nun der Allgemeinheit, die vom Krieg gebeutelt worden war.

Als er sich umsah, erblickte Turalyon seinen alten Freund Uther, dem er den Titel „Lichtbringer“ verliehen hatte. Turalyon war daran gewöhnt, den kräftig gebauten Mann in voller Rüstung zu sehen. Dessen ozeanblaue Augen leuchteten vor Begeisterung, wenn das Licht zu ihm in Form mächtiger Attacken kam. Jetzt trug Uther normale Kleidung. Er hörte einer Frau zu, die erschöpft und ausgezehrt wirkte. Er tupfte ihr sanft mit einem feuchtem Tuch die Stirn und hielt etwas in der Hand.

Als Turalyon näher kam, erkannte er, dass das Bündel, das Uther so vorsichtig trug, ein Neugeborenes war, die Haut immer noch rot von der Geburt. Die Mutter lächelte müde, aber glücklich und griff nach ihrem Kind. Sein gesundes Weinen war der süße Gesang der Hoffnung.

Uther legte eine Hand auf die Frau und segnete sie und ihr Kind, so wie Turalyon es vorhin bei den Waisen gemacht hatte. Turalyon bemerkte, dass, obwohl Uther eigentlich auf dem Schlachtfeld zu Hause war und das Licht zum Kämpfen nutzte, er hier in der Kathedrale gleichermaßen seinen Platz gefunden hatte.

Das entsprach der Gegensätzlichkeit der Paladine. Sie waren Krieger und Heiler. Uther schaute auf und lächelte. Dann erhob er sich, um seinen Freund zu begrüßen.

„Turalyon“, sagte er mit seiner tiefen, rauen Stimme. Die beiden Paladine schüttelten sich die Hände. „Schön, dich zu sehen. Wurde aber auch Zeit, dass du mal herkommst.“ Uther knuffte den jüngeren Mann spielerisch.

„Du hast recht“, stimmte Turalyon zu und lachte. „Es tut gut, hier zu sein. Man verliert sich viel zu leicht im Tagesgeschäft, und einiges bleibt unerledigt liegen. Wie zum Beispiel dieses Rattenproblem.“

„Wie bitte?“

„Das erzähle ich dir später. Aber zuerst mal, wie kann ich helfen?“ Das zählte jetzt, überlegte er. Er wollte sich nicht hinter dem Papierkram verschanzen.

Uthers Augen verengten sich leicht, als er über Turalyons Schulter blickte. „Ich glaube, etwas von den unerledigten Dingen eilt gerade herbei“, sagte er.

„Oh?“ erwiderte Turalyon und drehte sich um.

Es war, als hätte er einen Geist gesehen, als hätte man einen Moment aus dem Raum-Zeit-Gefüge herausgerissen und an falscher Stelle wieder eingefügt.

Sie stand vor ihm. Gesicht, Haar und Kleidung nass, die smaragdfarbenen Augen auf seine gerichtet. Sie war in den Regen geraten, beinahe genauso wie in jener Nacht vor zwei Jahren. Sie kam jetzt zu ihm wie damals...

Alleria Windläufers Augen zogen sich zusammen, als würde auch sie sich an die Nacht erinnern und die Vorstellung als unangenehm empfinden. Turalyon spürte einen Schauder seinen Rücken hinablaufen, der nicht auf seine nasse Kleidung zurückzuführen war.

Sie verneigte sich steif, zuerst vor Uther, dann vor ihm. „Lichtbringer, General.“

Ah. So sollte es also laufen. Er erwiderte: „Waldläuferin.“

Er war überrascht, wie ruhig seine Stimme klang. Er hatte fast erwartet, dass er vor Aufregung kein Wort herausbringen würde. „Was führt dich zu uns?“

„Neuigkeiten“, sagte sie, „und zwar der schlimmsten Sorte.“ Ihre Augen wanderten zu Turalyon, dann zurück zu Uther. „Ansonsten wäre ich sicherlich nicht gekommen.“

Turalyon spürte einen Muskel an der Wange zucken und biss die Zähne zusammen. „Dann schieß schon los.“

Die Elfe sah sich leicht verächtlich um. „Ich frage mich, ob ich nicht am falschen Ort bin, um Hilfe zu suchen. Ich hätte nicht erwartet, dass sich Generäle, Ritter und heilige Krieger um Babys in einer Kirche kümmern.“

Turalyon freute sich über die Wut, die seine trüben Erinnerungen verscheuchte. „Wir dienen, wo wir gebraucht werden, Alleria. Wir alle. Ich bin mir aber sicher, du bist nicht den langen Weg gekommen, um uns zu beleidigen. Sprich.“

Alleria seufzte. „Vor kurzer Zeit habe ich mich mit Khadgar und den Herrschern der Allianz getroffen, einschließlich deines eigenen Königs. Es scheint, dass es einen Dimensionsspalt gibt, wo einst das Dunkle Portal stand. Khadgar glaubt, dass schon sehr bald Orcs, vielleicht sogar die ganze Horde, dort durchkommen könnten. Er hat mich auf einem Greif hierher geschickt, um dich darüber zu informieren.“

Jetzt hatte sie die Aufmerksamkeit der beiden Männer. Sie hörten schweigend zu, als die Elfe wiederholte, was sie erfahren hatte. Nicht zum ersten Mal seit dem Tod des Löwen von Azeroth wünschte sich Turalyon, dass Anduin Lothar hier wäre. Das wünschte er sich meist dann, wenn er sich einer schwierigen Entscheidung oder einer bevorstehenden Schlacht gegenübersah, oder wenn er einfach mit jemandem reden musste. Lothar hätte auf der Stelle geantwortet, ruhig, aber entschieden, und alle anderen wären ihm gefolgt.

Dass die Veteranen des Krieges sich als die Söhne Lothars bezeichneten, gefiel Turalyon nicht. Er fühlte sich nicht als ein Sohn des großen Mannes, obwohl er Lothars Ideale bis zum letzten Atemzug verteidigen würde. Er dachte immer noch darüber nach, als Alleria fertig war und ihn erwartungsvoll ansah.

„Nun?“, fragte sie herausfordernd.

„Was sagen denn die Wildhammerzwerge dazu? Was meint Kurdran?“

„Ich bezweifle, dass er davon weiß“, gab Alleria zu. Die blonde Waldläuferin hatte zumindest den Anstand, bei dieser Bemerkung verlegen zu wirken.

„Was? Du bist auf einem Greif hierher geflogen, um mich zu informieren, und niemand hat dem Anführer der Wildhammerzwerge gesagt, was los ist?“

Sie zuckte erneut die Achseln, und Turalyon hielt einen Fluch zurück. Während des Zweiten Krieges hatte die Allianz, bestehend aus Elfen, Menschen und Zwergen, gemeinsam gekämpft. Letztere stammten sowohl vom Wildhammerstamm als auch aus Bronzebarts Volk. Aber in den vergangenen Jahren schienen sich die Herrscher der Menschen von ihnen distanziert zu haben. Die Elfen nahmen immer noch an der Verteidigung von Nethergarde teil. Aber das beruhte eher auf ihrer Faszination an allem Magischen als auf dem Willen, den Menschen zu helfen.

Die Bronzebartzwerge hatten einen Botschafter, Muradin Bronzebart, in Lordaeron, und deshalb existierten enge Bindungen zu König Terenas. Und es gab den fröhlichen, kleinen Mekkadrill und seine Helfer in Sturmwind.

Turalyon fühlte sich beschämt angesichts seines Amüsements über die Opfer der Gnome, weil Mekkadrill und seine Leute einen unbezahlbaren Dienst an Fremden leisteten. Aber trotz all der Tapferkeit und Loyalität der Wildhammerzwerge waren die Greifenreiter für die meisten Menschen immer noch Wilde.

„Willst du darauf warten, dass die Zwerge dir Anweisungen erteilen? Oder vielleicht der Geist Lothars?“

Turalyon furchte die Stirn. Allerias Wangen wurden rot, und sie schaute zu Boden, als sie merkte, dass sie zu weit gegangen war.

„Die Wildhammerzwerge sind treue Verbündete“, sagte Turalyon mit leiser, aber fester Stimme. „Sie gehören zur Allianz, wie alle anderen auch. Ich werde mich darum kümmern, dass sie so schnell wie möglich informiert werden.“

„Wir müssen sofort los“, sagte Alleria. „Der Greif bringt dich nach Lordaeron. Ich folge auf anderem Weg.“

Sie würde sich also nicht dazu herablassen, mit ihm zu reiten. Turalyon antwortete nicht sofort. Er schaute zu Uther, der sich zurückhielt. Sie sahen sich kurz an. Der größere Mann nickte und wandte sich der jungen Mutter und ihrem Kind zu.

„Du bringst die Mitglieder deines Ordens mit, ja?“, sagte Alleria fast beiläufig, als würde sie die Antwort bereits kennen. Als Turalyon den Kopf schüttelte, stand ihr Mund offen. „Was? Warum nicht?“

„Der Erzbischof will, dass sie hier und in Lordaeron bleiben. Damit sie sich um die Menschen kümmern, die sie brauchen.“

„Du hast nicht einmal gefragt.“

„Das weiß ich auch so. Keine Angst. Wenn sie gebraucht werden, kommen sie. Komm, lass uns ein wenig reden.“

„Wir sollten...“

„Fünf Minuten mehr oder weniger werden nichts ändern.“ Sie furchte die Stirn. Er erkannte, dass sie zitterte. Ein Regentropfen lief aus ihrem nassen Haar über ihr Gesicht. Er wirkte wie eine Träne, war aber bei Weitem nicht so weich. In dem Moment wollte er sie unbedingt in die Arme schließen. Diese Kälte, diese bittere Bosheit, die ihre Worte vergiftete und ihr schönes Gesicht vor Hass verzerrte... Er wusste, woher das kam. Und er wusste, warum sie den Hass mit sich herumschleppte.

Dieses Wissen war wie ein Dolch in seinem Herzen.

„Ich habe dir geschrieben. Aber du hast nie geantwortet“, sagte er leise.

Sie zuckte die Achseln, zog den Umhang enger um ihren schlanken Körper. Offensichtlich brauchte sie trockene Kleidung. „Ich war unterwegs. Unser letzter Auftrag lautete, in den Bergen von Alterac zu patrouillieren“, sagte Alleria. „Es gab Gerüchte, dass sich dort Orcs verborgen halten.“ Sie lachte grimmig. „Wir haben zehn aufgespürt.“

Turalyon musste nicht fragen, was sie und ihre Waldläufer mit den entdeckten Orcs gemacht hatten. Er überlegte, ob sie begonnen hatten, Trophäen zu sammeln. Einst hatte er gesehen, wie sie sich über einen toten Orc gebeugt hatte, ein wildes Lächeln auf dem Gesicht. Er war schockiert von ihrer Freude gewesen.

„Alleria“, sagte er leise. „Ich habe dir geschrieben, doch du hast nie geantwortet. Du schuldest mir nichts, das weiß ich. Aber wenn... das, was zwischen uns geschehen ist, bedeutet, dass du nicht länger mit mir zusammenarbeiten kannst, dann muss ich das wissen. Ich bin dein Kommandeur. Ich... die Allianz... wir können es uns nicht leisten, dass du auf dem Schlachtfeld nicht zuhörst oder nicht gehorchst.“ Er wartete, bis sie ihn ansah. „Hast du ein Problem damit?“

„Es gibt kein Problem“, antwortete die blonde Elfe scharf. „Die Allianz will jeden Orc töten. Und das will ich auch. Wir können also zusammenarbeiten.“

„Das ist alles, was wir für dich sind... ein Mittel zum Zweck. Eine Methode, um schneller mehr Orcs zu töten.“

„Was gibt es denn noch?“, fragte sie. „Khadgar hat mich nur gefunden, weil meine Leute und ich Orcs in Alterac gejagt haben. Ich stimmte dem Treffen mit ihm in Nethergarde zu, weil sein Bote meinte, dass es um die Orcs geht. Und ich habe dir diese Nachricht aus demselben Grund überbracht.“ Sie furchte die Stirn. „Und je eher wir in Lordaeron ankommen, desto eher kann ich mehr von diesen grünen Missgeburten aufspüren und das Land von ihrer Plage befreien!“ Ihre Stimme hob sich vor Begeisterung, und ihre Augen blitzten. Ein paar Leute schauten sich nach ihr um. „Ich will sie töten, jeden Einzelnen von ihnen. Und wenn es hundert Jahre dauert.“

Turalyon lief ein Schauer über den Rücken. „Alleria“, begann er und hielt seine Stimme gesenkt. „Du redest von Völkermord.“

Das Lächeln auf ihrem Mund wurde grausam. „Es ist nur Völkermord, wenn es sich um vernunftbegabte Wesen handelt. Wir aber vernichten Ungeziefer.“

Er erkannte schockiert, dass sie das völlig ernst meinte. Für sie waren die Orcs keine fühlenden Wesen. Sie betrachtete sie als Missgeburten, Monster... Ratten. Turalyon wusste, dass auch er etliche Orcs getötet hatte. Sogar mit großer Wut im Herzen angesichts dessen, was sie seinem Volk angetan hatten. Aber das hier... Alleria wollte keine Gerechtigkeit. Sie wollte die Orcs nicht für ihre Verbrechen bezahlen lassen, sie wollte ihnen wehtun. Eine ganze Rasse auslöschen, wenn sie das konnte.

Er trat auf sie zu, reichte ihr seine Hand und hoffte, dass sie sie ergriff. „Du hast so viel verloren. Das weiß ich.“

Alleria schlug seine Hand weg. „Ha! Ein Mensch spricht von Verlust? Was weißt du schon davon? Eure Leben sind so kurz, dass ihr niemals erfahrt, was es heißt, jemanden wirklich zu lieben!“

Turalyon spürte, wie er bleich wurde. Einen Moment lang konnte er nicht antworten. Sie sah ihn an, atmete schnell und provozierte eine Antwort.

„Nur weil ihr länger lebt, bedeutet das nicht, dass ihr auch mehr fühlt“, sagte er. „Vertrau mir.“ Er warf ihr einen flehenden Blick zu. Ihr Gesicht versteinerte nur noch mehr.

„Also bist du besser als ich, weil du so kurz lebst?“ Sie sah ihn herausfordernd an und schnipste mit dem Finger. „Oder bist du besser, weil du deinem heiß geliebten Licht dienst?“

„Alleria, ich will, dass die Gerechtigkeit siegt. Das weißt du. Aber du willst keine Gerechtigkeit, du willst Rache. Und ich sehe, was dir das antut. Das Licht gehört nicht mir. Es gehört allen. Es geht ums Heilen. Es...“

„Wage es nicht, mich zu belehren!“, warnte sie ihn. Ihre Stimme war ein eiskaltes Zischen. „Dein Heiliges Licht hielt die Orcs nicht davon ab, einen Weg in diese Welt zu finden, oder? Das Licht kann mein verwüstetes Heimatland nicht wiederherstellen oder mir meine...“ Sie schloss den Mund.

Turalyon starrte sie einen Moment lang an, dann seufzte er tief. „Waldläuferin“, sagte er förmlich. „Dies sind meine Befehle: Im Moment bleibt Ihr hier in Sturmwind, mit der Hälfte meiner Streitmacht und mit mir. Schickt nach Euren Leuten, dass sie sich hier sammeln. Die Stadt kommt gerade erst auf die Beine, ich werde sie nicht ungeschützt lassen.“

Ihre Zähne knirschten. „Also sitzen wir den Krieg hier wie Feiglinge aus?“

Turalyon ging nicht darauf ein. „Ich fordere Unterstützung an, und wenn die eintrifft, reiten wir los. Aber bis dahin bleiben wir hier.“

Sie nickte. „Du schützt eine Stadt, wenn es deine eigene ist. Das verstehe ich jetzt. Habe ich die Erlaubnis zu gehen, um meine Waldläufer zu sammeln, Euer Gnaden!“

Allerias Worte waren dazu gedacht zu verletzen, und das taten sie auch. Aber Turalyon war besorgter über das, was mit Alleria geschehen war oder, besser gesagt, was sie sich selbst antat. Sie hatte sich stark verändert. Traurig erinnerte er sich, wie sie einst aufeinander reagiert hatten. Er stammelnd, erschlagen von ihrer Anmut und Schönheit und später von ihren vollendeten Fähigkeiten. Und sie, amüsiert, fasziniert und leicht hochmütig. Er hatte etwas von seiner Scheu verloren, nicht alles, das würde er niemals, aber etwas, und sie hatte mehr Respekt vor ihm bekommen. So hatte sie ihn lieben gelernt. Sie suchte seine Gesellschaft. Sie wollte ihn an ihrer Seite im Kampf haben. Und, so hatte er einst geglaubt, wollte ihn auch auf eine intimere Art.

Aber von dieser Frau schien nur noch wenig übrig zu sein. Heute konnte er sich nur noch um sie sorgen und sich fragen, ob ihr Hass auf die Orcs ihre Urteilsfähigkeit beeinflusste. Beim Licht... wenn sie wegen ihrer Rücksichts-losigkeit starb...

Turalyon sah sie gehen und fragte sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Was hätte Lothar getan? Hätte er auf das Eintreffen der Verstärkung gewartet, oder hätte er sich in die Schlacht gestürzt? Verschwendete er seine Zeit, oder handelte er klug? Reichte es, seinen Stellvertreter Danath Trollbann und die Hälfte seiner Männer jetzt nach Nethergarde zu entsenden?

Er schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen. Er konnte sich solche Zweifel jetzt nicht erlauben, und seine Entscheidung schien die richtige zu sein. Er musste ein paar Boten ausschicken. Einen zu den Wildhammerzwergen, um sie über die Lage zu informieren. Den anderen nach Lordaeron.

Und einen, dachte er mit einem leichten Lächeln, zu Mekkadrill, um ihn wissen zu lassen, dass die Männer, die als Rattenfänger beim Bahnbau gedacht waren, nun leider doch nicht kommen würden.

Alleria kehrte nicht zur Burg zurück, wie sie es gesagt hatte. Stattdessen begann sie, nachdem sie die Kathedrale verlassen hatte, leichtfüßig zu laufen. Sie bewegte sich fast lautlos, als sie entlang der Straßen auf die großen Tore der Stadt zurannte. Dabei ignorierte die Elfe aufgeschreckte Blicke und versuchte, durch das dumme Glotzen nicht noch ärgerlicher zu werden.

Schließlich eilte sie durch die Tore in den Wald dahinter. Alleria lief, bis sie einen kleinen Fluss erreichte, und dort, unter den Ästen der schützenden Bäume, sank sie auf den durchgeweichten Boden.

Ihr war kalt, sie war durchnässt. Aber sie ignorierte die Unannehmlichkeiten.

Es war noch schlechter gelaufen, als sie befürchtet hatte. Wie konnte es sein, dass ein einfacher Mensch sie derart aufzuwühlen vermochte? Er war verglichen mit ihr noch ein Kind, ein rüdes, lautes Kind, das...

Als sie die Worte dachte, wusste sie, dass sie nicht stimmten. Turalyon war erschreckend jung, verglichen mit ihr. Aber er galt etwas unter den Seinen, und er war freundlich, weise und klug.

Und einst, es schien ihr unendlich lange her zu sein, hatte sie geglaubt, ihn zu lieben.

Alleria knurrte und legte die geballte Faust auf ihr Herz als Ermahnung an sich selbst, nicht weich zu werden. Ihre Finger berührten die silberne Halskette, die drei wertvolle Steine enthielt. Sie hatte die Kette von ihren Eltern erhalten, es war eine Verbindung zu einer Welt, die vergangen war. Eine Welt voller Anmut, Schönheit und einem perfekten Gleichgewicht. Eine Welt, die die Orcs für immer zerstört hatten.

Die Bäume waren nicht dieselben wie im Immersangwald. Diese schönen, goldbelaubten Patriarchen, auf deren Ästen sie, ihre Schwestern und...

Sie kniff die Augen zu und flüsterte einen Namen: „Lirath.“

Ihr jüngster Bruder. Sie erinnerte sich an ihn, wie er beim letzten Treffen ausgesehen hatte. Schön, lachend unter den goldenen Blättern tanzend, während ein Spielmann ein lustiges Lied gepfiffen hatte. Jung, so jung. Er wollte ein Waldläufer werden wie seine Schwestern. In jenem Moment hatte sie ihn für immer in ihren Gedanken aufgenommen. Alleria sah, wie er sich des Lebens erfreute.

Die Orcs hatten ihn abgeschlachtet, löschten sein Leben aus wie eine Flamme, brutal zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetscht.

Sie hatten so viele getötet, zu viele Verwandte, Vettern, Tanten, Onkel, Nichten... hatten Freunde getötet, die sie länger kannte, als Turalyon lebte...

Und dafür würden sie bezahlen. Ihre Hand umfasste die Kette fester. Sie würden leiden, so wie der freundliche junge Lirath. So wie ihr Volk, ihre Stadt und ihr Land. Sie würden die tausendfachen Schmerzen erleiden, die sie ihnen angetan hatten. Es würde süß sein... süß wie Blut, das sie einst nach einem Kampf neugierig von ihrer Hand geleckt hatte. Turalyon hätte sie beinahe dabei erwischt. Jetzt, sagte sie sich selbst, durfte er davon nichts wissen.

Er durfte sie nicht aufhalten.

Er durfte ihr Herz nicht erweichen, so wie es beinahe geschehen wäre.

Alleria Windläufer würde ihre Rache bekommen – um welchen Preis auch immer.

Draußen fiel Regen, aber die Ställe waren trocken, auch wenn sie dampften. Der Geruch nach Pferden und Leder erfüllte die feuchte Luft. Die Tiere wieherten und scharrten auf dem heubedeckten Kopfsteinpflaster unter ihren Hufen, als die Reiter die Sättel auflegten. Es waren ausgebildete Kriegsrösser, und sie waren seit einiger Zeit nicht mehr in der Schlacht gewesen. Sie schienen ebenso bestrebt zu sein aufzubrechen wie Danath Trollbann.

Danaths Männer waren weniger erfahren.

Sein eigenes Pferd war schnell gesattelt und bereit gemacht worden, und jetzt bewegte er sich unter den Soldaten. „Beeilt euch!“ Er starrte einen der Männer, der Probleme mit den Steigbügeln hatte, finster an. „Das wird kein Vergnügungs-ausritt.“

Turalyon hatte ihm die Wahl unter der Hälfte der Streitkräfte in Sturmwind gelassen. Er hatte Kavallerieeinheiten gewählt, von denen er wusste, dass sie die Strecke schnell überwinden würden und sich auch rasch in Formation begeben konnten. Sie mussten schnell sein, allerdings auch darauf achten, die Pferde nicht zu sehr zu ermüden. Er vermutete, dass sie nicht den Luxus hatten, sich zu erholen, um sich zu reorganisieren und neu zu gruppieren. Aber die meisten Männer, mit denen er bereits zusammen gekämpft hatte, waren verteilt über die Territorien der Menschen, und er hatte keine Zeit, alle Veteranen zusammenzurufen.

„Wir wollen doch die Schlacht nicht verpassen“, sagte ein Soldat grinsend und nahm die Zügel seines Reittiers. Er war kaum mehr als ein Junge, zu jung, um im Zweiten Krieg gekämpft zu haben. Einer von vielen, die sich erst nach Ende des Krieges der Armee angeschlossen hatten, um die Reihen zu schließen, die beim Kampf so stark gelichtet worden waren.

Danath schüttelte seinen Glatzkopf und fuhr sich mit der Hand durch den silbernen Bart. Dabei versuchte er sich an den Namen des Jünglings zu erinnern. Farol, ja, so hieß er.

„Du hast bislang noch keinen Orcs gegenübergestanden, oder, Farol?“, polterte er.

„Nein!“, antwortete Farol breit grinsend, wodurch noch deutlicher wurde, wie unreifer tatsächlich war. „Aber ich bin schon gespannt darauf.“

„Ich nicht“, antwortete Danath.

Der Soldat atmete hörbar ein und schaute ihn an.

„Ihr nicht?“, fragte der Jüngling, und seine Stimme schwankte ein wenig, als er den grimmigen Gesichtsausdruck des Kommandeurs sah. „Aber warum nicht? Wir werden sie niedermachen, nicht wahr? Ich habe gehört, dass es gar nicht mehr so viele Orcs gibt. Und dass sie sich in den Wäldern und Bergen wie wilde Tiere verstecken!“

„Das sind diejenigen, die zurückgeblieben sind, seit das Dunkle Portal zerstört wurde“, stimmte ihm Danath zu. „Doch mit denen haben wir es nicht zu tun. Man glaubt, dass das Dunkle Portal sich erneut öffnet. Weißt du, was das bedeutet?“

Der Soldat schluckte, und Danath erhob die Stimme, um sicherzustellen, dass ihn auch die anderen Soldaten verstehen konnten, die um ihn herum ihre Pferde sattelten. „Das bedeutet, dass wir keiner zerlumpten Gruppe von überlebenden Orcs gegenüberstehen, Junge. Wir treten gegen die Horde an, die größte Streitmacht, die es je gegeben hat. Und sie wurde niemals wirklich besiegt.“

„Aber wir haben doch den Krieg gewonnen, Herr Kommandeur!“, protestierte einer der anderen Männer, Vann, wie Danath sich erinnerte. „Wir haben sie geschlagen!“

„Das stimmt“, gestand Danath ein. „Aber nur, weil ein Teil ihrer Streitkräfte sich gegen sie selbst gewandt hatte und wir sie auf See besiegen konnten. Am Schwarzfels bekämpften wir nur einen Teil der wahren Horde, und selbst das war eine knappe Sache.“ Er schüttelte den Kopf. „Nach allem, was wir wissen, könnte es mehr als ein Dutzend weiterer Klans auf ihrer Heimatwelt geben, die nur darauf warten durchzubrechen.“ Er hörte das Murmeln und Raunen, das durch seine Männer ging.

„Es stimmt, Kameraden“, verkündete er laut. „Es könnte sein, dass wir in unseren Tod reiten.“

„Herr Kommandant? Warum sagen Sie uns das?“, fragte Farol leise.

„Weil ich euch nicht belügen will“, antwortete er. „Ihr habt ein Recht zu wissen, was euch erwartet. Und ich möchte nicht, dass ihr glaubt, es würde leicht. Erwartet harte Kämpfe und bleibt vorbereitet“, sagte er mehr als Ratschlag denn als Befehl. „Erwartet Probleme, und ihr werdet überleben.“ Plötzlich grinste er. „Und dann könnt ihr euch Söhne Lothars nennen.“

Die Männer um ihn herum nickten ernüchtert. Es waren gute Männer, wenn auch nicht so erfahren, wie er sich das gewünscht hätte. Er bedauerte jetzt schon die Toten, die es sicherlich geben würde, wenn sich das Portal tatsächlich öffnete. Aber sie waren darauf eingeschworen, die Allianz zu verteidigen, selbst wenn es ihr Leben kostete.

Er hoffte nur, dass sie nicht umsonst starben. Auch wenn wertvolle Zeit verrann, sah sich Danath die Männer eine Weile an, um sich die Gesichter und Namen einzuprägen. Er hatte keine eigenen Kinder, aber solange sie unter seinem Kommando standen, war er der Vater dieser Burschen.

Auch wenn sie alle Söhne von Lothar waren.

Der Gedanke ließ ihn schmunzeln. „Aufsitzen!“

Zwei Minuten später galoppierten sie über das Kopfsteinpflaster von Sturmwind aus den Haupttoren hinaus.

„Warte mal, hast du das gehört?“

Randal lachte. „Du wirst schreckhaft, William“, sagte sein Freund. „Das ist nur der Wind.“ Er sah sich um, spähte über die verödete Landschaft und erschauerte. „Nichts, was uns beunruhigen sollte.“

William nickte, schien sich aber immer noch unwohl zu fühlen. „Vielleicht hast du recht“, stimmte er zu und rieb sich mit der behandschuhten Hand über das Gesicht. „Ich hasse diesen Job. Warum müssen wir dieses Ding überhaupt bewachen? Sollten sich darum nicht die Magier kümmern?“

Beide Soldaten sahen sich um. Wenn sie die Augen zusammenkniffen, konnten sie ein Leuchten in der Luft erkennen, genau über den Überresten des Tors. Die Verzerrung war schmal, vielleicht so breit wie ein Mensch, aber doppelt so hoch. Man hatte ihnen gesagt, dass der Spalt alles war, was vom Dunklen Portal noch existierte. Und dass es ihre Aufgabe war, es zu bewachen.

„Keine Ahnung“, antwortete Randal. „Du meinst, dass die Magier eher erkennen, ob sich etwas zusammenbraut?“ Er zuckte mit den Achseln. „Zumindest ist es leichte Arbeit. Und unsere Schicht ist in einer Stunde vorbei.“

William wollte etwas sagen, doch dann brach er ab, und seine Augen weiteten sich. „Da!“, flüsterte er. „Hast du das gehört?“

„Was gehö...“

William unterbrach ihn aufgeregt. Einen Augenblick lang verharrten sie völlig regungslos und lauschten angestrengt.

Es klang wie ein tiefes Klagen, dann folgte ein schrilles Pfeifen, als würde der Wind über eine weite Ebene brausen, bevor er durch das Tal gebrochen wurde.

Randais Augen wanderten zum Spalt zurück. Er schnappte nach Luft und ließ beinahe Schild und Speer fallen.

Der Spalt hatte sich geweitet!

„Schlag Alarm!“, forderte er William hektisch auf. Aber sein Freund war vor Angst wie erstarrt. Seine Augen hingen an dem Bild, das sich ihnen bot. „William, schlag Alarm!“

Als William endlich gehorchte, glühte der Spalt erneut, doch diesmal heller. Farben flossen entlang der sich erweiternden Kanten. Er schien sich auszudehnen, wie ein Mund, der Nahrung aufnahm, und Schatten umgaben ihn. Sie verbreiteten sich schnell.

Randal blinzelte und konnte den Spalt schon nicht mehr erkennen. Selbst William war verschwunden, obwohl er hören konnte, wie sein Freund das Horn blies und so die anderen Wachen alarmierte.

Randal versuchte, etwas in der Finsternis auszumachen. Speer und Schild hielt er bereit. War da nicht etwas? Oder dort? Er lauschte angestrengt.

War da ein Geräusch? Ein Aufschlagen, als wäre etwas gerollt oder fallen gelassen worden. War es da nicht schon wieder?

Ja, er war sich sicher, dass er etwas gehört hatte. Er wandte sich in die Richtung, aus der er das Geräusch zu hören meinte, hob seinen Speer leicht an und instinktiv auch den Schild...

... und schrie auf, als ihn etwas Schweres wie einen Halm unter sich begrub. Der Aufprall erschütterte seinen Arm.

Den Schmerz ignorierend, stieß Randal den Speer vor, aber etwas packte die Waffe an ihrem langen Schaft und drehte sie ihm aus der Hand. Ein Gesicht erschien aus der Finsternis, direkt vor seinem eigenen... ein breites, riesiges Gesicht mit einer markanten Stirn, platter Nase und zwei scharfen Hauern, die aus dem Unterkiefer ragten.

Eine furchterregende Grimasse grinste Randal an, und er sah, dass noch etwas anderes aus den Schatten auf ihn zukam, etwas Breites, Flaches...

Die anderen Wachen sammelten sich, von Williams Horn alarmiert. Aber es war bereits zu spät. Die Finsternis erfüllte das Tal, und während die Menschen verwirrt wurden, strömten Orc-Krieger und Todesritter aus dem sich neu erweiternden Spalt und zermalmten alles, was ihnen im Weg stand. Es glich mehr einem Abschlachten als einem echten Kampf. Binnen Minuten war jeder menschliche Verteidiger tot oder gerade dabei zu sterben.

Danach kontrollierten die Orcs das Dunkle Portal auch auf der Seite von Azeroth.

6

Geflüster.

Leises, kaum zu hörendes Getuschel, es sei denn, man achtete darauf. Der Schlag eines Flügels, der Klang eines Blattes, das zu Boden fällt... all das war lauter als das Flüstern, das Ner’zhul vernahm.

Aber er hörte es.

Er hielt den Schädel in der Hand, schaute tief in die leeren Augenhöhlen und lauschte Gul’dans Stimme. Sie klang so wie zu Lebzeiten – schleimig, um Zustimmung heischend, eifrig Fragen beantwortend und Lösungen anbietend – und verbarg dennoch kaum seine Verachtung. Und seine Gier nach Macht.

Gul’dan versuchte seinen ehemaligen Lehrer auch aus dem Jenseits heraus noch in falscher Sicherheit zu wiegen. Aber Ner’zhul würde kein zweites Mal darauf hereinfallen. Ner’zhul hatte mit seiner Leichtfertigkeit sein Volk unabsichtlich verraten. Und dieser Orc, dessen Schädel in seiner gichtigen Hand lag, war aufgestiegen, weil er geglaubt hatte, den alten Schamanen ausgeschaltet zu haben.

„Wer lebt jetzt und ist an der Macht – und wer ist nun tot, mein Schüler?“, raunte er dem Schädel zu.

Ner’zhul blinzelte plötzlich und wurde aus seiner Unterhaltung mit dem Schädel aufgeschreckt, als Helligkeit in sein Zelt fiel. Eine Silhouette stand im Gegenlicht.

„Wir kontrollieren das Portal!“, verkündete Grom Höllschrei.

Ner’zhul lächelte. Bis jetzt war alles nach Plan verlaufen. Gedankenverloren streichelte er den gelblichen Schädel – wie ein Haustier, das nach seiner Aufmerksamkeit lechzte. Gul’dans Schädel würde ihm dabei helfen, den Spalt zu öffnen.

Ner’zhul winkte Grom und dessen Gefährten Teron Blutschatten hinein. Er hatte sie zu seinen Stellvertretern gemacht. Blutschatten kümmerte sich um die Todesritter und Oger. Grom leitete Ner’zhuls Befehle an die Klans weiter. Und das waren jetzt viele Klans: Die Donnerfürsten, die Lachenden Schädel und die Knochenmalmer waren ihnen beigetreten. Nur der Redwalkerklan wollte nicht – zumindest der Teil, der noch davon übrig war. Alle anderen Klans hatten sich unter seiner Führung vereint und machten die Horde beinahe so stark wie vor dem ersten Angriff auf Azeroth. Beinahe.

„Ich bin sehr zufrieden“, sagte er. „Und nun... ihr wisst, was jetzt zu tun ist.“

„O ja, ich weiß, was zu tun ist“, versicherte Blutschatten dem alten Schamanen. „Aber bist du dir sicher, dass du den Spalt offen halten kannst?“

Selbst mit der Hilfe des Schädels und dessen Vorschlägen, die nicht alle gut oder vernünftig gewesen waren, mussten mehrere Todesritter zusammenarbeiten, um Ner’zhul dabei zu helfen, den Spalt genügend auszuweiten.

Das ist pure Arroganz! Er sollte nicht so mit dir sprechen, drang das leise Flüstern aus dem Schädel.

Nein. Das sollte er nicht.

„Ich schaffe das“, antwortete Ner’zhul knapp und spürte die Kraft in sich, mehr Kraft, als er seit Jahren empfunden hatte. Es war, als hätte das Anzapfen der Energie etwas tief in ihm erweckt, etwas, von dem er nie gewusst hatte, dass es ihm fehlte. Und es fühlte sich... gut an. „Wenn der Rahmen erst wieder steht, wird das Portal sich selbst stabilisieren. Widme dich einfach deinen Pflichten, Teron.“

Aus der Dunkelheit der Kapuze flackerten die Augen des Todesritters. Dann nickte er knapp und wandte sich um, sein Umhang wehte hinter ihm her, als er das Zelt verließ.

Ner’zhul wandte sich Grom zu, der nickte. „Ich bin bereit, Ner’zhul. Mehr als bereit.“

„Sehr gut. Je eher du anfängst, desto schneller erreichst du unsere Ziele.“ Grom riss seine Axt zum Gruß hoch, dann folgte er Blutschatten.

Ner’zhul wartete einen Moment in der Dunkelheit, dann verließ er das Zelt und sah gerade noch, wie der Orc und der Todesritter zum Portal gingen und in die andere Welt hinüberschritten. Ein Ort, an dem er selbst nie gewesen war.

Er schaute auf den Spalt, und seine Finger strichen über die glatte Oberfläche von Gul’dans Schädel.

Und du wirst Azeroth nie seiner betreten müssen. Bald wirst du großen Ruhm erlangen!, erklang die eifrige, tote Stimme.

Ja, überlegte Ner’zhul, sehr bald schon...

„Was gibt es Neues?“, wollte Teron Blutschatten von Gaz Soulripper wissen, als er Azeroth betrat. Der andere Todesritter hatte eine Handvoll seiner Artgenossen durch den Spalt geführt, kaum dass dieser sich geöffnet hatte. Jetzt leitete er die Arbeiten auf der Azeroth-Seite des Portals. Während sich die Orcs darum kümmerten, das Portal aus den Überresten, die überall verstreut lagen, neu zu errichten, verwandelten es die Todesritter in etwas, das mehr als ein materieller Tordurchgang war. Mit ihrer schwarzen Magie konnten sie den Spalt erweitern und stabilisieren, sodass er der Horde von noch größerem Nutzen war.

„Das war fast schon zu leicht“, antwortete Soulripper lachend. „Durch die magische Finsternis hatten die Menschen niemals eine Chance.“ Er deutete hinter sich, wo Blutschattens Sinne den Torrahmen trotz der magischen Finsternis, die das Tal erfüllte, erspüren konnten. „Wir kommen gut mit dem Rahmen voran. Er sollte in den nächsten ein, zwei Tagen fertig sein.“

Blutschatten grunzte und inspizierte die Arbeit. Ein einfacher Steinbogen an der Spitze einer kurzen Rampe hatte das ursprüngliche Dunkle Portal gebildet. Als das Portal eingestürzt war, war der Durchgang ebenfalls zerstört worden. Die Orcs, die sie zum Wiederaufbau zwangen, hatten bereits die Überreste beseitigt und setzten die Steinblöcke zusammen, die von Draenor durchgereicht wurden. Der Rahmen war eher funktional als schön. Nur ein paar orcische Runen waren schnell eingraviert worden. Aber solange es ausreichte, um das Portal zu stabilisieren, war es Blutschatten egal.

„Was ist mit den anderen Klans, die sich noch auf dieser Welt befinden?“, fragte er.

„Wir haben mit ihnen über Träume und Visionen Kontakt aufgenommen. Gleich nachdem wir das Tal gesichert hatten“, antwortete Soulripper. „Keine Ahnung, wie lange sie brauchen werden, um zu uns zu kommen.“

Bereits wenige Stunden später hörte Blutschatten Schritte. Er erhob sich von dem Felsen, gegen den er sich gelehnt hatte, bemerkte, dass das Portal beinahe fertig war, und wartete.

Die unnatürliche Dunkelheit bestand immer noch, sie würde die Menschen von einem zu frühen Gegenangriff abhalten und gab ihnen etwas zum Grübeln. Aber weder Orcs noch Todesritter wurden davon behindert. Und die Schritte kamen stetig näher.

Schließlich erblickte er eine Gruppe von Orcs. Sie wirkten ausgezehrt. Es waren gerade mal drei Dutzend, aber sie gingen aufrecht und hielten ihre Waffen bereit. Vor ihnen marschierte ein älterer Orc, dessen Körper trotz seines Alters immer noch kräftig war. Sein Kopf bewegte sich ständig.

Als sie näher kamen, erkannte Blutschatten ihn und wusste sofort, warum dieser Krieger seinen Kopf derart oft bewegte: Der Orc besaß nur noch ein Auge. Das andere bestand aus Narbengewebe, und Blutschatten erinnerte sich an die zahlreichen Gerüchte darüber, wie Kilrogg Totauge sein Auge verloren... und was er stattdessen bekommen hatte.

Blutschatten trat auf den Häuptling des Klans des blutenden Auges zu. „Kilrogg!“, rief er bei dessen Eintreffen. Es war keine gute Idee, sich Kilrogg ohne Ankündigung zu nähern.

Der Kopf des Häuptlings fuhr herum, bis sein eines Auge Blutschatten entdeckte. „Blutschatten“, rief er zurück, trat vor und bedeutete seinen Kriegern, hinter ihm auszuschwärmen. „Ich hatte eine Vision, dass du hier sein würdest.“

Der Todesritter nickte. Er sah, wie Kilroggs Blick auf dem beinahe fertig gestellten Dunklen Portal lag.

„Also stimmt es“, sagte der Häuptling leise. „Das Portal wurde wieder geöffnet!“

„Ja, es stimmt“, antwortete Blutschatten. „Wir kommen von Draenor. Und du kannst dorthin zurückkehren.“

„Wurde das Land wieder mit Leben erfüllt?“

„Draenor stirbt immer noch“, entgegnete Blutschatten. „Aber Ner’zhul hat einen Plan.“

Kilroggs Blick verfinsterte sich. „Ner’zhul? Der alte Narr? Was hat er damit zu tun? Ich habe ihn auch in meiner Vision gesehen, dachte aber, das wäre nur ein Bild aus der Vergangenheit.“

„Eher ein Bild aus unserer Zukunft“, antwortete Blutschatten. „Ner’zhul hat die Führung übernommen und die Horde wieder geeint. Alle übrig gebliebenen Klans auf Draenor sind neu vereint.“ Dabei verschwieg er geflissentlich die Redwalker, die allerdings kaum noch existierten. „Und er hat den Spalt wieder geöffnet. Er verfolgt einen Plan, der das Überleben unseres Volkes sichern wird, wenn nicht sogar das unserer Welt.“

Kilrogg kratzte sich am Narbengewebe unter dem fehlenden Auge. „Ist er für all das hier verantwortlich? Dieser Plan... glaubst du, dass er funktioniert?“

Blutschatten nickte.

„Hmmm. Vielleicht hat er endlich die Schwäche und die Zweifel abgeschüttelt, die Gul’dan ihm eingepflanzt hat. Wenn er nur ein wenig wie der alte Ner’zhul ist, folge ich ihm gern.“ Kilrogg schüttelte den Kopf und senkte die Stimme. „Und mal ehrlich, ich verlasse diese Welt mit Freuden, selbst wenn unsere eigene sterben sollte. Wir waren hier zu lange abgeschnitten.“

Blutschatten nickte. „Dann geh“, drängte er den Häuptling. „Ner’zhul und die anderen warten jenseits des Portals. Ich weiß, dass deine Erfahrung und Weisheit von großem Wert für uns sein werden. Aber sag mir zuerst, was ist mit den anderen Orcs, die noch hier sind?“

„Abgesehen von den Frostwölfen, die nichts mit dem Rest von uns zu tun haben wollen, gibt es nur noch zwei Klans, die nicht in Gefangenschaft sind“, sagte Kilrogg. „Der Drachenmalklan und die Schwarzfelse.“ Er grinste. „Der Drachenmalklan versteckt sich irgendwo in den Bergen, weit weg von den Menschen, und kontrolliert immer noch die roten Drachen. Vor einem Jahr ist er ein Bündnis mit den Schwarzfelskriegern eingegangen. Rend und Maim Schwarzfaust führen den Klan an und haben die Schwarzfelsspitze zu ihrem Heim gemacht.“ Er zuckte die Schultern. „Ich hätte mir den Ort von Schicksalshammers Niederlage unter keinen Umständen als Heimatbasis ausgesucht. Aber die beiden haben sich nie an ihm gestört.“

Das waren keine guten Neuigkeiten. „Was meinst du, werden sie zum Portal kommen, um zurück nach Draenor zu gehen?“, fragte Blutschatten.

Kilrogg schüttelte den Kopf. „Nein, sie scheinen sich auf Azeroth eingerichtet zu haben“, antwortete er. „Ich rechne nicht mit ihnen.“

Blutschattens Blick verdüsterte sich, doch er nickte. „Danke, Kilrogg. Jetzt geh... Draenor wartet auf dich.“

Kilrogg nickte und wandte sich ab. Er lief die Rampe zu dem reparierten Tor hinauf, das selbst in der Dunkelheit schimmerte. „Vorwärts nach Draenor!“, rief er, und wies den Weg. Der erste Krieger lief, ohne zu zögern, hindurch, gefolgt vom Rest. Kilrogg selbst ging als Letzter, schaute zurück über das Tal und auf Azeroth. Er erhob seine Waffe.

„Ein Krieger tritt den Rückzug an... aber nur, um sich neu zu formieren. Ich komme wieder“, schwor er. „Diese Welt und ihre Bewohner werden meinen Zorn kennenlernen.“ Dann trat auch er durch das Portal und verschwand.

Grom Höllschrei beobachtete, wie die Krieger vom Klan des blutenden Auges durch das Portal schritten. Befriedigt sah er, dass Kilrogg überlebt hatte. Der alte Häuptling war immer der gerissenste Anführer der Horde gewesen und einer ihrer besten Taktiker. Er war sich sicher, dass Kilroggs Rat sich schon bald als wertvoll erweisen würde.

Er wandte sich dem Orc zu, der gerade erst eingetroffen war. Grom bedeutete ihm mit einem Nicken zu sprechen.

„Die Menschen sind nicht müßig gewesen. Eine große Festung liegt im Norden“, berichtete der Kundschafter. „Sie bewacht den Pass. Es gibt keinen anderen Weg daran vorbei.“

Grom lächelte. „Perfekt“, sagte er langsam. „Das ist unser Ziel. Wenn wir die Festung einnehmen, können wir das Tal halten, ganz egal, was die menschliche Allianz uns entgegenwirft.“ Er nickte dem Kundschafter zu. „Sag den anderen, sie sollen sich bereit machen. Wir brechen sofort auf.“

Der Kundschafter nickte, aber bevor er sich entfernen konnte, hob Grom eine Hand und bat um Ruhe.

Der Häuptling des Kriegshymnenklans lauschte angestrengt. Er hörte etwas, das wie Schritte klang, aber schneller, härter und mit einem merkwürdigen Beiklang versehen war. Es erinnerte eher an ein Tier als an einen Menschen. Aber wenn, dann waren es schwere Kreaturen, mit festen Hufen statt weichen Tatzen. Er hatte von den Menschen und ihren merkwürdigen Reittieren... diesen „Pferden“... gehört. Das musste es sein.

„Menschen nähern sich!“, rief er augenblicklich, zog Blutschrei und schwang die Klinge über dem Kopf. „Löst die Finsternis auf.“

Er wusste nicht, wo sich die Todesritter befanden oder auch nur, wer von ihnen die unnatürliche Dunkelheit aufrechterhielt, die das Tal bedeckte.

Aber sie hörten ihn. Die Finsternis begann zu weichen, Licht drang ein, Farben breiteten sich über das Tal aus, bis er den Ort deutlich erkennen konnte.

Dort stand das Dunkle Portal, vollständig repariert. Im Norden entdeckte er Steintürme. Das musste die Festung sein, die der Kundschafter erwähnt hatte.

Aber jetzt näherte sich eine Streitmacht der Menschen durch den engen Pass. Die Krieger ritten auf Tieren mit leuchtendem Fell, langen Mähnen und Schwänzen.

Vor den Soldaten ritt ein Mann, auf dessen Brust ein Zeichen prangte. Es war dunkelblau und zeigte zwei mit Gold versehene Flammen. Der Mann ließ sein Schwert über dem Kopf kreisen und trieb das Pferd unablässig vorwärts. Das also war ihr Anführer.

Grom lächelte und hob Blutschrei erneut an. Nun, da die Dunkelheit verschwunden war, schimmerte die Klinge silbern im Sonnenlicht. Er schwang sie in einem niedrigen Bogen, und sein Lächeln verbreiterte sich, als sie ihr Kriegslied vom herannahenden Tod anstimmte. Einige der Menschen zögerten.

„Für die Horde!“, rief er und stürmte vorwärts. Seine Krieger waren direkt hinter ihm.

Die Menschen warteten. Die merkwürdige Dunkelheit, die eben noch das Tal bedeckt hatte, verwirrte sie. Überrascht erblickten sie die riesige Zahl von Orcs, die auf sie zustürmte. Das Gebrüll der herannahenden grünhäutigen Krieger und das Heulen der Waffen verängstigten sie. Für die ersten Reihen der Menschen erwies sich dieses Zögern als tödlich.

Grom schlug zuerst zu. Blutschrei zerteilte den anführenden Reiter von der Schulter bis zur Hüfte. Die obere Hälfte des Leichnams fiel links vom Pferd und die untere Hälfte auf der anderen Seite. Doch Grom hatte keinen Blick dafür, er hatte bereits ein neues Ziel ausgemacht, drehte sich und schlug die Beine zweier weiterer Krieger ab, als er zwischen sie sprang.

Die Orcs liefen zwischen die Tiere und schlugen auf Ross und Reiter gleichermaßen ein. Dadurch torkelten einige Pferde und stürzten auf die Fußsoldaten der Allianz. Ihre Streitmacht war groß, aber nichts verglichen mit den Klans, die Grom mitgebracht hatte. Und die Orcs hatten das Überraschungs-moment und die Entschlossenheit auf ihrer Seite.

Die Menschen kämpften tapfer. Das gestand Grom ihnen zu. Und einige besaßen Talent im Umgang mit den Waffen. Aber sie waren nicht so groß wie die Orcs und schwächer. Er stellte fest, dass es leicht war, einen menschlichen Krieger durch bloße Körperkraft zu überwältigen und ihn selbst durch dieses merkwürdige Metallhemd hindurch, das sie trugen, aufzuschlitzen.

Für eine hübsche Weile gab er sich dem Blutrausch hin, hackte und metzelte wild, machte sich keine Sorgen, vergoss Blut und genoss den Geruch des Todes und die Schreie der Verwundeten.

Wie großartig es war, wieder ohne Sorge und Schuldgefühl töten zu können!

Kein verwandter Orc fiel unter Blutschreis Schlag, nur die rosahäutigen Menschen, einer nach dem anderen, und ihre Angst und ihr Gebrüll waren berau-schend.

Das Blut pulsierte in seinen Adern, sein Blick hatte merkwürdige Farben an den Rändern, und er rang nach Atem, aber Grom hatte sich nie lebendiger gefühlt.

Gut. Das war einfach gut. Die Kämpfe ebbten allmählich ab, und er sah sich um. Überall lagen menschliche Leichen herum. Dutzende, ihre Augen noch aufgerissen, Angst in die Gesichter eingegraben. Das Blut strömte noch...

Grom furchte die Stirn. Der Blutrausch schwand. Ja, es waren Dutzende Leichen, aber der Mensch, der ihm aufgefallen war, jener mit der goldenen Brustplatte... wo war er?

Er knurrte und schüttelte seinen schwarzen Kopf. Er wollte den Blutrausch zurückzwingen, sodass er sich wieder auf seine Instinkte als Kämpfer verlassen konnte. Die Rufe und den Jubel der Krieger ignorierend, rannte Grom zum Rand des Tals. Dort blieb er stehen und lauschte. Ja, er konnte definitiv Hufschlag hören, jemand bewegte sich schnell. Einer hatte überlebt und war weggeritten.

Zurück zur Festung.

Als er zum Schlachtfeld zurückkehrte, erblickte Grom Blutschatten. Er fasste ihn am Arm und rief: „Einer ist entkommen. Ich glaube, es ist ihr Anführer. Er ist unterwegs zur Festung.“

Blutschatten nickte. „Folge ihm“, antwortete er brüllend, damit Grom ihn über den Lärm hinweg hören konnte. „Und halte die Streitkräfte der Allianz in der Festung beschäftigt. Wir müssen die Artefakte holen. Wir sollten in ein paar Tagen zurück sein.“

Grom nickte. „Mach dir keine Sorgen“, versprach er. „Ich erfülle meine Pflicht. Tu du dasselbe.“

Der Todesritter lachte und wandte sich ohne weitere Antwort ab. Er streckte seine gepanzerte Hand aus. Ein Blitz aus Finsternis explodierte und tötete zwei Reiter und deren Pferde.

Grom biss die Zähne zusammen. Er mochte Blutschatten und all die Todesritter nicht. Sie hatten ihre Leben bereits gelebt und waren von den Toten zurückgekehrt, gefangen in menschlichen Körpern. Wie konnte man solch widernatürlichen Kreaturen trauen?

Aber Ner’zhul hatte Blutschattens Plan gutgeheißen, deshalb musste Grom ihn befolgen. Er hoffte nur, dass der Todesritter recht behielt und diese merkwürdigen Gegenstände, die sie so verbissen suchten, Ner’zhul und sein Volk tatsächlich retten würden.

In der Zwischenzeit hatte er Befehle, die er nur zu gern befolgte. „Eine Handvoll von euch bleibt hier“, sagte er seinen Kriegern. „Der Rest und die anderen Klans folgen mir.“ Er lächelte und hob Blutschrei hoch. „Wir müssen eine Festung einnehmen!“

7

Muradin Bronzebart, der Bruder von König Magni und Botschafter im Menschenreich von Lordaeron, schritt die Korridore des königlichen Palastes hinab. „All diese Ecken, Kurven, Kanten und Windungen“, murmelte der Zwerg.

Wenn er sich recht erinnerte, befand sich die Wendeltreppe, die ihn zu den Privatgemächern des Königs und den Balkonen führen würde, hier irgendwo. Er meinte, sich zu entsinnen, dass, wenn er durch die Rüstungshalle ging und...

„He!“

Muradin zuckte zusammen, obwohl er erkannte, dass es die Stimme eines Kindes war, die gerufen hatte. Sein Lächeln wurde von seinem dichten, buschigen Bart verdeckt, als er um die Ecke linste und den kleinen Prinz Arthas sah, der vor einer Rüstung auf einem kleinen Podest stand. Der Prinz war zwölf Jahre alt, ein ansehnliches Kerlchen, das gern lachte, goldene Locken und rosige Wangen hatte.

Obwohl – augenblicklich schaute Prinz Arthas eher ernst. Sein Holzschwert zielte auf die Kehle der „gegnerischen Rüstung.“

„Glaubst du, du könntest einfach hier durchspazieren, du abscheulicher Orc?“ schrie Arthas. „Du befindest dich auf dem Boden der Allianz! Dieses Mal lasse ich noch Gnade walten. Aber verschwinde und komm niemals wieder!“

Obwohl Muradin hungrig und spät dran war, beobachtete er das Schauspiel und lächelte. Für so etwas hatten sie gekämpft. Er, Magni, sein Bruder Brann und die Menschen Lothar – Friede seiner Asche! – und Turalyon. Sie hatten zusammen gekämpft, um Eisenschmiede am Ende des Zweiten Krieges zu retten. Dann waren Muradin und Brann mit den Menschen zum Dunklen Portal gezogen, um mitzuerleben, wie es zerstört wurde. Sie hatten die Schwachen schützen und ihnen allen eine Zukunft ermöglichen wollen.

Arthas versteifte sich. „Wie? Du willst nicht gehen? Ich wollte dir eine faire Chance geben, aber jetzt... jetzt kämpfe!“

Mit einem wilden Schrei stürmte der kleine Prinz vor. Er war schlau genug, die antike Rüstung nicht tatsächlich anzugreifen, was ohne Zweifel das Missfallen seines Vaters erregt hätte. Stattdessen attackierte er seinen imaginären Feind mit angetäuschten Hieben.

Muradins Lächeln erlosch. Was war das denn? Wer in aller Welt bildete den Jungen aus? Wie offen und unkontrolliert seine eigene Deckung war! Und der Waffengriff... ach, falsch, alles völlig ungeschickt!

Er runzelte finster die Stirn, als Arthas nach einem kräftigen Schlag durch die Luft sein Schwert verlor und es durch den Raum flog, um schließlich laut scheppernd zu Boden zu gehen.

Arthas holte Luft und sah sich um, um festzustellen, ob er die Aufmerksamkeit von jemandem erregt hatte. Seine Wangen wurden rot, als er Muradins Blick bemerkte.

„Oh... Herr Botschafter... Ich habe gerade...“

Muradin hüstelte und war mindestens so verlegen, wie Arthas es umgekehrt war. „Ich suche deinen Vater, Junge. Kannst du mir sagen, wo ich da hinmuss? Dieser teuflische Ort hat zu viele Gänge und Windungen.“

Arthas wies auf eine Treppe zu seiner Linken. Muradin nickte und hastete die Wendeltreppe hinauf, bemüht, schnell wegzukommen.

Er traf gerade rechtzeitig ein, um Thoras Trollbann brüllen zu hören, was, wie er vermutete, kaum etwas Außergewöhnliches war.

„Handel treiben? Mit euch? Ihr verdammten Sympathisanten der Horde!“

Was ging hier vor? Muradin sprang auf den Balkon und erwartete... nun, er war sich nicht sicher, was genau er erwartete, aber sicherlich kein kleines, grünes Wesen mit großen, fledermausähnlichen Ohren und riesigen Augen, die voller Furcht waren. Es war völlig haarlos und trug Hosen, ein weißes Hemd mit Weste und ein Monokel, das heftig an der Kette baumelte, die an seinem Körper befestigt war.

„Nein, nein, nein, nein!“, japste die grüne Kreatur mit kreischender Stimme und fuchtelte wild mit den Händen. Sie stand auf Augenhöhe mit dem Frühstückstisch, an dem Trollbann und König Terenas saßen, und spielte mit dem Monokel. „Ihr habt mich falsch verstanden! So ist das doch gar nicht!“

„Wirklich nicht, Krix?“ Die Milde, mit der Terenas sprach, verriet Muradin, dass keine echte Gefahr drohte. Der König nahm sich ein Stück Brot und bestrich es mit Butter.

„Nein!“, schrie Krix. Er sah angegriffen aus. „Gut. Ein Händler, ja. Hat – es – gemacht.“ Er hüstelte. „War mit der Horde verbündet. Aber es war nur ein sehr dummer Händler, und selbst der ist nach dem Zweiten Krieg zur Vernunft gekommen. Doch der Rest der Goblins ist zu dem Entschluss gelangt, dass es viel besser ist, neutral zu bleiben. Viel besser, für euch, für uns, für alle! Freier Handel lässt alles erblühen, und ein jeder profitiert davon.“

Muradins Miene verfinsterte sich. Er wusste jetzt, mit was für einer Kreatur er es zu tun hatte: einem Goblin. „Was macht dieses goldgierige Ding an unserem Frühstückstisch, Terenas?“, fragte er.

Bevor der König antworten konnte, plapperte der Goblin los: „Krix Wiklish, erfreut, dich zu treffen. Wie ich sehe, seid Ihr ein Zwerg.“

„Sehr gut beobachtet“, knurrte Trollbann.

„Vielleicht würde Euer Volk gern einen Handelsvertrag mit uns abschließen? Diese beiden Menschen scheinen nicht sehr erpicht darauf zu sein. Denkt darüber nach.“ Krix lächelte schmeichelnd. Der Effekt wurde nur ein wenig durch die Schärfe der Zähne verdorben. „Ihr seid uns ähnlich. Wir reißen auch gern Bäume aus. Das ist die perfekte Geschäftsbeziehung! Unsere Schredder können das Land abholzen...“

„Danke, Krix, das reicht“, unterbrach Terenas. „Jetzt, da Botschafter Muradin eingetroffen ist, müssen wir uns unseren Angelegenheiten zuwenden. Wir sprechen heute Nachmittag weiter und sehen uns die Papiere an, die Ihr mir zeigen wolltet.“

„Was?“ Muradin sah Terenas finster an. „Dieser miese Knilch handelt mit beiden Seiten, Terenas. Ich würde eher einem... he!“

Krix bewegte sich nicht mehr, das Aprikosenküchlein in der Hand, auf dem halben Weg zum Mund. Er lächelte schwach.

Muradin sah ihn an. Innerhalb eines Monats nach seiner Ankunft stand der Zwerg auf Du und Du mit allen Köchen des Palastes. Und besondere Mühe hatte er sich gegeben, die Freundschaft der Konditoren zu gewinnen. Dieses Vorgehen trug nun, wenn die Küchlein als Indiz dafür gelten konnten, süße, köstliche Früchte.

Und jetzt verschlang dieser Goblin seine Leckereien!

„König Terenas bat Euch zu gehen“, sagte er. Krix nickte. Das Monokel fiel ihm wieder herunter. Er steckte das Backwerk in den Mund, verneigte sich und lief hinaus.

„Ein übler Schmarotzer, der Kerl“, knurrte Muradin.

„Aber unterhaltsam“, erwiderte Terenas. „Und seine Vorschläge sind nicht schlecht. Doch nun, da Ihr hier seid, Botschafter, befürchte ich, dass wir über weniger amüsante Dinge zu reden haben. So wie die Sache mit König Perenolde.“

„König, pah! Das Wort kommt mir nur schwer über die Lippen. Das ist ein Frevel!“, brüllte Trollbann. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und ließ Tassen, Krüge und Teller tanzen. „Er hat uns verraten und fast vernichtet – und mehr passiert ihm nicht?“ Sein langes Gesicht hatte sich mehr und mehr verfinstert. „Ich fordere den Kerker, wenn nicht gleich die Hinrichtung!“

„Ja. Ich würde einen Verräter auch nicht in den goldenen Käfig stecken“, sagte Muradin. Er nahm kein Blatt vor den Mund. Er sagte, was er dachte, und interessierte sich nicht dafür, wen das beleidigen könnte. Muradin wusste, dass dieses Verhalten einigen Königen der Allianz peinlich war, aber auch, dass seine beiden Freunde Terenas und Trollbann es erfrischend fanden.

Die drei saßen an einem kleinen Tisch auf einem der Balkone, von denen aus man den See hinter der Stadt sehen konnte, die Berge als Hintergrundkulisse. Es war eine einmalige Aussicht, aber sie hatte auch mit ihrem Gesprächsthema zu tun, weil es dieselben Berge waren, über die Orgrim Schicksalshammer die Horde geführt hatte, ermöglicht durch den Verrat von Alteracs Herrscher Aiden Perenolde.

Nach dem Krieg war Terenas mit Truppen nach Alterac marschiert, hatte das Kriegsrecht verhängt und Perenolde, über den Trollbann sich ereiferte, in Haft genommen. Aber Terenas hatte den ehemaligen König einfach unter Hausarrest gestellt, ihn und seine ganze Familie in den eigenen Palast gesperrt. Darüber hinaus war seitdem nichts mehr geschehen.

Damit war Trollbann nicht einverstanden. Als Perenoldes nächster Nachbar hatte er die verschlagenen Winkelzüge von Alteracs König schon lange ertragen müssen. Und es war nur Trollbanns schneller Auffassungsgabe zu verdanken, dass die Bergpässe blockiert und so ein Teil der Horde vom Gros abgeschnitten worden war. Sonst wäre die ganze orcische Streitmacht in die Ebene und in die Hauptstadt selbst gestürmt. Und wahrscheinlich wäre die Stadt gefallen.

„Ich stimme dir zu. Er verdient ein viel schlimmeres Schicksal“, sagte Terenas vorsichtig. Offensichtlich wollte er seinen Freund beruhigen. Muradin nahm sich ein Küchlein und ein hartgekochtes Ei. „Aber er ist, oder war zumindest, ein unabhängiger König“, fuhr Terenas fort. „Wir können ihn nicht einfach ins Exil schicken oder einkerkern. Ansonsten müsste jeder andere König befürchten, dass wir es mit ihm genauso machen, wenn er nicht so will wie wir.“

„Das werden wir auch, wenn sie uns verraten, wie er es getan hat!“, ereiferte sich Trollbann, doch erregte sich schnell wieder ab. Er war alles andere als dumm, das wusste Muradin. Das plumpe Äußere beherbergte einen wachen Geist mit scharfem Verstand.

„Ja, es ist eine knifflige Angelegenheit“, sagte Muradin und beschloss, sich noch ein Küchlein zu gönnen. „Wir können ihn nicht von der Klippe werfen, ohne das Vertrauen der anderen zu verlieren. Aber wir können ihn mit dem, was er getan hat, auch nicht durchkommen lassen.“

„Wir müssen ihn zum Abdanken zwingen“, meinte Terenas, doch es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gespräch führten. „Wenn er erst mal kein König mehr ist, können wir ihn vor Gericht zerren und exekutieren, wie einen ganz normalen Adeligen der Allianz.“

Er strich sich durch den Bart. „Das Problem ist nur, er weigert sich.“

Trollbann schnaubte. „Natürlich tut er das! Er weiß, dass das seinen Tod bedeutet. Nur müssen wir etwas unternehmen, und zwar bald. Momentan hat er zu viele Freiheiten, und das wird uns Ärger bereiten.“

Terenas nickte. „Das Ganze geht sicherlich schon viel zu lange so“, stimmte er zu. „Etwas muss wegen Alterac geschehen, besonders jetzt, da neue Probleme aufziehen.“ Er seufzte.

„Das Letzte, was wir brauchen können, ist ein neuer Krieg, während wir uns gleichzeitig um Verrat sorgen müssen.“

„Und was ist mit dem Jungen?“, fragte Muradin und entfernte einen verirrten Krümel aus seinem majestätischen Bronzebart. „Wird er nicht den Thron besteigen?“

„Meinst du Aliden?“ Trollbann schnaubte. „Der ist aus demselben Holz geschnitzt wie sein Vater.“

„Ich traue dem jungen Aliden auch nicht viel zu“, gestand Terenas ein. „Er wurde in seiner Kindheit viel zu sehr behütet. Er hat nie Mühsal und Not leiden müssen und stand nie einer Gefahr gegenüber. Ich befürchte, dass er kein guter Anführer wäre. Aber welchen Grund hätten wir, ihm den Thron zu verweigern? Er ist Aidens Erbe, Alteracs Kronprinz. Wenn sein Vater abdankt, fällt die Krone ihm zu.“

„Es gibt keinen Beweis dafür, dass er vom Verrat seines Vaters wusste“, sagte Trollbann widerwillig. „Nicht, dass ignorant viel besser als hinterhältig wäre. Aber immerhin spricht das doch für ihn.“

In diesem Moment erschien ein Diener an der Tür. Muradin runzelte die Stirn und fürchtete, dass der nervtötende Goblin wieder mit ihm reden wollte. Stattdessen hatte der Diener gute Neuigkeiten. „Lord Daval Prestor bittet um Audienz, Euer Majestät“, sagte er Terenas.

„Ah, schick ihn rein, Lavin“, antwortete Terenas. Er wandte sich an Trollbann und Muradin. „Habt ihr schon Lord Prestor kennengelernt?“

„Ja, ein feiner Kerl“, antwortete Muradin. „Und für ihn spricht, dass er überlebt hat, trotz allem, was ihm zugestoßen ist.“

Trollbann nickte zustimmend.

Lord Prestor war vom Schicksal übel mitgespielt worden, erinnerte sich Muradin, als er in das Ei biss. Der Zwerg hatte, bevor er ihn kennenlernte, nie von dem Mann gehört... aber er interessierte sich auch nicht sonderlich für die verworrenen Verhältnisse im Adel. Doch nach dem, was ihm berichtet worden war, war Prestor der Herrscher einer kleinen Grafschaft in den Bergen Lordaerons gewesen. Er konnte einen Stammbaum vorweisen, der bis zur Königsfamilie von Alterac zurückreichte, und war ein entfernter Vetter von Perenolde. Prestors Reich war während des Zweiten Krieges einem Überfall der Drachen zum Opfer gefallen. Und nur er und ein paar nahe Verwandte hatten fliehen können. Prestor hatte den ganzen Weg zur Hauptstadt ohne Diener oder Wachen zurückgelegt, mit wenig mehr als den Kleidern auf dem Leib und seinem guten Namen. Seine Abstammung hatte ihm Zugang zu den adeligen Kreisen ermöglicht, und sein einnehmendes Wesen hatte ihm Freunde beschert. Die drei am Tisch gehörten dazu.

Es war Prestors Vorschlag gewesen, das Kriegsrecht über Alterac zu verhängen. Und nicht nur Terenas, sondern auch der Rest der Allianz waren sich einig darüber, dass dies eine gute vorübergehende Lösung des Problems war.

Prestor trat einen Moment später auf den Balkon und machte eine anmutige, tiefe Verbeugung. Seine schwarzen Locken wirkten fast blau im warmen, frühen Licht. „Eure Majestäten“, sagte Prestor. Sein voller Bariton klang angenehm. „Und der verehrte Botschafter. Schön, euch alle zu sehen.“

„Das ist es fürwahr“, sagte Terenas freundschaftlich. „Setzt Euch zu uns. Hättet Ihr gern etwas Tee?“

„Die Aprikosenküchlein sind heute ganz ausgezeichnet“, meinte Muradin und bedeckte seinen Mund mit der Hand, als er unabsichtlich ein paar Krümel ausspuckte. Etwas an Prestors Sauberkeit ließ ihn sich immer ein wenig... tumb fühlen.

„Vielen Dank, werte Lords.“ Prestor setzte sich anmutig, jedoch nicht ohne vorher mit der Serviette schnell den Staub vom Sitz zu fegen, und goss sich eine Tasse Tee ein. Muradin bot ihm den Teller mit den Küchlein an, doch Prestor lächelte und hielt seine manikürten Hände in höflicher Ablehnung hoch. „Ich hoffe, ich störe nicht?“

„Aber nicht im Geringsten“, versicherte ihm Terenas. „Eigentlich ist Euer Timing exzellent. Wir besprechen uns gerade wegen Alterac.“

„Ah ja, natürlich.“ Prestor nippte an seinem Tee. „Zweifellos habt Ihr schon von dem kleinen Isiden gehört?“ Er schien überrascht über die fragenden Blicke zu sein. „Einer von Lord Perenoldes Neffen. Noch sehr jung.“

„Ah, ja. Ist nach Gilneas geflohen, richtig?“, fragte Trollbann.

„Allerdings, kurz bevor Ihr das Kriegsrecht in Alterac verkündet habt. Gerüchten zufolge wirbt er dort um Unterstützung für seine Ansprüche auf den Thron.“

„Graumarn erwähnte so etwas“, erinnerte sich Terenas. „Aber er hat sich nicht mit dem Jungen getroffen noch ihn sonstwie unterstützt.“

Prestor schüttelte den Kopf. „Es ist tatsächlich sehr ehrenhaft von König Graumarn“, sagte er leise, „etwas zu übersehen, was so leicht seinem Vorteil dienen könnte. Alles, was er tun müsste, wäre Isidens Thronanspruch zu unterstützen, und Gilneas erhielte einen direkten Anteil an Alteracs Wohlergehen. Und zweifellos würde ihm bevorzugter Durchgang durch die vielen Bergpässe des Königreichs gewährt.“

Muradin kratzte sich am Bart. „Ja, das ist wirklich kaum abzulehnen“, stimmte er zu.

Terenas und Trollbann warfen sich Blicke zu. Graumarn war gerissen genug, um sich solch eine Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. Dennoch behauptete er, nicht mit dem Jungen gesprochen zu haben. Hatte er gelogen? Oder spielte er ein durchtriebeneres Spiel?

„Was meint Ihr, sollte wegen Alterac passieren?“, fragte Terenas Prestor.

„Warum fragt Ihr mich, Sire?“

„Der Blickwinkel eines Außenstehenden ist nützlich, und wir schätzen Eure Meinung.“

Prestor errötete leicht. „Wirklich? Das ehrt mich. Nun... ich finde, Ihr solltet Alterac selbst beanspruchen, Euer Majestät. Ihr seid immerhin der Führer der Allianz, tragt den Hauptteil der Kosten. Deshalb steht Euch auch eine Belohnung für Eure Aufwendungen zu.“

Terenas lachte. „Nein, danke“, sagte er und hielt eine Hand in gespieltem Entsetzen hoch. „Ich habe hier in Lordaeron mehr als genug zu tun, ich möchte meine Probleme nicht verdoppeln, indem ich ein zweites Königreich regiere!“

Muradin wusste, dass er natürlich über die Idee nachgedacht hatte, und aus einigen Blickwinkeln erschien sie durchaus lohnenswert. Aber der Ärger, der daraus entstehen würde, nicht zuletzt unter den anderen Herrschern, würde die Vorteile aufheben, zumindest sah Terenas es so.

„Wie wäre es dann mit Euch, Euer Majestät?“, schlug Prestor dem König von Stromgarde vor. „Euer schnelles Eingreifen stoppte Perenoldes Verrat. Ich weiß genau, dass Ihr Männer bei der Verteidigung der Pässe vor den Orcs verloren habt.“

Ein Anflug von Schmerz flackerte über das Gesicht des jungen Adligen. Und alle drei Freunde zuckten leicht zusammen, wussten sie doch, woran ihn das erinnern musste. Vielleicht war er deshalb so pingelig.

Wenn Muradin gezwungen gewesen wäre, aus einer Stadt zu fliehen, die von Drachenfeuer zerstört worden war, und eine Ewigkeit lang dieselben dreckigen Kleidungsstücke getragen hätte, wäre er wohl auch so geworden.

Trollbann furchte gedankenvoll die Stirn, aber bevor er etwas sagen konnte, unterbrach ihn Terenas leise. „Weder Thoras noch ich könnten Alterac beanspruchen. Es geht nicht einfach darum, dass ein Königreich ein anderes erobert. Wir sind alle Mitglieder der Allianz, und wir müssen zusammenarbeiten, um unsere Welt und unsere Länder zu schützen. Die Allianz als Ganzes hat die Horde besiegt und den Krieg gewonnen. Das bedeutet, dass alle Kriegsbeute, einschließlich Alterac, auch der Allianz zufällt.“ Er schüttelte den Kopf. „Wenn einer von uns Alterac annektieren würde, würden sich die anderen Herrscher hintergangen fühlen – und das zu Recht.“

„Ja“, pflichtete Muradin bei. „Es muss einstimmig beschlossen werden – oder gar nicht.“ Er lächelte. „Obwohl eine gute Idee zu präsentieren, die Sache erleichtern könnte.“

Prestor nickte und stellte seine Tasse ab. „Entschuldigt, wenn ich vermessen war“, sagte er, „oder Euch beleidigt habe.“ Er lächelte ein wenig. „Ich weiß, dass ich noch viel zu lernen habe, bevor ich darauf hoffen darf, Euch an Weisheit und diplomatischem Geschick ebenbürtig zu sein.“

Terenas schob die Entschuldigung beiseite. „Ist ja nichts passiert, mein Junge. Ich habe nach Eurer Meinung gefragt, und Ihr habt sie uns wissen lassen. Unter anderem haben wir drei uns hier versammelt, weil wir diese Sache besprechen wollten. In der Hoffnung, einen Weg zu finden, alle zufriedenzustellen und trotzdem Alterac sicher zu halten.“ Er lächelte. „Unser Freund Muradin hat recht. Wenn wir den anderen einen guten Plan präsentieren können, würde uns das Zeit und langwierige Diskussionen ersparen.“

„Natürlich. Ich hoffe nur, dass meine kleinen Anmerkungen hilfreich waren.“ Prestor stand auf und verneigte sich tief. „Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen wollt. Ich überlasse Euch Euren schweren Beratungen, welche, wie ich fürchte, weit über meine Fähigkeiten hinausgehen.“

Er wartete auf Terenas’ Entlassungsnicken, dann warf er allen ein Lächeln zu und verließ den Balkon.

Trollbann sah dem jungen Lord nach und furchte die Stirn. „Prestor ist vielleicht naiv“, sagte er, „aber er hat recht. Vielleicht sollte Alterac Reparationen zahlen.“

„Wovon denn?“, warf Muradin ein. „Sie sind genauso ausgeblutet wie wir alle. Außerdem klingt das zu sehr nach Blutgeld, was nach Rache riecht.“

„Das meiste Gold geht in den Wiederaufbau“, führte Terenas aus. „Wir haben Alteracs Schatzkammern denen der Allianz angeschlossen, als wir das Königreich übernahmen.“

„Ja, und die Internierungslager für die Orcs sind auch nicht billig“, fügte Muradin hinzu. „Wenn wir alles Gold in die Lager, die Reparaturen und die schöne, neue Festung am Portal stecken, was bleibt da noch für Reparationen übrig?“

Trollbann seufzte. „Ihr habt recht. Ich finde nur, dass sie irgendwie sühnen sollten. Alteracs Verrat hat so viele Leben gekostet.“

„Perenoldes Verrat“, korrigierte Terenas leise, aber bestimmt. „Das dürfen wir nicht vergessen. Nur sehr wenige von Alteracs Bürgern wussten vom Verrat ihres Königs. Perenolde hat sie nur von einigen Pässen abgezogen und machte so die Durchgänge der Horde zugänglich. Es ist weniger Alterac, das der Horde geholfen hat, als sein König, der den Orcs freien Durchgang gewährte und seine eigenen Bürger aus allem heraushielt.“

„Wohl wahr“, stimmte Trollbann zu. „Ich kenne viele Menschen aus Alterac, die meisten sind anständige Leute. Nicht so wie ihr doppelzüngiger König.“ Er schüttelte den Kopf, leerte den Krug und wischte sich mit dem Handrücken über den Bart. „Ich denke noch einmal darüber nach“, versprach er.

„So wie wir alle“, versicherte ihm Muradin und angelte sich ein letztes Küchlein vom Teller, als sie alle aufstanden. „Keine Angst, wir finden schon eine Lösung.“

„Das werden wir ganz bestimmt“, stimmte Terenas zu. „Ich hoffe nur, wir lösen dieses Problem, bevor uns wichtigere Angelegenheiten beschäftigen.“

Seine beiden Begleiter wussten, was er meinte. Sie hatten Khadgars Warnung erst vor wenigen Tagen erhalten und warteten nun auf Nachricht von Turalyon.

Wenn die Horde tatsächlich angriff, wenn sich das Portal erneut öffnete, dann würden schon bald alle Fragen, Alterac betreffend, irrelevant sein. Doch solange Perenolde unter Hausarrest stand und das Königreich sich unter der Kontrolle der Allianz befand, konnten sie sich später darüber Gedanken machen... falls sie überlebten.

Muradin dachte düster über die Demonstration von Arthas’ Kampfkünsten an der Rüstung nach und hoffte inständig, dass der Prinz noch nicht so bald den Geschmack echten Krieges zu spüren bekommen würde.

8

Die Wolken hingen tief über Sturmwind, berührten fast die Spitzen der vielen Türme. Ein frischer Wind bauschte die Umhänge der Wachen auf, die sich in ihren Unterständen außerhalb der Burg bibbernd zusammenkauerten.

Drinnen waren ihr Kommandant Turalyon und seine Berater noch wach. Sie studierten Karten in einer der Waffenkammern der Burg, die jetzt der Allianz als Kommandoposten diente. Die Wachen hatten der schönen Elfe zugenickt, die ihren Kommandanten begleitete und sich momentan im selben Raum wie die Strategen aufhielt. Die Spannung zwischen den beiden hatten alle bemerkt.

Sie fröstelten, schenkten einer besonders eisigen Brise aber keine Aufmerksamkeit. Sie strich durch die Stadt, kroch durch die Burgtore und glitt dann den breiten Hauptkorridor entlang, bevor sie sich nach links wandte. Sie wirbelte durch einen weiteren Gang nach oben und über einen kleinen Innenhof, über dem der bewölkte Nachthimmel zu sehen war.

Zwei Wachen standen am Eingang zur königlichen Bibliothek. Sie fröstelten, als die Brise sie erreichte und blinzelten, weil sich die Schatten um sie herum stärker zu verdunkeln schienen.

Plötzlich kam starker Wind auf, der die Schatten hinwegfegte und mehrere Gestallten enthüllte. Vier davon schienen Menschen zu sein, zumindest der Körpergröße nach. Alle trugen Kapuzenumhänge und merkwürdige Bandagen um Gliedmaßen und Torso, aber ihre Augen leuchteten in wildem Rot. Die fünfte Gestalt überragte sie, und selbst im Dunkeln leuchtete ihre Haut grün.

Eine der Wachen wollte gerade einen Alarmruf ausstoßen und ihr Schwert ziehen. Aber das sollte ihr niemals gelingen. Der Orc trat vor und schwang bereits seine schwere Axt. Die Wache starb. Ihr Kamerad konnte den Schild heben, einen Schlag von den merkwürdig gekleideten Gestalten abwehren und mit dem Speer zustechen. Doch das war nutzlos, denn ein anderer Eindringling packte den Speerschaft und zerbrach ihn. Dann wirbelte er herum und erwischte die Wache am Hals, genau über dem Schildrand. Der Mann fiel lautlos, sein Kopf wurde beinahe abgetrennt. Die Gestalten stiegen über die zuckenden Leichen, öffneten die Türen und betraten die königliche Bibliothek.

„Beeilt euch“, wies Blutschatten sie an. „Wir dürfen nicht entdeckt werden.“

Seine Todesritter nickten, ebenso wie Pargath Throatsplitter, der Orc, der die erste Wache so schnell erledigt hatte. Blutschatten hatte extra einen Krieger vom Klan des blutenden Auges mitgenommen, weil sie diese Welt besser als jedes andere Mitglied der Horde kannten. Pargath war ihm als einer der schlaueren und ruhigeren Kämpfer aufgefallen.

Die fünf teilten sich auf und durchsuchten die Bibliothek. Nach mehreren Minuten fluchte Pargath. „Es ist nicht hier!“, flüsterte er.

„Was?“ Blutschatten trat zu dem Krieger, der neben einem leeren Glaskasten stand. „Bist du dir sicher?“

Als Antwort wies Pargath auf die Vitrine und eine kleine, braune Karte, die in einer Ecke steckte. Blutschatten hatte Zugriff auf die Erinnerungen seines Gastkörpers. Und nach einigen Sekunden konnte er die Schrift entziffern: Das Buch Medivhs. Nicht öffnen ohne Sondergenehmigung des Königs oder des Kommandanten der Allianz.

„Es war hier“, vermutete Blutschatten. Er untersuchte das tiefviolette Innere der Vitrine, wo sich eindeutig der Abdruck von etwas Großem, Schwerem und Rechteckigem abzeichnete. „Aber wo ist es jetzt?“

„Hierher“, rief einer der Todesritter leise.

Blutschatten trat zu ihm. Pargath und die anderen beiden Todesritter waren direkt hinter ihm.

„Es sieht so aus, als wäre jemand auf dieselbe Idee wie wir gekommen.“ Der Todesritter wies auf eine kleine Lesenische... und den Leichnam darin. Die Leiche trug die Rüstung der Allianzwachen, ein Dolch ragte aus dem Spalt zwischen Helm und Brustplatte.

„Alterac“, flüsterte Pargath und blickte auf den toten Mann. „Die Abzeichen dort.“ Pargath wies auf die Markierungen am Dolchgriff. „Das ist die Krone von Alterac.“

Blutschattens eigene Erinnerungen bestätigten dies. „Alterac hat also das Buch“, überlegte er. Trotz seines Verrats während des letzten Krieges herrschte Lord Perenolde immer noch über Alterac. Zumindest bislang. Und das Buch war der Allianz wertvoll... Alterac konnte es als Faustpfand benutzen.

Ja, das klang logisch.

„Aber warum hat er ein so offensichtliches Zeichen hinterlassen?“, überlegte Pargath. „Um der Allianz zu zeigen, dass Alterac und sein König immer noch im Spiel sind? Oder...“ Er lächelte und zeigte seine Hauer. „... vielleicht war es nur ein allzu sorgloser Mörder?“

„Nun, wir werden jedenfalls nicht so sorglos agieren“, sagte Blutschatten. „Wir brauchen dieses Buch, deshalb müssen wir nach Alterac. Nimm den Dolch und stell sicher, dass die Allianz nicht den gleichen Hinweis wie wir erhält. Der Leichnam ist noch warm. Lassen wir die Wachen glauben, dass alle von derselben Hand getötet wurden, wenn man die Leichen am Morgen findet.“

Pargath kniete sich gehorsam hin und zog die Waffe aus dem Toten. „Dann nach Alterac?“

„Ja... aber nicht sofort. Wir müssen unserem ursprünglichen Plan so genau wie möglich folgen. Wir gehen immer noch in die Schwarzfelsberge. Wir brauchen Rend, Maim und die roten Drachen, die sie kontrollieren.“

Pargath nickte. „Schwarzfels liegt auf dem Weg nach Alterac“, merkte er an.

„Genau.“ Blutschatten grinste. „Und mit der Hilfe eines roten Drachen könnten wir dort binnen Stunden hin und wieder zurück sein und so rechtzeitig das Portal erreichen.“ Er nickte. „Aber zuerst müssen wir hier so leise wieder raus, wie wir reingekommen sind.“

Er sammelte sie um sich. Die Schatten kamen näher, die Temperatur in der Bibliothek fiel. Einen Moment später wehte ein eisiger Wind durch die Türen, an den sich abkühlenden Leichen und den Blutlachen vorbei, zurück in den Gang und aus der Burg hinaus.

So entschwanden sie in die Nacht.

Einen Tag später erreichten Blutschatten und sein Gefolge die Schwarzfelsberge. Ihre kleine Gruppe war größer geworden. Er hatte Gaz Soulripper kontaktiert, und seine Todesritter hatte ihm Fenris Wolfsbruder vom Donnerfürstenklan, Tagar Rückenbrecher vom Knochenmalmerklan und mehrere ihrer besten Krieger geschickt. Die Orcs hatten sich wie befohlen mit Blutschatten und den anderen am Fuß der Berge getroffen. Ihre Gruppe war jetzt gerade so groß, dass sie sich, Blutschattens Meinung nach, immer noch ungesehen von der Allianz bewegen konnte. Er hoffte jedoch, dass sie zahlreich genug waren, um die Aufmerksamkeit von Schwarzfausts Söhnen zu erregen.

Sie bewegten sich völlig ungedeckt durch die Berge und achteten darauf, dass die in der Nähe postierten Orc-Wachen sie deutlich sehen konnten. Blutschatten wollte den Eindruck vermeiden, dass sie sich heimlich anschlichen oder gar einen Überfall planten.

Schließlich erreichten sie die Spitze. Die Steine waren von der Hitze aufgeplatzt, und Lava strömte wie ein glühender Fluss durch die natürlichen Kanäle. Die trutzige Burg war aus jenem glasartigen Stein errichtet worden, der dem Ort seinen Namen gab. Blutschatten erinnerte sich an die tragischen Ereignisse. Hier hatte Schicksalshammer seine Basis errichtet, und hier hatten die Häuptlinge Blutschatten und die anderen Todesritter den versammelten Klans vorgestellt. Und es war hier unten gewesen, im Tal am Fuß der Berge, wo Schicksalshammer gegen Lothar, den Anführer der Allianz, gekämpft und gewonnen hatte – aber nur, um dann von Turalyon, Lothars Stellvertreter, besiegt zu werden. Sieg und Niederlage lagen an diesem Ort eng beieinander.

Er verdrängte die Erinnerung. Dafür war jetzt keine Zeit. Viel wichtiger war die Gegenwart und das eigene Vorankommen.

Mit einer Geste signalisierte er der Gruppe, am Eingang stehen zu bleiben. Augenblicklich erschienen vier bewaffnete Wachen, groß und kräftig, die aussahen, als warteten sie nur darauf anzugreifen.

„Wir wollen mit Schwarzfausts Söhnen sprechen. Sagt ihnen, Teron Blutschatten hat Neuigkeiten und will ihnen ein Angebot machen.“ Er trat vor und schob die Kapuze von seinem Kopf.

Die Wachen erbleichten. Eine flüsterte der anderen etwas zu. Der zweite Orc lauschte, verneigte sich und verschwand in der Dunkelheit. Kurz darauf war er schon wieder zurück. Der Kommandant hörte ihm zu, dann wandte er sich Blutschatten und seiner Gruppe zu.

„Bleibt zusammen“, ermahnte er sie und führte sie in die Burg.

Blutschatten folgte ihm tief in das Herz der Berge. Seine leuchtend roten Augen nahmen alles auf. Die Burg wurde stark genutzt. Er bemerkte andere Orcs, die offensichtlich beschäftigt waren. Alle blieben stehen und starrten sie an, überrascht, Todesritter auf der Schwarzfelsspitze anzutreffen. Doch keiner wagte, etwas zu sagen.

Schließlich erreichten sie den großen Raum, den Blutschatten noch als Schicksalshammers Thronsaal gekannt hatte. Die Gestalt, die jetzt auf dem massigen, aus Fels gehauenen schwarzen Sitz saß, war kleiner als der berühmte Kriegshäuptling und wirkte durch die groben Gesichtszüge und die ungekämmte braune Mähne plumper. Medaillen und Knochen hingen an Nase, Ohren, der Stirn und im Haar. Ihre Rüstung war kunstvoll verziert, genauso wie das riesige, rasiermesserscharfe Schwert.

„Rend“, sagte Blutschatten und blieb exakt außerhalb der Reichweite des Schwertes stehen.

„Blutschatten“, antwortete Rend Schwarzfaust, Mithäuptling des Schwarzfelsklans. Sein hässliches Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das es noch hässlicher machte. Er rutschte herum und schob ein Bein über die Armlehne des Throns. „Gut, gut, gut. Was willst du hier, toter Mann?“

„Genau“, sagte eine schrillere Stimme. Blutschatten sah zu Rends Bruder Maim, der ein wenig hinter dem Thron hockte. Er war halb in den Schatten verborgen. „Du wagst dich den langen Weg hierher, nur um uns zu besuchen?“

„Das Dunkle Portal wurde wieder geöffnet“, begann Blutschatten, doch Rend schnaubte nur. „Das habe ich in meinen Träumen gesehen“, sagte der Orc-Häuptling. „Ich wusste, dass ein Hexenmeister dahintersteckt.“ Er runzelte die breite Stirn. „Was ist damit?“

Blutschatten schaute finster. Das Gespräch lief nicht wie erhofft. „Ner’zhul führt die Horde jetzt an“, sagte er. „Ich soll dich und den Schwarzfelsklan zurückholen. Wir brauchen auch den Drachenmalklan und die roten Echsen.“

Rend sah Maim an, und beide Brüder lachten. „Nach zwei Jahren, in denen nichts geschehen ist, wagst du dich hierher, in meine Burg, mit einer Handvoll frischer Orc-Krieger und erwartest, dass ich begeistert vor einem alten Schamanen auf die Knie falle? Und dann wollt ihr nicht nur meine Krieger, sondern auch meine Drachen?“ Er lachte erneut, obwohl seine Augen wütend blitzten. „Auf keinen Fall!“

„Du kannst nicht ablehnen“, sagte Blutschatten. „Wir brauchen deine Leute und die Drachen, um unseren Plan auszuführen!“

„Mir ist egal, was du brauchst“, erwiderte Rend kühl. Er stand auf, und Blutschatten erkannte, dass Rend Schwarzfaust trotz seines kindischen Benehmens höchst gefährlich war. „Das ist dein Problem, nicht meins. Mich interessiert nicht, was der alte Ner’zhul plant. Wo war er, als wir gegen die Allianz gekämpft haben? Ich war hier. Wo war er, als Schicksalshammer seinen Kampf verlor? Ich war hier!“

„Ich auch“, sagte Maim.

„Wo war er, als das Portal zerstört wurde und wir hier festsaßen?“, fuhr Rend fort. „Wo war er, als wir zwei Jahre lang gejagt wurden und nur langsam unsere Kräfte regenerieren konnten, indem wir die heimatlosen Orcs aufnahmen? Ich sage dir, wo. Er war sicher und geborgen auf Draenor und hat keinen Finger gerührt, um uns zu helfen!“

Rend zog sein Schwert und schlug es so fest auf die Thronlehne, dass der Stein splitterte. Maim sprang auf, dann lachte er mit einem Anflug von Irrsinn in der Stimme.

„Aber ich war hier! Ich habe diese Orcs wieder zusammengeführt! Ich habe die Horde neu gebildet, nicht auf Draenor, sondern hier auf Azeroth, direkt vor der Nase der Allianz! Ich bin jetzt der Kriegshäuptling, und kein abgetakelter Schamane nimmt mir das wieder weg!“

Blutschatten wollte dem Jungen am liebsten eine Ohrfeige verpassen, ließ es aber bleiben. „Bitte“, zischte er durch gefletschte Zähne. „Bitte, überdenk das noch einmal. Ohne deine Hilfe wird Ner’zhul...“

„... scheitern“, beendete Rend den Satz unhöflich. Maim blickte schadenfroh. „Er hat keine Erfahrung mit echtem Krieg. Er ist kein Taktiker, hat kein Verständnis für den Kampf und keine wirklichen Führungsqualitäten. Die Allianz wird diese nachgemachte Horde zerquetschen, und dann...“ Er grinste. „... werde ich die Scherben aufsammeln. Wir werden alle Überlebenden um uns scharen, Maim und ich, so wie wir es nach dem letzten Krieg auch taten.“

Maim kroch näher, und Rend legte die Hand auf den Kopf seines Bruders, wie bei einem Schoßhund. „Und mit der Horde, der echten Horde, nur größer und mit den Drachen auf unserer Seite und mir als Anführer, werden wir Azeroth erobern.“ Rend grinste Blutschatten an. „Und dann, toter Mann, wirst du mir dienen.“

Hinter Blutschatten versteifte sich Tagar. „Du Feigling!“, brüllte er Rend an. „Verräterischer Hund. Ich prügele dich wie einen Welpen und nehme mir deinen Thron! Dann folgen deine Leute meinen Befehlen und nehmen ihren Platz in der Horde wieder ein!“

„Ach ja?“, antwortete Rend unbeeindruckt. „Du willst mich hier und jetzt angreifen?“ Sein Lächeln wurde breiter, und Blutschatten legte Tagar eine Hand auf die Schulter.

„Seine Wachen sind in der Nähe, und zwar viele“, ermahnte er den Häuptling der Knochenmalmer schnell. „Wenn du ihn angreifst, werden sie dich töten, und dann fehlt uns ein Häuptling.“ Er schüttelte den Kopf. „Jetzt ist nicht die Zeit dafür.“

Tagar murrte, trat aber einen Schritt zurück. Rend wirkte enttäuscht.

„Zum letzten Mal... werdet ihr euch uns anschließen?“, fragte Blutschatten leise.

„Ach, warte, lass mich nachdenken... äh, nein“, antwortete Rend und grinste schmierig.

Maim lachte.

„Nun gut.“ Blutschatten verneigte sich. „Dann gibt es nichts mehr zu besprechen.“

Rend lachte. „Mach nur“, wies er ihn an. „Ich kann es kaum abwarten, von deiner blutigen Vernichtung zu hören.“ Er und sein Bruder verfielen in erneutes Gelächter, das durch den Saal in die Hallen und Gänge dahinter drang, während Blutschatten seine entmutigte Gruppe aus der Burg hinaus- und den Berg hinunterführte.

Die Sonne war bereits untergegangen und das letzte Licht der Dämmerung gewichen. Der Himmel war völlig schwarz. Blutschatten blickte in die tanzenden Flammen des Lagerfeuers.

Die Dinge waren nicht nach Plan verlaufen. Er war tief in Gedanken versunken und überdachte den nächsten Schritt. Die anderen waren in weiser Voraussicht still. Das einzige Geräusch kam vom knisternden Feuer, und ab und zu erklang das Gemurmel leise geführter Unterhaltungen.

Ein plötzlicher Laut ließ sie alle aufspringen.

„Menschen! Tötet sie!“, erklang der Ruf der Wachtposten. Die Todesritter blieben ruhig, aber die Orcs brüllten los. Sie waren froh, endlich ein Ziel für ihre Frustration zu haben.

Blutschatten konnte den Menschen erkennen, der tapfer in ihr Lager kam. Tagar griff ihn an und schlug mit dem Knüppel zu. Dieser Hieb würde den zerbrechlichen Schädel des Menschen zerschmettern...

Doch was stattdessen geschah, paralysierte alle. Blutschatten beobachtete, wie der Mensch mit einer beiläufigen Bewegung den Knüppel abfing und ihn dem Orc aus dem Griff wand.

Tagar starrte den Mann entgeistert an. Dann wollten er und die anderen sich erneut auf ihn stürzen.

Der Mensch rief: „Aufhören!“

Selbst Blutschatten bezweifelte, dass er etwas gegen ihn ausrichten konnte. Denn die Macht, die in diesem einen Wort lag, war immens.

Wer war der Mann? Blutschatten beobachtete neugierig, wie der Mensch in den Kreis des Feuerscheins trat. Unter seinesgleichen hätte der Mann als schön gegolten, überlegte Blutschatten. Er war groß, gut gebaut für einen Menschen, mit glänzendem Haar und starken, aber edlen Gesichtszügen. Dazu trug er prächtige Kleidung und ein juwelenverziertes Schwert. Er schmunzelte und zupfte etwas von seinem Ärmel.

„Ich weiß, dass ihr mich am liebsten sofort wieder angreifen würdet. Aber meine Kleidung wurde für heute schon genug beschmutzt. Ich mag es nicht, wenn euer Blut daran klebt.“ Er grinste gefährlich, und seine perfekten Zähne blitzten. „Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine.“ Der Schatten hinter ihm flackerte, plötzlich schien er sich zu erheben, wuchs zu monströser Größe an und formte große Schattenflügel, die sich ausbreiteten.

„Wer bist du?“, fragte Blutschatten.

„Man kennt mich unter vielen Namen.“ Das Lächeln des Mannes wurde breiter. „Einer davon ist... Todesschwinge.“

Todesschwinge! Blutschatten war erschüttert. Er glaubte dem Mann, so bizarr es auch klingen mochte. Er hatte bereits ein wenig von seiner Stärke gespürt. Blutschatten wusste, wer der schwarze Drache war: das vielleicht mächtigste Wesen auf Azeroth.

Sie hatten während des Krieges ein paarmal schwarze Drachen gesehen, und Blutschatten hatte sich oft gefragt, wieso der Drachenmalklan nicht die schwarzen gefangen genommen hatte statt der widerspenstigen roten. Er hatte vermutet, dass das wohl zu schwierig war, oder dass niemand Todesschwinges Zorn auf sich ziehen wollte.

Blutschatten versuchte zu sprechen, brachte vor Verblüffung aber keinen Ton heraus. Er versuchte es erneut. „W-was willst du von uns?“

Mit einer Geste seiner beringten Hand winkte Todesschwinge ab. „Beruhige dich“, antwortete er in verächtlichem Tonfall. „Ich will euch nichts tun, sonst wärt ihr bereits Asche.“ Seine Augen leuchteten für eine Sekunde auf und ließen das Feuer erahnen, das tief unter seiner menschlichen Fassade schwelte. „Ganz im Gegenteil. Ich habe euch beobachtet, und ich würde gern mit euch ins Geschäft kommen.“

Er legte ein Taschentuch auf einen nahe liegenden Felsen, setzte sich neben das Feuer und bedeutete ihnen, dasselbe zu tun. Sie gehorchten langsam. „Ihr seid von beeindruckender Stärke und Zielstrebigkeit.“ Er lächelte sie an. „Ich würde gern die Welt kennenlernen, die solche Wesen hervorbringt.“

Blutschatten beobachtete den uneingeladenen Gast. Wollte Todesschwinge Draenor besuchen? Und wenn ja, warum?

Als hätte er seine Gedanken gelesen, blickte Todesschwinge Blutschatten an und nickte. Seine dunklen Augen glänzten, und er wirkte dabei ganz wie ein selbstbewusster Mensch. „Ich weiß von eurem Treffen mit Rend Schwarzfaust“, sagte Todesschwinge leise. „Er und sein Bruder sind beides Idioten. Aber nicht ohne Macht. Und ich weiß, dass ihr die roten Drachen des Drachenmalklans braucht, die der Klan... versklavt hat.“ Seine Mundwinkel zogen sich beim letzten Wort nach oben, als würde ihn die Idee erheitern. „Die roten sind minderwertige Wesen, wenn ihr mich fragt. Mir schleierhaft, was ihr mit denen wollt.“

Blutschatten wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Drachen sind machtvolle Wesen“, begann er vorsichtig.

„Das sind wir tatsächlich. Du willst uns als Verbündete? Dann kann ich dir ein Angebot machen. Meine mächtigen Kinder werden dir helfen, und zwar freiwillig statt unter Zwang.“

Einer der Orcs, der offensichtlich bemüht war, den unerwarteten Gast zufriedenzustellen, bot Todesschwinge einen Krug Bier an. Die große Kreatur fixierte den Orc finster. „Nimm das faulige Zeug weg!“ Duckend entfernte sich der Orc. Todesschwinge beruhigte sich und wandte seinen feurigen Blick wieder Blutschatten zu. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich biete dir die Hilfe meiner Kinder an. Als Gegenleistung verlange ich sicheren Durchgang durch das Dunkle Portal und Hilfe beim Transport einer Fracht.“

„Du willst nach Draenor?“, platzte Tagar heraus. „Warum?“

Das Lächeln, das Todesschwinge dem Häuptling des Knochenmalmerklans zuwarf, ließ den Orc verstummen. „Meine Planung geht dich nichts an, Orc“, sagte der Drachenmann leise zischend. „Aber keine Sorge. Sie wird eure Pläne nicht stören.“

Blutschatten zog das Angebot in Erwägung. Er brauchte Drachen, ganz egal welcher Farbe, damit sein Plan funktionierte. Wenn er annahm, musste er sich nicht wieder mit Rend abgeben, obwohl er dem selbst ernannten Kriegshäuptling bei Gelegenheit gern etwas Bescheidenheit eingebläut hätte. Er wusste nicht, was Todesschwinge vorhatte, aber solange es nicht mit seinen Plänen kollidierte, hatte er kein Problem damit, auf die Forderung des Drachen einzugehen.

„Sehr gut, Todesschwinge“, sagte er schließlich.

„Lord Todesschwinge.“ Er lächelte humorlos, und seine Stimme klang hart. „Lasst uns die Form wahren.“

Blutschatten neigte den Kopf. „Natürlich, Lord Todesschwinge. Das sehe ich auch so. Wir geben Euren... Leuten und der Ladung sicheres Geleit. Aber zuerst muss ich einen Auftrag erfüllen, weil ich selber eine Ladung abholen muss.“

„Nun gut“, stimmte Todesschwinge zu. Er stand anmutig auf. „Ich rede mit meinen Kindern und informiere sie über die Abmachung. Wenn ich wiederkomme, werde ich euch helfen.“ Er klopfte sich den Staub von den Händen, obwohl er nichts berührt hatte, und ohne ein weiteres Wort verschwand er in den Schatten.

„Gut“, sagte Blutschatten einen Moment später, als er sicher sein konnte, dass der Drache fort war und sich nicht aus der Dunkelheit heraus auf sie stürzen würde. „Packt ein. Wir müssen los, und wir haben nicht viel Zeit.“

Die anderen gehorchten eilig, alle waren offensichtlich froh, sich auf den Abbau des Lagers konzentrieren zu können, statt an die merkwürdige Gestalt denken zu müssen, die sich gerade mit ihnen verbündet hatte.

Blutschatten hoffte, dass Todesschwinge auch wirklich ein Verbündeter war. Denn wenn er etwas anderes im Schilde führte, konnten sie ihn nicht daran hindern.

Zwei Gestalten, eine männlich und eine weiblich, erwarteten Todesschwinge unweit des Lagers der Orcs. Der Mann war kräftig gebaut und trug einen kurz geschnittenen, dunklen Bart. Die Frau war zierlich, hatte bleiche Haut und langes, glattes Haar. Beide waren schwarzhaarig, und ihre Gesichtszüge glichen denen von Todesschwinge in seiner menschlichen Gestalt.

„Gibt es Neuigkeiten, Vater?“, fragte die Frau, ihre Stimme klang sehr angenehm.

„Sie haben eingewilligt, wie ich es vorausgesagt habe, Onyxia“, antwortete Todesschwinge. Er strich seiner Tochter über die Wange, und sie legte ihr Gesicht in seine Hand und lächelte ihn an. „Bald schon stehen uns zwei Welten zur Verfügung, nicht mehr nur eine.“ Er küsste ihre bleiche Stirn, dann wandte er sich an ihren Bruder. „Aber ich habe eine Aufgabe für dich, während ich weg bin.“

„Welche, Vater“, antwortete der Mann. „Ich werde sie sofort ausführen.“

Todesschwinge lächelte. „Es sind immer noch Orcs an der Schwarzfelsspitze. Sie haben die Bindungen zu ihrem Volk aufgegeben und verweigern sich der Horde. Das macht sie reif für einen Angriff.“ Sein Lächeln wurde breiter, als er seinen Sohn an der Schulter fasste. „Wenn ich zurückkomme, Nefarian, will ich diesen Rend Schwarzfaust haben. Ihr beide werdet die Berge kontrollieren und die Orcs, die darin leben. Sie werden eure Sklaven sein.“

Nefarian grinste, sein Gesichtsausdruck spiegelte den seines Vaters wider. „Nichts leichter als das. Die Orcs und ihre Bergfestung erwarten dich bei deiner Rückkehr“, versprach er.

„Ausgezeichnet.“ Todesschwinge sah seine Kinder einen Moment lang an, dann nickte er. „Jetzt muss ich wieder zu unseren neuen Verbündeten und ihnen bei ihrer kleinen Mission helfen, damit sie sich bald meinem Auftrag widmen können.“

Als ihr Vater zu den Orcs zurückkehrte, fletschte Onyxia die Zähne und lachte wild. „Nun, Bruder, wollen wir zu unserem neuen Heim und unseren neuen Untergebenen aufbrechen?“

„Ja, Schwester“, antwortete Nefarian lachend. „Mit denen haben wir leichtes Spiel, denke ich.“ Er bot ihr seinen Arm an. Sie hakte sich ein, schlängelte die zarten, bleichen Finger um seinen mächtigen Bizeps, und gemeinsam verschwanden sie in den Schatten.

Einen Herzschlag später erklang in der abendlichen Brise das Geräusch mächtiger Schwingen.

9

„Schneller. Verdammt noch mal, schneller!“

Danath schlug die Zügelenden gegen den Hals seines Pferdes. Das Tier wieherte protestierend und hatte Schaum vor dem Maul. Aber es gehorchte.

Danath hörte nicht, wie die Hufe über den harten Boden donnerten. Er vernahm nur den Klang primitiver Waffen, das Grunzen und Heulen der Wilden, die Schreie fallender Männer. Sie waren von der merkwürdigen Finsternis überrascht worden, die dann plötzlich verschwunden war. Und auf einmal waren überall Orcs gewesen. Danath und seine Männer waren direkt in eine Falle gelaufen. Er hatte keine Zeit für strategische Entscheidungen gehabt, keine Zeit, etwas anderes zu tun als einfach zu kämpfen. Viele seiner Männer waren sofort zurückgedrängt worden. Sie hatten keine Chance gehabt, sich zu wehren. Die grüne Flut hatte sie einfach fortgespült.

Danath schloss die Augen, aber er sah immer noch die Männer und Pferde, die dem Angriff zum Opfer gefallen waren. Der Angriff war ebenso effizient ausgeführt worden wie brutal und barbarisch. Danath hatte Farol noch eine Warnung zurufen wollen, als ein großer Orc in das Pferd des Jungen krachte und ihn aus dem Sattel warf. Farol ging sofort zu Boden. Danath sah nicht, wie er starb, aber er wusste, dass er seine Schreie bis ans Ende seiner Tage hören würde. Farol, der so begierig auf Kampf und Ehre gewesen war, der seinen ersten Orc töten wollte. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit zu einem einzigen Schlag erhalten.

Danath hatte sofort erkannt, dass sie verlieren würden.

Seine Männer hatten das auch begriffen – und gewusst, was getan werden musste.

„Herr Kommandant! Reitet zur Festung!“, hatte Vann ihn gedrängt. Gleichzeitig erwehrte er sich eines viel größeren Gegners, der wild mit seinem Knüppel zuschlug. „Berichtet von uns! Wir geben Euch Deckung!“

Die anderen hatten zugestimmt. Danath zögerte, fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, zu bleiben und mit seinen Männern zu kämpfen und zu fliehen und sie so vielleicht zu retten.

„Geht!“, brüllte Vann seinem Kommandanten zu. Ihre Blicke trafen sich. „Für die Söhne Lo...“

Der Orc hatte zugeschlagen, als Vann einen Moment unachtsam gewesen war. Sein Knüppel fuhr mit tödlicher Kraft herab. Danath hatte sein Pferd herumgerissen, bevor Vann fiel, das Tier angebrüllt und war in Richtung Festung geritten. Weg von Farol und Vann und all den anderen, die er in den Tod geführt hatte.

Danath biss sich so fest auf die Lippe, dass sie blutete. Seine Männer hatten natürlich recht. Jemand musste Nethergarde warnen, und er hatte die nötige Autorität und die familiären Verbindungen, um sich Gehör zu verschaffen. Auf seine Erfahrung und sein Können als Anführer konnte man ebenfalls nicht verzichten.

Aber beim Licht, in seinem ganzen Leben war ihm noch nie eine Entscheidung so schwergefallen wie diese. Er fluchte leise, schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen, und trieb sein Pferd wieder an.

Der Pfad wand sich durch das ausgedörrte Land. Roter Staub stieg unter den Hufen des Pferdes auf. Danath saß sicher im Sattel und schaute auf, als er die riesigen Steinmauern von Nethergarde sah. Er konnte bereits die Wachen auf der Brüstung erkennen, die auf ihn deuteten und zweifellos andere über seine Ankunft informierten.

„Öffnet die Tore!“, rief er, so laut er konnte, und hielt seinen Schild hoch vor sich, damit man das Zeichen der Allianz darauf erkennen konnte. „Öffnet die Tore!“

Die schweren Tore aus Holz und Eisen öffneten sich langsam, und er ritt in vollem Tempo hindurch. Erst drinnen rutschte Danath aus dem Sattel und wandte sich an den nächstbesten Soldaten. „Wer hat hier das Kommando?“, wollte er schwer atmend wissen.

„Nennt Euer Anliegen und Euren Namen, bitte“, antwortete der Soldat.

„Dafür ist jetzt keine Zeit“, fauchte Danath, packte den Soldaten beim Brustpanzer und zog ihn zu sich heran. „Wer hat das Kommando?“

„Das habe ich“, sagte eine Stimme hinter ihm. Danath ließ den Soldaten los und wirbelte herum. Er stand einem großen, breitschultrigen Mann in violettem Gewand gegenüber, das ihn als einen der Zauberer von Dalaran auswies. Der Mann hatte langes, weißes Haar und einen ebensolchen Bart. Aber hinter den Falten im Gesicht saßen junge, aufmerksame Augen.

 „Danath Trollbann, stimmt’s?“, fragte der Magier „Ich dachte, Ihr wärt bei Turalyon?“

Danath nickte, um seine Identität und die Bemerkung des Mannes zu bestätigen. Dann holte er Luft. „Schließt die Tore und besetzt die Mauern! Die Horde ist hier!“

Khadgars Augen weiteten sich, aber er widersprach nicht. Er gab mit den Händen Signale, und die Männer befolgten die lautlosen Befehle. Das Tor wurde geschlossen, jemand kümmerte sich um Danaths armes, überanstrengtes Pferd, und er erhielt einen Wasserschlauch.

„Was ist passiert?“

„Turalyon hat mich mit der Hälfte der Männer aus Sturmwind hergeschickt.“ Danath schluckte etwas Wasser, das zwar warm war, aber den Durst dennoch löschte. Dankbar nickte er dem Mann zu, der es ihm gebracht hatte. „Wir sind direkt nach Erhalt der Nachricht losgeritten. Er kommt mit dem Rest nach.“ Danath schüttelte den Kopf und wischte sich über den Mund. „Aber wir waren zu spät. Die Orcs hatten das Portal bereits geöffnet, und sie warteten dort auf uns. Meine Jungs... hatten niemals eine Chance.“

Khadgar nickte, sein Blick war düster. „Eure Verluste tun mir leid, aber die Warnung verschafft uns wertvolle Zeit. Wenn die Horde erneut in Azeroth einfallen will, muss sie zuerst an uns vorbei. Nethergarde wurde für so etwas erbaut. Die Orcs werden diese Festung nicht so schnell einnehmen.“

„Wie wollt Ihr Euch verteidigen?“, fragte Danath, der sich wieder soweit erholt hatte, dass er sich umschauen konnte. „Es sieht nicht so aus, als hättet Ihr viele Soldaten hier, und ich sehe keine Balliste oder Katapulte auf den Mauern.“

„Wir haben nicht so viele Kämpfer, das stimmt“, sagte Khadgar. „Doch das bedeutet nicht, dass wir keine Verteidigung oder Waffen haben. Ihr werdet sehen.“

„Davon gehe ich aus.“ Danath biss die Zähne zu einem Lächeln zusammen. „Und wenn sie kommen, warte ich hier auf sie.“

Die Orcs kamen eine Stunde später.

Sie stürmten den Pfad hinauf und füllten den Weg wie Wasser, das eine enge Rampe hinunterlief. Sie drängelten einander beiseite im hektischen Verlangen, die robusten äußeren Mauern der Festung zu erreichen. Danath und Khadgar standen auf einer der Brüstungen und beobachteten das Geschehen unter ihnen.

„Verdammt... das müssen Hunderte sein“, flüsterte Danath und sah, wie die Horde die Ebene vor der Burg besetzte. Wie ein grüner Vorhang aus Orcs und Waffen drang sie vorwärts. In der Hitze des Gefechts war Danath die große Zahl der Orcs gar nicht richtig aufgefallen.

„In der Tat“, antwortete Khadgar. Der junge Magier im alten Körper schien nicht sonderlich besorgt zu sein. „Obwohl es nicht so viele wie während des Zweiten Krieges sind. Entweder haben sie viel von ihrer Stärke in diesen Kämpfen eingebüßt, oder sie halten einen Teil der Streitkräfte zurück.“ Er zuckte die Achseln. „Nicht, dass es von Bedeutung wäre. Wir werden mit allem fertig, was sie uns entgegenschicken. Ihr fragtet wegen der Verteidigung der Festung? Seht...“

Er deutete auf etwas, und Danath sah überall entlang der Mauern farbige Gestalten auftauchen. Männer und Frauen, in violette Gewänder wie Khadgar gekleidet, kamen auf die Mauern. Der Erzmagier nickte, und alle Magier hoben gleichzeitig die Hände. Danath spürte, wie sich seine Haare aufrichteten, und er hörte ein leises Summen. Dann fuhren Blitze hinab und vernichteten die erste Welle von Orcs.

„Beeindruckend“, meinte Danath, seine Ohren klingelten noch von dem eben ertönten Donnerschlag. „Aber wie oft können Eure Leute das machen?“

Khadgar lächelte. „Das werden wir jetzt herausfinden.“

Turalyon beugte sich flach über sein Pferd und trieb es so zu größerer Eile an. Obwohl er wusste, dass das Warten auf Verstärkung durch Allerias Waldläufer richtig gewesen war, drängte ihn etwas im Innersten. Er hatte das Gefühl, dass sie vielleicht zu spät kamen. Irgendetwas ging bereits in Nethergarde vor. Er war sich nicht sicher, ob es Soldateninstinkt war oder seine eigene Unsicherheit. Aber der Paladin, der normalerweise freundlich zu Tieren war, trat sein Pferd immer wieder.

Mit ihm ritten seine Männer, Alleria und ihre Waldläufer. Alleria schaute ihn fragend an, weil sie bemerkte, wie er sein Tier antrieb, doch sie schwieg. Er sah zu ihr und wollte es irgendwie erklären, aber alles, was er hervorbrachte, war: „Etwas geschieht bereits.“

Sie öffnete den Mund, bereit für eine Stichelei, schloss ihn aber, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. Stattdessen nickte sie einfach und beugte sich vor, um ihrem Pferd etwas ins Ohr zu flüstern. Sie schien Turalyon zu glauben, und einem Moment lang wichen in ihm Sorge und Angst einer wohligen Wärme.

Der Ritt schien endlos zu dauern. Durch die Wiesen und sanften Hügel von Goldhain und die kleine Stadt Dunkelhain hindurch, über das graue Land, zu dem Ort, wo Medivh in Karazhan gelebt hatte. Treffenderweise hieß diese Stelle Gebirgspass der Totenwinde.

Schließlich ging es in die matschigen, stinkenden Sümpfe des Elends. Aber jetzt änderte sich das Land, und Turalyon spürte einen inneren Ruck, als er es bemerkte. Das faulige Blätterwerk war, trotz des unangenehmen Geruchs, immerhin ein Anzeichen von Leben gewesen. Der Boden unter ihm begann nun rot und trocken zu werden, fast wie in der Wüste.

Alleria furchte die Stirn. „Es... fühlt sich tot an“, brüllte sie über das Donnern der Hufe hinweg. Turalyon nickte nur atemlos. Sie ritten weiter durch die leere Landschaft und überquerten einen kleinen Hügel. Dahinter lag, wie eine weiße Spitze über der blutroten Umgebung, die Festung.

Er ließ sein Pferd halten und versuchte zu erkennen, was die ganze Zeit an ihm genagt hatte. „Etwas stimmt da nicht“, murmelte er.

Alleria beschirmte ihre Augen gegen die Sonne. Sie konnte besser sehen als er, und als sie nach Luft schnappte, wusste Turalyon, dass er recht gehabt hatte.

„Die Festung wird angegriffen!“, rief sie. „Die Horde... Turalyon... es ist, als würde ich wieder die Horde des Zweiten Krieges sehen! Es müssen Hunderte sein!“ Ihre Stimme klang erschrocken, aber irgendwie auch freudig erregt. Und das eiskalte Lächeln von Hass und Wut hatte ihr Gesicht wieder verzerrt.

Er erinnerte sich an die Unterhaltung in Sturmwind. Alleria würde die Möglichkeit erhalten, eine Menge „Ungeziefer“ zu vernichten. Er hasste ihre Gier nach dem Tod... und fürchtete, dass diese sie leichtsinnig werden ließ.

„Wir sind fast da“, sagte er zu ihr und seinen Kommandeuren, die sich neben ihm versammelt hatten. „Wir schlagen von hinten zu und keilen die Orcs zwischen uns und Nethergarde ein. Wenn wir sie geschlagen haben, reiten wir in die Festung und verstärken die Verteidigung, für den Fall, dass die Orcs erneut angreifen. Auf geht’s.“

Sie eilten zur letzten Hügelkuppe. Kurz bevor sie die Anhöhe überquerten, ließ Turalyon sie anhalten. Der Pfad stieg ein letztes Mal an, lief an den Felsen eine kleine Erhebung hinauf. Dahinter lag das Plateau. Von dort aus konnten sie alles gut überblicken.

Hunderte Orcs attackierten die Mauern von Nethergarde, obwohl die Festung bislang die Angriffe mit Leichtigkeit zu überstehen schien. Hier und da lagen Orc-Leichen. Turalyon sah mindestens einen Toten, dem ein Pfeil aus dem Hals ragte. Viele andere waren böse verbrannt, aber einige Orcs schienen unverletzt. Er sah auf und erblickte die Gestalten in den violetten Gewändern auf der Brüstung der Festung. Und trotz des Ernstes der Lage lächelte er, als er verstand, was passiert war.

„Wir müssen zuschlagen, bevor sie merken, dass wir hier sind. Sammelt die Männer und lasst sie auf meinen Befehl hin angreifen.“ Seine Kommandeure und Alleria nickten, gingen zu ihren Einheiten und gaben die Befehle ruhig weiter. Waffen wurden gezogen, Gurte kontrolliert, Schilde und Visiere gesenkt, und dann rückte die Armee vor.

Turalyon und die anderen arbeiteten sich vor und überbrückten die letzte Distanz zum Plateau. Die Hufe ihrer Pferde wurden von Staub umwölkt. Dem Licht sei Dank waren die Orcs so mit Rufen, Fluchen und Grunzen beschäftigt, dass sie nicht hörten, wie sie sich näherten.

Es war an der Zeit. Sie waren, so weit es ging, ungesehen vorangekommen. Turalyon atmete tief durch und hob den Hammer hoch über seinen Kopf.

„Söhne Lothars!“, rief er. Die Macht des Heiligen Lichts verstärkte seine Stimme und trug sie zu jedem Mann unter seinem Kommando. „Für die Allianz - für das Licht!“

Seine Soldaten brüllten, und mehrere Hundert Kehlen stimmten ihren eigenen Kriegsruf an. Turalyon ließ den Hammer niederfahren, und der Angriff begann.

Einige der Orcs in den hinteren Reihen hörten seinen Ruf und wandten sich um. Doch da wurden sie schon von den heranbrandenden Pferden niedergetrampelt. Andere wurden erschlagen, bevor sie die Gefahr überhaupt wahrnahmen.

In der Festung jubelten die Männer, als Turalyon und die Seinen vor-wärtsstürmten. Sie bahnten sich den Weg mit Hämmern, Äxten und Schwertern. Alleria und ihre Waldläufer feuerten einen Pfeil nach dem anderen ab, spannten die Bögen mit übermenschlicher Geschwindigkeit und waren noch dazu äußerst treffsicher. Ihre Pferde verlangsamten den Galopp dabei nicht. In überraschend kurzer Zeit war Turalyon bis zu Nethergardes riesigen Toren vorgedrungen, die sich bei seinem Näherkommen öffneten.

Turalyon zögerte und blickte zurück ins Gefecht. Seine Augen schauten in die von Alleria. Er wies auf das Tor. Sie furchte die Stirn... Genau wie er auch, zögerte sie, nicht bereit, den Kampfplatz zu verlassen. Aber sie waren die Anführer ihrer Einheiten, und sie mussten so schnell wie möglich mit dem Kommandanten der Burg sprechen.

Als sie nickte, trieb Turalyon sein Pferd durch die enge Lücke und erschlug einen Orc, der ihm folgte. Alleria war so nah bei ihm, dass ihr Bein an seines stieß. Dann schlossen sich die Tore hinter ihnen.

„Ah, gut, Alleria. Du hast uns Turalyon gerade rechtzeitig zurückgebracht.“

Turalyon wandte sich dem Sprecher zu. Er lächelte, als er Khadgar erkannte, und sie fielen sich in die Arme. Turalyon hatte seinen Freund vermisst. Er hatte sich sehr an ihn gewöhnt und mochte den Magier, seit sie zusammen im Zweiten Krieg gekämpft hatten. Es wäre nur schöner gewesen, hätten sie sich unter erfreulicheren Umständen wiedergesehen. Alleria nickte dem Magier kurz zu.

„Ich bin so schnell gekommen, wie es ging“, sagte Turalyon. Er erblickte den Mann neben Khadgar und lächelte erleichtert. „Danath“, grüßte er seinen Stellvertreter. „Ich bin froh, dich hier sicher zu sehen.“ Er sah sich um. „Aber... wo sind deine Männer?“

„Tot“, entgegnete Danath knapp.

„Beim Licht... alle?“, flüsterte Turalyon. Danath hatte die Hälfte der Krieger aus Sturmwind mitgenommen.

Danath biss sich auf die Unterlippe. „Die Orcs hatten für uns eine nette, kleine Falle aufgebaut, als wir ins Tal kamen. Sie töteten meine Jungs, bevor sie reagieren konnten.“ Danaths Stimme brach.

„Meine Jungs“ hatte er sie genannt. Turalyon erkannte, dass sich Danath für ihren Tod verantwortlich fühlte. „Sie haben sich geopfert, damit ich hierher kommen und Khadgar vor der nahenden Horde warnen konnte.“

„Sie haben das Richtige getan. Und du auch“, versicherte Turalyon seinem Freund und Untergebenen. „Es ist schrecklich, Männer unter seinem Kommando zu verlieren, aber Nethergarde zu warnen, besaß oberste Priorität.“ Er furchte die Stirn. „Khadgar... wir müssen herausfinden, warum sie uns jetzt attackieren.“

„Das ist offensichtlich. Sie müssen an uns vorbei, wenn sie nach Azeroth wollen“, antwortete Khadgar.

Aber Turalyon schüttelte den Kopf. „Nein, das ist unlogisch. Denk mal nach. Sie sind nicht zahlreich genug, um diese Festung einzunehmen, und das wissen sie auch. Ich möchte wetten, dass das hier nicht die ganze Horde ist. Aber wo ist dann der Rest? Warum greifen sie nur mit einem Teil ihrer Armee an?“

Khadgars weiße Brauen zogen sich über seinen jungen Augen zusammen. „Das ist ein exzellentes Argument.“

„Ich weiß, wie wir es herausfinden“, sagte Danath knapp. „Bringt mir einen Orc, und dann hole ich aus ihm heraus, was er weiß.“

Die Art, wie er es sagte und dabei aggressiv sein Kinn vorstreckte, ließ Turalyon zurückweichen. Er sah in Danaths Gesicht das Spiegelbild von Allerias Hass auf die Orcs. Trotz all ihrer Brutalität, trotz all des Schmerzes und der Schäden, die die Orcs auf dieser Welt angerichtet hatten, bedauerte er doch jeden Gefangenen, den sich Danath Trollbann zur Befragung vornahm. Er hoffte nur, dass der Orc schnell reden würde. Zu seinem eigenen Wohl – und dem ihren.

Danath wartete auf seine Zustimmung. Turalyon nickte zögernd und wandte sich Alleria zu. Aber bevor er etwas sagen konnte, war sie zu einem der Türme geeilt. Sie musste etwas tun, irgendetwas. Alleria gab den Befehl nach unten weiter, wartete auf die Antwort und grinste dann wild.

„Es wird nicht lange dauern“, sagte sie. Turalyon vermutete, dass sie selbst hinunterklettern würde. Stattdessen blieb die Elfe, wo sie war, legte einen Pfeil auf ihren langen, eleganten Bogen auf, zielte und nahm den Kampf von dem hoch gelegenen Ort auf.

Alleria behielt recht. Keine drei Minuten später rief jemand von draußen: „Wir haben einen!“

Die großen Tore wurden wieder geöffnet. Zwei von Turalyons Männer ritten hindurch. Zwischen ihnen hing ein beinahe besinnungsloser Orc. Sie warfen ihn dem General vor die Füße. Blut bedeckte den grünen Kopf, und die Augen waren geschlossen. Er rührte sich nicht, als er zu Boden fiel.

„Ein Orc, noch lebendig“, berichtete einer der Männer. „Er hat ganz schön was am Kopf abbekommen, aber er wird es überstehen. Zumindest eine Weile.“

Turalyon nickte und entließ sie. Beide Männer salutierten, bevor sie ihre Pferde herumrissen und sich wieder in die Schlacht stürzten.

„Dann schauen wir mal, was wir hier haben“, bemerkte Danath. Er fesselte dem Orc die Hände und Füße mit einem dicken Seil. Dann schüttete er dem Monster Wasser über das Gesicht. Es wachte auf, verzog das Gesicht, furchte die Stirn und begann zu knurren, als es die Fesseln bemerkte.

„Warum greift ihr uns jetzt an?“, fragte Danath und beugte sich über den Orc. „Warum greift ihr Nethergarde an, obwohl ihr nicht in voller Stärke seid?“

„Ich gebe dir gleich Stärke“, brüllte der Orc-Krieger und kämpfte gegen die Fesseln an. Aber sie hielten.

„Ich glaube, du verstehst nicht richtig“, sagte Danath langsam, zog seinen Dolch und bewegte ihn direkt vor dem Gesicht des Orcs. „Ich habe dir eine Frage gestellt. Du solltest besser antworten. Warum greift ihr Nethergarde jetzt an? Warum wartet ihr nicht, bis der Rest der Horde eintrifft?“

Blut und Spucke trafen Danaths Züge. Er sprang überrascht zurück und wischte sich langsam über das Gesicht. „Ich habe keine Lust auf Spielchen“, knurrte er und beugte sich mit dem Dolch vor.

„Warte!“, befahl Turalyon. Er verabscheute Folter, und er vermutete, dass, selbst wenn er Danath erlaubte weiterzumachen, der Orc nichts sagen würde. Orcs waren fast unempfindlich gegen Schmerzen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass er ohnmächtig wurde oder starb, war groß. „Es gibt vielleicht einen anderen Weg, das herauszufinden.“

Danath verharrte. Er spürte Allerias Blick auf sich. Sie war wütend und wollte die Kreatur verletzt sehen. Aber das würde nichts helfen.

Turalyon schloss die Augen und verlangsamte seinen Atem. Er griff nach dem stillen, tiefen Kraftreservoir in sich, dem Zentrum, wo, ganz gleich, was ihm durch den Kopf ging, Frieden herrschte. Er spürte ein Prickeln auf seiner Haut, als das Licht antwortete, ihm seine Kraft und seine unbeschreibliche Gnade lieh. Er hörte, wie seine Freunde nach Luft schnappten und der Gefangene einen erschreckten Schrei ausstieß.

Turalyon atmete tief ein. Er öffnete die Augen und sah das vertraute Leuchten über seinen Händen und Armen. Danath und Khadgar sahen ihn an, ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Und der Orc war nur ein zusammengekrümmtes, wimmerndes Knäuel zu seinen Füßen.

Als Turalyon sprach, war seine Stimme völlig ruhig und kontrolliert. Es gab keinen Platz für Hass oder Wut. Nicht, wenn man völlig im Licht wandelte.

„Nun, beim Heiligen Licht, wirst du unsere Fragen wahrheitsgemäß beantworten“, intonierte Turalyon und legte dem Orc die Hand auf die Stirn. Plötzlich blitzte etwas auf. Er spürte, wie ein Funke übersprang. Der Orc schrie, und als Turalyon seine Hand entfernte, befand sich auf der Stirn der Grünhaut wie eingebrannt ein dunkler Abdruck. Der Orc zitterte und weinte. Turalyon hoffte, dass er ihn nicht unnötig verletzt hatte.

„Warum greift ihr jetzt an?“, fragte er erneut.

„Um... um euch abzulenken“, schluchzte der Orc. „Von den Diebstählen.“ Zuerst hatte er hartnäckig geschwiegen, doch jetzt konnte der Orc gar nicht schnell genug reden. „Ner’zhul braucht etwas. Artefakte. Er befahl uns, die Allianz hier zu beschäftigen, damit sie nicht merkt, was vorgeht.“

Khadgar strich sich durch den Bart. Er hatte sich schneller als Danath erholt, der immer noch den jungen Paladin anstarrte. Turalyon blickte auf, um nach Alleria zu sehen, die ihn ebenfalls mit gespanntem Unglauben ansah. Als ihre Blicke sich trafen, wurde sie verlegen und schaute weg.

„Ein einfacher Plan, aber einfache Pläne sind oft die besten“, bemerkte Khadgar. „Obwohl, welche Artefakte? Und wozu braucht er etwas von unserer Welt und nicht von seiner eigenen?“

Der Orc schüttelte den Kopf und zitterte. „Er weiß es nicht“, sagte Turalyon. „Er würde es verraten, wenn er es wüsste.“ Unter dem Einfluss des Lichts konnte der Orc nicht lügen.

Die Tore öffneten sich gerade so weit, dass zwei Elfen sich durchzwängen konnten, dann schlossen sie sich wieder. Turalyon sah auf. Seine Augen verengten sich, als er erkannte, dass sie völlig erschöpft waren. „Was gibt’s Neues?“

„Sturmwind“, antwortete einer der Elfen. „Jemand ist in die königliche Bibliothek eingebrochen. Die Wachen haben die Leichen von zwei Männern vor der Tür gefunden und einen drinnen. Es sieht so aus, als wäre einer durch eine Orc-Axt gestorben.“

„Orcs? In der königlichen Bibliothek?“, Turalyon sah Khadgar an, dann den Orc, der zusammenfuhr. „Artefakte...“, murmelte Turalyon und fügte die Teile des Puzzles zusammen.

„Die perfekte Ablenkung“, musste Khadgar zugeben. „Verdammt. Ich vermute mal, der simple Plan hat perfekt funktioniert. Wir waren hier damit beschäftigt, die Orcs zu bekämpfen, und jemand entkam mit...“ Er wandte sich den Elfen zu. „Was genau haben sie gestohlen?“

Die Elfenkundschafter wirkten unangenehm berührt. „Unglücklicherweise habt Ihr recht. Etwas ist tatsächlich gestohlen worden.“

„Und was?“, fragte Turalyon.

Der Elf räusperte sich. „Das, hm... Buch von Medivh.“

„Beim Licht“, flüsterte Turalyon und spürte einen Kloß im Hals. Das Buch von Medivh. Das Zauberbuch des größten Magiers der Welt, des Mannes, der den Orcs dabei geholfen hatte, das Portal zu erschaffen.

Das Buch enthielt alle Geheimnisse des brillanten Zauberers. Und nun befand es sich in den Händen der Orcs!

Neben ihm schien Khadgar ebenfalls erschüttert zu sein. „Turalyon... ich brauche dieses Buch, um das Portal zu schließen!“

„Was?“, schrie Turalyon.

„Medivh und Gul’dan haben das Tor erschaffen. Im Zauberbuch könnte stehen, wie man es wieder schließt. Und nicht nur das. Wenn die Orcs es haben, können sie es auf zahlreiche andere Arten gegen uns einsetzen. Das ist schlecht. Das ist sogar sehr schlecht.“

Turalyon schüttelte den Kopf und tastete nach der Oase der Ruhe in sich. „Ich verstehe. Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Die Orcs belagern uns immer noch und, Ablenkung hin oder her, stellen noch immer eine beachtliche Gefahr dar. Wir müssen die Festung beschützen und sie davon abhalten, daran vorbeizukommen. Wenn das erledigt ist, dann... nun, dann können wir uns darum kümmern.“

Er sah seinen Freund an, der langsam nickte. Dann blickte Turalyon zu Alleria und meinte den Hauch eines zustimmenden Schimmers in ihren grünen Augen zu erkennen, bevor sie ihren Bogen wieder erhob und erneut feuerte.

„Du hast recht“, sagte Khadgar und neigte den Kopf. „Wir müssen die Festung verteidigen. Wir können kein Rätsel lösen, wenn wir tot sind.“

Turalyon warf ihm ein schwaches, besorgtes Grinsen zu, kletterte auf sein Pferd und ritt mitten hinein ins Getümmel der Schlacht.

10

„Wir teilen uns in zwei Gruppen auf“, wies Blutschatten Fenris, Tagar und seine Todesritter an. Um sie herum herrschte das übliche Durcheinander, das charakteristisch war, wenn ein Lager so schnell wie möglich abgebrochen wurde. „Ich brauche...“

Er sah auf, als die Geräusche jäh verklangen. Todesschwinge war zurückgekehrt und wirkte wieder wie der perfekte Mensch. Er sah Blutschatten an.

„Was ist? Hast du geglaubt, ich käme nicht zurück?“

„Nein, natürlich nicht.“

Etwas an der Art, wie Blutschatten antwortete, schien dem Drachen offenbar nicht zu gefallen. Seine schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen.

Blutschatten begriff, dass seine Worte als arrogant ausgelegt werden konnten, und fügte hastig hinzu: „Ich vertraue Eurem Wort völlig, Lord Todesschwinge.“

Der Drache schien besänftigt.

Blutschatten fuhr fort: „Wir müssen nach Alterac reisen. Und von da aus nach Dalaran. Dürfen wir Euch um die Hilfe Eurer Kinder bitten?“

„Ihr dürft. Ich werde sie jetzt rufen.“ Todesschwinge warf den Kopf zurück, riss den Mund weiter auf, als ein Mensch es vermocht hätte, und stieß einen merkwürdigen Schrei aus, der die Ohren marterte. Dadurch erschuf er einen kalten Hauch, der an das Jenseitige erinnerte.

Einige der Orcs wichen zurück. Selbst Blutschatten hatte Mühe, die Nerven zu behalten, während die Erde erbebte, als würde sie dem schwarzen Drachenlord höchstpersönlich antworten.

Schließlich schloss Todesschwinge sein Maul, und sein Gesicht nahm normale Proportionen an. „Alles in Ordnung“, sagte er und lächelte, offensichtlich erfreut über das Unbehagen der Todesritter und Orcs. „Sie kommen.“

„Danke.“ Blutschatten verneigte sich. Er wandte sich den beiden Orc-Häuptlingen zu. Es war ihm unangenehm, was er von ihnen verlangen musste, und er befürchtete, dass sie vielleicht störrisch reagierten. Doch es musste getan werden. „Eure Aufgabe ist schwierig, aber notwendig. Ich muss euch bitten, in die Gruft des Sargeras zu gehen.“

Tagar knurrte unruhig, und selbst der kräftigere Fenris wirkte bestürzt. „Dann schickst du uns in den sicheren Tod!“, zischte Fenris.

„Absolut nicht. Dort befindet sich ein Artefakt, das Ner’zhul benötigt. Ich werde Ragnok mit euch schicken, damit er euch hilft und erklärt, was...“

„Gul’dan... der mächtige Gul’dan ist dort gestorben!“, unterbrach ihn Fenris. „Wir haben Geschichten darüber gehört, wie Gul’dan die Gruft vom Grund des Ozeans erhoben hat. Und dann haben ihn die Monster angegriffen, die den schrecklichen Ort bewachten. Wir haben gehört, dass nur ein paar entkommen sind, und dass die meisten dort starben und vor Schmerz dabei geschrien haben... Böses lebt dort in der Finsternis, Blutschatten!“

Der Todesritter lächelte nur schwach über die Ironie dieser Bemerkung. Denn er wusste gut, dass die Menschen auf dieser Welt die Orcs für monströse Kreaturen hielten.

„Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich euch und einen meiner eigenen Todesritter ausschicken würde, wenn ich nicht an euren Erfolg glauben würde?“ Darauf hatten sie keine Antwort und tauschten unbehagliche Blicke. Blutschatten beruhigte sie mit seinem Lächeln. „Das ist schon besser. Wie ich bereits sagte, müsst ihr ein bestimmtes Artefakt bergen. Ragnok wird euch alles erklären. Wenn ihr es gefunden habt, bringt es so schnell wie möglich zum Dunklen Portal. Dort werden wir uns mit euch treffen. Der Kriegshymnenklan kann die Allianz nicht ewig beschäftigen.“

Beide Häuptlinge nickten und sahen entschlossener aus. Blutschatten betrachtete sie einen Moment. Tagar war ein kraftvoller Kämpfer, besaß aber keinerlei Raffinesse und nur wenig Intelligenz. Fenris dagegen war schlau und gerissen genug für sie beide. Und seine Haltung verriet Blutschatten, dass er den jungen Häuptling der Knochenmalmer auf Linie halten würde.

Zufrieden wandte sich Blutschatten dem Drachenlord zu. „Großer Todesschwinge, kannst du sie zu der Gruft bringen?“

Der Drachenmann nickte. „Wir kennen diese Insel, von der du sprichst“, sagte er. „Und hier sind meine Kinder... Mehr als genug für beide Gruppen, denke ich.“

Noch während Todesschwinge sprach, hörte Blutschatten ein flatterndes Geräusch – als würde Regen niederprasseln.

Massive Felsbrocken peitschten durch die Luft und schlugen in den Fels und die Erde um sie herum ein.

Blutschatten sah dunkle Streifen am Sternenhimmel, aber das waren sicherlich keine Regentropfen. Unter seinen Füßen spürte er, wie die Erde erneut bebte. Plötzlich bemerkte er die hell orangefarbenen Flecken, die immer größer wurden und sich in eine diamantartige Struktur verwandelten. Seine Augen weiteten sich, als er das feurige Magma in den großen Mäulern der Bestien sah. Das stetig lauter werdende Geräusch rührte vom Schlag ihrer Flügel her.

Blutschatten beobachtete ehrfürchtig, wie die Drachen landeten. Die Erde erzitterte, als die mächtigen Kreaturen aufsetzten. Flüssiges Feuer tropfte aus ihren Mäulern und fiel glühend zu Boden. Ihre Schuppen leuchteten im Sternenlicht, ein glänzendes Schwarz wie in einem mitternächtlichen Teich, und ihre Klauen wirkten wie poliertes Eisen.

In Blutschattens Augen waren sie die lebende Erweiterung des Bodens, auf dem sie standen. Als alle gelandet waren, falteten die Drachen ihre ledrigen Schwingen zusammen und beobachteten die Orcs und Todesritter genau. Ihre schwarzen Augen starrten die Krieger an.

Die Köpfe der Echsen drehten sich, und die Schwänze schlugen von rechts nach links. Sie erinnerten Blutschatten an eine Katze, die ihre Beute beobachtete, bevor sie zuschlug, und er erschauderte leicht.

„Hier sind meine Kinder“, verkündete Todesschwinge, und seine Stimme war von Stolz erfüllt. „Die besten Geschöpfe von Azeroth!“ Er wies auf einen besonders großen Drachen, aus dessen Stirn zwei Hörner aufragten. „Sabellian“, verkündete Todesschwinge, und der Drache senkte den Kopf, als sein Name genannt wurde, „ist in allen Belangen mein Stellvertreter. Er und einige andere werden deine Orcs zu der Insel bringen. Und um den Ausflug nach Alterac kümmere ich mich selbst.“

„Ich bin geehrt“, begann Blutschatten, aber Todesschwinge gebot ihm zu schweigen, indem er ungeduldig mit der Hand wedelte. Seine Augen leuchteten wie glühende Kohlen, als er fortfuhr. „Bewerte dich nicht über, Todesritter. Ich tue das nicht, um dir Respekt zu erweisen, sondern um den Erfolg zu sichern. Meine Pläne scheitern, wenn du versagst. Ich schlage vor, dass dir das nicht passiert, wenn du am Leben bleiben willst... nun, zumindest das, was du als Leben bezeichnest.“

Todesschwinge grinste süffisant. Dann begann er zu lachen, das Geräusch steigerte sich von normalem menschlichem Lachen zu etwas viel Dunklerem. Er warf den Kopf zurück und hob die Arme. Dadurch brandete Wind auf, der Blutschatten und die anderen vor die Felsen hinter ihnen wehte.

Was tat er da? Blutschatten fragte sich einen Moment lang, ob das Ganze nicht nur ein grausamer Scherz gewesen war, den Todesschwinge nun beenden wollte. Die Flammen der Lagerfeuer flackerten in der plötzlichen Böe und erschufen groteske, tanzende Schatten. Hinter dem lachenden Mann wuchs Todesschwinges eigener Schatten an. Er bewegte sich, als wäre er ein eigenständiges lebendes Wesen und änderte die Form, während er immer größer wurde. Schließlich breitete der Schatten die Schwingen aus und bedeckte so die Berge, alle anderen Drachen und die Umgebung.

Zum dritten Mal in dieser Nacht erbebte die Erde, und dieses Mal stürzten viele Orcs schwer. Spalten öffneten sich, siedender Dampf stieg auf, rotorangefarbenes Magma in den Tiefen glühte wie die flüssigen Flammen in den Mäulern der Drachen.

Als der Schatten wuchs und Konturen annahm, verzerrte sich Todesschwinges menschlicher Körper. Seine Gestalt wurde undeutlich, als würde sie von den Schatten aufgesogen. Nur seine Augen blieben klar, wurden größer und standen schräger. Sie nahmen den rötlichen Schein der Flammen an, überstrahlten aber schon bald die kleinen Feuer.

Der Schatten wuchs immer noch, so wie der schwindende Körper, der ihn warf. Er schien seine eigene Substanz zu besitzen und entfernte sich von den Felsen. Er wurde größer und dicker und glich sich schnell den Schatten an. Schließlich verwandelte er sich in einen schwarzen Drachen, nein... in den schwarzen Drachen. Der mächtige, gefährliche Vater der schwarzen Sippe.

Blutschatten hatte erwartet, dass Todesschwinge sich in den perfektesten Vertreter seiner Rasse verwandeln würde. Aber als die Form der Echse deutlicher wurde, erkannte er, dass Todesschwinge die dunkle Schönheit seiner Kinder fehlte. Riesige Plattenpanzer aus glühendem Metall liefen den Rücken des Drachen entlang, vom Schwanz bis zu dem langen, schmalen Kopf. Unter ihnen erkannte Blutschatten rote, goldene und weiße Flecken in Strahlenform, als ob geschmolzenes Feuer... irgendwie durchbrechen würde. Es wirkte so, als hielten die metallenen Platten, die auf Todesschwinges Rücken befestigt waren, ihn körperlich erst zusammen.

Und plötzlich erkannte Blutschatten, warum Todesschwinge so bedacht auf das Aussehen seines menschlichen Körpers war. Seine Drachengestalt war... fehlerhaft!

Rote Augen glühten aus dem Reptiliengesicht. Todesschwinge streckte seine Flügel aus, und die große, ledrige Oberfläche war so finster wie der sternlose Himmel und so runzelig wie ein altes Weib. Die Kraft loderte in dem Drachen wie die Hitze eines tobenden Feuers.

„Kommt, kleine Todesritter, wenn ihr euch traut“, befahl Todesschwinge. Seine Stimme war jetzt ein tiefes Dröhnen. Er senkte den Kopf fast bis zum Boden, und Blutschatten stellte fest, dass er einen Moment lang bewegungsunfähig war, bevor er seinen Körper zum Gehorsam zwang. Zitternd kletterte er auf den Drachen, wo dessen Hals auf den gepanzerten Rücken traf. Glücklicherweise boten die unnatürlichen Metallplatten festen Halt. Die anderen taten es ihm nach, und bald schon saß Blutschattens Gruppe auf den Drachen.

Ohne vorherige Warnung startete Todesschwinge mit kräftigem Schwung in die Luft und schlug mit den Flügeln. Reine Muskelkraft beförderte sie in den Himmel. Blutschatten hielt sich gut fest, als der Boden unter ihm verschwand, und dann schnellten sie empor. Die Luft trug sie, als wäre der Drache so leicht wie ein Strohhalm. Sabellian und seine Begleiter trennten sich vom Rest und verschwanden in der Nacht.

Todesschwinge flog eine Kurve, dabei hing sein Flügel so tief, dass Blutschatten glaubte, er könnte über den Boden streifen. Dann drehten sie ab in Richtung Alterac.

Aiden Perenolde, König von Alterac und Gefangener in seinem eigenen Palast, schreckte aus dem Schlaf auf. Er hatte geträumt und erinnerte sich in vagen Bildern an etwas Großes, Schwarzes und Reptilienähnliches, das über ihm schwebte und... lachte?

Vielleicht, überlegte er bitter, war das eine Metapher für sein Schicksal.

Er rieb sich das Gesicht, verdrängte den Albtraum, aber der Schlaf kam nicht zurück. Murrend stand er auf. Vielleicht würde ihm etwas Wein helfen. Er goss sich ein Glas der dunklen Flüssigkeit ein. Rot wie Blut, überlegte er, trank es langsam aus und überdachte die Entscheidungen, die ihn hierher geführt hatten.

Damals war alles so leicht erschienen. So weise, so richtig. Die Orcs zerstörten alles, was sich in ihrem Weg befand. Deshalb hatte er mit ihnen verhandelt. Er wollte sein Volk retten. Der König schaute finster in sein Glas, als er an das Gespräch mit Orgrim Schicksalshammer zurückdachte. Zuerst schien alles zu funktionieren, aber letztlich war doch alles schiefgelaufen. Sein sogenannter „Verrat“ wurde entdeckt, und die Orcs hatten ausgerechnet bei der Sache versagt, die sie eigentlich so gut konnten: beim Zerstören.

Dumme, große, grüne Idioten!

Plötzlich wurde die Tür zu seinem Schlafzimmer aufgebrochen. Perenolde verschüttete den Wein über sein Nachthemd, als mehrere große Gestalten hereinstürmten. Eine Sekunde lang schaute er nur untätig zu und glaubte, dass er immer noch träumte, als die großen, grünen Idioten, über die er gerade nachgedacht hatte, in seine Privatgemächer eindrangen. Es wurde noch unwirklicher, als die Orcs ihn packten und zur Tür drängten.

Was machten die hier im Palast? Perenolde kam erst nach und nach zu sich. Ohne an Tempo zu verlieren, warf einer der Grünhäute sich den König wie einen Sack Getreide über die Schulter. Sie gingen durch den Palast, an den Leichen von Perenoldes Wachen vorbei und aus dem Eingangstor hinaus. Dann stellten die Orcs Perenolde wieder auf die Füße.

„Nein, bitte, ich...“ Seine Schreie blieben ihm im Hals stecken. Eine große Kreatur, so groß wie der Palast, schwebte über ihm. Eine Masse aus schwarzen Schuppen, schimmernden Platten und ledrigen Flügeln. Der lange Kopf bewegte sich, um ihn zu studieren. Die roten Augen glühten.

„König Perenolde.“ Die trockene Stimme schien nicht aus dem mit Reißzähnen besetzten Maul des Drachen zu kommen. Und erschreckt erkannte Perenolde, dass die Kreatur nicht allein war. Jemand saß auf ihrem Rücken. Oder zumindest... etwas, korrigierte er sich.

Er sah die rot glühenden Augen des Reiters, den Kapuzenumhang und die merkwürdig verhüllten Gliedmaßen. Hatte er von solchen Kreaturen nicht während des Zweiten Krieges gehört? Als Agenten der Horde?

„König Perenolde“, sagte der Reiter wieder. „Wir sind gekommen, um mit euch zu reden.“

„Ja?“, antwortete Perenolde. Seine Stimme war kaum mehr als ein Quieken. „Mit mir? Wirklich?“

„Während des Krieges habt Ihr einen Vertrag mit der Horde geschlossen.“

„Ja?“ Perenolde verstand plötzlich. „Ja!“, sagte er schnell. „Ja, das habe ich. Mit Schicksalshammer persönlich. Ich war ein Verbündeter! Ich bin auf eurer Seite!“

„Wo ist das Buch von Medivh?“, wollte der seltsame Reiter wissen. „Gebt es mir!“

„Was?“ Die Zusammenhanglosigkeit der Fragen verdrängte Perenoldes Furcht. „Das Buch? Warum?“

„Ich habe keine Zeit für Diskussionen“, zischte der Reiter. Er murmelte etwas, gestikulierte mit der Hand, und plötzlich bohrten sich fürchterliche Schmerzen durch Perenoldes Körper. Sein ganzer Leib erbebte. „Das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was ich dir antun kann“, informierte ihn der Fremde. Die Worte klangen wie aus großer Entfernung, als der Schmerz nachließ. „Gib mir das Zauberbuch, jetzt!“

Perenolde versuchte zu nicken, konnte es aber nicht. Stattdessen fiel er auf die Knie. Plötzlich war der Schmerz wieder fort. Er stand langsam auf, seine Glieder zitterten, und sah die beiden machtvollen Kreaturen vor sich an. Der brennende Blick des Drachen drang tief in seine Seele ein. Irgendwie war der Blick weniger besorgniserregend als zuvor. Der Schmerz hatte geholfen, Perenoldes Kopf frei zu bekommen. Das konnte seine Chance sein, wenn er clever vorging.

„Ich habe das Buch“, gestand er ein. „Oder besser gesagt, ich hatte es aus Sturmwind gestohlen und weiß, wo es ist.“ Er fuhr abwesend über die Weinflecken auf seinem Nachthemd. „Ich dachte, ich könnte es als Pfand brauchen. Die Allianz beansprucht meinen Thron und mein Königreich, weil ich euch im letzten Krieg geholfen habe.“ Er beobachtete den Reiter. Ein Todesritter, dachte er und erinnerte sich plötzlich an den richtigen Begriff. Ja, das war eindeutig ein Todesritter, was bedeutete, dass er einige Bedeutung innerhalb der Horde hatte.

Perenolde überlegte. „Ich gebe euch das Buch... gegen einen Gefallen.“

Der Reiter sprach nicht, aber etwas in seiner Körperhaltung deutete an, dass er zuhören würde.

„Die Allianz hat Truppen in meinem Königreich stationiert, um mich zu kontrollieren. Vernichtet sie, und das Buch gehört euch.“

Eine Sekunde lang bewegte sich der Reiter nicht. Dann nickte er. „Nun gut“, antwortete er. „Das wird erledigt. Wir kommen wieder, und du sagst uns, wo das Buch zu finden ist.“ Der Todesritter flüsterte dem Drachen etwas zu, und er hob ab. Seine Flügel trugen ihn nach oben. Ein Rauschen erschreckte Perenolde, gefolgt vom Anblick mehrerer sich erhebender Schatten.

Perenolde blickte den schwarzen Drachen nach, dann begann er zu lachen. Konnte es derart leicht sein? Ein altes Zauberbuch, das er nicht brauchte, gegen seine Freiheit und die Unabhängigkeit seines Königreichs? Er lachte weiter und war sich bewusst, wie wahnsinnig das klang.

„Was geht hier vor?“, ertönte eine Stimme. Perenolde erschrak. Dann erkannte er seinen ältesten Sohn. „Das... das war ein Drache... und ich glaube, ein Todesritter!“

Aliden fragte schockiert: „Was hast du ihnen gesagt? Wie hast du sie dazu gebracht, wieder zu gehen?“

Perenolde lachte weiter, unfähig aufzuhören.

„Verdammt, Vater!“, platzte es aus Aliden heraus, und er schlug seinem Vater so fest gegen das Kinn, dass dieser zurücktaumelte. „Seit zwei Jahren versuche ich die Schande, die du über unsere Familie gebracht hast, zu tilgen. Seit zwei Jahren!“ Aliden schaute seinen Vater an, Tränen liefen ihm über das Gesicht. „Du dummer, selbstsüchtiger Bastard. Du hast alles ruiniert!“

Perenolde schüttelte den Kopf und stand auf. Aber mitten in der Bewegung stockte er, als er ein neues Geräusch hörte. Was war das? Es klang wie... ja, wie Katapulte, die feuerten. Das Rauschen durch die Luft, das plötzliche Auslösen der Geschosse... und dann der dumpfe Einschlag. Er hörte es wieder und wieder und erkannte, dass die Geräusche von hinter dem Hügel kamen, vom anderen Ende der Stadt. Aus der Nähe der Unterkünfte der Allianzstreitkräfte. Er wusste, was die Geräusche bedeuteten und lachte erneut.

Die Drachen hatten mit dem Angriff begonnen!

Aliden starrte erst ihn an, dann in Richtung der Geräusche, dann wieder zu ihm. Die Erkenntnis stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Was hast du uns angetan, Vater?“, wollte er wissen. „Was hast du getan?“

Aber Perenolde konnte sich nicht genug kontrollieren, um zu antworten. Stattdessen setzte er sich auf den Boden und blieb dort, gluckste und schluchzte, während er den Geräuschen von Tod und Zerstörung lauschte. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie etwas so Schönes gehört.

„Dort drüben.“ Sabellian kreiste, dann landete er sanft auf dem Boden. „Boote.“

„Boote?“, hatte Tagar gefragt, als Ragnok, auf dem Rücken des großen schwarzen Drachen sitzend, den Plan erklärte. „Ich dachte, die Drachen würden uns zu dieser Insel bringen.“

Aber der Todesritter hatte seinen kapuzenbedeckten Kopf geschüttelt. „Es ist zu weit, als dass sie direkt hinfliegen könnten“, hatte er erklärt. „Sie bringen uns zum Hafen von Menethil. Dort werden wir in Boote umsteigen.“

Fenris hatte die Stirn gerunzelt. „Menethil... das ist der Name eines Königs-geschlechts dieser Welt“, sagte er schnell.

„Ja... es ist ein Außenposten der Allianz“, hatte Ragnok eingestanden. „Aber es ist der der Insel am nächsten gelegene Hafen.“

Fenris hatte der Plan nicht gefallen, doch er nahm an, dass es nicht anders ging. Die Drachen hatten sie in der Nähe des Hafens im hügeligen Land abgesetzt. Eine Bucht trennte sie von ihrem Ziel. Fenris stieg von seinem Drachen ab und schaute nachdenklich über das dunkle Wasser. Er gab seinen Kriegern mit Zeichen Befehle, wies auf den Hafen und hob den Finger an die Lippen. So leise es ging, glitt Fenris ins Wasser und begann zu schwimmen, während die Drachen, ihrer Aufgabe entledigt, wegflogen. Die Drachen hatten sie so nah am Hafen abgesetzt, wie sie es gewagt hatten. Selbst in einer kleinen Stadt, die fest schlief, würde man aufwachen, wenn mehrere Drachen direkt neben ihr landeten.

Die meisten Orcs trugen keine Rüstung und schwammen schnell. Aber diejenigen mit Plattenpanzern oder Lederrüstungen hatten es schwerer. Schließlich stiegen sie tropfend und durchfroren aus dem Wasser. Fenris sah sie an. Die grünen Gesichter glänzten im schwachen Licht, und er furchte die Stirn. Er nahm eine Handvoll Dreck auf und verteilte ihn auf seinem Gesicht.

„Bedeckt euch mit Schlamm“, wies er Tagar und die anderen Orcs so leise wie möglich an. „Wir müssen schnell, lautlos und unauffällig vorgehen.“

Die anderen nickten. Fenris überkam ein wehmütiges Gefühl, als er sah, wie die Gesichter seiner Gefährten sich braun färbten. Einst war ihre Haut von Natur aus so gewesen, einst waren alle Orcs braun wie die Erde und die Rinde der Bäume.

Und waren die Dinge damals so schlecht gewesen? Waren die Errungenschaften seither es wert, dass sie ihre Welt dafür verloren hatten? Manchmal fragte er sich das.

Er schüttelte die Melancholie ab, konzentrierte sich auf seine Begleiter und nickte, als er sah, dass sie allesamt braune Flecken in der Dunkelheit waren.

„Wir brauchen nur ein paar Boote. Wir nehmen die drei da vorne, die dem Ufer am nächsten stehen. Macht schnell und tötet jeden, der euch im Weg ist.“ Er schaute Tagar an. „Und nur die, die euch im Weg sind. Tagar, halt deine Krieger unter Kontrolle. Nur lautloses Töten. Wir wollen nicht, dass jemand Alarm schlägt.“

„Und wenn schon!“, polterte Tagar. „Wir tränken das Wasser mit ihrem Blut!“

„Nein!“ Fenris’ knapper Befehl schnitt ihm das Wort ab. „Denk daran, was Blutschatten gesagt hat. Wir gehen rein und wieder raus. Mehr nicht!“

Tagar knurrte, aber Fenris sah ihn an, bis der Häuptling des Knochenmalmerklans schließlich nickte.

„Gut.“ Fenris nahm seine Axt, eine scharfe Klinge mit kurzem Schaft. „Auf geht’s.“

Sie schlichen vorwärts, bewegten sich leise über die schlammige Erde, die Waffen bereit. Die ersten Orcs hatten die hölzerne Pier erreicht, als ein Zwerg vorbeikam, eindeutig auf Wachgang. Er hatte sie noch nicht gesehen, aber das würde er jede Sekunde. Fenris nickte den beiden Kriegern vor sich zu. Einer schoss vor, packte den Zwerg am Kopf, zog die Axt über den entblößten Hals und trennte ihm den Kopf vollständig ab. Der Körper fiel lautlos zu Boden, der Kopf rollte ein Stück weiter, sein Gesicht zeigte einen Anflug von Überraschung.

Sie gingen weiter auf die Boote zu, die Fenris ausgesucht hatte. Ein weiterer Wächter erschien, diesmal ein Mensch. Einer von Tagars Kriegers schlug ihn mit einem einzigen Hieb auf den Kopf nieder. Fenris nickte anerkennend. Er war wegen der Knochenmalmer-Orcs besorgt gewesen. Aber vielleicht waren sie nicht so wild und undiszipliniert, wie er immer gedacht hatte.

Er ging weiter, dann hörte er ein merkwürdiges schmatzendes Geräusch. Und dann ein kurzes Aufheulen. Fenris wirbelte herum. Der Orc war immer noch über sein letztes Opfer gebeugt und verursachte das schmatzende Geräusch – aber nicht das Heulen. Als Fenris erkannte, was der Knochenmalmer tat, wurde das Heulen lauter, und er konnte deutlich einzelne Worte verstehen.

„Ah!“, schrie die Wache und kreischte vor Schmerz. „Meine Beine! Es frisst meine Beine!“

Der Schrei alarmierte die Menschen. Plötzlich wurden Lichter in den Gebäuden entzündet. Menschen und Zwerge schienen aus dem Nichts zu erscheinen, und Fenris erkannte, dass sie ohne Kampf wohl nicht würden fliehen können.

Er griff wild an und hoffte, das Gefecht schnell zu beenden. Seine Orcs scharten sich um ihn und töteten die restlichen Gegner. Aber Fenris wusste, dass die Docks bald gestürmt werden würden.

„Zu den Booten!“, rief er und hob seine Axt. Sie kletterten in die drei Boote, ein Knochenmalmer ließ die Überreste seines Gegners auf dem Pier fallen. Sie hackten die Ankerketten durch und legten ab. Es dauerte, aber die Orcs schafften es schließlich, alle drei Boote von den Docks abzustoßen und in die Bucht zu steuern. Gerade als sie den Hafen verließen, stieß ein flammendes Signal in die Höhe.

„Hier ist die Bucht von Baradin“, sagte Ragnok, „und die Flotte von Kul Tiras patrouilliert dort regelmäßig. Sie werden das Signal sehen und binnen Minuten da sein.“

„Dann sollten wir weg sein, bevor sie hier eintreffen“, erwiderte Fenris grimmig. Er zog ein paar Ruder aus dem langen Behälter zwischen den Bänken des Bootes hervor und gab sie dem Krieger, der ihm am nächsten stand. „Rudert!“, brüllte er, zog weitere Ruder heraus und verteilte sie. „Rudert, so schnell ihr könnt!“

Auf den anderen Kähnen tat man es ihm nach, und bald schon flogen sie nur so über das Wasser. Ihre kräftigen Arme verliehen den Booten ein rasendes Tempo.

Aber es reichte nicht, erkannte Fenris, als er die anderen, größeren Boote auf sie zukommen sah.

„Die Marine von Kul Tiras!“, bestätigte Ragnok, der die Umrisse betrachtete. „Admiral Prachtmeer hasst euch Orcs, er wird uns um jeden Preis vernichten wollen!“

„Können wir sie bekämpfen?“, fragte Fenris, doch er wusste die Antwort schon, bevor der Todesritter den Kopf schüttelte.

„Sie sind für den Seekampf ausgebildet. Und sie sind schneller als wir. Dagegen haben wir keine Chance!“

Fenris blickte hinauf zum sternenübersäten Himmel und nickte. „Vielleicht nicht. Aber vielleicht auch doch. Rudert weiter!“

Ihre Boote bewegten sich schnell, doch wie Ragnok vorausgesagt hatte, waren ihre Verfolger schneller. Die Boote der Menschen kamen näher, und Fenris konnte die grimmigen, grün gekleideten Männer ausmachen, die an der Reling ihrer größeren Schiffe standen. Viele hielten die Bögen bereit, andere trugen Kurz-schwerter, Äxte oder Speere. Er wusste, dass seine Krieger es mit einer größeren Anzahl von Menschen hätten aufnehmen können, wären sie an Land gewesen. Aber hier auf See waren sie gewaltig im Nachteil.

Glücklicherweise waren sie nicht allein.

Gerade als das erste Boot der Menschen nah genug herankam, dass Fenris die Gesichter der Männer erkennen konnte, stürzte ein schwarzer Umriss aus dem Himmel herab. Große Flügel schlugen so vehement, dass das Boot rückwärts getrieben wurde und die Männer umfielen. Dann öffnete sich das Maul des Drachen weit, und Feuer schoss daraus hervor. Das teergetränkte Holz brannte sofort, und schnell stand das ganze Boot lichterloh in Flammen. Die Schreie der Menschen und die Brandgeräusche ließen Fenris’ Herz höherschlagen.

Aber die Verfolger flohen nicht. Wieder kamen die Boote näher, und wieder griff der schwarze Drache an und verkohlte Mensch und Holz gleichermaßen. Ein drittes Mal versuchten es die Menschen, aber ihre Waffen prallten von den starken Schuppen des Drachen ab. Und ein drittes Schiff wurde in Asche verwandelt.

Danach fielen die Schiffe der Menschen endlich zurück und ließen die Orcs in den gestohlenen Booten entkommen. Die Orcs jubelten.

„Sie geben auf!“, rief Tagar vom Bug des Nachbarbootes.

„Sie können es nicht mit den Drachen aufnehmen, und das wissen sie“, korrigierte ihn Fenris. „Aber ich glaube nicht, dass sie aufgeben.“

„Irgendwelche Anzeichen von kleineren Feuern auf den anderen Schiffen? Kontrollierte Brände?“, fragte Ragnok.

Fenris beobachtete die sich zurückziehenden Boote. „Ja. Ich sehe ein Signalfeuer und Rauch“, sagte er schließlich.

„Sie warnen den Rest der Flotte“, sagte Ragnok. „Sie werden auf uns warten.“

Tagar lachte vom Bug des Bootes neben ihnen. „Die Warnung kommt zu spät“, verkündete er und leckte Blut von seiner Axt. „Bis die Menschen ihren Mut gesammelt haben, um uns zu folgen, sind wir mit dem Artefakt schon lange auf und davon.“

Fenris nickte. Zum ersten Mal hoffte er, dass der Knochenmalmer-Orc recht behielt und er sich täuschte.

11

Antonidas, Erzmagier und Anführer der Kirin Tor, saß in seinem Studierzimmer und las eine neu eingetroffene Schriftrolle. Die Nachricht war besorgniserregend: Admiral Prachtmeer berichtete, dass eine Gruppe Orcs mehrere Boote aus dem Hafen von Menethil gestohlen hatte. Schlimmer noch: Als er sie verfolgte, waren Prachtmeers Schiffe von Drachen zurückgetrieben worden.

Schwarzen Drachen.

Antonidas spürte ein Pochen an der Schläfe und rieb sich darüber. Während des Zweiten Krieges hatte die Horde irgendwie die Unterstützung durch die roten Drachen erhalten. Und jetzt, nachdem das Portal erneuert worden war, schienen sie sich auch noch mit den schwarzen Drachen verbündet zu haben.

Das war fast unglaublich. Zwei Drachenarten? Wie konnte die Allianz dagegen bestehen?

Es klopfte leise an der Tür. „Komm rein, Krasus!“, rief Antonidas. Seine magischen Fähigkeiten hatten ihm bereits verraten, wer da zu so später Stunde vorbeischaute.

„Du hast nach mir geschickt?“, fragte der andere Magier wie beiläufig beim Eintreten und schloss die Tür hinter sich.

Antonidas vermutete, dass Krasus durch seine scheinbare Teilnahmslosigkeit versuchte, seiner Wut zu entgehen. Doch damit würde er keinen Erfolg haben.

„Ja, das habe ich“, antwortete Antonidas und spie die Worte förmlich durch seinen grau durchwirkten Bart. „Es sind seitdem Monate vergangen! Wo bist du gewesen?“

„Ich musste mich um etwas anderes kümmern“, antwortete Krasus ausweichend und setzte sich auf die Kante von Antonidas’ Schreibtisch. Das Licht der Lampe beleuchtete die roten und schwarzen Strähnen in seinem silbernen Haar, wodurch es wie schimmerndes Metall wirkte.

„Um etwas anderes kümmern? Du dienst den Kirin Tor, Krasus, eine Tatsache, an die ich dich eigentlich nicht erst erinnern muss“, wies ihn Antonidas zurecht und schaute finster. „Wenn du für solche Aufgaben keine Zeit hast, dann sollte besser jemand anders deinen Posten übernehmen.“

Zu seiner Überraschung neigte der dünne Magier den Kopf. „Wenn das wirklich dein Wunsch ist, dann trete ich zurück“, sagte Krasus leise. „Ich würde lieber bleiben, und ich garantiere dir, dass Dalaran und die Kirin Tor derzeit meine volle Aufmerksamkeit genießen.“

Antonidas sah ihn einen Moment lang an, schließlich nickte er, Er wollte Krasus eigentlich nicht verlieren. Der rätselhafte Magier hatte erstaunliche Ressourcen an Kraft und Wissen. Und trotz seiner üblichen ausweichenden Art spürte Antonidas, dass sein Kollege nur das Beste wollte.

„Schau dir das hier an“, sagte er und warf ihm die Schriftrolle zu. Er sah zu, wie Krasus las und sich der aufsteigende Schrecken auf seinem Gesicht abzeichnete.

„Die schwarzen Drachen!“, flüsterte Krasus, als er schließlich fertig war, das Dokument zusammenrollte und es sorgfältig auf den Tisch legte, als könnten schon die Worte allein ihn angreifen. „Durch meine Forschungen weiß ich, dass die roten Drachen dem Kampf und Blutvergießen nichts abgewinnen können und der Horde nur unter Zwang dienen. Aber die Schwarzen! Dieses Bündnis erscheint mir logischer und sehr viel gefährlicher.“

„Das sehe ich auch so“, sagte Antonidas. „Krasus, du kennst dich am besten mit Drachen aus. Glaubst du, dass man sie irgendwie aufhalten oder zumindest bremsen kann?“

„Ich...“ Ein scharfes Schrillen dröhnte durch die Nacht. Die beiden Zauberer sahen sich einen Moment lang an. Sie wussten, was das Geräusch bedeutete – es war ein Alarm. Krasus blieb still, während Antonidas es zu identifizieren versuchte. Welcher der alten Sprüche war es? War es der, der...

„Die arkane Schatzkammer!“, sagte er schließlich, und seine Augen weiteten sich. „Es wurde eingebrochen!“

Krasus wirkte so entsetzt, wie Antonidas sich fühlte. Die arkane Schatzkammer befand sich im Herzen der violetten Zitadelle und wurde von der stärksten Magie bewacht, zu der die Magier fähig waren. Sie beherbergte viele der mächtigsten Artefakte und einige Gegenstände, die die Magier nicht selbst benutzen konnten, die aber auch nicht in fremden Besitz gelangen durften.

Krasus streckte die Hände aus. Antonidas nahm sie, und ohne ein weiteres Wort teleportierten sie sich in die arkane Schatzkammer.

Die Welt um sie herum löste sich auf, die Wände voller Bücher in Antonidas’ gemütlichem Studierzimmer verschwanden und wurden von einer großen Steinkammer ersetzt. Der Boden und die Wände waren einfach aus dem Stein gehauen, und die Decke war gewölbt. Der Raum hatte keine Fenster und nur eine Tür. Abgesehen von dem Platz vor dem Eingang war der Rest des Raumes mit Regalen, Kisten und Schachteln übersät, alle voll.

Inmitten des Staubs und der Artefakte standen mehrere Männer. Zumindest glaubte Antonidas, dass es Männer wären. Dann nahmen seine Sinne eine schwarze Aura wahr, die jeden umgab. Und noch bevor sie sich umsahen und ihre glühenden Augen unter ihren Kapuzen zeigten, wusste er, welche Kreaturen die Verteidigung durchdrungen hatten. Er wusste es und verzagte.

Todesritter.

Menschliche Leichen, die von toten Orc-Zauberern durch schwarze Magie wiederbelebt wurden. Das reichte, um Antonidas mit Schrecken zu erfüllen. Diese Kreaturen waren stark genug, die machtvollen Zauber zu durchdringen, die hier wirkten.

Und so waren sie an diesen gut gesicherten Ort gelangt.

Aber warum? Hier lagerten unzählige Artefakte. Sicherlich alle geeignet, um den Todesrittern als Waffen zu dienen, um den Krieg endgültig zu gewinnen. Aber die Feinde bewegten sich nicht oder nahmen eins der unbezahlbaren Artefakte an sich. Sie standen im Kreis um eine Gestalt, die etwas in der Hand hielt.

Antonidas konzentrierte sich auf den Gegenstand. Er war extrem mächtig, und die Magie fühlte sich vertraut an. Aber erst als der anführende Todesritter das Objekt anhob, sich das Licht darin spiegelte und violette Strahlen in den Raum drangen, erkannte Antonidas, welcher einzelne Schatz den Todesrittern so wichtig war, um alles andere dafür liegen zu lassen.

„Er hat das Auge Dalarans!“, rief Antonidas. Er hob eine Hand und beschwor einen mystischen Blitz, während er mit der anderen die restlichen Mitglieder der Kirin Tor herbeiholte. Nur eine Handvoll passten in die arkane Schatzkammer. Aber zumindest hatten er und Krasus Verstärkung, wenn sie irgendwann der Müdigkeit anheimfielen, die in einem Kampf der Magier immer auftrat.

Das ist kein offizieller Kampf zwischen Magiern, überlegte Antonidas, als sein Blitz einen der Todesritter traf und die Kreatur gegen die hintere Wand schleuderte. Rauch stieg aus dem Loch in seiner Brust auf. Einer der anderen Todesritter erhob seinen Stab. Die Juwelen darauf glitzerten im Kerzenschein, und Antonidas hatte ein Gefühl, als würde jemand mit eiskalten Händen nach seinem Herzen greifen und zudrücken. Er fasste sich mit beiden Händen an die Brust und kämpfte darum, den Schmerz zu verdrängen, der ihn wie ein Messer durchfuhr.

Er schaffte es, einen Spruch zu wirken, und um ihn herum entstand ein violettes Glühen, das die Kälte auflöste. Er konnte den Angriffsspruch mit seinen mystischen Sinnen förmlich sehen. Er sah aus wie eine große Hand, die aus Rauch zu bestehen schien. Antonidas schlug sie zur Seite und sandte sie zu ihrem Herrn zurück. Der Todesritter fiel der Länge nach hin.

Ein anderer Zauberer der Kirin Tor teleportierte sich neben ihn, eine Elfenfrau mit langem schwarzem Haar. Eine dünne, bleiche Hand griff nach Antonidas’ Brust, während sie mit der anderen einen Zauber gegen die Eindringlinge wirkte. Antonidas nahm am Rande wahr, dass weitere Gestalten im Raum materialisierten. Er schnappte nach Luft, und sein Herz schlug wieder, Wärme durchströmte ihn, als er zwei Todesritter sah, die sich vor Schmerz krümmten. Flammen schlugen plötzlich aus ihren Gliedmaßen, dem Körper und dem Kopf hervor.

Zwei weitere Todesritter traten plötzlich zurück. Antonidas Augen weiteten sich vor Schrecken, als er erkannte, dass sie zu fliehen versuchten. Die verzerrten Schatten, hevorgerufen von den Flammen ihrer sterbenden Brüder, nahmen auf einmal eigenes Leben an. Sie legten sich um die Todesritter und absorbierten ihr Fleisch, bis sie nurmehr Erinnerung waren.

Obwohl sie nicht überleben konnten, wenn man diesen Begriff hier überhaupt verwenden konnte, würden die umzingelten Todesritter nicht allein in den Tod gehen. Immer noch von dem Angriff und seinem Versuch, sich dagegen zu wehren, geschwächt, konnte Antonidas nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen, wie zwei Todesritter sich umwandten und die Frau angriffen, die Antonidas gerettet hatte.

Satheras bleiches Gesicht verzerrte sich, ihr Kopf fiel zurück, und ihr langes, schwarzes Haar hing herab, als ihr die Luft aus der Lunge gepresst wurde. Antonidas hörte ein Knacken, ihr Brustkorb wurde eingedrückt und die Knochen in ihrem Leib zermalmt.

„Sathera! Nein!“

Antonidas bemerkte Prinz Kael’thas, dessen schöne Gesichtszüge sich vor Wut über diesen Tod verzerrten. Der Elf erhob beide Hände und breitete sie aus. Einer der Todesritter wurde von seinem Zauber erfasst und schrie auf, als sein Körper buchstäblich Glied für Glied zerrissen wurde. Der Anblick erschütterte Antonidas aufs Äußerste.

„Kael’thas!“, rief er über den Tumult, als er auf die Beine kam. „Kael’thas!“

Beim zweiten Versuch wandte sich der Elf ihm zu und sah Antonidas mit einem Blick voller Kraft an.

„Lass sie nicht wegteleportieren!“, rief Antonidas und wehrte einen Angriff ab, indem er mit einer Hand einen Schild erschuf, an dem der Todesblitz zerplatzte. Der Elfenprinz nickte. Er wandte sich mit ganzer Wut gegen die Eindringlinge und bewegte die Hände, um einen Spruch zu weben.

Der Anführer zischte Kael’thas zu. „Todesritter, zu mir“, rief er und hielt das Auge weit über sich. Die wenigen, die noch übrig waren, gehorchten. Sie bildeten einen engen Kreis und schauten vom Zentrum weg, um den Anführer und sein Artefakt zu schützen.

Noch während Kael’thas die Beschwörung murmelte und der Spruch fast fertig war, wanden sich die Schatten erneut. Dieses Mal nahmen sie, als das Auge zu leuchten begann, einen violetten Glanz an. Die Gestalten der Todesritter wurden undeutlich. Sie waren um einen Herzschlag entkommen.

Kael’thas fluchte in seiner Heimatsprache.

Die Beute war weg, aber man konnte ihr folgen und sie am nächsten Ort einfangen. Antonidas murmelte einen Teleportzauber und veränderte ihn leicht, damit er am selben Ort herauskam wie die Todesritter. Eine Sekunde später stand Antonidas auf einem breiten Balkon. Es war eine der oberen Etagen der Violetten Zitadelle. Die Todesritter hatten sich an einer Seite zusammengeschart. Ihr Anführer stand stolz und aufrecht in ihrer Mitte. Das Auge hielt er in seiner gepanzerten Hand.

Krasus, Kael’thas und andere folgten. Doch dieses Mal waren Kael’thas und Antonidas vorbereitet, hatten den Spruch bereits im Kopf und auf der Zunge und waren erfolgreich. Der Anführer der Todesritter warf Antonidas einen Blick voller Verderbtheit zu, und der Erzmagier erlaubte sich ein leichtes Lächeln.

„In der Schatzkammer wart ihr flinker, aber hier sind wir es. Der Balkon ist magisch gegen Teleportation gesichert. Ihr könnt nirgendwohin!“, rief Antonidas und schaute den Anführer an. Sie konnten die Todesritter jetzt gefangen nehmen oder töten. Einen würden sie am Leben lassen, um Informationen zu erhalten. So würden sie eine Menge mehr über die Horde und deren Pläne erfahren.

„Vielleicht nicht“, sagte der Anführer der Todesritter leise, seine Worte waren dennoch gut zu hören. „Aber warum sollten wir laufen, wenn wir fliegen können?“

Plötzlich kam ein starker Wind auf. Antonidas taumelte. Ein pfeifendes Geräusch begleitete die Böe, wurde lauter, und dann schien ein Stück der Nacht selbst über den Balkon hereinzubrechen. Die Dunkelheit teilte sich langsam, und mehrere längliche Gestalten wurden sichtbar, die in der Luft hinter der Brüstung schwebten. Grausame Augen starrten aus ihren glänzenden schwarzen Gesichtern. Antonidas konnte die Hitze spüren, die in ihnen pulsierte, und seine Kleidung war schnell nass geschwitzt.

„Dummer Mensch, hast du geglaubt, wir wären alleine gekommen?“, sagte der Anführer der Todesritter und lachte. Der größte Drache, den Antonidas je gesehen hatte, flog näher an den Balkon heran, bis sein langes, stacheliges Kinn auf der Brüstung lag.

Antonidas sah, wie Krasus erbleichte, und hörte ein einziges Wort: „Todesschwinge.“

Beim Klang des Namens bewegte der mächtige Drache den Kopf und sah Krasus intensiv an. Der Magier wich dem prüfenden Blick nicht aus. Aber Antonidas erschauderte.

Todesschwinge? Hier?

Der Todesritter kletterte auf die Brüstung und von dort auf den Rücken von Todesschwinge. „Ich habe, was ich wollte. Lasst uns abfliegen!“

Antonidas hatte sich so weit erholt, dass er einen Blitz auf die fliehenden Gestalten abfeuern konnte, der jedoch von ihren Schilden abprallte. Teleportieren kam auch nicht infrage, sie bewegten sich zu schnell und flogen zu dicht beieinander. Kael’thas und die anderen Magier schüttelten den Kopf. Sie waren einfach nicht schnell genug, um die Todesritter zu treffen, ohne versehentlich einen Drachen zu erwischen und zu verärgern – was sicherlich zur Vernichtung der gesamten Zitadelle geführt hätte.

Als wollten sie diese Bedrohung unterstreichen, flogen plötzlich zwei der Drachen, die Todesschwinge flankierten, näher und öffneten ihre Mäuler weit. Die Magier konnten gerade noch rechtzeitig die Schilde aktivieren. Ströme von Magma entsprangen den breiten Kiefern der Echsen. Sie trafen den Balkon, entzündeten Vorhänge und Schriftrollen in dem Raum dahinter.

Antonidas fluchte, als er die anderen Todesritter auf die Rücken der Drachen klettern sah. Dann hoben sie ab, und er verlor sie aus seiner Sicht. Er wusste, dass die mächtigen Kreaturen einfach durch die Schutzzauber brechen würden, die er installiert hatte. Sie waren nie dazu gedacht gewesen, Giganten wie ihnen zu widerstehen.

Antonidas spürte Verzweiflung. Er und der Rest der Kirin Tor sollten die Stadt und ihre Bürger schützen, und heute Abend hatten sie dabei versagt. Er war immer der Überzeugung gewesen, dass jeder Magier seine Grenzen kennen sollte, und heute war er an seine gestoßen. Er schaute in den Himmel, suchte nach einer Spur der Eindringlinge, aber sie waren fort.

Und sie hatten das Auge Dalarans, eines der mächtigsten Artefakte der Stadt.

Ich habe, was ich wollte, hatte der Todesritter gesagt.

Antonidas wusste, was er gemeint hatte. Aber die eigentliche Frage war: Wozu brauchte er es?

12

Fenris starrte auf das kalte Gebäude und war verwirrt. Er war nicht sicher gewesen, was er sich unter der Gruft des Sargeras vorzustellen hatte, aber ganz bestimmt nicht das. Was er zuerst für Schnitzereien gehalten hatte, waren die Muscheln, Knochen und sonstigen Überreste von verschiedenen Meereskreaturen. Sie überzogen die äußeren Mauern. Es war, als würde man den Boden des Ozeans sehen, nur dass er an Land gehoben worden und in eine bewohnbare Struktur verwandelt worden war. Und die Tür zu diesem merkwürdigen Gebäude stand weit offen.

„Befindet sich das Artefakt dort drinnen?“, fragte Fenris stirnrunzelnd. Es fiel ihm schwer, das schäbige Aussehen des Ortes mit dem bedeutenden Artefakt, das Ner’zhul hier vermutete, in Einklang zu bringen.

Der Todesritter hatte keine Zweifel. „Es ist hier“, sagte Ragnok. „Ich spüre es, tief da drinnen.“

„Dann sollten wir reingehen!“, brüllte Tagar. „Was stehen wir hier noch herum? Je schneller wir drin sind, desto eher sind wir auch wieder draußen!“

Fenris schätzte Dinge oft anders ein als der Häuptling des Knochenmalmerklans. Aber in diesem Punkt stimmte er ihm zu.

Fenris wollte den Auftrag schnell hinter sich bringen. Er gab seinen Orcs Zeichen und folgte dann Ragnok, Tagar und dessen Kriegern. Allenthalben entdeckte er Hinweise darauf, dass das Gebäude Hunderte, wenn nicht gar Tausende Jahre unter Wasser gestanden hatte. Ecken und Kanten waren von Strömungen abgerundet; es gab Ablagerungen von Moos, Muscheln und Korallen. Hier und da stand immer noch etwas Wasser in Pfützen. Kein Licht drang ins Innere, das merkwürdige Gebäude hatte keine Fenster. Aber das war nicht seine Sorge.

Ragnok hob die Hand, und ein gelbliches Leuchten erschien über ihm. Es erschuf in den Gängen verstörende Schatten, erlaubte es aber immerhin, sehenden Auges weiterzugehen.

Während sie tiefer vordrangen, bemerkte Fenris, dass die Wände hier sauberer waren als in der Nähe des Eingangs. Und nicht nur weniger verschmutzt, sondern auch weniger verfallen. Die Schnitzereien, die jede Oberfläche bedeckten, waren nicht verwittert, und er sah immer wieder Stellen, die zeigten, wie der Tempel zu seiner Blütezeit ausgesehen haben mochte. Er musste großartig gewesen sein, von einer Schönheit und Eleganz, die Fenris niemals für möglich gehalten hätte.

Fenris fühlte sich im Vergleich dazu plump. Er konnte erkennen, dass der Rest seines Klans ähnlich dachte.

Tagar und seine Knochenmalmer-Orcs zeigten sich davon hingegen ungerührt. Aber sie hatten ja generell wenig übrig für etwas anderes als Tod und Zerstörung. Ragnok schien auf die bevorstehende Aufgabe konzentriert.

Vielleicht blieb ausgerechnet Tagar deshalb plötzlich stehen und wies auf eine Stelle an der Wand knapp über dem Boden. „Schaut dort!“, sagte der Häuptling.

Fenris folgte seiner Geste und bemerkte etwas Dunkles über den Schnitzereien. Es sah wie aus wie...

„Blut“, bestätigte Tagar. Er kniete sich hin, roch und leckte daran. „Orc-Blut“, stellte er fest und stand wieder auf. „Mehrere Jahre alt.“

„Vielleicht das Blut von Gul’dan oder einem seiner Hexenmeister“, sagte Ragnok. „Wir kommen näher!“

Das war kein angenehmer Gedanke, auch wenn es das Ende ihrer Suche bedeutete.

„Seid vorsichtig“, warnte Fenris seine Orcs, und sie nickten düster.

„Hast du Angst?“, zog ihn Tagar auf. „Angst vor dem, was wir vielleicht finden?“

„Natürlich, du Idiot!“, zischte Fenris. Seine Hauer kratzten über die Wangen des jüngeren Häuptlings. „Gul’dan war ein Verräter und ein Narr. Aber er war auch einer der mächtigsten Zauberer, den die Horde je hatte. Und etwas hier drin hat ihn und seine Anhänger getötet. Man muss krank oder dumm sein, um in Anbetracht dessen keine Furcht zu verspüren!“

„Nun, ich habe keine Angst!“, antwortete Tagar, was das Gelächter einiger von Fenris’ Kriegern weckte.

Fenris selbst schüttelte den Kopf. Er fragte sich erneut, warum man ihm einen solchen Idioten mitgegeben hatte. Aber eigentlich kannte er die Antwort. Manchmal brauchte es jemanden, der klug genug war, um zu wissen, wann was zu tun war. Und ein anderes Mal war jemand nötig, der dumm genug war, auch dann weiterzumachen, wenn es reiner Selbstmord war...

„Gut“, sagte Fenris und musste selbst schmunzeln. „Dann gehst du vor.“

Tagar grinste. Sein Kriegsschrei hallte von den Wänden zurück. Er ging voraus und führte sie ohne einen Moment des Zögerns an. Die anderen folgten ihm.

Der Zustand von Wänden und Boden wurde immer besser, je tiefer sie in den Tempel vordrangen. An einer Gangkreuzung blieb Ragnok verwirrt stehen. Er wandte sich erst der einen Richtung zu, dann der anderen. Fenris furchte die Stirn.

„Was ist los?“

„Nichts. Ich...“ Der Todesritter zögerte erneut, dann nickte er ihm zu und ging festen Schrittes einen Gang hinunter. Fenris schüttelte den Kopf, folgte ihm aber.

Der Gang mündete in einen großen Raum. Die Wände hier waren überraschenderweise leer, sauber und glatt. Der plötzliche Kontrast ließ den Raum rein und würdevoll wirken. Am Ende befand sich eine massive Tür aus glattem, schwarzem Eisen, die den größten Teil der Wand einnahm.

„Dort ist es“, flüsterte Ragnok. Er öffnete die Tür. Und erstarrte vor Schreck.

Hinter der Tür lag fast undurchdringliche Dunkelheit, als wäre die Nacht flüssig geworden und hätte sich hier versteckt, wo das Licht sie niemals finden würde.

In der Dunkelheit, genau hinter dem Durchgang, stand eine Kreatur, die aus einem Albtraum hätte stammen können. Sie überragte die Orcs und war so groß, dass sie sich in den Raum dahinter ducken musste. Ihre Haut war mit Schuppen übersät, die wirkten, als bestünde sie irgendwie aus Wasser. Stacheln standen von den Schultern, den Unterarmen, anderen Gliedmaßen und der Brust ab. Die überlangen Arme endeten in langen Klauen. Das Gesicht war am Ende zu schmal und an der Spitze zu breit, Die schräg stehenden Augen glühten in rauchigem Gelb, und irgendwie hatte eine riesige Anzahl von rasiermesserscharfen Zähnen in dem kleinen Maul Platz gefunden. Ein langer Schwanz wippte herum.

In einer der Klauenhände hielt das Wesen eine lange Stange, einem Speer ähnlich, mit einem hölzernen Schaft und gewirktem Silber am Ende. Die Spitze war eine Ansammlung von Stacheln, die um einen großen Edelstein angeordnet waren. Ein helles weißes Licht strahlte davon aus. Und dieses Licht hielt die Dunkelheit zurück. Kleine Blitze umtanzten den Edelstein, um schließlich in der Finsternis zu verschwinden.

Das Zepter des Sargeras... das Artefakt, das sie Ner’zhul mitbringen sollten!

Sie mussten es nur diesem Ding abnehmen, das Fenris für einen Dämon hielt.

„Du kommst nicht vorbei“, zischte die Kreatur. Ihre Stimme klang ölig. „Diese Gruft wurde schon einmal von Sterblichen entweiht! Das wird sich nicht wiederholen!“

„Wir wollen auch gar nicht vorbei“, antwortete Fenris. Er unterdrückte die Furcht und die Galle, die in seiner Kehle aufstieg. „Wir wollen nur dein Zepter haben.“

Der Dämon lachte. Es klang wie Knochen, die aneinander-rieben. Dann trat er vor. Die Klauen an seinen Füßen rissen tiefe Furchen in den Marmor des Bodens. „Dann versucht, es mir abzunehmen“, bot er ihnen an. „Und nachdem ihr gescheitert seid, werde ich eure Körper zerreißen und mich an euren Seelen laben.“

„Ich breche dir die Knochen und trinke danach das Mark!“, schleuderte Tagar dem Dämon in der Sprache, die dieser verstand, entgegen. Dann griff er mit erhobener Axt an.

Und obwohl er Tagar für einen Narren hielt und sich selbst für einen noch größeren, erhob auch Fenris die Waffe und stürzte sich in die Schlacht. Die über dreißig Donnerfürsten- und Knochenmalmer-Krieger waren direkt hinter ihm.

Aber selbst in Überzahl war es ein schwieriger Kampf. Der Dämon war stark, viel stärker als jeder von ihnen – und schneller! Seine langen Klauen zerteilten mit Leichtigkeit Haut, Knochen und Muskeln und schnitten durch die Orcs, als wären es trockene Blätter. Das Zepter war so schwer, dass es den Schädel eines Orcs zu zertrümmern vermochte, ohne eine Delle davonzutragen. Und auch der Schwanz war eine effektive Waffe. Tagar schrie vor Empörung, als die Kreatur einen der Knochenmalmer damit erwischte. Der lange Stachel ging spielend leicht durch die Brust des unglücklichen Orcs und trat im Rücken wieder aus. Blut tropfte herab.

Aber die schlimmste, die gefährlichste Attacke war sein Biss. Das unglaubliche Maul konnte sich weiter öffnen, als es hätte möglich sein sollen, und entblößte mehrere Reihen Zähne. Fenris sah, wie der Dämon den halben Kopf eines Kriegers abbiss. Und obwohl er im Kampfrausch war, fühlte er sich schlecht.

Es war dieser Kampfrausch, der sie rettete. Unter normalen Umständen verabscheute Fenris den Blutrausch, aber jetzt war er ein Segen. Ohne ihn wären viele Orcs, einschließlich ihm selbst, vor Angst weggelaufen. Aber weil ihre Schädel pochten, ihre Sicht verschwommen war und ihr Blut sang, griffen sie wieder und wieder an. Ja, der Dämon war schneller, nur kamen bei so vielen Angreifern immer wieder ein paar Treffer durch.

Der Dämon war stärker, doch weil er immer wieder Glieder verlor, wurde er nach und nach verkrüppelt.

Nachdem ihm der Schwanz, ein Arm und ein Teil des Beines fehlten und der andere Arm so zerschmettert war, dass er schlaff wie eine Schlange herabhing, schlugen Fenris und Tagar schließlich gemeinsam zu. Ihre Äxte drangen in den dicken Hals ein. Die Schläge trafen von entgegengesetzten Richtungen voller Kraft, und beide Häuptlinge bekamen dünne Schnitte an den Händen ab, wo die Klinge des jeweils anderen sie gestreift hatte. Aber der Dämon fiel zu Boden, sein Hals war von beiden Seiten durchtrennt, der Kopf landete zu Ragnoks Füßen.

Fenris bückte sich und hob das Zepter auf. Es war leichter, als er gedacht hatte. Doch er konnte ein Gefühl der Macht spüren, die es durchströmte.

„Wir haben, was wir wollten“, sagte er und wandte sich um. „Lasst uns gehen.“

„Was?“ Überraschenderweise protestierte Ragnok. „Aber das hier ist die Gruft des Sargeras! Und du hast gerade den Wächter getötet!“

„Das war nur einer der Wächter“, antwortete Fenris. „Es gibt noch andere, glaub mir.“ Er hielt das Zepter hoch, sodass sich das Licht darin spiegelte. „Glücklicherweise müssen wir hier nicht tiefer eindringen.“

„Du verstehst nicht“, fuhr Ragnok fort. Er trat an Fenris heran. „Wir haben das Zepter, wir sollten auch das Auge des Sargeras holen. Weißt du noch, dass ich vorhin verwirrt war? Das war, weil ich beide Artefakte gespürt habe! Es dauerte einen Moment, um zu erkennen, was vor sich ging. Aber ich weiß genau, wo sich das Auge des Sargeras jetzt befindet. Diesen Gang dort hinunter. Das ist das Artefakt, nach dem Gul’dan gesucht hat. Und jetzt ist es zum Greifen nah!“

Ragnoks glühende Augen verengten sich vor Wut. „Ihr jämmerlichen Kreaturen“, zischte er. „Ich könnte euch mit einem einzigen Gedanken töten! Ihr werdet mit mir das Auge holen, oder...“

„Oder was?“, brüllte Fenris. „Mach weiter. Töte uns sofort. Und dann hol dir das Auge allein. So oder so sind wir dann tot.“ Er war sich sicher, dass der Todesritter nur bluffte, doch er stand zu seiner Entscheidung. Ragnok mochte sie in einem Wutanfall töten. Aber was auch immer das Auge bewachte, würde sie auf jeden Fall umbringen.

Ragnok erhob die Hände, und einen Moment lang setzte Fenris’ Herzschlag aus. Dann gab der Todesritter nach. Er hatte tatsächlich nur geblufft.

„Ihr seid Narren“, knurrte Ragnok, doch seine Stimme gestand die Niederlage ein.

„Vielleicht“, stimmte Fenris zu. „Aber wir sind Narren, die den nächsten Tag noch erleben.“ Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab. Sein Klan folgte ihm, so auch Tagar und seine Orcs. Nur mäßig zufrieden sah er einen Augenblick später, dass sich Ragnok ihnen anschloss.

„Hast du es?“

Fenris stieg vom Rücken des Drachen und setzte beide Füße auf den zerklüfteten Boden. Er blickte zu Blutschatten, der auf ihn zukam. Die Drachen hatten auf die Orcs gewartet, als ihre Boote wieder Land erreichten, und sie schnell in die Verwüsteten Lande zurückgebracht. Dort trafen sie sich mit Blutschatten und den anderen.

„Ja, ich habe es“, bestätigte Fenris und hielt das stoffumwickelte Zepter hoch. Er übergab es an Blutschatten, froh, es los zu sein. „Was nun?“

„Jetzt werden wir durch das Portal zurückkehren“, antwortete Blutschatten. Fenris unterdrückte einen Schauder, als sich Blutschattens Hände schützend über das Bündel legten. „Unsere Aufgaben hier sind erledigt. Azeroth ist nicht länger wichtig für uns. Wir überlassen diese Welt den Menschen und ihren Alliierten. Gut, dass wir sie los sind.“

Fenris wollte mehr Details erfahren, aber ein lautes Rumpeln stoppte ihn. Über die Schulter blickend, sah er mehrere große Wagen, die ins Tal rollten. Sie wurden von Orcs gelenkt. Ihm fiel wieder das Gespräch im Schwarzfelsgebirge ein. Das musste die Fracht sein, die Todesschwinge durch das Portal befördert haben wollte. Er fragte sich, was für den schwarzen Drachen so wichtig war, dass es auf eine andere Welt geschafft werden sollte. Doch er wusste, dass er das wohl nie erfahren würde.

Ein anderer Orc aber war noch neugieriger als Fenris. Er versuchte, sich einem der Wagen zu nähern. Bevor Fenris auch nur Atem holen konnte, um ihm eine Warnung zuzurufen, stürzte sich ein schwarzer Schatten vom Himmel. Der Orc schrie und warf sich zu Boden, die Hände vors Gesicht geschlagen. Blut lief durch seine Finger.

„Zurück!“, schrie Fenris. „Bleibt von den Wagen weg!“

Die Drachen, die die Orcs hierher getragen hatten, erhoben sich nun in die Lüfte, um die Ladung zu verteidigen. Einige warteten nicht einmal ab, dass ihre Reiter abstiegen.

„Blutschatten!“, dröhnte eine Stimme, die Fenris erkannte. Der Schrei kam von niemand anders als dem Häuptling des Kriegshymnenklans. Grom Höllschrei war bei den Truppen gewesen, die die Allianz bei Nethergarde angegriffen hatten, und kam gerade von dort zurück. Er war noch nicht ganz durch das Tal, sie konnten ihn jedoch gut verstehen. „Hast du diese Kreaturen mitgebracht?“

„Das habe ich“, antwortete Blutschatten, der seine Stimme nicht erhob. Aber seine Worte wurden trotzdem überall verstanden. „Die schwarzen Drachen sind unsere neuen Verbündeten!“

Grom duckte sich, als die Klaue eines schwarzen Drachen gefährlich nah an seinem Kopf vorbeiwischte, und schaute finster. „Mach etwas wegen deiner geflügelten Freunde, bevor noch eine Panik ausbricht... oder sie uns alle töten!“

Der Todesritter schaute zu den Drachen auf und beobachtete sie einen Moment lang. Dann nickte er. „Todesschwinge“, rief er. „Ich schwöre dir, dass ich diese Wagen und ihre Ladung verteidigen werde! Bitte schicke deine Drachen an den Rand des Tals!“

Fenris konnte den Drachenältesten nicht unter den umherfliegenden Gestalten ausmachen. Aber einen Augenblick später drehten sie ab und landeten auf den Klippen entlang des Talrands.

„Schon besser“, knurrte Grom. Er nickte Fenris zu, der zurückgrüßte. Die beiden kannten sich. Fenris hielt Grom für einen der besten Häuptlinge der Horde und einen erstklassigen Krieger.

„Habt ihr bekommen, was du brauchtest?“, fragte Grom sie beide.

„Haben wir“, antwortete Blutschatten. Er sagte sonst nichts. Grom schaute zu den Wagen.

„Fracht“, antwortete Blutschatten knapp. Jeder Wagen war aus soliden Holzbalken gebaut, hatte hohe Seitenwände und war komplett von einer dicken Plane bedeckt. Die Art, wie die Plane sich bewegte, verriet Fenris, dass die Wagen vollgepackt waren. Aber mehr war nicht zu erkennen.

„Ich dachte, wir sollten nur diese Artefakte holen“, sagte Grom.

„Es gab eine Planänderung“, antwortete der Todesritter. „Du musst dir keine Sorgen machen.“ Er erhob seine Stimme und musste etwas Magie hineingelegt haben, weil sie plötzlich über das ganze Tal zu hören war. „Diese Wagen stehen unter meinem persönlichen Schutz. Jeder, der das missachtet oder hineinsehen will, muss sich vor mir verantworten.“ Mehrere Orcs sahen erschreckt auf, und die beiden, die sich dem hinteren Wagen näherten, hasteten davon.

Fenris zuckte die Achseln. Seine Aufgabe war erledigt, und wenn Blutschatten noch eine andere Sache durchziehen wollte, war das etwas zwischen ihm und Ner’zhul. „Wann können wir durchgehen?“, fragte er stattdessen.

„Ich will, dass ein paar Mann eures Klans zurückbleiben und das Portal für eine kurze Zeit sichern. Du und der Rest, ihr könnt jetzt durchgehen, wenn du willst“, antwortete Blutschatten. „Tagar, ich brauche ein paar von euch Knochenmalmern.“

Fenris furchte die Stirn, nickte aber. Er hatte gehofft, sein ganzer Klan würde zurückkehren dürfen. Aber er verstand Blutschattens Gründe.

„Was ist mit uns?“, fragte Grom Blutschatten, doch Fenris wandte sich ab. Die Befehle für den Kriegshymnenklan waren jetzt nicht seine Sorge. Stattdessen winkte er seinen Stellvertreter Malgrim Sturmhand herbei, und gemeinsam wählten sie zwölf Krieger aus, die unter Malgrims Kommando zurückblieben. Die Orcs protestierten nicht. Sie waren Donnerfürsten, sie dienten der Horde, wann immer man es verlangte.

„Zum Portal!“ Der Rest des Donnerfürstenklans marschierte durch das Tal und erreichte das über ihnen aufragende neue Tor. Direkt vor ihnen befanden sich die bedeckten Wagen, und Fenris bemerkte mehrere Todesritter, die sich aus der Streitmacht lösten und neben den rätselhaften Wagen Position bezogen. Blutschatten war auch dort, ganz vorne.

Fenris hörte, wie Targas seine Knochenmalmer anschrie und sie aufzuteilen versuchte. Dazu kam das Gebrüll von Ogern, denen man Kämpfe versprochen hatte. „Ich zuschlagen!“, rief einer von ihnen fröhlich.

Auch der gesamte Kriegshymnenklan würde bleiben, schenkte man ihren Kommentaren Glauben. Das Portal würde gut beschützt werden. Ein Teil von ihm wollte auch bleiben, aber ein anderer Teil war sehr müde; ihn zog es nach Hause. Später würde er – vielleicht – mit frischen Orcs diejenigen ablösen, die jetzt zurückblieben.

Fenris lief die Rampe hinauf und stand vor dem Dunklen Portal. Das Tor mit seiner merkwürdig wabernden Energie machte ihn immer noch nervös. Es störte ihn, dass etwas so Kleines, das nicht mal so breit wie die dicken Steinsäulen war, eine Brücke zwischen zwei Welten schlagen konnte.

Er erwartete beinahe, dass das Portal versagen würde. Dass es kollabierte und jeder darin auseinandergerissen wurde.

Dieser Gedanke ließ ihn schneller gehen, und schließlich rannte er hindurch und spürte erneut das merkwürdige Gefühl, das ihm aufgefallen war, als er Draenor verlassen hatte. Als würde sein Körper über eine große Distanz befördert. Ein kaltes Prickeln lief über seine Haut, und ein Blitz ließ ihn die Augen schließen.

Dann schaute er in den vertrauten roten Himmel von Draenor. Fenris seufzte erleichtert und entfernte sich weiter vom Portal. Schließlich blieb er stehen, damit der restliche Klan aufschließen konnte.

Er beobachtete, wie die anderen Klans ebenfalls herüberkamen. Und Blutschatten war mit den Wagen bereits verschwunden.

Fenris hatte getan, was man ihm befohlen hatte. Und jetzt würde er darauf warten, dass Ner’zhul neue Befehle für ihn hatte. Bis dahin würden die Donnerfürsten-Krieger heimkehren.

Er hatte für lange Zeit erst einmal genug von Intrigen, Betrug und Ränkeschmieden.

13

Khadgar stand im Versammlungsraum, einem der wenigen vollständig fertig gestellten Bauabschnitte von Nethergarde. Er hatte auf der Brüstung bleiben und gegen die Horde kämpfen wollen, aber Turalyon hatte ihn überredet, sich für ein paar Minuten auszuruhen und etwas zu essen.

„Erzmagier oder nicht, du bist uns keine Hilfe, wenn du vor Hunger oder Müdigkeit umfällst“, hatte sein Freund gesagt. Das war ein guter Ratschlag gewesen, und deshalb war Khadgar hierhergekommen und hatte brav den Eintopf gelöffelt, den ihm jemand hinstellte.

Daran konnte er sich noch erinnern – und dann musste er eingeschlafen sein. Er träumte, und der Traum war bittersüß. Weil er darin wieder jung war.

Er wandte sein glatt rasiertes Gesicht dem Nachthimmel zu und badete es im Mondlicht. Der Wind fuhr durch sein Haar, das bis auf eine einzelne Strähne schwarz schimmerte. Er hob seine Hände, wunderte sich, wie jung und stark sie wirkten, so ganz ohne Gicht und Altersflecken. Wie ein Riese durchstreifte er Lordaeron, jeder Schritt brachte ihn etliche Meilen voran, und sein Kopf stieß an die Wolken. Es war Nacht, dennoch bewegte er sich sicher und ohne zu zögern, seine Füße kannten den Weg.

Khadgar war in Richtung Dalaran unterwegs, watete mit einem einzigen Schritt durch den See und erreichte die Stadt der Magier. Trotz der späten Stunde strahlte Licht aus einem Raum der Violetten Zitadelle, und Khadgar richtete seine volle Aufmerksamkeit darauf. Er glitt nach oben und wurde kleiner, als er den Raum erreichte.

Als seine Füße auf dem Balkon landeten, hatte er wieder seine normale Größe. Die Tür stand offen, und er trat ein. Dabei schob er die dünnen Vorhänge beiseite, die vom Mondlicht angezogene Insekten draußen hielten.

„Sei willkommen, Khadgar. Komm herein.“

Khadgar war nicht überrascht, Antonidas hier zu sehen. Er erkannte die Privatgemächer des Anführers der Kirin Tor. Er setzte sich auf den ihm angebotenen Stuhl und nahm ein Glas Wein von dem Magier an. Es amüsierte ihn, dass Antonidas mit seinem gerade ergrauenden, langen braunen Bart jetzt älter als er aussah. Normalerweise hielten Fremde Khadgar für den Älteren, wegen seines schneeweißen Bartes – obwohl er mehrere Jahrzehnte jünger war als Antonidas.

„Danke“, sagte Khadgar leise, nachdem beide einen Moment lang den Wein gekostet hatten. Er wies auf sein jungenhaftes Gesicht und seinen kräftigen jungen Körper. „Dafür.“

Antonidas wirkte ein wenig unbehaglich. „Ich wollte es dir so angenehm wie möglich machen.“

„Ich habe es vermisst, jung zu sein. Ich bereue nichts... Medivh musste schließlich aufgehalten werden... und meistens stört es mich nicht. Aber manchmal... vermisse ich es doch.“

„Ich weiß.“

Khadgar wechselte das Thema. „Ich vermute mal, dass dies kein gewöhnlicher Traum ist.“

Antonidas schüttelte den Kopf. „Nein, unglücklicherweise nicht. Ich habe besorgniserregende Neuigkeiten. Die schwarzen Drachen haben sich mit der Horde verbündet.“

Es erforderte große Selbstbeherrschung, sich nicht zu verschlucken. „Die schwarzen Drachen?“, wiederholte Khadgar. „Aber was ist mit den roten? Die beiden Rassen sind Todfeinde.“

Sein Gastgeber zuckte mit den Achseln. „Sie wurden schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Vielleicht haben sie sich der Kontrolle durch die Horde entzogen?“ Er schaute düster. „Aber die Orcs haben neue Verbündete gefunden, und diesmal offensichtlich freiwillige Helfer.“

Khadgar schüttelte den Kopf. „Und sie kommen nach Nethergarde?“

„Das wissen wir nicht“, gestand Antonidas ein. „Vielleicht. Sie waren bereits hier und auch in Alterac.“ Sein Stirnrunzeln verwandelte sich in ein finsteres Grübeln. „Sie haben das Auge von Dalaran gestohlen, Khadgar.“

„Das Auge?“ Khadgar wusste genau, was für ein Schlag das für Dalaran war. „Aber was will die Horde damit?“

„Das weiß ich nicht. Doch sie waren hier, um es zu stehlen“, bestätigte Antonidas. „Eine Handvoll Todesritter ist durch unsere Verteidigungszauber geschlüpft, nahm es und benutzte die Drachen zur Flucht. Drachen, die kurz danach die Wachen der Allianz in Alterac töteten. Zweifelsfrei geschah das auf Befehl des Verräters Perenolde.“

Khadgar verzog das Gesicht. „Ich frage mich, wie Perenolde das angestellt hat.“

„Noch ein Rätsel. Ich weiß, womit du dich zur Zeit alles herumschlagen musst. Aber ich dachte, du solltest es wissen.“

„Danke“, sagte Khadgar ehrlich. „Gut, dass ich das weiß.“ Er runzelte gedankenvoll die Stirn, strich sich durch den Bart und war verblüfft, dass er momentan ja nur das nackte Kinn hatte. „Und vielleicht kann ich herausfinden, warum das alles geschehen ist. Zuerst das Buch von Medivh, jetzt das Auge von Dalaran. Warum gerade diese beiden Artefakte?“ Er setzte das Weinglas auf Antonidas Tisch ab und stand widerstrebend auf. „Ich sollte zurückgehen.“

Zurückgehen, um wieder ein junger Mann im Körper eines alten zu sein. Zurückgehen, um Alleria und Turalyon zu beobachten, die ein qualvolles Drama um Ablehnung, Verletzung und Einsamkeit aufführten, obwohl doch jeder Narr sehen konnte, dass sie zusammen stärker und glücklicher wären. Zurückgehen, um Orcs zu bekämpfen und Portale zu schließen und die Last der Welt auf seinen künstlich gealterten Schultern zu tragen.

Er seufzte schwer.

„Wie du willst. Viel Glück, mein Junge.“ Antonidas wedelte mit der Hand, und Khadgar erwachte und saß am Tisch im Versammlungsraum von Nethergarde. Er war zurück in seinem alten Körper und spürte einen wehmütigen Stich, als er seine runzligen Hände und den langen, weißen Bart sah.

Khadgar erhob sich und verließ den Versammlungsraum, wie er den Traum hinter sich gelassen hatte. Er sah Turalyon und ein paar andere am Haupttor stehen. Sie umringten einen neuen Gefangenen. Die Männer blickten auf, als er sich näherte, und traten zurück. Der Erzmagier unterdrückte ein Schaudern, als er das verwesende Gesicht der einst menschlichen Kreatur und die glühenden roten Augen sah.

„Khadgar!“, rief Turalyon, als er seinen Freund bemerkte. „Ich wollte gerade jemanden nach dir schicken.“

„Ich vermute mal, du brauchst bei diesem Gefangenen meine Hilfe. Hat das Licht versagt?“

Turalyon wirkte frustriert. „Ganz im Gegenteil. Seine Reaktion darauf war derart extrem, dass ich Angst hatte, ihn zu töten. Ich dachte, dass vielleicht du...“

„Natürlich.“ Khadgar sank neben den Gefangenen und erwiderte dessen wilden Blick. „Wie heißt du, Todesritter?“

Die Kreatur zischte nur und zerrte an den Fesseln, die aber standhielten.

„Wenn du es so haben willst“, sagte Khadgar schulterzuckend. Er sammelte seine Kraft, dann bündelte er sie zu einem scharfen Strahl. Der Spruch drang leicht durch die Verteidigung der Kreatur der Horde, wie es vermutlich Turalyons Heiliges Licht auch getan hatte. Aber obwohl sich der Todesritter versteifte, setzte ihm der Schmerz nicht derart zu, um ihn am Reden hindern zu können. Und er würde reden.

„Dein Name?“

Der Todesritter starrte ihn an, Mordlust brannte in seinen Augen. Aber sein Mund öffnete sich und formte Worte. „Gaz Soulripper.“

„Gut. Nun sag mir, wie hat die Horde das Portal wieder geöffnet?“, wollte Khadgar wissen. Turalyon und die anderen versammelten sich hinter ihm.

„Ner’zhul“, antwortete er. „Ner’zhul benutzte den Schädel von Gul’dan, um den Spalt aufzuzwingen.“

„Ist das möglich?“, fragte Turalyon.

„Absolut“, antwortete Khadgar. „Langsam wird alles klar. Wir wissen, dass Gul’dan das ursprüngliche Portal gemeinsam mit Medivh errichtet hat. Es ist gut möglich, dass seine Überreste immer noch damit verbunden sind. Und deshalb könnten sie benutzt werden, um bessere Kontrolle über den Spalt zu bekommen. Ebenso wie das Buch von Medivh.“

Ner’zhul hatte Gul’dan oder zumindest den Schädel gebraucht, um den Spalt erneut zu öffnen. Und ohne den Schädel konnte Khadgar ihn nicht völlig schließen. Jetzt verstand er, warum der Spalt übrig geblieben war. Ohne die Hilfe von Gul’dans Schädel würde Khadgar ihn niemals vollständig schließen können. Und ohne das Buch würde er den passenden Zauber dafür nicht erfahren.

Der Magier spürte, dass er an der Schulter berührt wurde. Er sah auf und erblickte Turalyon, der ihm wegzutreten bedeutete. Verwirrt gehorchte Khadgar.

„Gute Neuigkeiten“, sagte Turalyon. „Unsere Streitkräfte treiben die Horde zurück zum Dunklen Portal. Wir haben zudem von Admiral Prachtmeer gehört, dass die anderen Orc-Gruppen ebenso auf der Flucht sind. Scheinbar hat eine Gruppe Orcs, gedeckt von schwarzen Drachen, mehrere Boote aus dem Hafen von Menethil gestohlen.“

Khadgar seufzte und erinnerte sich an sein Traumgespräch mit Antonidas. „Ich vermute, der Bericht stimmt. Ich... warte. Sagtest du ,Boote’?“

„Ja. Sie sind nach Südwesten gefahren, zur Großen See.“

Khadgar fasste Turalyon an seiner Tunika. „Südwesten? Verdammt!“

„Was ist los, Khadgar?“

„Sie sind nicht auf der Flucht. Diese Boote... sie fahren zur Gruft von Sargeras! Gul’dan hat das einst versucht und ist dabei umgekommen!“

„Warum sollten die Orcs das tun? Medivh ist tot und Sargeras fort. Die Gruft ist leer.“ Seine Augen weiteten sich. „Das ist sie doch, oder?“

Plötzlich passte alles zusammen. „Sargeras ist fort“, sagte Khadgar langsam. „Aber das bedeutet nicht, dass die Gruft leer ist. Wir wissen, dass die Orcs Artefakte suchen. Was, wenn Sargeras etwas zurückgelassen hat? Die Gruft war versiegelt, sodass kein Wesen von Azeroth dort eindringen konnte. Aber die Orcs sind ja nicht von hier! Die Abwehrzauber wirken nicht gegen sie, genauso wenig, wie sie gegen Gul’dan gewirkt haben, als er... Das ist es! Das muss es sein!“

Khadgar wandte sich zu dem Todesritter um. „Warum hat Ner’zhul die Orcs in die Gruft des Sargeras geschickt?“, verlangte er zu wissen.

Gaz Soulripper lachte, der faule Atem aus seinen toten Lungen strich über Khadgars Gesicht. Der Todesritter zog sich in sich zurück und war nicht bereit, etwas zu verraten. Khadgar schaute finster. Er setzte seine Magie erneut ein, dieses Mal ohne Vorsicht, und das Licht des Spruchs wirkte, als hätte man eine Lanzenspitze durch die Stirn der Kreatur getrieben. Soulripper wand sich vor Schmerz, blieb aber stumm.

„Sag es uns!“

„Wir... sind an eurer Welt nicht interessiert!“, grunzte Soulripper, seine Hände verkrampften sich.

Khadgar machte eine leichte Bewegung mit den Fingern, und dieses Mal schrie Gaz Soulripper auf.

„Ich muss mehr als das wissen.“

„Ah!“ Das untote Wesen biss sich vor Qual auf die Lippen, die Zähne drangen mit Leichtigkeit durch das verfaulte Fleisch. „Unser Ziel... ist weitaus höher, als du dir vorstellen kannst, Mensch!“

Khadgars Herz schlug hart. Diese Halbwahrheiten, diese Hinweise... Was war wirklich los? Schweiß lief über seine Stirn, aber nicht vor Erschöpfung. Er packte fester zu, und der Todesritter zuckte.

„Khadgar...“, sagte Turalyon.

„Ich kann das beliebig lange machen, Soulripper“, sagte Khadgar. Als keine Antwort kam, hob Khadgar auch die linke Hand.

„Ein Artefakt!“, brüllte der Todesritter. „Aus der Gruft. Das Zepter des Sargeras...“

„Schon besser. Was ist damit?“

„D-damit und dem Buch von Medivh und dem Auge von Dalaran kann Ner’zhul... nein!“

Khadgar war überrascht vom Grad des Widerstands, den der Todesritter zu leisten vermochte. Er teilte Turalyons Ablehnung von Folter. Aber sie waren so nah dran...

„Was kann er damit tun? Sag es uns!“

„Er... er kann Portale von Draenor zu anderen Welten öffnen.“

Khadgar stellte die Folter augenblicklich ein. Der Todesritter fiel vorneüber und erholte sich auf dem Boden. Der Magier war einen Moment lang völlig bewegungslos, dann sah er Turalyon an. Er erkannte seinen eigenen Schrecken im Gesicht des jungen Mannes.

„Andere... Welten?“, hauchte Turalyon, seine Stimme vor Schreck ganz leise. „Azeroth und Draenor... sind nicht die einzigen?“ Er schaute auf den Todesritter, dabei mahlten seine Kiefer, bevor er weitersprach. „Welten... und zwar mehr als nur eine. Zahllose Welten, allesamt unschuldig, die den Orcs in die Hände fallen könnten. Das Licht schütze uns.“

Khadgar nickte. „Ich weiß, es ist schwer zu glauben. Die Horde, der wir gegenübergetreten sind, war halb wahnsinnig vor Verzweiflung und Hunger. Ihre Welt stirbt, und sie mussten unsere erobern. Und jetzt öffnen sie Portale in zahllose andere Welten. Dasselbe Spiel findet von Neuem statt... immer wieder.“

Turalyon hörte die Worte seines Freundes kaum. Sie schienen wegzudriften, eingehüllt in das laute Pochen seines Herzens. Die hässliche Fratze des Todesritters verschwand ebenfalls, versank in einem langsamen, aber steten Glühen weißen Lichtes, das aus ihm herausdrang.

Turalyon brannte darauf, sein Volk, die Allianz und alles Leben auf dieser Welt vor der Verwüstung durch die unersättlichen Orcs zu beschützen. Das war schon jetzt eine enorme Aufgabe, aber was, wenn es plötzlich mehrere Welten waren? Um wie viele ging es dabei? Eine? Zwei? Zwei Millionen? Hysterie wallte in ihm auf, als er in dem weißen Raum in seinem Geist saß und an den Grenzen des Wahnsinns kratzte, um das Unbegreifliche zu verstehen.

Den Unschuldigen galt sein ganzes Bemühen. Er musste sie beschützen. Aber wie konnte er das bewerkstelligen? So viele, die...

Der Schlag seines Herzens setzte aus. Und anstelle des reinen strahlenden Lichts sah er eine Gestalt, die aus Licht bestand, nein, die das Licht selbst war. Sie schwebte und leuchtete. Schimmerte, als wäre ihre Form fest und kristallin, aber gleichzeitig weich, so unbeschreiblich weich, sanft wie eine Träne, so sanft wie Vergebung, so sanft wie Allerias bleiche Haut.

Goldene Strahlen umgaben das Wesen, und Turalyon konnte erst nicht sagen, ob sie von ihm weg oder zu ihm hin führten. Und dann begriff er, dass beides zutraf. Alles, was zählte, war dieses Wesen, und dieses Wesen war alles.

Ehrfurcht durchflutete ihn, und er versank in der Schönheit der leuchtenden Gestalt. Sie erfüllte ihn mit Hoffnung und Ruhe, als wäre er ein leeres Gefäß.

Verzweifle nicht, erklang eine glockenreine Stimme wie das Rauschen des Ozeans. Das Licht ist mit dir. Wir sind mit dir. Ganz egal, wie stark die Finsternis ist, das Licht wird sie vernichten. Egal, auf welcher Welt, egal, in welcher Kreatur, das Licht wohnt stets in der Seele. Wisse dies und schreite mit deinem freudigen Herzen voran, Turalyon.

Wie zur Antwort begann Turalyons Herz wieder zu schlagen. Er erkannte, dass es nie aufgehört hatte. Dass der vermeintlich lange Moment des Stillstands in Wahrheit nicht länger als ein Augenblinzeln gedauert hatte.

Khadgar machte Turalyon Platz, damit er sich hinsetzen konnte. Schließlich hob Turalyon den Kopf. Sein Blick war entschlossen, klar und fest.

„Wir müssen sie aufhalten“, stellte er kategorisch fest. „Wir können nicht zulassen, dass sie auf unschuldigen Welten... losschlagen. Es endet hier. Auf Azeroth. Niemand soll so leiden müssen wie wir. Darum müssen wir uns kümmern.“

Khadgar hörte, wie einige von Turalyons Männern aufgebracht murmelten.

Turalyon bekam es auch mit, und sein Gesicht verdüsterte sich. „Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es laut und deutlich“, befahl er. Der Soldat, mit dem er redete, tauschte mit den anderen Blicke, dann trat er vor.

„Herr Kommandant... warum lassen wir die Orcs nicht fliehen? Wenn sie neue Welten erobern wollen, dann gehen sie vielleicht weg und lassen uns in Ruhe.“

„Selbst wenn es so einfach wäre, könnten wir das nicht geschehen lassen. Versteht ihr?“, sagte Turalyon. „Wir müssen sie aufhalten. Wir können nicht unsere Welt auf Kosten ungezählter unschuldiger Leben retten!“

„Außerdem“, sagte Alleria mit klarer Stimme, als sie auf sie zukam, staubig, verschwitzt und mit Blut bespritzt, das zu dunkel war, um ihr eigenes zu sein, „wer sagt denn, dass sie nicht zurückkämen, wenn sie des Plünderns müde sind?“

Ihrem guten Gehör verdankte sie, dass sie alles mitbekommen hatte. Khadgar glaubte, dass sie ein wenig blasser als sonst war, aber auch erschreckend gefasst.

„Würdet ihr lieber gegen eine Horde der doppelten Größe antreten, die nach Belieben Portale nach Azeroth von überall her eröffnen kann?“

Khadgar sah die Enttäuschung in Turalyons Augen. Der Paladin hatte gehofft, dass die Männer ihn verstehen würden. Und mehr noch hatte er gehofft, dass Alleria es würde. Aber es schien, als ob Alleria immer noch vom Hass gegen die Orcs verzehrt wurde. Sie interessierte sich nicht wirklich für die anderen Welten. Sie wollte Orcs jagen und töten. Sie wollte dieses grausame Vergnügen mit niemandem teilen.

Sie wandte sich Turalyon zu, ihre Wangen hatten kurz etwas Farbe, die dann aber schwand. „Turalyon, mir ist etwas aufgefallen, das du wissen solltest. Ich habe eine Gruppe von...“

Khadgar hörte kaum ihrer melodischen Stimme zu. Etwas nagte an seinen Gedanken... etwas, das nicht stimmte.

Er schnappte nach Luft, als ihn die Erkenntnis überkam.

„Ich bin ein Narr!“, rief Khadgar und schnitt Alleria das Wort mitten im Satz ab. „Sie verlieren nicht!“, brüllte er. „Sie ziehen sich zurück! Sie haben alle Artefakte gefunden, die sie brauchen, und kehren jetzt nach Draenor zurück! Die ganze Invasion diente nur der Ablenkung, und jetzt sind sie fertig!“

Gaz Soulripper sah ihn an, Schrecken und Angst lagen in seinen glühenden Augen. Der Todesritter kam auf die Beine, zerriss die Fesseln, die Hände und Füße banden. Der Schreck verlieh ihm widernatürliche Stärke. Gaz schob Khadgars mentale Lanze beiseite und baute seine Schilde neu auf. Sie blockierten den augenblicklichen Versuch des Erzmagiers, die Kontrolle zurückzuerlangen.

„Du wirst uns nicht dazwischenfunken!“, brüllte Gaz, sprang auf Khadgar und legte seine gepanzerten Hände um die Kehle des Erzmagiers. „Du wirst unsere Bestimmung nicht vereiteln!“

Der Todesritter begann zuzudrücken, und Khadgar röchelte. Er kämpfte, wollte die Kreatur wegschieben. Aber seine Sicht trübte sich bereits. Schwärze kroch von den Rändern heran, wilde Farben blitzten vor ihm auf. Er konnte die Hände nicht wegdrücken, er konnte sich auch nicht konzentrieren, um einen Spruch zu wirken.

Und plötzlich, durch die wirbelnde Palette von Farben, kam ein Blitz aus purem Weiß. Selbst als er Khadgar blendete, umgab ihn ein warmes Gefühl des Friedens, das im krassen Gegensatz zu dem Schmerz stand, den die Hände verursachten, die seine Luftröhre zu zerquetschen drohten und ihm das Blut abschnitten.

Kurz fragte er sich, ob er schon tot war, aber er war sich nicht sicher.

Das Licht wurde intensiver, dann verblasste es. Die toten Hände um Khadgars Kehle schlossen sich zuckend, bevor der Druck plötzlich verschwand. Khadgar beherrschte sich, blinzelte, benebelt von dem weißen Licht, keuchte und rang nach Atem. Seine Lungen kämpften, um Luft in seinen Körper zu pumpen.

„Ist alles in Ordnung?“, wollte Turalyon wissen. Seine Hände leuchteten noch schwach, er half Khadgar beim Aufstehen. Khadgar bemerkte, dass sein violettes Gewand jetzt staubig war. Das war alles, was von Gaz Soulripper übrig geblieben war.

Er sah Turalyon an, wieder verblüfft von der Kraft des jungen Generals. Turalyon las in dem Blick und lächelte verlegen. Khadgar fasste seinen Freund am Arm. „Danke.“

„Das war das Licht, nicht ich“, wehrte Turalyon mit der für ihn typischen Bescheidenheit ab.

„Nun, dein verdammtes Licht hat ihn zu schnell getötet“, knurrte Alleria.

Selbst Khadgar blinzelte angesichts des Hasses in ihrer Stimme. „Wir hätten ihn noch über die Wagen befragen können, die ich gesehen habe.“

„Wagen?“, fragte Khadgar. „Was für Wagen?“

Sie wandte sich ihm zu. Ganz offensichtlich konnte sie mit dem Magier leichter sprechen als mit Turalyon. „Ich habe ein paar Orcs gesehen, die durch das Portal gegangen sind. Schwarze Drachen begleiteten sie. Es gab mehrere Wagen, ihre Ladeflächen waren zugedeckt. Sie brachten etwas hinüber in ihre Welt.“

„Sie wollten hier ein paar Artefakte stehlen und nicht massenweise Souvenirs“, knurrte Khadgar. „Wozu brauchten sie diese Wagen?“

Alleria zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber ich dachte, dass vielleicht du etwas weißt.“

„Noch ein Teil im Puzzle. Und das, wo ich gerade geglaubt hatte, alles durchschaut zu haben.“ Khadgar fuhr sich angeekelt über die Kleidung und sah sie an. „Wir haben eine Aufgabe vor uns. Wir müssen einen Erkundungstrupp nach Draenor schicken. Wir müssen Ner’zhul finden und töten, bevor er weitere Portale öffnen kann. Schließlich gilt es, die Artefakte zurückzubekommen, besonders das Buch von Medivh und Gul’dans Schädel, um das Dunkle Portal für immer zu zerstören.“

Turalyon nickte und winkte einen Kundschafter herbei. Er wirkte mit jedem Zoll wie ein militärischer Befehlshaber. „Benachrichtige die Könige der Allianz“, sagte er schnell. „Die Horde ist...“ Er verstummte, als ein Schatten die Sonne verdunkelte. Der junge Kommandeur schirmte seine Augen ab und sah auf. Dann lachte er, als sich aus dem Schatten mehrere geflügelte Gestalten herausschälten, die zu ihnen herabstießen.

Sie hatten keine Ähnlichkeit mit den pfeilgleichen Drachen, sondern waren breiter und kompakter. Gelbbraunes Fell und goldene und weiße Federn bedeckten ihre Haut.

„Was hat dich aufgehalten?“, rief Turalyon und lachte mit Khadgar, als Kurdran Wildhammer, Anführer der Wildhammerzwerge, den Kopf schüttelte und versuchte, empört vom Rücken seines Greifs zu ihnen herunterzusehen.

„Ungünstige Winde“, gestand der Zwerg ein. Sky’ree landete anmutig mit einem Krächzen. Sie flatterte ein letztes Mal mit den Flügeln, bevor ihr Reiter abstieg. Trotz des Ernstes der Lage lächelte Khadgar. Es tat gut, den rüstigen, ungeschliffenen Kurdran zu sehen.

„Ihr kommt gerade rechtzeitig“, sagte der Erzmagier und trat vor, um dem Zwerg die Hand zu schütteln, der den Handschlag kräftig erwiderte. „Wir haben eine Nachricht, die übermittelt werden muss, und zwar schnell.“

„Wenn ihr mir versprecht, mir und meinen Jungs ein paar dieser Grünhäute übrig zu lassen, überbringen wir die Nachricht.“ Er winkte einem anderen Zwerg zu, der in Habtachtstellung seine Befehle erwartete.

„Wir müssen mehrere Nachrichten an mehrere Könige schicken“, sagte Turalyon, das Lächeln verschwand. Khadgar fragte sich, ob Turalyon wusste, wie ernsthaft er wirken konnte, wenn es sein musste. „Sagt ihnen Folgendes: Die Orcs ziehen sich nach Draenor zurück, aber sie haben einen Weg gefunden, Portale in andere Welten zu öffnen.“

Die Augen des Zwergs weiteten sich, doch er unterbrach ihn nicht. „Sie nehmen mehrere Wagenladungen von etwas mit, das für sie offensichtlich wertvoll ist. Aber wir wissen noch nicht, was“, fuhr Turalyon fort. „Wir wollen sie durch das Dunkle Portal verfolgen und sie davon abhalten, neue Tore zu öffnen. Egal, was dazu nötig ist.“

„Bist du dir sicher, Junge?“, fragte Kurdran leise. Turalyon nickte. Jeder war einen Moment lang still, wohl wissend, dass Turalyon nur das aussprach, was getan werden musste.

„Beeilt euch“, sagte Turalyon. „Lasst die Greife sich ihr Futter verdienen.“ Die Kundschafter nickten, salutierten, kletterten auf ihre Greife und hoben ab.

Turalyon wandte sich seinen Freunden zu. „Und jetzt“, sagte er düster, „bereiten wir uns darauf vor, unsere Welt zu verlassen.“

14

Der Rest des Tages war vollgepackt mit chaotischer Planung. Wer sollte gehen? Wer sollte zurückbleiben? Welche Vorräte sollten sie mitnehmen? Wie lange sollten sie warten?

Aus Debatten wurden Diskussionen, die dann in Geschrei mündeten. Und einmal am Abend dachte Turalyon sogar, dass Alleria und Kurdran sich über die Frage, wie man die Greife am besten einsetzen sollte, so sehr in die Haare geraten waren, dass es gleich Prügel setzen würde.

Schließlich aber wurde eine Strategie entworfen, mit der alle zufrieden waren. Einige, darunter Alleria, wollten danach gleich aufbrechen.

„Meine Kundschafter können genauso gut – vielleicht sogar besser – wie die Orcs bei Nacht sehen“, führte sie aus. „Und selbst ihr Menschen habt das Mondlicht.“

„Nein“, wehrte Turalyon ab. „Wir sehen nicht alle so gut wie ihr Elfen, Alleria. Und wir sind erschöpft. Die Orcs hätten in der Nacht eindeutige Vorteile. Du hast sicher schon bemerkt, dass sie momentan nicht angreifen.“

Ihre Augen zogen sich zusammen. „Nein, sie erholen sich vielleicht gerade, damit sie morgen früh wieder frisch gegen uns in den Kampf ziehen können.“

Turalyon ließ ihre Worte einen Moment lang wirken. Nachdem sie erkannt hatte, dass sie gerade ein Argument für ihn vorgebracht hatte, blickte sie finster, blieb aber still.

„Turalyon hat recht“, sagte Khadgar. „Wir sind erschöpft. Völlig erledigt. Es geht hier nicht darum, so viele Orcs wie möglich zu töten und uns mit Hurra ins Gefecht zu stürzen. Wir müssen dafür sorgen, dass möglichst viele Soldaten auf die andere Seite gelangen. Schließlich haben wir eine wichtigere Aufgabe zu erfüllen, als die Handvoll Orcs aufzuhalten, die dort lagert.“

Turalyon vermutete, dass der Kommentar nicht speziell an Alleria gerichtet war, aber er traf sie voll. Zuerst wurde sie rot, dann kreidebleich, und schließlich verließ sie den Raum. Turalyon wollte ihr automatisch folgen, aber Khadgar hielt ihn am Arm fest.

„Lass sie gehen“, sagte er leise. „Wenn du jetzt mit ihr redest, wird alles nur schlimmer. Sie ist genauso erschöpft wie wir alle und denkt nicht mehr klar, um es vorsichtig auszudrücken. Lass sie zu dir kommen.“

Lass sie zu dir kommen. Turalyon fragte sich nicht zum ersten Mal, wie viel der alt wirkende Magier wusste und ob der Satz kalkuliert oder nur so dahingesagt war.

„Verana, einen Moment bitte“, sagte Alleria, als sie und ihre Stellvertreterin den Versammlungssaal in Richtung der ihnen zugewiesenen Quartiere verließen. Sie bedeutete der Elfe, ihr zu folgen.

Wortlos gehorchte Verana. Es hatte immer außer Frage gestanden, dass Alleria zu denen gehörte, die im Morgengrauen durch das Portal gehen würden. Verana und ein paar andere würden zurückbleiben, um den Söhnen Lothars zu helfen, falls irgendetwas schiefging. Verana wandte sich ihrer Befehlshaberin fragend zu.

„Ich habe einen besonderen Auftrag für dich. Einer, der jenseits deiner militärischen Pflichterfüllung liegt“, begann Alleria. „Es ist nicht abwegig zu glauben, dass ich vielleicht nicht zurückkomme. Vielleicht keiner von uns. Wir wissen nicht, was uns auf der anderen Seite erwartet.“

Verana schaute besorgt. Sie waren seit Jahrzehnten Freunde. Aber sie nickte. „Selbstverständlich.“

„Wenn ich nicht zurückkommen sollte... nicht heimkehren... überbringe meiner Familie bitte eine Nachricht. Sag ihnen, dass ich den Kampf in die Welt der Orcs getragen habe, um Quel’Thalas zu rächen und unser Volk vor künftigen Angriffen zu schützen.“

Sie dachte an Turalyons leidenschaftliche, unerbittliche Worte: dass sie die Horde nicht über andere unschuldige Völker kommen lassen konnten. Plötzlich steckte ihr ein Kloß im Hals.

„Sag ihnen“, fuhr sie mit rauer Stimme fort, „sag ihnen, dass ich auch die anderen Welten retten will. Ich bete darum, dass diese Orte niemals die Qualen erleiden müssen, die uns beschieden sind. Sag ihnen, dass ich das aus freien Stücken tue und dass, egal, was mir auch passiert... mein Herz bei ihnen ist.“

Sie suchte in einem Beutel und holte drei feingliedrige Ketten heraus. An jeder hing ein leuchtender, wunderschöner Edelstein: ein Smaragd, ein Rubin und ein Saphir. Verana holte tief Luft und erkannte die Steine.

„Ja. Sie stammen von der Kette, die meine Eltern mir gaben“, bestätigte Alleria. „Ich ließ die Kette in Sturmwind einschmelzen und drei daraus fertigen. Ich behalte diese hier.“ Sie nahm den Smaragd und hängte ihn sich um den Hals. „Die anderen beiden sollen Vereesa und Sylvanas bekommen, wenn ich...“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Bitte. Nimm sie mit nach Hause, wenn du kannst. Gib sie meinen Schwestern. Sag ihnen, so sind wir, was immer auch geschehen mag, ewig vereint.“

Veranas Augen wurden feucht. Tränen liefen ihr über die Wangen. Alleria beneidete sie um ihre Fähigkeit zu weinen.

Die Waldläuferin las die Gravuren, die Alleria auswendig kannte: Für Sylvanas. In ewiger Liebe, Alleria. Für Vereesa. In Liebe, Alleria.

„Du wirst zurückkommen und sie deinen Schwestern selbst übergeben. Aber solange werde ich sie für dich aufbewahren. Das gelobe ich.“

Verana drückte sie sanft, und Alleria versteifte sich. Sie hatte niemandem mehr erlaubt, sie zu berühren, seit...

Alleria legte die Arme um ihre Freundin und drückte sie auch eine lange Zeit, dann entließ sie sie. Verana salutierte, wischte sich das Gesicht ab und eilte zu ihren Unterkünften.

Alleria wartete und beruhigte sich an der frischen Luft. Ein Ohr zuckte, als sie leise Schritte hörte. Schnell verschwand sie in den Schatten, runzelte die Stirn, als sie Turalyon erkannte. Er ging zur Mauer und lehnte sich dagegen. Seine breiten Schultern streckten sich im Mondlicht. Ihre scharfen Ohren hörten, wie er ihren Namen flüsterte, ihre scharfen Augen bemerkten das Glitzern von Tränen.

Sie wandte sich ab und verschwand, bewegte sich lautlos zurück. Das Gespräch mit Verana hatte sie stark mitgenommen. Jetzt mit Turalyon zu sprechen, hätte all das gefährden können, was sie während der letzten zwei Jahre so mühsam aufgebaut hatte.

Das würde sie nicht riskieren.

Der General der Allianzstreitkräfte stand allein im Mondlicht. Entgegen seinem Rat an die Soldaten, war er selbst nicht in der Lage zu schlafen. Khadgars Worte und Allerias Äußerungen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Und er erinnerte sich, so wie unzählige Male zuvor, an das Ereignis, das in der Nacht vor zwei Jahren alles verändert hatte.

Er vernahm das leise Flüstern kaum durch das Prasseln des Regens auf dem Zeltdach. Zuerst hatte Turalyon deshalb an einen Traum geglaubt, als er Alleria flüstern hörte: „Turalyon?“

Er hob den Kopf, und im gedämpften, orangefarbenen Schein der Kohlepfanne sah er sie im Zelt stehen. „Alleria! Beim Licht, du bist ja völlig durchnässt!“

Turalyon stand von seinem Feldbett auf, nur in leinene Reiterhosen gekleidet, und trat auf sie zu. Zitternd sah die Elfe zu ihm auf, ihre Augen weit geöffnet, ihr herrliches goldenes Haar klebte am Kopf. Tausend Fragen lagen Turalyon auf der Zunge. Wann war sie zurückgekommen? Was war passiert? Und am Wichtigsten: Warum war sie hier, in seinem Zelt, zu dieser Stunde?

Das alles musste warten. Sie war nass bis auf die Knochen und unterkühlt. Als er ihren Umhang nahm, spürte er, dass der so schwer war, als wäre er in einen See gefallen und hätte sich mit Wasser vollgesogen. „Hier“, sagte er und warf das schmutzige Ding beiseite. „Komm ans Feuer. Ich hole dir etwas Trockenes zum Anziehen.“

Sein sachlicher Tonfall schien sie zu ermutigen, und sie nickte, während er in seiner Kiste wühlte. Erfand ein Hemd, Hose, Wappenrock und Umhang. Sie versank darin, aber es war trockene Kleidung. Er bemerkte, dass Alleria sich nicht bewegt hatte. Etwas stimmte in der Tat nicht.

„Komm“, sagte er sanft, führte sie zu einer Kiste und setzte sie darauf. Für gewöhnlich war Alleria selbstsicher, fast schon hochmütig. Doch in diesem Moment wirkte sie wie ein verzweifeltes Kind. Turalyon biss sich auf die Zunge, um keine Fragen zu stellen. Er kniete sich hin und zog ihr die Stiefel aus. Das Wasser stand zentimetertief darin, und ihre Füße waren eiskalt. Er rieb sie schnell und bemerkte, wie zierlich und bleich sie waren. Als sie sich etwas erwärmten, stand er auf und half ihr auf die Beine.

„Hier sind ein paar trockene Sachen“, sagte er und brachte sie zurück zum Feuer. „Schlüpf da rein, und ich besorge dir was Heißes zum Trinken. Dann reden wir.“

Turalyon gab ihr die Kleidung, drehte sich um und errötete leicht. Er hörte ein leises Rascheln hinter sich und wartete darauf, dass sie sagte, sie sei fertig.

Er atmete scharf ein, als er ein paar kleine Hände spürte, die sich um seine Hüfte legten. Und eine schlanke Gestalt presste sich gegen seinen Rücken. Turalyon bewegte sich nicht. Dann nahm er ganz langsam ihre kalten Hände in seine, führte sie sanft nach oben und drückte sie an sein Herz. Es raste. Er zitterte, als ihre kühlen Lippen einen sanften Kuss auf seine Schulter hauchten, und er schloss die Augen.

Wie lange hatte er sich das gewünscht? Davon geträumt? Er hatte schon früh erkannt, dass er sich Hals über Kopf in Alleria verliebt hatte. Aber bis gerade eben hatte er nie damit gerechnet, dass diese Liebe erwidert werden könnte. Während der letzten Wochen schien es, dass sie seine Gesellschaft gesucht hatte. Sie hatte es arrangiert, dass sie sich oft berührten, allerdings immer in einer neckischen Art. Und jetzt...

„Mir ist k-kalt“, flüsterte sie, ihre Stimme klang belegt. „So kalt.“

Unfähig, es noch länger zu ertragen, wandte sich Turalyon in ihren Armen um, legte seine Hände um ihren nackten Hals und war erstaunt, wie sanft ihre bleiche Haut unter seinen vernarbten Händen war. Das schwache Licht des Feuers fing das Leuchten von drei Edelsteinen ein, die an einer Kette um ihren schwanengleichen Hals hingen, und ließ ihre Haut warm und golden erscheinen. Sein Blick verschwamm, als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, und er hielt die Tränen aus einem so tiefen Gefühl zurück, dass es seine Seele erschütterte.

„Alleria“, flüsterte er in ihre langen, spitzen Ohren. Plötzlich nahm er sie fester in die Arme, hielt sie eng an sich gepresst. „Lass mich dich wärmen“, sagte er unbeholfen. „Lass mich alles von dir wegnehmen, was dir wehtun kann, was dich verängstigt. Ich kann es nicht ertragen, wenn du leidest.“

Er würde nicht mehr tun, nicht nach mehr verlangen. Er hatte Angst, dass sie sich jede Minute eines Besseren besinnen würde und ihm sagte, dass sie nur mit ihm gespielt hatte – und sich zurückzog, um mit ihm über Taktiken oder Strategien zu sprechen.

Turalyon würde es zulassen, wenn es das war, was sie wollte. Wenn sie das brauchte, damit das Licht und das Leben wieder in ihren Augen leuchteten. Um diese schreckliche Stille loszuwerden.

Sie entzog sich ihm nicht. Stattdessen berührte sie sein Gesicht.

„Turalyon“, flüsterte sie und dann in ihrer Heimatsprache: „Wendel’o eranu.“

Er behielt ihr Gesicht in seiner Hand, spürte die zarten Knochen ihrer Wangen. Er erkannte, dass sie trotz all ihres Könnens, der Energie und des Feuers, das sie in sich trug, doch verletzlich war. Sie hatte ihm nie zuvor ihre Zerbrechlichkeit gezeigt. Wasser lief ihre Wangen hinab, und ganz kurz glaubte er, dass sie weinen würde. Einen Moment später sah er aber, dass es nur Regentropfen aus ihrem nassen Haar waren.

Langsam, zögernd beugte er sich vor, um sie zu küssen. Sie reagierte sofort, leidenschaftlich, legte ihre Arme um seinen Hals. Turalyon fühlte sich benommen, als er sich zurückzog und sie flüsterte: „Kalt, so kalt...“

Er nahm sie in die Arme, erstaunt, wie leicht sie war, setzte sie auf das Feldbett und zog die Felle über sie beide.

Und dann wärmten sie einander.

Turalyon rieb sich die müden, angestrengten Augen. Er blinzelte weg, was er für Tränen der Erschöpfung hielt.

Nach dieser einen gemeinsamen Nacht war sie am nächsten Morgen fort gewesen. Er war aus seinem Zelt gekommen und erfuhr Neuigkeiten, die ihn bis ins Mark erschütterten. Alleria und ihre Waldläufer waren von der Erkundungsmission zurückgekehrt, hatte er im Morgengrauen erfahren. Seine Augen weiteten sich vor Mitgefühl und Schmerz, als er hörte, wie die Horde in Quel’Thalas gewütet hatte. Alleria selbst hatte nicht weniger als acht Verwandte verschiedenen Grades verloren. Vettern, Tanten, Onkel und Neffen.

Und unter den Toten war auch ihr jüngerer Bruder.

Er eilte zu ihr, aber als er seine Hand auf ihre Schulter legte, schob sie sie weg. Er versuchte mit ihr zu reden, aber die Worte ignorierte sie ebenso. Es war, als wären sie nie ein Paar... als wären sie niemals Freunde gewesen. Turalyon spürte, dass etwas in ihm zerbrach. Etwas, das er seitdem beiseitegeschoben hatte und über das er Narben wachsen ließ. Er war General, ein Anführer, und konnte nicht seinem persönlichen Schmerz nachgeben. Aber als er sie in Sturmwind wiedergesehen hatte, wieder bis auf die Knochen durchnässt, hatte er gedacht... gehofft...

Nun, er war ein Narr gewesen zu hoffen. Egal, was geschehen war, Turalyon wusste, dass er Alleria Windläufer immer lieben würde. Und die gemeinsame Nacht war das Schönste in seinem kurzen Leben gewesen.

„Sie kommen.“

Rexxars Stimme klang tief und ruhig. Grom sah, wie der Halb-Orc auf etwas deutete und nickte.

„Endlich“, sagte er und zog Blutschrei, während sich seine Augen in Vorfreude auf die Schlacht erhellten. Sie waren keine symbolische Streitmacht, die zurückgeblieben war, als der Rest der Klans Azeroth verlassen hatte. Die Allianz würde sich heute wahrhaft furchterregenden Gegnern gegenübersehen.

Seine leuchtenden roten Augen verengten sich, während er die Zahl der Feinde abschätzte, die sich über das Land verteilten. Sie waren auch in Scharen gekommen.

Wo war der Anführer, derjenige, der seine Männer zum Sterben zurückgelassen hatte, um die anderen zu warnen? Grom wollte ihn unbedingt töten.

Neben seinem Meister heulte Haratha in Vorfreude. Rexxar lachte seinem zahmen Wolf zu.

„Komm her, kleine Allianz“, murmelte Grom. „Blutschrei ist durstig.“

Turalyon zügelte sein Pferd, als sein Trupp den Hügel überschritt, der das kleine Tal um das Portal umgab. Wenn sich die Orcs tatsächlich zurückzogen, dann waren aber noch ziemlich viele hier.

Das würde keine leichte Schlacht am Portal werden. Sie mussten sich durch die bedrohlichen Reihen von grünhäutigen Wesen und großen, bleichen Monstern kämpfen.

Besonders zwei Krieger erregten seine Aufmerksamkeit. Bei einem war sich Turalyon nicht einmal sicher, ob er überhaupt ein Orc war. Er ähnelte einem, aber seine Haut war gelblichbraun, nicht grün, und er überragte die anderen. Sein Körperbau war auch irgendwie anders. Neben ihm stand ein schwarzer Wolf, von dem Turalyon vermutete, dass er so tödlich und zielstrebig war wie sein Herr. Ein machtvoller Kämpfer, zweifellos, aber nicht der Anführer.

Da! Der war es! Größer als die meisten, mit einer dichten, schwarzen Haarmähne, die zu einem Knoten gebunden war, einem schwarzen Mund, roten Augen und schwerem Armschutz, auf dem merkwürdige Symbole prangten. Tapfer taxierte er die überlegene Zahl von Allianzkriegern.

Ihre Blicke trafen sich. Während Turalyon ihn beobachtete, hob der Anführer der Orcs seine riesige Axt zum Gruß.

„Diesmal sind wir auf dich vorbereitet, du Bastard“, murmelte Danath. Seine Augen leuchteten, und er war bereit für die Schlacht. So wie jeder anwesende Soldat.

„Söhne Lothars! Zum Angriff!“, brüllte Turalyon. Seine Männer stießen einen Schrei aus und strömten von allen Seiten los. Die Schlacht hatte begonnen.

Es war ein einfacher Plan. So viele Orcs wie möglich zu töten, während sie auf das Portal zustürmten. Turalyon kämpfte wild, schwang seinen Hammer nach links und rechts, drosch auf wütende Feinde ein, die seinen Weg blockierten. Alleria kämpfte nah bei ihm, offensichtlich mit grimmiger Freude am Gefecht, wie immer. Sein sechster Sinn meldete sich, und er sah gerade rechtzeitig auf, um zu erkennen, wie die elfische Waldläuferin ihr Schwert in einen unglücklichen Orc schlug, während ein anderer hinter ihr auftauchte und seinen tückisch aussehenden Knüppel hob.

Sie schien die Gefahr nicht zu bemerken, ihr Gesicht war von einer barschen Freude verzerrt, als sie ihr Schwert aus dem grünen Leichnam zog. Sie war nur darauf konzentriert, zu sehr auf Rache versessen...

„Alleria!“, schrie Turalyon, schlug auf sein Kriegsross ein und galoppierte zu ihr. Wie in Zeitlupe hob Alleria ihren Kopf, ihre Augen weiteten sich, ihr Arm kam hoch, um mit dem blutigen Schwert den Schlag abzublocken. Aber sie war zu langsam, und Turalyon würde niemals rechtzeitig da...

Das Gebet verließ seine Lippen, und er streckte die Hände aus. Weißes Licht schoss daraus hervor und traf den Orc in der Brust. Der fiel zurück, und der Knüppel entglitt seiner Hand, als er zu Boden krachte. Für einen kurzen Augenblick war Turalyons Blick mit Allerias verbunden. Dann kämpfte sie auch schon gegen den nächsten Orc, und er musste sich ebenfalls wieder in die Schlacht stürzen.

Er entdeckte den Anführer der Orcs, den er schon vorher gesehen hatte. Er schien durch die Streitkräfte der Allianz hindurchzutanzen. Die schwere Axt sang in seiner Hand, durchschnitt Luft und Fleisch gleichermaßen. Das Geräusch übertönte die Schreie und das Stöhnen der vielen Opfer. Ab und zu wies er auf etwas und brüllte.

Aber so kräftig er auch war, waren er und seine Krieger doch in der Unterzahl. Und er schien das zu wissen. Die Allianztruppen kamen unaufhaltsam näher an das Portal heran.

Der Orc schien eine Entscheidung zu fällen. Er wandte sich um und brüllte einer verhüllten Gestalt etwas zu, die neben dem Portal stand. Die Gestalt nickte. Dann rief der Anführer etwas anderes, und im ganzen Tal gehorchten die Orcs. Sie lösten sich von der Allianz und zogen sich langsam, aber sicher zum Portal zurück.

Turalyon erspähte eine weitere Bewegung. Die verhüllte Gestalt zog etwas neben dem rechten Pfeiler des Portals hervor. Turalyon konnte nicht erkennen, was es war. Aber es bestand aus Metall und glitzerte im Licht. Etwas an der Art, wie die Gestalt damit hantierte, machte Turalyon nervös, und er erinnerte sich an seine Unterhaltung mit Mekkadrill, dem Gnom.

Wie sicher ist das?

Ich bin bereit, darauf zu wetten, dass es so sicher wie die sicherste gnomische Konstruktion ist...

Die Orcs versuchten jetzt, durch das Portal zu laufen statt zu kämpfen. Khadgar hatte bestätigt, dass sie die Artefakte hatten, die sie benötigten, und dass sie bereit waren für...

„Verdammt!“, schrie Turalyon. Er hoffte, dass er unrecht hatte. Erblickte über den Ozean aus kämpfenden Männern und Orcs und erspähte Khadgar und eine Gruppe Magier. Er ritt auf sie zu und berichtete, was er gesehen hatte.

Khadgar furchte die Stirn, während er zuhörte. „An ihrer Stelle würde ich auch heimgehen. Und dann würde ich das Portal zerstören, damit mir niemand folgen kann.“

„Daran habe ich auch gedacht. Ich glaube, es ist etwas Mechanisches. So etwas, wie die Gnome es bauen.“

„Oder die Goblins“, sagte Khadgar. Beide Männer wussten, dass, anders als die Gnome, die auf Seiten der Allianz standen, die Goblins gern ihre mechanischen Spielzeuge an jedermann verkauften. „Wir haben das letzte Portal zerstört. Sie können sicherlich dieses hier vernichten. Und ohne Medivhs Buch und Gul’dans Schädel bezweifle ich, dass ich es wieder öffnen kann.“

„Dann Tempo. Ich halte sie auf, sagte Turalyon, der sein Pferd bereits herumriss und auf das Portal zuritt. Khadgar war direkt hinter ihm. Turalyon schlug auf die Orcs ein, bahnte sich wie ein Besessener einen Weg.

Khadgar blickte zum Portal und beobachtete die Gestalt, die etwas daneben anbrachte. Der Magier stützte sich auf seinen Sattel und schlug nach dem vermummten Gegner. Der drehte sich in der letzten Sekunde um, war aber nicht schnell genug, um dem Schlag am Hals entgehen zu können. Er reichte nicht aus, um ihn zu töten, aber die Gestalt grunzte vor Schmerz und ließ das Gerät fallen. Dann umfasste sie den Hals mit beiden Händen.

Khadgar sprang vom Pferd und hob die merkwürdige Maschine auf. Sie war so groß wie ein kleiner Schild, eindeutig mechanisch... und sie tickte. Er analysierte das Ding schnell, aber die Konstruktion war ihm zu fremd. Es gab keine Möglichkeit, es zu stoppen. Was immer es auch tun sollte, es würde es bald tun. Grunzend hob der Magier das Gerät an und warf es so weit weg, wie er konnte, verstärkte seine Körperkraft mit Magie, sodass es weit aus dem Tal hinausflog und vielleicht sogar die Klippen auf der anderen Seite erreichte.

Die Explosion erschütterte das ganze Tal.

Grom fluchte, duckte sich und bedeckte seinen Kopf. Er spürte Stiche seinen Rücken entlang und auf den Schultern, wo er von kleinen Steinen getroffen worden war. Er sah auf. Wut brannte in ihm, und die ließ er an dem Hexer aus. Kra’kul wirkte so erschreckt wie Grom und duckte sich, als Groms Faust herabfuhr.

„Verräter! Du wolltest uns töten!“

„Nein! Nein! Ich schwöre es. Mir wurde gesagt, das ist ein Schild, ein Schild, um uns zu schützen! Ich wusste es nicht!“

Der rote Schleier vor Groms Augen lichtete sich, als er den sich windenden Hexenmeister mit einer Hand hochhob und schüttelte. Wie gern hätte er ihm die Kehle zerquetscht, seinen Kopf abgerissen und ihn so weit geworfen, wie der alte Mensch das Gerät. Statt sie zu schützen, hatte es sie beinahe getötet.

„Wer hat dir das gesagt? Wo ist er, damit ich ihm das Herz herausreißen kann?“ Er schüttelte den Zauberer heftig und unterdrückte seinen Blutrausch.

„Das weiß ich nicht... Malkor sollte das tun... er sagte mir, es sei ein Schild...“

Fluchend warf Grom den wertlosen Kerl weg und wandte sich wieder dem Kampf zu.

Grom war gesagt worden, dass das Gerät ein Schild sei, mittels dem der Kriegshymnenklan im letzten Moment fliehen könnte. Er war angelogen worden. Jemand in einer mächtigen Position, Blutschatten vielleicht oder Ner’zhul, hatte offensichtlich gewollt, dass die zurückgebliebenen Krieger nicht lebend fliehen konnten.

Grom schwor sich, die Schlacht zu überleben, so unwahrscheinlich es auch war, und jemanden dafür bezahlen zu lassen.

Die Explosion hatte seine Leute erschüttert, Die Allianz hatte sich schneller als seine Leute erholt. Und Grom musste wütend und hilflos mit ansehen, dass sie wie Vieh nach Südwesten getrieben wurden. Aber er konnte nichts dagegen tun. Eine Gruppe kam von einer Seite, während die andere den Ausgang blockierte und die Orcs in den engen Talzugang trieb, weg vom Portal. Weg von zu Hause.

„So sei es“, knurrte er. Die Allianz sollte ihren Sieg haben. Aber er würde sie teuer zu stehen kommen. Er warf seinen Kopf zurück, öffnete den Mund weit und brüllte so laut, dass zwei Allianzkrieger mitten in der Schlagbewegung aufhörten.

„Kämpft, meine Kriegshymnenkrieger, kämpft wie Orcs! Lasst euer Blut vor Kampfeslust singen! Reißt sie in Stücke! Für die Horde!“

„Irgendjemand muss hierbleiben und diese Bande im Auge behalten“, sagte Turalyon. Er ritt neben Alleria und Khadgar und wartete darauf, dass Kurdran auf Sky’rees Rücken tief genug kreiste, damit er dem Gespräch folgen konnte. „Ich postiere ein paar Männer am Eingang des Tals. Dann kann die Horde nicht fliehen. Alle anderen...“

Er verstummte. Khadgar beneidete Turalyon nicht. Niemand wollte wirklich durch das Dunkle Portal gehen. Obwohl er zugeben musste, dass ein kleiner Teil von ihm, der Teil, der ihn überhaupt hatte Magier werden lassen, sehr neugierig darauf war, was dahinterlag.

„Gut“, sagte Turalyon. „Wir wissen, was wir zu tun haben. Sagt euren Leuten noch einmal, dass nur Freiwillige mitkommen sollen. Ich werde keinen Soldaten dazu zwingen, auf eine fremde Welt zu gehen, wenn er das nicht will.“

Danath nickte, riss sein Pferd herum und brüllte die entsprechenden Befehle. Alleria kehrte zu ihren Waldläufern zurück und redete mit ihnen leise in ihrer melodischen Sprache. Khadgar warf Turalyon einen aufmunternden Blick zu, doch der Paladin wich ihm aus. Leise sagte er zu Khadgar: „Alleria wäre heute beinahe getötet worden. Ich konnte sie gerade noch retten.“

„Turalyon“, sagte Khadgar ebenso leise, „Alleria ist eine erfahrene Kämpferin. Sie ist vielleicht sogar stärker als wir beide. Das weißt du doch.“

„Deshalb mache ich mir auch keine Sorgen. Ich weiß, dass sie auf sich selbst aufpassen kann. Aber... sie wird waghalsig. Sie wird...“ Seine Stimme brach, und Khadgar wandte sich ab, um den Schmerz im Gesicht des jungen Mannes nicht sehen zu müssen.

„Ihr ist das Töten von Orcs wichtiger als ihr eigenes Leben“, sagte Khadgar. „Sie geht übertriebene Risiken ein.“ Turalyon nickte traurig. „Aber jetzt tragen wir den Kampf zu den Orcs. Das könnte ihr guttun. Es könnte euch beiden guttun.“

Turalyon errötete, antwortete aber nicht. Seine Augen waren auf seine Soldaten gerichtet, in deren Mitte er sich jetzt begab.

„Söhne Lothars!“, rief er. „Wir sind schon früher in Schlachten gezogen. Wir haben Verluste und Niederlagen erlitten. Aber auch Siege. Doch nun treten wir dem Unbekannten entgegen.“ Er sah Khadgar an und lächelte. „Wir tragen den Kampf zu den Orcs. Und wir werden sie aufhalten, damit sie weder uns noch irgendwelchen anderen Welten mehr Ärger bereiten. Für die Allianz! Für das Licht!“

Er hob seinen Hammer, und Jubel brandete auf, als seine Waffe in hellem weißem Licht erstrahlte. Khadgar nickte. Das war es, was er und Anduin Lothar in Turalyon gesehen hatten, als er ihnen das erste Mal begegnet war. Es schien, als wäre seitdem ein ganzes Menschenleben vergangen. Der ehemalige Kommandeur der Allianz und der Magier hatten schon damals gewusst, dass der Mann, der sich vom Priester zum heiligen Krieger gewandelt hatte, an seinen Aufgaben wachsen würde. Dass sich sein unverdorbenes Ehrgefühl mit der wilden Entschlossenheit, sein Volk zu beschützen, vereinen würde. Dass er als Anführer der Armee seine Männer um sich sammeln und in eine völlig neue Welt führen würde.

Khadgar fragte sich, ob sein Freund merkte, wirklich merkte, wie sehr er seine Soldaten inspirierte. Und wie er im Besonderen eine Person inspirierte, die ihn in unbeobachteten Augenblicken mit Bewunderung auf ihrem schönen Elfengesicht ansah.

Turalyon wendete sein Pferd und trieb es die Steinrampe zum Dunklen Portal hinauf. Sein Pferd scheute, aber Turalyon hielt die Zügel straff und drängte es hindurch.

Die Wirbel aus Licht erschienen verlockend. Ein grünlicher Schimmer überlagerte kurz sein weißes Licht, bevor Turalyon zwischen den Säulen verschwand. Alleria und Khadgar befanden sich direkt hinter ihm. Der Magier kämpfte mit seinem Pferd und spürte eine unbekannte Neugier, als Mann und Tier den Spalt betraten; es fühlte sich kalt an, als würde ein starker Strom an ihm zerren.

Ein Schauder überkam ihn, und für einen Moment sah er gleichzeitig die Finsternis, Sterne, bunte Wirbel und das Aufblitzen merkwürdiger Farben.

Dann kam er wieder heraus. Heiße Luft wärmte seine Haut, die sich während des kurzen Durchgangs stark abgekühlt hatte.

Grell... es war alles so grell. Er hob eine Hand, um seine Augen zu schützen. Es war heiß, eine trockene Hitze, die Khadgar physisch angriff. Er blinzelte, wartete, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten... und schnappte nach Luft.

Er stand auf einem Felsen, inmitten des hiesigen, kunstvoll verzierten Portals. Das Tor auf ihrer Welt war weitgehend schmucklos, wahrscheinlich, weil es so schnell errichtet worden war. Statuen von verhüllten Männern standen auf beiden Seiten. Und die Treppe, die zu einer zweiten Plattform hinabführte, wurde von brennenden Fackeln flankiert. Zwei Säulen, auf denen ebenfalls ein Feuer brannte, befanden sich auf jeder Seite der merkwürdig wirkenden Straße, und...

Die zerklüftete rote, unfruchtbare Ebene, die sich vor ihnen erstreckte, wirkte irgendwie vertraut auf ihn und erinnerte ihn an die Verwüsteten Lande. Selbst jetzt platzte das ausgetrocknete Land in der Ferne immer wieder auf. Feuer stieg hoch, als wäre ein Drache geschlüpft, der durch die Erde wie durch eine Schale brach.

Aber Khadgars Augen hingen am Himmel. Er war rot, das tiefe Rot frischen Blutes, und im Zenit stand eine purpurne Sonne, deren Hitze auf sie niederbrannte. Und... beim Licht... der Himmel war ihm auch vertraut.

„Nein“, sagte er mit gebrochener Stimme. „Nein“, flüsterte er erneut. „Nicht hier! Nicht so!“

„Was ist los?“, fragte ihn Alleria. Er ignorierte sie. Es war alles genauso wie in der Vision... der Himmel, das Land...

„Khadgar! Was ist?“

Er schloss die Augen und öffnete sie wieder, als würde er aufwachen. Aber die schreckliche Szenerie verschwand nicht. Er schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem müden Lächeln. „Gar nichts“, log er. Doch schnell merkte er, wie offensichtlich die Lüge war, und er korrigierte sich. „Ich habe diesen Ort... in meinen Visionen gesehen. Ich hatte nicht erwartet... ich dachte nicht, dass es so schnell geschehen würde. Es... es hat mich kurzzeitig überwältigt. Es tut mir leid.“

Alleria sah ihn stirnrunzelnd an. Sie war besorgt, sah aber ein, dass er nichts mehr hinzuzufügen hatte. „Es ist...“ Sie schloss den Mund, unfähig, die richtigen Worte zu finden. Sie legte eine Hand auf ihr Herz, als würde es körperlich schmerzen. Und einen Augenblick lang vergaß Khadgar seine eigene Verzweiflung, um sie zu trösten. Sie war eine Elfe, ein Kind des Waldes, der Bäume, des wachsenden, gesunden Landes. Sie wirkte wie versteinert, krank.

Beinahe so krank, wie Khadgar sich fühlte.

Aus dem Nichts kam Wind auf. Ohne Pflanzen, die den Boden festigten, wirbelte der gierige Luftzug die tote, staubige Erde auf und bedeckte sie alle damit. Sie husteten und griffen nach etwas, irgendetwas, um Mund, Nase und Ohren zu bedecken.

Das war es. Khadgar erkannte, dass er sich, als er durch das Portal getreten war, seiner Bestimmung genähert hatte. Er hatte gehofft, dass dieser Tag noch weit in der Zukunft läge.

In seiner Vision hatte er ausgesehen, wie er jetzt aussah... er war ein alter Mann. Und jetzt war er hier. Verdammt, ich bin gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt... Und ich soll hier sterben?, dachte er verzweifelt und versuchte den Gedanken zu verdrängen. Ich habe doch kaum gelebt...

Der Wind verschwand so schnell, wie er gekommen war. „Ein hässlicher Ort“, sagte Danath Trollbann und hustete, als er neben sie trat. Khadgar klammerte sich an den sachlichen Tonfall. „Sagt mal, geht es nur mir so, oder sehen die Verwüsteten Lande genauso aus?“

Khadgar nickte. Es war gut, wenn man sich auf etwas anderes konzentrieren konnte. „Ihre... äh... diese Welt reichte durch den Spalt in unsere hinein. Und was auch immer diese Schäden verursacht hat – ich vermute, dass es die Hexenmeister mit ihrer schwarzen Magie waren –, begann auch, unsere Welt zu beeinflussen.“

Er zwang sich, ihre Umgebung leidenschaftslos zu studieren. Das Land war nicht nur einfach tot, es wirkte, als wäre diese Welt ausgesaugt worden. Was hatten die Orcs ihr nur angetan?

„Auf Azeroth konnten wir den Prozess dank des Lichts aufhalten. Doch dieses Land hat viel länger darunter gelitten. Ich vermute, diese Welt war einst viel freundlicher.“

Alleria furchte die Stirn. „Die Straße... sie...“ Sie wurde plötzlich bleich, dann verzog sich ihr anmutiges Gesicht vor Wut. „Diese... Monster...“

Turalyon ritt neben sie. „Was ist los?“

„Die Straße...“ Alleria schien das richtige Wort nicht einzufallen. Sie versuchte es erneut. „Sie ist mit... Knochen gepflastert.“

Sie alle verstummten. Sicherlich irrte sich Alleria. Die Straße war schließlich kein schmaler Pfad. Sie war breit, dafür gedacht, dass Dutzende Krieger nebeneinander hermarschieren konnten. Sie war breiter als die Brücke, die nach Sturmwind führte, und so lang, dass man das Ende von hier aus nicht erkennen konnte.

Um diese Straße mit Knochen zu pflastern, hätte man Tausende... nein... Hunderttausende Leichen benötigt.

„Bei der Gnade des Lichts“, flüsterte ein junger Mann. Er war kreidebleich geworden, und hinter ihm schwoll Gemurmel an.

Gerade als die Soldaten die schreckliche Wahrheit erkannten, zeigte sich der Feind. Als sie durch das Tor marschiert waren, hatten sich nur ein paar Orcs in der Nähe des Dunklen Portals aufgehalten. Khadgar hatte gehofft, dass es die Einzigen waren, die sie beim Betreten der Welt bekämpfen mussten. Aber diese wenigen hatten Verstärkung gerufen.

Entlang der Hügelkuppe und der Straße erkannte Khadgar Dutzende Orcs, deren Waffen in der grellen roten Sonne glitzerten.

Zum ersten Mal, seit dieser ganze Albtraum begonnen hatte, befürchtete Khadgar, dass die Soldaten in Panik geraten könnten.

„Das ist eine kleine Armee“, sagte er leise. Orcs waren in seiner Vision auch vorgekommen. Orcs, die auf einem Hügelkamm standen, brüllten, knurrten und fluchten.

„Wir haben selbst eine Armee“, sagte Alleria und sah Turalyon an.

„Das stimmt“, antwortete Turalyon. Seine Stimme klang unsicher. Er war auch beim ersten Anblick dieser Welt erschüttert gewesen. Doch jetzt war er fest entschlossen. „Eine Armee, die zwischen den Orcs und denjenigen steht, die sie töten wollen. Eine Streitmacht, die nicht tatenlos dabei zusieht, wie ihre eigene Welt leiden muss.“ Er sah seine Soldaten an. „Söhne Lothars“, rief er. „Dies ist der Kampf, für den wir bestimmt sind! Mehr als jemals zuvor kämpfen wir für unsere Heimat! Wir werden nicht zulassen, dass die Horde uns oder anderen das antut, was sie dieser Welt angetan hat!“ Seine Stimme klang so klar und rein und war stark wie der leuchtende Hammer, den er jetzt hob. „Für Sturmwind! Für Lordaeron, Eisenschmiede, Gnomeregan. Für Azeroth!“

So sei es, dachte Khadgar und folgte seinem General in die Schlacht.

15

Ner’zhul saß auf dem Thron in der Höllenfeuerzitadelle, der albtraumhaften Festung, die von der Horde kurz nach der Vereinigung der Klans erbaut worden war.

Er mochte diesen Ort nicht.

Er war eine hässliche, die Sinne verstörende Ansammlung von schroffen Winkeln, dunklem Stein, Korridoren und Wegen, die sich wie eine Schlange in jede Richtung wanden. All das wirkte nicht im Entferntesten wie ein traditionelles Orc-Dorf, das normalerweise aus einer Ansammlung von kleinen Gebäuden, Hütten und Türmchen bestand. Es hätte bestenfalls die pervertierte Variante eines solchen sein können. So, wie die Orcs selbst verderbt und entstellt waren.

Während Orc-Hütten aus grünen Zweigen bestanden und mit Rinde bedeckt waren, hatte man diese Gebäude aus dunklem Gestein und rohem Eisen errichtet. Merkwürdige Stützbalken ragten auf, von glänzenden Stahlspitzen gekrönt. Es sah aus, als würden riesige Hände aus dem Boden heraus nach den Bauten greifen. Die verschlungenen Verbindungswege erstreckten sich von einem Dach zum anderen, fast als hätte man die Gebäude ineinandergeschoben.

An der Hinterseite erhob sich ein hoher Turm mit spitzem Dach. Hier befand sich Schwarzfausts Thronsaal. Der Schattenrat hatte einst seiner Marionette einen Thron geschenkt. Jetzt gehörte er Ner’zhul, dem wahren neuen Anführer der Horde.

Ner’zhul schaute nicht durch die Fenster zum Portal. Er hatte kein Verlangen danach, an den desolaten Zustand seiner einst fruchtbaren Welt erinnert zu werden. Aber eigentlich ließ es sich kaum vermeiden.

Unbewusst befühlten seine Finger den weißen Totenschädel auf seinem Gesicht. Tod. Der Tod seiner Welt, der Tod seines Volkes, der Tod seiner Ideale. An seinen grünen, gichtigen Händen klebte Blut. Das Blut so vieler Unschuldiger. Das Blut von Orcs, die ihm vertraut hatten. Die er versehentlich in die Irre geführt hatte.

Du musst aufhören, dir solche Vorwürfe zu machen, erklang eine Stimme in seinem Kopf. Er ignorierte sie. Es fiel ihm leichter, die Stimme des toten Gul’dan zu ignorieren, wenn er keinen direkten Kontakt mit dessen Schädel hatte. Aber selbst jetzt, da er bewusst nicht auf ihn achtete, sah er zu dem Totenkopf hin, der auf einem kleinen Tisch lag. Fackellicht tanzte über den gelblichen Knochenschädel. Ner’zhul merkte, dass er mit ihm sprach, als könnte Gul’dan ihn tatsächlich hören – was irgendwie auch stimmte.

„Wir haben viel Schaden angerichtet, du und ich. Wir sind Todbringer, stürzen andere ins Verderben. Aber jetzt können wir versuchen, sie zu retten. Und dein Schädel, mein alter Schüler... dein Schädel wird mir dabei helfen. Tot nützt du den Orcs mehr als zu deinen Lebzeiten. Du bist zu deinem alten Meister zurückgekommen. Vielleicht können wir unserem Volk ja gemeinsam eine neue Zukunft geben.“

Aber das willst du eigentlich gar nicht, oder, mein Meister?

Ner’zhul blinzelte. „Natürlich will ich das! Ich wollte immer meinem Volk dienen. Dass ich den Tod über sie gebracht habe... das verzehrt mich. Deshalb trage ich das hier.“ Er berührte wieder das Symbol in seinem Gesicht. Der Schädel, der vor ihm lag, und der auf seinem Gesicht waren beides Totenköpfe.

Vielleicht war das mal so. Gul’dans Stimme kroch in sein Hirn, war sanft und beruhigend. Aber du bist zu Höherem berufen, mächtiger Ner’zhul. Zusammen können wir...

Ein Geräusch zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Ner’zhul löste widerwillig den Blick von dem Schädel und ließ die jüngste Diskussion mit dessen Besitzer offen. Blutschatten stand vor ihm, zusammen mit einem Menschen, den Ner’zhul nicht kannte. Es war ein großer, schlanker Mann mit dunklen Locken und einem adrett gestutzten Bart. Der Fremde trug kostbare Kleidung und bewegte sich selbstsicher und mit Anmut. Aber irgendetwas an ihm stimmte nicht. Ner’zhul furchte die Stirn, als er die Macht des Fremden spürte.

„Ich habe die Artefakte“, verkündete Blutschatten ohne lange Vorrede und hielt einen großen Sack hoch. Ner’zhul spürte, wie Hoffnung in ihm aufstieg, und er bedeutete dem Todesritter eifrig, vor ihn zu treten. Blutschatten ging zum Thron, holte alle Gegenstände aus dem Beutel und legte sie in den Schoß seines Herrschers.

Ner’zhul sah sie an und nahm jedes einzelne Artefakt in die Hand, um es zu bewundern. Ein großes, schweres Buch, dessen roter Titel in Messing geschlagen und mit dem Bild eines fliegenden Raben geschmückt war. Ein Kristall von der Größe eines Menschenschädels, dessen Zentrum wie ein Stern in tiefstem Violett leuchtete. Und ein langes, dünnes Zepter, aus Silber und Holz gefertigt, mit einem großen Edelstein, der an der Spitze glitzerte.

„Ja“, flüsterte Ner’zhul und legte seine Hände auf die drei Artefakte. Er konnte die Macht spüren, die sie durchströmte. Eine immense Macht. Ausreichend, um den Raum zwischen den Welten aufzureißen. „Ja, damit werden wir neue Portale erschaffen. Wir werden die Horde retten. Wir müssen sofort mit der Arbeit beginnen! Es dauert einige Zeit, um einen Spruch dieser Stärke zu wirken, und es erfordert äußerste Präzision.“ Er lächelte. „Aber mit diesen drei Gegenständen können wir nicht versagen.“

Blutschatten verneigte sich. „Ich habe dir ja gesagt, dass es funktioniert“, erinnerte er Ner’zhul. Er trat einen Schritt zurück und wandte sich dem Menschen zu, den er mitgebracht hatte.

„Ohne die Hilfe der schwarzen Drachen hätten wir die Artefakte nicht bekommen können. Todesschwinge ist ihr Vater und Anführer.“

Todesschwinge! Ner’zhuls Hände verkrampften sich um die Lehnen seines Throns. Totenschädel, Todesritter... und jetzt stand vor ihm das mächtigste Wesen, das je nach dem Tod benannt worden war...

Ner’zhul konnte die wahre Form des Drachen erkennen, die seine menschliche Gestalt wie Rauchschwaden umgab, und er zitterte innerlich. Todesschwinge lächelte, aber es lag keine Wärme darin, und er verneigte sich ein wenig spöttisch. Ner’zhul versuchte seinen rasenden Puls zu beruhigen. Davon hatte er ebenfalls geträumt – vom Schatten des Todes.

„Er hat uns aus freien Stücken die Hilfe seiner Kinder angeboten. Als Gegenleistung gewährten wir ihm und den Seinen mit ihrer Fracht freien Durchgang durch das Portal“, sagte Blutschatten.

„Fracht?“ Ner’zhul hatte die Sprache wiedergefunden. Aber er war unangenehm überrascht, wie schrill seine Stimme in seinen Ohren klang. „Was für eine Fracht?“

„Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst“, antwortete Todesschwinge mit glatter, kühler Stimme. Sie enthielt eine unterschwellige Drohung. Die Fackeln flackerten, als wäre Wind aufgekommen, und der Schatten des Drachen breitete sich aus und erfüllte den Raum.

Siehst du? Jetzt arbeitest du mit den Drachen zusammen, wenn auch unwissentlich. Du koalierst mit dem Schatten des Todes, Ner’zhul. Freust du dich denn nicht?

Ner’zhul wollte sich die Hände auf die Ohren pressen, aber er wusste, dass das nichts nützen würde. Er atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben.

„Ich danke dir für die Hilfe, Todesschwinge. Wir sind dankbar.“

„Lord Todesschwinge.“

„Natürlich... Lord Todesschwinge.“ Der menschlich wirkende Drache blieb stehen und ignorierte die subtile Aufforderung zu gehen. „Können wir dir noch bei etwas anderem helfen?“, fragte Ner’zhul. Er wollte, dass diese Kreatur verschwand.

Der Drachenmann überlegte, spitzte seine Lippen, während die langen Finger durch den Bart fuhren.

Ner’zhul hatte den Eindruck, dass das Nachdenken nur vorgetäuscht war.

„Das ist ein sehr großzügiges Angebot, werter Ner’zhul“, antwortete Todesschwinge und schaffte es dabei, die Worte sarkastisch klingen zu lassen. „Und ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass der Schädel dort drüben mich nicht sehr fasziniert.“ Die Worte klangen höflich, diplomatisch, aber sie troffen vor kaum verhohlener Macht, und in den Augen des Drachen loderte für einen Augenblick ein Feuer, das heller als die Fackeln brannte.

Ner’zhul schluckte. Konnte Todesschwinge Gul’dans Stimme auch hören?

Todesschwinge lachte leise und streckte seine manikürte Hand aus. Ein Ring glitzerte im Licht. „Komm schon, werter Ner’zhul. Wenn ich es recht verstehe, reicht die Macht in dem Tand, den ich mit Blutschatten besorgt habe, völlig aus, um deine Ziele zu erreichen. Der Schädel ist überflüssig. Und ich will ihn.“

Ner’zhul kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Obwohl Todessschwinge recht hatte, wollte er den Schädel nicht hergeben. Gul’dan war immerhin sein Schüler gewesen, und wenn in dem gelben Relikt noch Wissen verborgen war, hatte sicherlich keiner ein größeres Recht darauf als er.

„Ich werde langsam ungeduldig“, sagte die seidig weiche Stimme des Drachen, der nach dem Tod benannt war. „Ich glaube nicht, dass du meine Geduld strapazieren willst, Ner’zhul, oder?“

Ner’zhul schüttelte den Kopf und sagte: „Bitte, nimm den Schädel, wenn du magst. Er ist unbedeutend.“

Das war natürlich eine Lüge, und sowohl er als auch der Drachenlord wussten es.

Todesschwinge lächelte, zeigte seine scharfen Zähne und ging zu dem Schädel. Seine Augen weiteten sich, als er ihn berührte, und eine Sekunde lang sah Ner’zhul Dornen, Schuppen und Metallplatten, wo einst Fleisch gewesen war – und glühende rote Augen in einem langen, dreieckigen Schädel.

„Ich muss sagen, ich bin sehr zufrieden mit unserer... Partnerschaft. Sie scheint uns beiden zu nützen.“ Die Stimme war warm, fast schadenfroh. „Wisse dies, wenn du uns brauchst, musst du nur rufen. Ich verlasse euch jetzt. Mehrere meiner Kinder bleiben hier und befolgen all deine Befehle, als wären es meine.“ Er nickte Ner’zhul und Blutschatten zu, dann wandte er sich um und verließ den Raum. Den Schädel trug er in einer Hand, umwickelt mit einem Teil seines Umhangs.

Der Orc-Schamane und der Todesritter sahen zu, wie er ging. „Ich wünschte, er hätte den Schädel nicht mitgenommen“, sagte Blutschatten, nachdem sie sicher waren, dass der Drache fort war. „Aber wir brauchen ihn wirklich nicht, und er ist ein geringer Preis für Todesschwinges Hilfe beim Erlangen der Artefakte.“

Ner’zhul atmete tief durch, als wäre die Luft im Raum mittlerweile wieder besser. „Weißt du, wofür er den Schädel braucht?“, fragte er Blutschatten.

„Nein“, gestand der Todesritter widerwillig ein. Ihre Blicke kreuzten sich. In Blutschattens leuchtend roten Augen erkannte Ner’zhul etwas, das ihn genauso bestürzte wie die Anwesenheit des Drachen: Besorgnis.

„Die Zeit wird knapp. Lass uns die Vorbereitungen so schnell wie möglich treffen.“

Sie mussten diese tote Welt verlassen, bevor es zu spät war.

16

Khadgar stellte fest, dass er den Nachthimmel dieser Welt gern beobachtete.

Denn er war nicht rot.

Er seufzte, richtete sein Teleskop aus und fokussierte es auf einen besonders hellen Stern. Er war ein kleines Stückchen näher an der Konstellation, die er Turalyons Hammer genannt hatte. Wenn sie jetzt nur noch...

„Wie lange noch?“

Khadgar erschrak, rutschte aus und hielt sich am Dachgeländer fest. „Verdammt, Alleria. Schleich dich nicht so an mich ran!“

Die schöne Waldläuferin, die ihn vom Fenster aus beobachtete, zuckte nur die Schultern. „Ich bin schuldlos. Und du bist so in dein Teleskop vertieft, du würdest nicht einmal merken, wenn ein Oger hier durchläuft. Also, wie lange noch?“

Der Magier seufzte und rieb sich die Augen. Der Turm, auf dem er sich derzeit befand, war Teil eines Vorpostens, den sie Ehrenfeste getauft hatten. Sie hatten Monate gebraucht, um die Grundmauern zu errichten, und weitere Monate, um die Mauern und eines von zwei geplanten Gebäuden fertigzustellen. Während dieser Zeit hatte es wiederholt Angriffe der Orcs gegeben; glücklicherweise meist nur kurze Gefechte, kleinere Scharmützel.

Dass die Horde da draußen war, war sicher. Dass sie sich aus unerfindlichem Anlass weitestgehend zurückhielt, auch.

Es galt herauszufinden, warum sie sich so verhielt, und das war einer der Gründe, warum Khadgar jede Nacht hier draußen stand und die Sterne beobachtete.

Die letzten Monate waren nicht leicht gewesen.

Seit sie auf Draenor eingetroffen waren und einen ersten Sieg über die Orcs auf deren Heimatwelt erringen konnten, hatte die Allianz das Portal gehalten. Zumindest auf dieser Seite. Kurz nachdem ihr Trupp das Dunkle Portal durchschritten hatte, waren weitere Soldaten und Nachschub eingetroffen. Für sie ein Grund zum Jubeln.

„Eine Gabe von den Königen der Allianz“, wurde ihnen gesagt. Besonders willkommen waren die Fässer mit Bier gewesen. Diesen kleinen Luxus hatten sie Magni Bronzebart zu verdanken.

Aber es war nicht so geblieben. Als die zweite Lieferung am vereinbarten Tag nicht eingetroffen war, wurden ein paar Kundschafter ausgeschickt. Die Späher berichteten, dass die Orcs derzeit die Azeroth-Seite des Portals beherrschten. Und so kam es, dass der Nachschub, der das Leben erträglich machte, nur sehr sporadisch durchkam.

Neue Soldaten erreichten ebenfalls eher selten ihr Ziel. Turalyon war optimistisch davon ausgegangen, binnen eines Monats einen Angriff starten zu können. Doch da der Besitz des Portals so oft wechselte, kamen die versprochenen Truppen einfach nicht rechtzeitig an.

Die Orcs saßen in einer düsteren Burg im Westen der Ehrenieste. Sie war groß, hässlich und gut befestigt. Jeder Angriff darauf wollte gut vorbereitet sein.

„Bald“, sagte Khadgar zu Alleria. „Es wird bald losgehen.“

Zuerst war alles ein großes Rätsel gewesen. Kurz nach ihrer Ankunft und dem Bau der Ehrenfeste hatten die Orcs mit ihren Angriffen begonnen. Das war wenig überraschend. Überraschender war, dass sie das auch weiterhin taten. Nicht jeden Tag, und es waren nie viele Krieger daran beteiligt. Doch es waren stets genug. Ebenfalls merkwürdig war, dass den Orcs das Portal egal zu sein schien.

„Man kann der Horde so einiges vorwerfen, aber sie ist nie dumm vorgegangen“, meinte Turalyon eines Abends, als er mit Danath, Alleria, Kurdran und Khadgar sprach. „Warum werfen sie sich uns immer wieder entgegen? Es sind zu wenige, um unsere Festung einzunehmen. Und sie sind nicht hinter dem Portal her.“

„Ich glaube nicht, dass wir zu spät dran sind, um Ner’zhul daran zu hindern, Portale in andere Welten zu öffnen“, überlegte Khadgar. „Aber ich habe keine Ahnung, warum er es noch nicht gemacht hat. Er hat die Artefakte, die er braucht. Zumindest dachten wir das. Aber offenbar benötigt er doch noch etwas anderes.“ Khadgar lehnte sich in dem simplen Holzstuhl zurück und strich sich gedankenverloren durch den langen, weißen Bart.

„Braucht man nicht enorme Energien und sehr komplexe Zaubersprüche?“, fragte Danath. „Vielleicht benötigt er die Zeit, um all diese Details herauszufinden.“

„Glaube ich nicht“, sagte Khadgar. „Es ist schon kompliziert, aber ich bin mir sicher, dass er daran schon gearbeitet hat. als die anderen noch die Artefakte beschafften. Zepter, Buch und Auge.“ Er überlegte. „Und was noch? Worauf könnte er warten?“

Sie versuchten ein paar Orcs zu befragen, die sie gefangen hatten. Aber keiner konnte etwas Nützliches verraten. Es waren keine Todesritter, sondern einfache Kämpfer. Kanonenfutter, das nur eingesetzt wurde, um die Allianz zu verlangsamen, während Ner’zhul auf... ja, was eigentlich?... wartete.

Obwohl er mit leichtem Gepäck reisen musste, hatte Khadgar ein paar zusätzliche Gegenstände mitgenommen. Einen Ring, der es ihm ermöglichte, jede Sprache zu verstehen und auch selbst verstanden zu werden. Nur so hatten sie die Orcs befragen können, die lediglich ihre eigene, gutturale Sprache beherrschten. Unter den anderen Dingen waren eine Handvoll Bücher... Zauberbücher und ein Band, der einst Medivh gehört hatte.

An dem Folianten war nichts Magisches. Es handelte sich nur um Notizen über Draenor, seinen Himmel und die Kontinente. Khadgar fand es tröstlich, nachts zum Himmel aufzuschauen. Er war nur am Tag rot, und Khadgar identifizierte zum Spaß Konstellationen, während er über Ner’zhuls Rätsel nachsann. Dann, eines Nachts, verstand er es endlich, als hätten die Sterne die gesuchte Antwort. Und die hatten sie tatsächlich.

„Zepter, Buch und Auge!“, rief er Kurdran zu, als er aus seinem Lager lief.

„Häh?“, knurrte der erschrockene Zwerg. „Bist du jetzt doch noch übergeschnappt, Kumpel?“

„Hol die anderen. Wir müssen reden.“ Kurze Zeit später befanden sich die Kommandanten der einzelnen Truppen im Turm. „Turalyon... du zuerst. Geh raus und schau durch das Teleskop. Sag mir, was du siehst.“

Turalyon blickte ihn verblüfft an, gehorchte aber. Durch das Teleskop schauend, sagte er: „Ich sehe... Sterne. Wohin soll ich denn gucken?“

„Such die Konstellationen. Gruppen von Sternen.“ Khadgar war so aufgeregt, dass die Worte nur so aus ihm heraussprudelten. „Was siehst du?“

„Nun, so eine Art Quadrat. Das andere ist lang und dünn. Sonst kann ich keine Formen erkennen.“

„Nein... du bist nur nicht daran gewöhnt, darauf zu achten. Eins von Medivhs vielen Spezialgebieten war die Astronomie. Er besaß Bücher mit Sternenkarten von Konstellationen, die ich so nie gesehen habe. Konstellationen von dieser Welt.“

„Das ist ja alles schön und gut, Kumpel, aber ich gucke da nicht durch, wenn ich nicht weiß, was du eigentlich von mir willst“, knurrte Kurdran.

„Schau dir das an.“ Khadgar reichte dem Zwerg ein Buch. Turalyon blickte weiter durch das Teleskop, während Alleria, Danath und Kurdran das Buch untersuchten. „Was seht ihr?“

„Namen von Konstellationen“, sagte Danath. „Der Stab... der Foliant... und der Seher.“

„Zepter, Buch und Auge“, sagte Alleria langsam und hob ihren blonden Kopf an. Sie sah Khadgar bewundernd an. „Also... brauchte Ner’zhul diese Artefakte, weil sie mit den Konstellationen dieser Welt korrespondieren?“

„Ja... und nein“, sagte Khadgar, der seine Aufregung kaum mehr zurückhalten konnte. „Es geht um viel mehr. Einmal alle 547 Jahre gibt es eine Konstellation, die all diese Sterne betrifft. Seht ihr den rötlichen Punkt in der Mitte des Folianten? Der erscheint als erstes. In ungefähr einem Monat seht ihr einen Kometen, der durch den Stab zieht. Und beim nächsten Mondzyklus steht der Mond exakt in der Mitte des Sehers. Diesen Aufzeichnungen zufolge ist das ein ziemlich bedeutendes Ereignis.“

„Wenn Ner’zhul also Gegenstände besitzt, die mit diesen Konstellationen in Zusammenhang stehen“, sagte Turalyon langsam und schaute immer noch zu den Sternen auf, „und er die Artefakte zu einer Zeit benutzt, wenn etwas sehr Seltenes am Himmel mit diesen drei Konstellationen geschieht, verstärkt das seine Kraft, oder?“

„Wenn die Gestirne derart miteinander harmonieren und die daraus resultierende Resonanz... beim Licht, Turalyon, dann kann wahrscheinlich kein Zauber fehlschlagen, der diese Energie benutzt.“

Turalyon schaute vom Teleskop auf. „Wann?“, war alles, was er sagte.

„Fünfundfünfzig Tage noch. Und die Konjunktion hält drei Tage lang an.“

Turalyon und seine Leute warteten auf weitere Verstärkung und rieben ihre Kräfte allmählich auf. Immerhin wussten sie jetzt ganz genau, wie lange sie warten konnten. Und dann mussten sie angreifen, egal, wie viele Kämpfer sie bis dahin hatten.

Khadgar seufzte und sah die Waldläuferin an, die seine Sternenbetrachtung unterbrochen hatte, als er durch das Fenster zurückkletterte. „Wir sind heute einen Tag näher dran als gestern. Ich kann die Sterne nicht beschleunigen, Alleria.“

„Bald, bald. Geduld ist eine Tugend“, murmelte Alleria wütend. „Ich kann diese Sprüche langsam nicht mehr hören.“

„Für eine Elfe bist du schrecklich ungeduldig.“

„Für einen Menschen bist du ganz schön lahm. Ich will kämpfen und mich nicht hier verkriechen.“

In Khadgar kochte plötzlich die Wut hoch. „Du willst nicht kämpfen, Alleria, du willst sterben.“

Sie verstummte. „Wie meinst du das?“

„Wir haben es doch alle gesehen. Du rennst dort raus und bist wild auf Blut. Willst Rache. Du bist waghalsig. Du kämpfst schlecht, Alleria, und das sieht dir nicht ähnlich. Deshalb befielt Turalyon dir, dicht bei ihm zu bleiben oder gar nicht erst in den Kampf zu ziehen. Er hat Angst, dich zu verlieren.“

Ihr Blick war hochmütig, kalt und zornig. „Er kann mich gar nicht verlieren. Ich gehöre niemandem, außer mir selbst.“

Khadgar wusste, dass er eigentlich aufhören sollte. Doch er konnte es nicht. Er hatte sich die ganze Zeit zurückgehalten, hatte Alleria und Turalyon beobachtet, die sich offensichtlich noch liebten, aber wie wachsame Hunde umkreisten. Er konnte sich das nicht länger mit ansehen. „Du gehörst nicht mal dir selbst. Du gehörst zu den Toten. Doch das bringt sie nicht zurück, Alleria. Da ist dieser gute, freundliche, intelligente Mann, hier in dieser Festung, der dir das eine oder andere über das Leben beibringen könnte. Du solltest zur Abwechslung mal versuchen zu leben. Öffne dich etwas Seltenem und Schönem, statt die Türen hinter dir zuzuschlagen.“

Sie trat auf ihn zu, bis ihre Gesichter nur noch wenig voneinander entfernt waren. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Das geht dich nichts an! Warum interessiert es dich, wie ich mein Leben lebe?“

„Mich geht es etwas an, weil ich diese Wahl nicht habe!“

Dieses Eingeständnis war heraus, bevor er es unterdrücken konnte. Beide verstummten und schauten einander an. Ihm war die Wahrheit selbst nicht klar gewesen. Aber jetzt war sie ausgesprochen, lag offen vor ihnen. „Ich weiß, dass du unsere Leben für erschreckend kurz hältst. Unsere Jugend ist noch kürzer. Zehn Jahre, um jung und stark zu sein, nie... nie wieder danach sind wir so lebendig. Ich hatte nicht mal das. Ich wurde ein alter Mann, als ich siebzehn war, Alleria. Ich bin sogar noch jünger als Turalyon! Sieh dir mein Gesicht an. Ich bin zweiundzwanzig... aber welches zweiundzwanzigjährige Mädchen will einen so alten Mann haben?“

Er wies wütend auf sein Gesicht. Es war faltig, mit weißem Bart und weißen Haaren. Sie schnappte nach Luft und machte einen Schritt zurück. Mitleid glättete ihre Wutfalten. Khadgar war plötzlich verlegen und schaute weg.

„Ich wollte nur... nun, zusehen zu müssen, wie ihr beide etwas wegwerft, das ich nie haben werde... das stört mich einfach. Und es tut mir leid, ich hätte es nicht an dir auslassen sollen.“

„Nein... Mir tut es leid. Ich habe nicht nachgedacht.“

Die Stille lastete schwer und peinlich auf ihnen. Schließlich seufzte Khadgar: „Komm. Lass uns Turalyon und die anderen suchen. Wir müssen unsere Pläne fertigstellen. Weil... du weißt schon.“

„Bald“, sagte sie und schenkte ihm ein für ihre Verhältnisse ungewöhnlich freundliches Lächeln.

„Das Ding ist riesig“, erklärte Alleria. Turalyon hatte sie und ihre Waldläufer gebeten, die Zitadelle auszukundschaften. Und nun standen die beiden mit Khadgar, Danath und Kurdran im Versammlungsraum und besprachen, was sie herausgefunden hatten. „Allein auf den Wehrgängen befinden sich Dutzende Orcs. Und hier stehen Wachttürme.“ Sie zeigte die Stellen auf der Karte. „Wir sollten von hier aus angreifen. Während ihr sie da ablenkt, kann ich die Waldläufer hineinschicken und die Wachen kaltstellen. Wenn dann niemand mehr Alarm schlagen kann, kommt die Hauptangriffswelle von den Toren her, die wir für euch öffnen werden.“

„Gut“, sagte Turalyon. „Wir greifen von zwei Seiten an. Das dürfte sie überraschen. Wir müssen sie mit voller Wucht attackieren. Kesselt sie ein, lasst keinen entkommen, schließt die Reihen und metzelt jeden Orc nieder, der noch kämpfen kann.“

„Wir greifen von oben an“, erklärte Kurdran, „und halten sie beschäftigt, während ihr da unten attackiert.“

Turalyon nickte, aber Alleria schüttelte den Kopf. „Ihr werdet mit euren eigenen Problemen beschäftigt sein“, sagte sie. „Die Orcs haben Drachen, schon vergessen?“

Sie hatten alle die langen, dunklen Schemen über der Zitadelle kreisen gesehen, die wie große Vögel immer wieder spielerisch herabstießen.

Doch Kurdran lachte. „Ja, aber es sind nur eine Handvoll, Mädchen! Die töten wir, während du noch blinzelst.“

Turalyon musste angesichts der Selbstsicherheit des Wildhammerzwerges schmunzeln. „Nichtsdestotrotz“, sagte er, „bauen wir nicht nur auf die Hilfe unserer Greifenreiterfreunde. Wir müssen uns mehrfach absichern.“

Kurdran nickte. Er sah hinüber zu Khadgar. „Kannst du irgendetwas gegen die Hexenmeister oder die Drachen unternehmen?“

„Mir fällt sicherlich etwas ein“, antwortete Khadgar. Er schaute zu Kurdran. „Ich habe da ein paar Ideen, die deinen Greifen einen echten Vorteil verschaffen und den Soldaten helfen...“

Turalyon nickte. Der Plan nahm Konturen an. Dann kam er zu dem Teil, vor dem er sich fürchtete. Er atmete tief ein. „Jemand muss bleiben und die Stellung in der Ehrenfeste halten, falls wir uns zurückziehen müssen. Alleria, ich möchte, dass du das bist.“

„Was?“ Sie starrte ihn mit offenem Mund an.

„Es ist entscheidend, dass jemand zurückbleibt, dem ich vertraue. Hier ist unsere Basis. Wir können es uns nicht erlauben, sie zu verlieren, wenn die Orcs sich aufteilen und...“

„Du brauchst mich im Angriff.“

„Wie ich bereits sagte, brauche ich dich hier. Sende deine Waldläufer aus, um die Wachen auszuschalten.“

Sie schüttelte den blonden Kopf. „Nein, das tue ich nicht. Jeder Soldat hier weiß, wie man diese Festung hält. Meine Waldläufer unterstehen mir. Und ich schicke sie nicht mit dir. Nicht, wenn du mir befiehlst zurückzubleiben.“

„Sei doch vernünftig“, begann er.

Aber sie unterbrach ihn. „Vernünftig? Ich bin Veteranin und habe mehr Schlachten geschlagen, als du je erlebt hast, Turalyon!“

„Alleria, du bist... zu waghalsig“, sagte Turalyon und hasste es, dass er so mit ihr reden musste. Aber er sah keinen anderen Weg. „Ich habe dein Leben gerettet, als...“

„Und ich habe euch alle gerettet. Und das mehr als einmal!“

„Meine Herren“, sagte Khadgar. Dabei legte er eine Hand auf Kurdrans und Danaths Schulter und führte sie zur Treppe. „Ich glaube, ihr beide wollt doch sicher noch einmal die Konstellationen sehen, von denen ich euch erzählt habe.“

„Ach ja“, sagte Kurdran, und die drei verließen schnell den Raum.

Turalyon war zu sehr auf Alleria fixiert, um zu bemerken, dass man ihnen gerade einen Augenblick Privatsphäre ermöglichte. „Alleria, du kämpfst nicht klug. Jedenfalls nicht mehr. Ich kann nicht immer auf dich aufpassen, um dich vor dir selbst zu schützen!“

„Ich habe ein Recht auf Rache! Sie haben meine Familie abgeschlachtet... mein Volk...“

„Glaubst du, Lirath hätte gewollt, dass du dein Leben wegwirfst? Was für ein Vermächtnis wäre das denn gewesen?“

Es war das erste Mal, dass er von Allerias Bruder sprach. Die Erwähnung des Namens unterdrückte eine scharfe Antwort. Unbarmherzig setzte Turalyon nach, bevor sie etwas erwidern konnte. „Ich weiß, dass du eigentlich eine großartige Kämpferin bist. Aber... gerade jetzt bist du es nicht.“

„Lirath... die anderen... Ich war nicht bei ihnen. Ich hätte vielleicht etwas tun können. Ich war in Sicherheit, als sie gestorben sind.“ Tränen standen in ihren strahlenden grünen Augen, und Turalyon atmete tief ein. Er hatte sie nie zuvor um ihre Angehörigen weinen gesehen. „Also tat ich das Nächstbeste. Ich folgte ihren Mördern. Und es half. Dadurch konnte ich den Schmerz verdrängen.“

Und plötzlich verstand Turalyon. „Was du mir in der Nacht erzählt hast“, sagte er und betete darum, das Richtige zu sagen. „Das habe ich übersetzen lassen.“ Er zögerte, dann flüsterte er: „Hilf mir zu vergessen.“

Tränen flossen und liefen ihre Wangen hinunter. „Aber ich wollte nicht vergessen. Ich will sie nicht loslassen. Wenn ich nicht um sie trauere... ist es, als wären sie gar nicht weg.“

Auch Turalyon hatte Tränen in den Augen. Es brach ihm das Herz. Aber sie brauchte das. Sie musste trauern, die Toten beweinen. Orcs zu töten, war für sie kein Allheilmittel mehr. Es hielt den Schmerz nicht mehr zurück, und sie begann sich damit zu behelfen, dass sie stattdessen alle Gefühle unterdrückte. Es zumindest versuchte.

„Ich kann nicht zurückbleiben. Bitte mich nicht darum. Das habe ich schon einmal gemacht. Ich will nicht mit ansehen müssen, wie jemand, den ich liebe, in den Tod geht, während ich...“

Plötzlich legte sie die Arme um ihn, ihr Kopf war an seine Brust gepresst, und er hielt sie fest umschlungen. Ihr schlanker Körper erbebte unter den zu lange zurückgehaltenen Tränen. Es war, als würde sie ertrinken. Turalyon küsste ihr goldenes Haar und atmete den Duft nach Pinien, Erde und Blumen ein.

„Ich lasse dich niemals zurück“, schwor er.

Sie wandte ihm ihr nasses Gesicht zu. „Und ich“, flüsterte sie ihm zu, als er sie küsste, „werde dich niemals verlassen.“

17

„Fertig!“ Ner’zhul sank auf seinen Thron zurück und schloss einen Moment lang die Augen, bevor er sich der Schriftrolle widmete, die ausgerollt auf seinem Schoß lag. Es hatte ihn Monate der Forschung gekostet, der Planung, des Lernens und der Konzentration, aber schließlich war der Zauberspruch fertig!

Mit Einsetzen der Konjunktion konnte er Portale in andere Welten öffnen, und sein Volk hatte wieder eine Welt für sich, nein, sogar viele, und sie alle waren so vital wie die Orcs.

Und das alles verdankten sie ihm.

„Gut“, polterte Kilrogg, der in der Nähe stand. „Ein paar Tage noch bis zur Konjunktion. Dann können wir diesen öden Ort den Menschen überlassen und beginnen, unser Volk neu aufzubauen,“

Ner’zhul betrachtete den einäugigen alten Krieger gedankenverloren. Kilrogg hatte ihn immer beeindruckt. Sowohl mit seinem wachen Geist und seinem exzellenten taktischen Verständnis als auch durch seine Fähigkeiten im Kampf.

Als der narbenübersäte Häuptling vom Klan des blutenden Auges durch das Portal zurückgekommen war, hatte Ner’zhul erkannt, dass es eine Verschwendung gewesen wäre, ihn wieder in den Kampf zu schicken. Außerdem gab es nur noch wenige Krieger vom Klan des blutenden Auges. Zwei Jahre hatten sie sich vor den Menschen und deren Verbündeten verstecken müssen. Das hatte einen hohen Blutzoll von dem einst großen Klan gefordert. Deshalb hatte Ner’zhul entschieden, Kilrogg an seiner Seite zu behalten und dessen Krieger zu seinen Leibwächtern zu machen. Seinem eigenen Schattenmondklan hatte das nicht gefallen, aber der war immer noch groß genug, um gegen die Allianz antreten zu können. Außerdem fand Ner’zhul, dass er nun, da er Kriegshäuptling war, niemanden bevorzugen durfte.

„Vor uns liegt eine Reise“, sagte er, an Killrogg gewandt. Er wies auf die Zitadelle. „Ich darf nicht riskieren, dass der Spruch fehlschlägt. Der Himmel arbeitet für uns, wir brauchen aber auch die Unterstützung des ganzen Landes. Ich muss die Kraftlinien anzapfen, und zwar so viele wie möglich. Damit uns Draenor selbst dabei unterstützt, uns aus seinem Griff zu befreien.“ Er seufzte. „Es gibt nur einen Ort, der sich dafür eignet. Der Tempel von Karabor.“

Kilroggs einziges Auge weitete sich. Aber ansonsten änderte sich sein Gesichtsausdruck nicht. „Der Schwarze Tempel...“, murmelte er.

Ner’zhul nickte. Er gab sein Bestes, um seine Abneigung dagegen zu unterdrücken. Er erinnerte sich noch voller Abscheu und Schuld an den Krieg gegen die Draenei. Der Plan, deren ehemaligen Tempel zu betreten, sandte ihm Schauder über den Rücken. Aber er wusste, dass Kilrogg und der Rest der Horde seine Ansicht nicht teilten. Für sie war der Tod der Draenei immer noch ein glorreicher Sieg und der Schwarze Tempel eine ehrenhafte Beute. Es war an der Zeit, dass Ner’zhul anfing, das ebenso zu sehen. „Wenn ich das Ritual dort vollziehe, können wir nicht versagen.“

„Dann treffe ich die Vorbereitungen, damit wir uns sofort auf den Weg machen können“, sagte Kilrogg

„Aufbrechen? Wo gehen wir denn hin?“, fragte Kargath, der gerade in den Thronsaal trat. Dem Häuptling des Klans der zerschmetterten Hand ragte der abgebrochene Schaft eines Pfeils aus der linken Schulter. Er packte ihn und zog ihn mit einem Grunzen aus dem Fleisch heraus.

Ner’zhul hatte Kargath die Leitung der Angriffe auf die Festung der Allianz übertragen. Und der Dummkopf bestand darauf, die meisten Attacken selbst anzuführen. Die meiste Zeit traten sie den Menschen nicht einmal direkt gegenüber. Die Bogenschützen der Allianz schickten ihnen ihre Pfeile entgegen und verbreiteten so den Tod. Bis Kargath genug hatte und zum Rückzug blies. Aber es hielt die Allianz immerhin beschäftigt... und Kargath ebenso.

„Wenn die Sterne in der richtigen Konstellation stehen, muss ich zum Schwarzen Tempel reisen, um den Spruch zu wirken, der die neuen Portale öffnet“, erklärte Ner’zhul. Er rollte eine Schriftrolle zusammen und verstaute sie sorgfältig in einem Beutel. Dann erhob er sich vom Thron und streichelte ihn geistesabwesend. Das war sicherlich nicht der komfortabelste Stuhl, den er je besessen hatte, aber garantiert der beeindruckendste. Er würde sich einen neuen machen lassen, wenn sie sich erst auf irgendeiner neuen Welt befanden.

„Ich sammle die Truppen“, entgegnete Kargath und wandte sich zum Gehen, aber Ner’zhul hielt ihn auf.

„Nein“, sagte er. „Noch nicht. Ruf stattdessen Dentarg und Blutschatten. Ich will mit euch allen hier sprechen.“ Kargath zögerte, und Ner’zhul brüllte: „Sofort!“

Kargath hob seine klingenbewehrte Hand zum Gruß und eilte aus dem Raum.

„Ich werde Höllschrei benachrichtigen“, sagte Kilrogg.

„Nein.“

Kilrogg drehte sich langsam um und sah Ner’zhul an. „Er und seine Leute sind immer noch auf Azeroth. Wir müssen auch Grom und seinen Kriegern Bescheid geben.“

„Nein, müssen wir nicht. Grom Höllschrei hat bereits seine Befehle. Er ist auch Teil des Plans.“ Als Kilrogg mit Unbehagen reagierte, richtete sich Ner’zhul zur vollen Größe auf. „Zweifelst du meine Weisheit an, Kilrogg?“

Der Moment schien sich unendlich lang zu dehnen. Spannung erfüllte den Raum. Doch schließlich neigte Kilrogg den Kopf. „Natürlich nicht, Schamane.“

„Geh und sammle die Krieger“, sagte Ner’zhul zu Kilrogg. „Sag ihnen, sie sollen sich bereit machen. Wir reisen in Kürze ab.“

Kilrogg nickte und ging ebenfalls. Ner’zhul schritt ungeduldig im Raum auf und ab. Er fragte sich, ob die Bombe so funktioniert hatte, wie Blutschatten es ihm zugesichert hatte. Offensichtlich schon. Grom war nicht durchgebrochen und hatte mit rot glühenden Augen Blut sehen wollen. Das war gut. Höllschrei war schon immer schwer zu kontrollieren gewesen, aber er hatte seinen Zweck erfüllt. Er wurde nicht mehr benötigt.

Kilrogg kam schon bald zurück, ein einfaches Nicken bestätigte, dass seine Krieger bereit sein würden. Blutschatten erschien ein paar Minuten später, gemeinsam mit Kargath und Dentarg.

„Gut“, meinte Ner’zhul, als all seine Befehlshaber anwesend waren. „Ich habe den Zauberspruch fertiggestellt“, sagte er an Blutschatten und Dentarg gewandt, die beide lächelten.

„Ich wusste, dass du das kannst, Meister!“, sagte Dentarg.

„Du gehst dann zum Schwarzen Tempel, richtig?“, fragte Blutschatten, und sein Lächeln wurde zu Ner’zhuls und Dentargs Erstaunen noch stärker. Ner’zhul erkannte, dass er damit hätte rechnen müssen. Blutschatten war einer der talentiertesten jungen Schamanen gewesen, und er war zu einem mächtigen, selbstsicheren, schlauen Hexenmeister aufgestiegen. Das war vor seinem Tod gewesen. Und seit er als Todesritter zurückgekehrt war, war er noch stärker geworden. Er würde bald schon gefährlich werden.

„Ja. Das ist der ideale Ort, um den Zauber zu wirken.“

„Die Krieger der Horde sind bei Anbruch der Nacht bereit“, berichtete Kargath. „Wir lassen eine kleine Truppe zurück, um die Mauern zu besetzen. Der Rest wird dich auf deiner Reise beschützen.“

Aber Blutschatten schüttelte den Kopf. „Die Allianz fällt auf unsere List nicht mehr herein. Und wenn sie erst erkennt, dass wir sie nur in ihrer Festung halten wollten, werden sie mit voller Stärke angreifen.“

Ner’zhul nickte. Das hatte er sich auch schon gedacht. „Du und dein Klan, ihr bleibt hier“, wies er Kargath an. „Beschäftigt die Allianz, wenn sie angreift, während wir zum Schwarzen Tempel reisen.“ Er furchte die Stirn. „Ich brauche Zeit. Ihr müsst sie so lange wie möglich aufhalten. Wenn ihr überlebt, treffen wir uns dort.“

Kargath erbleichte, dann straffte er sich und nickte. „Die Ebenen vor diesen Mauern werden mit ihren Toten übersät sein!“, versprach er und hob seine klingenbewehrte Hand. Er nickte den drei anderen zu, wandte sich auf dem Absatz um und ging. Sie hörten, wie er bereits Befehle bellte, als er den Raum verließ.

„Sie können nicht gewinnen“, bemerkte Dentarg einen Moment später.

„Das müssen sie auch nicht“, antwortete Ner’zhul. „Er muss die Allianz nur so lange aufhalten, bis ich den Spruch gewirkt habe.“ Er zuckte die Achseln. „Diese Festung ist sehr stark, und die Krieger der zerschmetterten Hand sind es auch. Sie werden der Allianz einen guten Kampf liefern, und der Rest unseres Volkes wird ihr Andenken auf allen Welten ehren, die wir in ihrem Namen erobern.“

„Natürlich.“ Dentarg nahm die unterschwellige Zurechtweisung mit einem Zucken entgegen. „Ich bezweifle Kargaths Loyalität nicht – oder die Tapferkeit seiner Krieger. Er wird bis zum Ende kämpfen.“

„Ja.“ Ner’zhul sah den Oger-Magier des Schattenmondklans an. „Und du wirst ihn dabei unterstützen.“

„Was?“, rief Dentarg überrascht. „Aber Meister, du wirst mich beim Schwarzen Tempel brauchen. Mein Platz ist an deiner Seite!“

Plötzlich kochte die Wut in Ner’zhul über. „Dein Platz ist dort, wo ich dich hinschicke!“, knurrte er, und seine dunkle Stimme bebte vor Wut.

Dentargs Augen weiteten sich. „Dein Gesicht...“, jammerte er kriecherisch und voller Angst. „Der Kopf...!“

Der Moment ging vorbei, und Ner’zhul spürte, wie sein Zorn verflog. Er fasste sich an das weiß bemalte Gesicht. Es fühlte sich wie immer an.

„Auch die Menschen haben Magier“, sagte er, und seine Stimme klang jetzt wieder freundlicher. „Jemand muss hier sein, um sie aufzuhalten. Jemand, der stark genug ist, jemand, dem ich vertraue.“ Er trat vor, und legte eine Hand auf die Schulter des Ogers. Dentarg wich nach hinten weg, und Ner’zhul zog die Hand zurück. „Dieser Jemand bist du.“

Dentarg sah auf Blutschatten hinab. „Warum bleibt er nicht?“

„Ich kenne mich weit besser mit Spalten und Portalen aus als du“, sagte der Todesritter. „Ner’zhul braucht meine Hilfe bei dem Ritual. Sonst würde ich natürlich hierbleiben und den Menschen das eine oder andere über Magie beibringen.“

Dentargs kleine Schweinsäuglein funkelten Ner’zhul an.

„Ich brauche ihn“, sagte Ner’zhul in einem gönnerhaften, fast schon entschuldigenden Tonfall. „Und obwohl ich auch dich gerne bei mir hätte, hilfst du mir weit mehr, wenn du hier bist und Kargath mit deinen Zauberfähigkeiten unterstützt.“

Der Oger nickte schließlich. „Ich tue, was du befiehlst, Meister. Ich werde die Menschenzauberer aufhalten. Und wenn ich überlebe, komme ich zum Schwarzen Tempel.“ Das Verlangen, diesen Ort zu erreichen, klang in seiner Stimme durch.

„Gut.“ Ner’zhul nickte und wandte sich ab. Sie wussten beide, dass Dentargs Überlebenschancen gering waren. „Ich lasse euch die Schwarzen Drachen hier, damit sie euch in der Schlacht unterstützen können. Geh jetzt und besprich dich mit Kargath.“ Aus den Augenwinkeln heraus sah er Dentarg nicken und beobachtete, wie der Oger den Raum verließ. Nachdem die donnernden Schritte verklungen waren, wandte sich Ner’zhul wieder Kilrogg und Blutschatten zu.

„Sammelt eure Krieger und Todesritter“, sagte er. „Wir brechen sofort auf.“

Weniger als eine Stunde später saß Ner’zhul auf seinem Wolf, umringt von Kilrogg und seinen Kriegern. Blutschatten und die anderen Todesritter erkundeten auf ihren untoten Pferden den Weg voraus. Hinter ihnen jubelten Kargath Messerfaust und seine Orcs von den Mauern herab und skandierten Ner’zhuls Namen.

Der Anführer der Horde legte eine Hand auf den Beutel und überprüfte, ob die Schriftrolle noch da war. Die andere Hand hielt sich am dicken Pelz des Wolfes fest.

Er blickte nicht zurück.

18

Alleria hatte die Nacht mit Turalyon verbracht. Sie hatten lange miteinander geredet und die Kluft überbrückt, die sie beide getrennt hatte. Als sie nicht mehr weiterreden konnten, ließen sie ihre Herzen und Körper die Heilung abschließen.

Am Morgen waren sie gemeinsam aufgestanden. Ihre Freunde hatten wissend gelächelt. Aber die beiden wussten, dass sie sich nur aufrichtig mit ihnen freuten. Und wenn sie beide heute dem Tod gegenübertraten, würden sie es in der Gewissheit tun, dass im Falle eines Überlebens wahres Glück auf sie wartete.

Und sie würden es überleben. Turalyon würde nicht zulassen, dass Alleria starb. Nicht jetzt, wo sie sich gerade erst wiedergefunden hatten.

Er hatte ihre Stirn geküsst, und sie war mit ihren Waldläufern vor dem Morgengrauen losgezogen. Sie hatten Signale vereinbart und sich auf eine Angriffszeit geeinigt.

„Sobald wir den Wachtturm eingenommen haben, löschen wir zehn Herzschläge lang das Licht, dann entzünden wir es wieder“, hatte sie gesagt. „Wenn wir die Zitadelle bis Sonnenaufgang nicht erobert haben sollten, dann greift trotzdem an. Denn eine Stunde später können euch die Orcs sowieso sehen, und der Plan wäre zum Scheitern verurteilt.“

Er nickte. Turalyon hatte sich damit abgefunden, dass sie ohne ihn kämpfen würde. Er wusste, dass sie keine unnötigen Risiken einging. Sie war wieder ganz sie selbst.

Danath würde den Ablenkungsangriff ausführen, und Turalyon würde mit dem Hauptangriff beginnen, sobald die Horde den Kampf aufgenommen hatte. Danath und seine Männer waren in der Unterzahl, doch nicht für sehr lange.

„Es wird für ein Weilchen ziemlich unangenehm werden“, hatte Turalyon ihn ermahnt. „Du musst dich einfach darauf verlassen, dass alles nach Plan läuft.“ Er hatte gezögert. „Es könnte sein, dass dieses Gefecht dich an die Schlacht am Portal erinnert, Danath.“

Danath hatte seinen Kommandanten mit festem Blick angesehen. „Nein, das wird nicht geschehen. Dieses Mal überraschen wir die grünen Bastarde. Ich verlasse mich auf dich, Turalyon. Die Geister der toten Streiter kämpfen mit uns. Sie werden in Frieden ruhen können, wenn wir es schaffen, die Orcs zwischen zwei Fronten einzukesseln.“

Turalyon hatte ein wenig gezittert. „Danath...“

Doch Danath hatte abgewunken. „Ich bin nicht lebensmüde“, versicherte er. „Mach dir darum keine Sorgen. Ich will eines Tages nach Hause kommen und diese Kämpfer hier mitbringen. Ich will keinen dieser verdammten Briefe mehr schreiben, die mit einem ,Mit tiefem Bedauern’ beginnen.“

Turalyon hatte seinen Stellvertreter an der Schulter gefasst und genickt. Danath würde die Orcs lange genug beschäftigen, damit die zweite Gruppe sie wie eine Flut hinwegspülen konnte.

Kurdran, seine Greifenreiter, Khadgar und ein paar weitere Zauberer würden zu dieser zweiten Gruppe gehören. Turalyon würde den Magier vermissen. Sie waren zusammen durch den Zweiten Krieg gegangen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ohne Khadgar an seiner Seite in die Schlacht zu ziehen. Aber wenn alles gut ging, waren sie bald wieder vereint und feierten den Sieg gemeinsam.

Jetzt wartete er in der Kühle vor dem Sonnenaufgang auf das vereinbarte Signal. Danaths Gruppe würde von der anderen Seite auf Pferden angreifen und laut rufen, während Turalyons Gruppe sich vorsichtig schleichend zu Fuß bewegte. Sie mussten nah genug dran sein, um das Signal zu hören. Zugleich würden sie weit genug von der Zitadelle entfernt sein, sodass die Dunkelheit sie schützend verbarg.

Er spähte zu der Festung und studierte die solide Mauer, die sie umgab. In regelmäßigen Abständen brannten Feuer, die gerade genug Licht spendeten, dass man die eisernen Zinnen erahnen konnte. Gezackt, mächtig, dunkel – das Gebäude hatte eine beeindruckende Präsenz.

Turalyon wurde plötzlich bewusst, dass sie nicht nur die Orcs innerhalb der Mauern besiegen mussten, sondern auch... die Festung selbst. Sie war hässlich, gleichermaßen eckig und organisch geformt, als wäre sie eine gewaltige Bestie, deren Fleisch an einigen Stellen fehlte, um die Knochen zu enthüllen, die ihr den Halt schenkten.

Er schaute auf die Feuer in den Wachttürmen, bis ihm die Augen schmerzten. Da... eines war erloschen. Und wurde dann neu entzündet.

Nachdem das letzte Licht gelöscht und neu entfacht worden war, hörte Turalyon menschliche Stimmen, die Kriegsrufe ausstießen, und das Getrappel von Hufen. Er wollte unbedingt mit dem Angriff beginnen, aber er zwang sich zur Geduld. Die Waldläufer würden Zeit brauchen, um das Tor zu öffnen. Der Plan funktionierte nur, wenn die Orcs, die den Eingang bewachten, in den Kampf mit Danaths Männern verwickelt wurden.

Jede Sekunde wurde zur Qual. Schließlich aber, als er Waffengeklirr und orcische Kriegsschreie hörte, die sich mit denen seiner Männer mischten, wusste er, dass der rechte Augenblick gekommen war. Turalyon führte seinen Hammer auf Augenhöhe, wo der stumpfe Metallkopf der Waffe das frühe Morgenlicht einfing.

„Möge das Heilige Licht uns Stärke geben“, sagte er leise, und alle um ihn herum nickten. Ein Murmeln breitete sich aus, als sein Hammer zu leuchten begann und schließlich von innen heraus glühte. „Möge es uns in diesem Kampf führen – zum Sieg, zu Ehre und Ruhm.“ Einen Augenblick lang schien der Hammer nur aus weißem Licht zu bestehen. Dann breitete sich das Licht darüber hinaus aus, strahlte über sie hinweg, und Turalyon wusste, dass die anderen dieselbe Stärke, denselben Frieden verspürten wie er. Eine schwache Aura blieb bei dem Hammer und bei jedem Einzelnen von ihnen. Er lächelte angesichts des offensichtlichen Zeichens der Segnung durch das Licht.

Turalyon führte seine Männer im Eilschritt auf die Mauern zu. Die Zitadelle ragte vor ihnen auf, und je näher sie kamen, desto bedrückender und gigantischer erschien sie ihnen. Er konnte jetzt die Tore sehen, die wie ein Maul in einem hässlichen Gesicht wirkten.

Und gerade als er sich fragte, ob er den Angriff zum falschen Zeitpunkt begonnen hatte, öffneten sich die Tore.

„Sie hat es geschafft“, flüsterte einer der Männer.

„Natürlich hat sie es geschafft“, sagte Turalyon leise. „Sie ist schließlich Alleria Windläufer.“ Beim Licht, wie sehr er sie liebte!

Sie waren nicht die Einzigen, die gemerkt hatten, dass sich die Tore öffneten. Gerade, als Alleria und ihre Waldläufer vorpreschten, um sich mit Turalyons Gruppe zu vereinen, rannte eine Handvoll Orcs hinter ihnen her. Turalyon erspähte Allerias goldenes Haar und lief ihr entgegen. Sein Hammer erhob sich fast wie von selbst und begann erneut aufzuglimmen. Ein strahlendes Weiß leuchtete über seinem Kopf. Das erregte die Aufmerksamkeit eines Orcs. Der Krieger ließ von den Waldläufern ab und wandte sich Turalyon zu. Der Orc griff an, und einen Moment lang glaubte Turalyon, er sei waffenlos und irre. Bis er die Klinge der Grünhaut sah, die eine ihrer Hände ersetzte.

„Für die Söhne Lothars!“, rief der Paladin. Er musste sich nicht mehr darum sorgen, ob ihn jemand bemerkte. Turalyon ließ den Hammer herunterkrachen und zertrümmerte den Schädel des Orcs. Als er fiel, wirbelte Turalyon mit seiner Waffe herum und streifte einen Gegner vor sich, bevor er einen anderen Orc zermalmte.

Ein weiterer Kämpfer lief auf ihn zu, aber plötzlich ragte ein Pfeil aus dessen linkem Auge, und er fiel geräuschlos um. Ein fünfter knurrte wütend und wirbelte mit seinem schweren Knüppel herum, aber Alleria sprang vor, duckte sich unter dem Schlag hindurch und stieß ihr Schwert in die Kehle der grünhäutigen Kreatur. Die Klinge kam aus dem Hinterkopf wieder heraus.

Turalyon fuhr herum und tötete einen weiteren Orc. Dann lief er die Treppen hinauf. Alleria, ihre Waldläufer und seine Männer folgten ihm.

Turalyon traf auf einen Trupp Orcs, als er auf halber Höhe um die Ecke bog. Die Krieger waren sowohl in Zahl, Stärke als auch Position überlegen. Aber der Paladin hatte die Wucht und die Entschlossenheit auf seiner Seite. Er hielt seinen Hammer vor sich. Seine Hände lagen fast am Hammerkopf, und er benutzte die Waffe wie eine Ramme. So stürmte er damit in einen Orc nach dem anderen.

Die Wucht des Aufpralls erschütterte ihn, und er musste darum kämpfen, nicht zurückzutaumeln. Doch die Orcs wurden beiseitegefegt, entweder an die Wand gepresst, oder sie stürzten von der Treppe. Die Krieger, die geistesgegenwärtig genug waren, sich zu wehren, wurden von Allerias Pfeilen oder denen ihrer Waldläufer durchbohrt. Und jeder Orc, den Turalyon nicht tötete, wurde von den Männern hinter ihm erledigt.

Was als nur wenige Minuten erschien, hatte vermutlich viel länger gedauert, und schließlich erreichte er die Spitze. Die Wälle der Zitadelle lagen vor ihm.

Sie waren viel größer als die der Ehrenwache, aber weniger glatt und merkwürdig geformt. Einige Orcs befanden sich dort. Sie trugen Speere in der Hand und waren bereit, sie in die angreifende Armee zu schleudern. Doch der größte Teil der Horde kämpfte unten beim Tor. Turalyon bemerkte lange, dunkle Schemen, die über ihm kreisten. Das mussten die schwarzen Drachen sein, die nur darauf warteten, in die Schlacht einzugreifen.

„Allianz zu mir!“, brüllte Turalyon, hielt seinen Hammer hoch und rannte zum Rand der Mauer. „Allianz zu mir!“ Von hier aus sah er Danath, der vor seiner Gruppe herritt. Der Krieger erhob sein Schwert zum Gruß. Er war mit Blut beschmiert, aber es war kein rotes Menschenblut. Er hatte nicht einen Mann verloren. Das Licht war auf ihrer Seite!

Dann wurde Turalyon bewusst, dass sich hier oben noch Orcs befanden, und bald war er damit beschäftigt, sich selbst zu verteidigen und die Wälle von den Gegnern zu befreien.

Kriegsgeräusche erklangen von überall her: Metall schlug gegen Metall, Stein gegen Plattenpanzer, Fleisch gegen Fleisch; dazu ertönten Knurren, Gebrüll und Schreie. Alles schien im Chaos zu versinken. Hier blitzte das Grün der Orcs und das Rosa der Menschen, dort das Braun, Gelb und Schwarz der Pferde. Dazwischen schimmerten Rüstungen, und immer wieder war der stumpfe Glanz von Äxten und Hämmern zu sehen.

Als er einmal einen Blick um sich werfen konnte, entdeckte Turalyon Danath, wie der Krieger einen Orc auf dem Schwert aufspießte, die Klinge freizog, herumwirbelte und einem anderen die Kehle durchtrennte.

Turalyon hatte gerade den letzten Orc erschlagen, als er lautes Kreischen von oben hörte. Er sah auf und bemerkte eine Wolke, die sich über der Zitadelle bildete. Sie brachte heiße Luft mit sich. Er grinste angesichts der feuchten Hitze. Die Wolke zerfaserte und bildete Nebel. Er bedeckte die Zitadelle, die Konturen verschwammen.

Der Nebel beeinflusste auch die Geräusche. Deshalb konnte Turalyon auch nicht sagen, woher der plötzliche Schrei kam. Vielleicht stammte er von den Drachen, vielleicht aber auch nicht. Die Echsen flogen in Kreisen, schauten sich um und suchten nach der Quelle des Geräuschs.

Sie mussten nicht lange forschen. Eine kleine Gestalt schoss aus dem Nebel hervor und fiel wie ein Stein auf den erschreckten Drachen. Als sie beinahe zusammenstießen, streckte sich die Gestalt. Lange Flügel breiteten sich aus, und der schnelle Sturz ging in kontrollierten Flug über.

Der Greif umkreiste den überraschten Drachen. Das Reptil schnappte wie ein Hund nach einem Insekt, aber die Kreatur, halb Adler und halb Löwe, war zu schnell. Sie glitt unter den Drachen, als dessen Riesenzähne sich da schlossen, wo sie gerade noch gewesen war. Der Drache folgte ihr. Er bäumte sich auf und stieß glühendes Magma aus.

Wieder waren der Greif und sein Reiter zu schnell. Über ein Dutzend Orcs schrien vor Schmerz auf, als der Drache versehentlich seine Verbündeten einäscherte. Er war zu sehr auf den schnellen Greif konzentriert, um mitzubekommen, was sein Angriff anrichtete.

Der Drache schrie vor Wut, krachte in die Zitadelle und zerbrach mit großem Getöse die soliden Mauern. Bevor er sich wieder sammeln konnte, stand der Wildhammerzwerg in seinen Bügeln auf und warf seinen Sturmhammer gegen die Bestie. Als er den Drachen am Auge traf, trieb ein lautes Donnern den Nebel auseinander, und das helle Sonnenlicht strömte herein.

Der Wildhammerzwerg brüllte, als der Hammer in seine Hand zurückflog. Gleichzeitig schnellte der Greif hoch. Das Sonnenlicht glitzerte auf seinen Federn.

Schockiert und benommen versuchte der Drache zu fliehen, aber der gnadenlose Wildhammerzwerg jagte ihn, erwischte ihn wiederholt am verwundeten Auge. Halb blind und benommen stürzte die Echse erneut in eine Mauer, die unter dem Aufprall nachgab. Der Drache fiel zur Erde und ließ sie durch sein hohes Gewicht erbeben.

Die übrigen Drachen schrien ihre Wut hinaus und schossen auf den einsamen Greifenreiter zu, der sich umwandte und auf sie wartete. Aber gerade, als sie sich ihm näherten, erschienen weitere Greife aus den Wolken und stürzten sich auf die Drachen. Jeder Drache war gut viermal so groß wie ein Greif, doch die Greife waren schnell und wendig. Sie umkreisten die großen Bestien und lockten sie zur Festung. Dort provozierten sie die Echsen zu wilden Angriffen, wodurch die Drachen ineinanderflogen, während sie vergeblich versuchten, die eleganten Lufttänzer zu schnappen.

Es schien, dass Kurdrans vorherige Behauptung tatsächlich wahr werden könnte. Seine Wildhammerzwerge hatten soviel Erfolg im Kampf gegen die Drachen, dass sie vielleicht wirklich zeitig genug fertig waren, um die Hauptstreitmacht noch unterstützen zu können.

Einer der Greife löste sich vom Rest und flog zu Turalyon. Er trug zwei Reiter, einer war klein, der andere viel größer. Der Größere sprang ab, als sie sich der breiten Steinbrüstung näherten. Sein violettes Gewand flatterte. Turalyon grinste. Es war Khadgar!

Der Magier winkte dem Wildhammerzwerg seinen Dank zu, der bereits zurück in die Luftschlacht flog. Dann wandte er sein von weißem Haar umrahmtes Gesicht dem Hauptturm zu, und seine Augen verengten sich dabei.

„Ich helfe dir, wenn ich hier fertig bin“, sagte der Magier zu Turalyon, nahm seinen Stab in die eine Hand und zog das Schwert mit der anderen. „Da ist jemand drin. Ein Oger-Magier. Um den muss ich mich zuerst kümmern.“

Turalyon nickte. Er hatte in den letzten Jahren genug Magie kennengelernt, um Khadgars Meinung in diesen Dingen zu respektieren. Von der Treppe kamen zwei Männer herübergelaufen, mit breitem Grinsen auf ihren Gesichtern. Bevor Turalyon fragen konnte, warum, hörte er Schritte aus ihrer Richtung. Und plötzlich erschienen weitere Gestalten. Alle trugen Rüstungen der Allianz.

„Herr Kommandant!“, rief einer im Näherkommen. „Wir haben den Nordflügel gesäubert!“

Turalyon nickte und erwiderte den Gruß der Soldaten. „Gut, ich lasse ein paar Mann hier zurück.“ Er schaute zu Alleria, die ihren Bogen bereit machte. „Der Rest von euch kommt mit mir. Wir durchstreifen die Zitadelle und stellen sicher, dass kein Orc übrig bleibt. Und dann öffnen wir die Tore für die anderen Männer.“

Sie jubelten, und er führte sie von der Brüstung herunter. Es war derselbe Weg, den Khadgar gerade genommen hatte. Nach einem kurzen Wegstück zweigte der Gang ab, und sie stiegen eine schmale Treppe hinab.

Wie Turalyon gehofft hatte, ging es geradewegs ins Herz der Orc-Festung, Und schon wenig später war der Paladin zu beschäftigt damit, Orcs zu bekämpfen, um sich noch Gedanken um Khadgar zu machen.

Khadgar bewegte sich langsam den Gang hinunter. Seine Sinne versuchten, den Bereich vor ihm zu erfassen. Der Oger war noch hier, das wusste er. Aber er schien nichts zu tun. Wirkte keine Sprüche, hielt keine Rituale ab. Er wartete nur.

Wartete auf ihn.

Der Gang endete am Türm, und Khadgar trat ein. Der Raum war groß und merkwürdig geformt. Nicht ganz rund und mit ungleichen Winkeln, als wäre er nicht gebaut, sondern aus dem Stein herausgehauen worden. Am Ende stand ein riesiger Thron, der aus gigantischen Knochen gefertigt schien.

Khadgar schauderte bei dem Gedanken daran, was für ein Tier dafür wohl hatte sterben müssen. Die hohe Rückenlehne erreichte fast die Decke, zu beiden Seiten standen Fackeln.

Aber der Thron war verwaist.

„Mein Meister ist fort“, erklang eine tiefe Stimme, als eine große Gestalt aus den Schatten trat und auf ihn zukam. Khadgar hatte schon früher Oger gesehen, aber das war auf dem Schlachtfeld gewesen, und er hatte sich mit den anderen Magiern in der Nachhut befunden, die aus der sicheren Distanz zuschlug. Das hier war seine erste Begegnung aus der Nähe, und er schluckte, als er aufsah... immer höher aufsah. Der Kopf der Kreatur erreichte beinahe die Decke. Und während seine Gesichtszüge plump wirkten, waren seine tief liegenden Augen voller Intelligenz.

Erst jetzt begriff er, was die Kreatur gesagt hatte und war dankbar für den Ring, der es ihm ermöglichte, sie zu verstehen. „Fort?“

Der Oger grinste, entblößte ein überraschend kleines Gebiss und große Reißzähne. „So ist es“, antwortete er. „Er ist schon vor einiger Zeit gegangen. Im Moment ist er unterwegs, um ein Ritual zu vollziehen, während die Allianz gegen uns kämpft.“ Die Kreatur schaute finster und bleckte die Zähne. „Wir sterben vielleicht, doch unser Tod sichert das Überleben der Horde. Sie wird Welten ohne Ende erobern!“

„Verdammt!“, fluchte Khadgar, als er begriff, was passiert war. Die Orcs hatten sie ausgetrickst! Sie hatten diesen Angriff nur zugelassen, damit Ner’zhul entkommen konnte. „Aber wenn wir schnell genug sind, können wir ihn immer noch einholen“, sagte er.

„Ihr könntet“, stimmte der Oger zu. „Nur musst du zuerst an mir vorbei.“ Er erhob seine Hände, jede davon größer als Khadgars Kopf, und sie begannen in einem Grün zu leuchten, das unter seiner Haut hervorzukommen schien. „Ich bin Dentarg vom Schattenmondklan.“

Dann also ein ehrenhaftes Duell.

„Khadgar von Dalaran“, antwortete Khadgar förmlich. Er erhob seinen Stab, und die Spitze leuchtete hellviolett.

Der Oger vollführte eine unbeholfene Verneigung. Dann griff er an. Die massigen Hände schossen vor, als wollten sie Khadgar zurückstoßen. Grünes Licht strahlte aus ihnen hervor. Es war eine Welle der Energie, die den Menschenmagier einzuhüllen und zu vernichten drohte. Khadgar erhob den Stab und das violette Licht wurde heller. Die grüne Woge teilte sich davor und verpuffte im Nichts.

Als Nächstes war Khadgar an der Reihe. Er wies mit dem Stab auf die Brust des Ogers. Das violette Licht schoss direkt auf das Herz des Ogers zu. Aber Dentarg schlug den Energiestrahl mit seinen Händen weg. Das grüne Licht, das ihn immer noch umgab, schützte den Oger vor jedem Schaden.

„Wir sind uns ebenbürtig“, bemerkte der Oger und schlug die Hände zusammen. Als er sie wieder ausbreitete, entstieg ihnen Finsternis, ein schwarzer Vorhang, der den Raum durchstreifte.

„Vielleicht“, antwortete Khadgar. Er hatte sich nicht bewegt, als die Dunkelheit sich ausbreitete, und binnen Sekunden war er aus der Sicht verschwunden, wie alles andere auch. Dank seiner anderen Sinne konnte Khadgar den Oger aber immer noch aufspüren, und er wusste, dass sein Gegner ihn suchte. Khadgar wartete noch einen Moment unbeweglich, dann schlug er mit dem Stab auf den Boden. Die Schockwelle teilte die Finsternis, brach sie auf, als wäre sie aus geschwärztem Glas, und hinterließ Scherben auf dem Boden.

Der Oger wurde gegen die Wand geworfen. Als Dentarg auf den Boden krachte, war die Erschütterung beinahe so stark wie die ursprüngliche Schockwelle. Der Oger brüllte vor Schmerz.

Khadgar rannte zu ihm hin. Das Licht um seinen Stab wurde heller, bis es ein Strahl hellen Lichts war, zu stark, um noch violett zu sein, obwohl ihm ein Hauch der Farbe weiter anhaftete. Er drückte dem Oger seinen Stab gegen die Kehle und hielt ihn dort fest. Dentarg schrie, sein Fleisch rauchte, wo der Stab es berührte.

Es war kein magischer Angriff, der den Oger rettete, sondern reiner Instinkt. Er hob Khadgar an und stand selber wieder auf. Auf seinem Hals konnte Khadgar eine verkohlte Linie erkennen. Dentarg knurrte, zeigte seine Reißzähne und griff Khadgar mit gesenktem Haupt an. Aber der Menschenmagier trat rasch beiseite und schlug mit dem Stab zu, als der Oger an ihm vorbeistürmte. Dabei schlitzte er ihm den Oberarm auf.

Dentargs Schrei wechselte von Wut zu Schmerz. Grünes Licht stieg wieder von seinen Händen auf, obwohl es hier und da aufflackerte und rote Blitze dazwischenzuckten. Er führte wieder die Hände zusammen und baute die Energie dazwischen auf, bis er eine Kugel reiner Magie erzeugt hatte, die vor Hass nur so zischte. Er warf sie Khadgar zu und legte all seine Kraft hinein.

Khadgar beobachtete die sich schnell nähernde Kugel ruhig. Dann steckte er sein Schwert weg und streckte seine Hand mit der Handfläche nach oben aus. Die Kugel traf die Handfläche, verband sich mit seiner Haut... und verschwand.

Absorbiert, spurlos.

„Danke“, sagte er zu dem erstaunten Oger. „Jetzt geht es mir viel besser.“ Khadgar stampfte mit dem Fuß auf, und erneut erschütterte eine Schockwelle Dentarg. Der Oger fiel auf die Knie und verneigte seinen Kopf. Er wusste, dass ihm sein Gegner überlegen war.

Khadgar ersparte ihm jede weitere Demütigung, zog erneut sein Schwert und schlug mit aller Kraft auf den Hals seines Gegners. Fleisch und Knochen wurden sauber durchtrennt. Als der Kopf des Ogers über den Boden rollte und Blut verspritzte, trat Khadgar zurück.

Einen Moment lang schöpfte er Atem und sah sich im Thronsaal um, obwohl er wusste, dass Dentarg nicht gelogen hatte. Er schaute auf den Leichnam des Ogers und nickte zufrieden, dann lief er zurück, um Turalyon zu finden.

Sie mussten sich beeilen.

„Gute Neuigkeiten!“, rief Turalyon, als er Khadgar wieder erblickte. „Wir haben die Zitadelle erobert!“

„Wir wurden ausgetrickst“, sagte Khadgar ohne Vorrede. „Ner’zhul ist nicht hier. Er ist rechtzeitig vor dem Angriff geflohen. Die Artefakte muss er mitgenommen haben. Ich frage mich, ob er den Schädel auch dabeihat.“

Turalyon schaute ihn an. „Es war alles nur eine Ablenkung?“

„Und wir sind darauf hereingefallen“, bestätigte Khadgar.

Turalyon furchte die Stirn und versuchte, selbst darin noch etwas Gutes zu erkennen. „Trotzdem, das war sicherlich die Hauptstreitmacht ihrer Krieger. Und wir haben sie vernichtet! Wir haben auch die Zitadelle eingenommen. Selbst wenn Ner’zhul nicht hier ist, war das dennoch ihr Hauptquartier, und das gehört jetzt uns. Ihre militärische Macht ist gebrochen.“

„Ja, sie werden keiner anderen Armee mehr gegenübertreten“, sagte Danath, der gerade rechtzeitig kam, um das Ende von Turalyons Aussage zu hören. Seine Rüstung war an einigen Stellen verbeult, und er hatte mehrere Schnitte an Armen, Beinen und im Gesicht. Aber die Verletzungen schienen ihm nichts auszumachen, als er hereingeritten kam und abstieg. Turalyon schlug ihm auf die Schulter, froh, dass sein Stellvertreter überlebt hatte.

„Du hast gute Arbeit geleistet“, sagte er, an Danath gewandt. „Aber Khadgar hat schlechte Neuigkeiten. Ner’zhul ist nicht hier, er wusste offensichtlich, dass wir angreifen würden, und hat sich aus dem Staub gemacht. Und wir glauben, dass er die Artefakte mitgenommen hat.“

Alleria und Kurdran trafen ebenfalls ein, und Turalyon unterrichtete auch sie.

„Nun, dann sollten wir ihnen so schnell wie möglich folgen, oder?“, antwortete Kurdran.

„Weißt du, wo sie hinwollen?“, fragte Alleria.

„Keine Ahnung“, sagte Khadgar. „Aber das finde ich heraus.“ Er lächelte. „Ich kenne Gul’dans magische Aura noch aus dem Krieg. Und das Auge von Dalaran ist mir ebenso vertraut. Ich kann beide aufspüren.“

Die anderen traten zurück, als er die Augen schloss und etwas murmelte. Die Luft um ihn herum schien leicht zu schimmern, und aus dem Nichts kam Wind auf, der an ihren Haaren und der Kleidung zerrte. Dann plötzlich öffneten sich die Augen des Magiers. Eine Sekunde lang glühten sie hellweiß, und merkwürdige Bilder tanzten darin herum.

Turalyon schauderte und sah weg. Als er sich schließlich umdrehte, waren die Augen seines Freundes wieder normal.

„Ich habe sie gefunden“, berichtete Khadgar und lehnte sich gegen seinen Stab. „Es war nicht leicht. Offensichtlich sind sie an zwei unterschiedlichen Orten.“

Alleria schüttelte den Kopf. „Der Schädel und das Auge sind nicht zusammen? Warum sollte Ner’zhul das zulassen?“

„Das weiß ich nicht, doch so ist es. Der Schädel ist in Richtung Norden unterwegs, aber das Auge geht nach Südwesten, in eine Gegend, die, wie ich glaube, die Wälder von Terokkar heißt. Dort habe ich das Buch von Medivh aufgespürt, weshalb ich glaube, dass sich auch Ner’zhul dort befindet. Ich hatte angenommen, dass er den Schädel für das Ritual braucht. So wie ich das Buch und den Schädel benötige, um das Portal zu schließen. Aber offensichtlich hat er den Schädel woanders hingeschickt, auch wenn ich mir nicht erklären kann, warum.“

„Und du brauchst beides? Den Schädel und das Buch?“, fragte Turalyon.

„Ja“, antwortete Khadgar. „Ich kann den Spalt ohne sie nicht vollständig schließen.“

Turalyon nickte. „Dann müssen wir eben beiden hinterher“, beschloss er. Er sah die anderen an und erwog die Optionen. „Danath, ich vermute mal, du würdest gern noch ein paar Orcs töten.“

„Allerdings, das würde ich.“

Turalyon seufzte. Es schmerzte, diejenigen, die er so mochte, derart rachedurstig zu erleben. Aber wer war er, darüber zu urteilen? Er hatte nicht miterleben müssen, wie sein ganzer Verband niedergemetzelt wurde, während er floh, um Hilfe zu holen. Danath musste auf seine Art und Weise seinen Frieden finden, so wie Alleria es schließlich auch geschafft hatte. Er würde lernen müssen, dass man auch ohne Hass im Herzen kämpfen konnte... für etwas kämpfen statt dagegen.

„Dann folge du Ner’zhul. Er ist uns ein gutes Stück voraus. Kurdran, du und deine Greifenreiter, ihr erkundet den Weg und findet Ner’zhul und seine Begleiter. Attackiert sie sofort. Tötet sie oder verlangsamt sie zumindest und meldet euch dann bei Danath. Er folgt euch mit Bodentruppen.“

„Nehmt einige meiner Waldläufer zum Erkunden mit“, bot Alleria an.

Turalyon lächelte ihr dankend zu und sagte, an Danath gewandt: „Deine Aufgabe ist es, Ner’zhul zu vernichten und diese drei Artefakte zurückzubringen.“

„Das ist schon so gut wie erledigt“, antwortete Kurdran und ging zu seinem Greif. Danath nickte, salutierte und entfernte sich ebenfalls, um seine Männer zu sammeln und sich für die Reise bereit zu machen.

Turalyon wandte sich an Alleria und Khadgar. „Ich muss mich darum kümmern, den Schädel zu bekommen und das Portal zu schließen. Khadgar, du bist der Einzige, der dieses verdammte Ding aufspüren kann. Und Alleria...“ Er lächelte sanft. „Ich habe dir versprochen, dich niemals zurückzulassen.“

„Das hast du tatsächlich, mein Schatz. Und glaube ja nicht, dass ich das vergessen habe.“

Er streckte eine Hand aus, und sie nahm sie und drückte sie kurz. Sie würden sich nie mehr trennen... nicht vor dem allerletzten Mal.

Und vielleicht nicht einmal dann.

Sie grinste. „Los geht’s.“

Zusammen wandten sich die drei Freunde von der eroberten Zitadelle und dem Portal in der Ferne ab. Sie würden das makabre Relikt finden, das den Spalt für immer schließen konnte – oder bei dem Versuch, es in ihre Hand zu bekommen, sterben.

19

„Sie holen auf.“

Ner’zhul sah Kilrogg an. „Dann müssen wir eben schneller werden.“

Der Häuptling vom Klan des blutenden Auges knurrte und schüttelte den Kopf. „Wir marschieren schon so schnell wir können, ohne dabei unsere Tiere oder uns selbst umzubringen“, erklärte er bitter. „Noch schneller, und meine Krieger fallen tot um, noch bevor uns die Allianz einholt. Und wer beschützt dich dann?“

Sie waren bereits fast eine Woche unterwegs, und die ersten paar Tage waren ohne Zwischenfälle verlaufen. Sie hatten die Wälder von Terokkar ohne Schwierigkeiten erreicht und erleichtert unter den großen, knorrigen Bäumen Rast gemacht. Die Wälder waren dunkel und bedrückend wie immer gewesen. Das dichte Blätterwerk der hohen Bäume ließ nur wenig Sonnenlicht durch, der Boden war mit dunklem Moos und kleinen Büschen bedeckt. Aber nach ein paar Tagen Fußmarsch unter der heißen Sonne war es durchaus angenehm, Schatten zu finden, und der Wald war ihnen kühl und friedlich erschienen.

Bis einer von Kilroggs Kundschaftern in ihr Lager gestürzt war.

„Die Allianz!“, hatte der Krieger gekeucht, vom Laufen ganz verschwitzt. „Die Allianz ist uns auf den Fersen!“

„Sie müssen die Höllenfeuerzitadelle schneller eingenommen haben, als wir es erwarteten“, hatte Blutschatten gesagt. „Dieser verdammte Kargath. Er sollte die Festung doch halten!“

Kilrogg war wie gewöhnlich ruhig geblieben. „Wie viele sind es?“

Der Kundschafter hatte den Kopf geschüttelt. „Ich konnte sie nicht zählen, aber es waren viele. Mehr als wir auf jeden Fall. Und sie nähern sich schnell.“

„Wie lange, bis sie uns erreichen?“, hatte Blutschatten wissen wollen.

„Sie sind vielleicht zwei Tage hinter uns“, hatte der Kundschafter geantwortet. „Aber ihre Anführer treiben sie wie verrückt an. Das dauert nicht mehr lange.“

„Brecht das Lager ab“, hatte Kilrogg entschieden. „Alle Krieger auf! Wir marschieren die Nacht durch, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Los!“

Binnen Minuten waren sie wieder unterwegs gewesen. Seither hatten sie immer nur kurze Pausen eingelegt, unter anderem an einem von Terokkars vielen glitzernden Flussläufen, um zu Atem zu kommen. Aber die Allianz drang immer noch vor, und der Abstand verringerte sich stetig.

Und jetzt standen sie vor einer schrecklichen Wahl.

„Sie sind uns zahlenmäßig überlegen“, erklärte der einäugige Orc. „Und zwar bei Weitem.“ Er schaute finster. „Ich sage es ungern, aber wenn wir uns ihnen entgegenstellen, schlachten sie uns ab. Und auch wenn ich, wie mein ganzer Klan, gern für die Horde sterbe, bringt uns das auch nicht schneller zum Schwarzen Tempel.“

„Wir können ihnen nicht entkommen“, bemerkte Blutschatten. „Ich glaube nicht, dass sie zurückfallen, nun, da ihre Beute praktisch in Sichtweite ist.“

„Wir könnten im...“, begann Ner’zhul.

Aber Kilrogg schnitt ihm das Wort ab. „Das ist noch mehrere Tagesmärsche entfernt! Darüber sollten wir gar nicht erst nachdenken.“ Ihm lief der Schweiß über die Stirn.

Ner’zhul war ebenso überrascht wie erheitert, dass Kilrogg Totauge, ein legendärer Krieger, für seinen Mut bekannt, Furcht zeigte.

Aber dies war nicht die Zeit für Bedenken. „Es ist unsere einzige Möglichkeit“, erklärte er. Sein scharfer Tonfall hielt Kilrogg davon ab, ihn noch einmal zu unterbrechen. „Die Menschen holen immer noch auf. Wenn wir ihnen nicht entkommen können, müssen wir uns eben verstecken. Und der einzige Ort in diesen Wäldern, der dafür geeignet ist, ist...“

Dieses Mal unterbrach ihn keiner seiner beiden Kommandanten. Dafür kam eine Störung von oben. Ner’zhul spürte einen Luftzug und ein Brausen, wie vor einem Sturm. Der Windstoß war ungewohnt intensiv und auf einen kleinen Bereich begrenzt.

Instinktiv warf sich der Schamane zu Boden. Einen Herzschlag später schwirrte etwas dort durch die Luft, wo eben noch sein Kopf gewesen war, und zog Blitze hinter sich her. Er sah einen Schemen zwischen den Bäumen verschwinden.

Der Gegenstand landete sicher in der Hand einer stämmigen Gestalt, die auf dem Rücken einer fliegenden Bestie saß. Und die stürzte erneut auf sie herab.

„Greife!“, rief Kilrogg und hob seine Axt über den Kopf. „In Deckung!“

Chaos brach aus. Orcs duckten sich hinter Baumstümpfen oder sprangen in den nahe gelegenen Fluss. Manche warfen sich auf die Uferböschung. Jeder stolperte, lief oder fiel und suchte in der Dunkelheit nach den schwer sichtbaren Gestalten, die aus der Luft attackierten.

Ein zweiter Blitz schoss durch die Bäume und blendete Ner’zhuls Augen. Er sah nur noch ein grelles Weiß und blitzende Nachbilder. Dann erschütterte ein Donnerschlag die Wälder, schüttelte die Bäume und warf einige der Krieger um.

Der Angriff der Wildhammerzwerge war eindeutig vom Erfolg gekrönt.

Sie stießen auf ihren Greifen immer wieder herab und schleuderten ihre Sturmhämmer. Einige Angriffe gingen ins Leere, aber diese verfluchten Hämmer kehrten von selbst zu ihren Besitzern zurück, die wie Racheengel erneut zuschlugen.

Blitze zuckten wieder und wieder über den Himmel, und der Donner wurde zu einem fast konstanten Dröhnen. Wenn sie ihre Hämmer nicht warfen, kamen sie so nah herangeflogen, dass die Greife selbst attackieren konnten. Sie schlitzten mit ihren Klauen, die so groß wie eine Orc-Hand waren, Kehlen auf oder pickten mit den tödlichen Schnäbeln Augen aus – oder zertrümmerten Schädel.

Zwischen den Blitzen bemerkte Ner’zhul, dass sich einige Orcs zusammengerottet hatten. Sie hofften auf mehr Sicherheit in der Gruppe, waren aber nur ein umso leichteres Ziel. Er beobachtete, wie ein Hammerschlag ein Dutzend Krieger auf einmal traf. Nach Blitz und Donner rührte sich nur noch einer, und das auch nur schwach.

„Sie schlachten uns ab!“, zischte er Blutschatten zu, der neben ihm lag. „Mach etwas dagegen!“

Der Todesritter sah ihn an. Ein listiges Grinsen lag auf seinem verrottenden Gesicht. „Das sind doch nur ein paar zu kurz geratene Angeber mit ihren übergroßen Vögeln. Ich dachte, der mächtige Ner’zhul könnte so einen armseligen Angriff selber aufhalten. Aber keine Angst: Ich kümmere mich darum, wenn du nicht dazu in der Lage bist.“ Er erhob sich.

Welche Vermessenheit! Ner’zhul erinnerte sich an ein Gespräch mit Gul’dans Schädel.

Diese Arroganz! So sollte er nicht mit dir reden.

Nein. Das sollte er nicht.

„Du solltest nicht so mit mir reden, Teron Blutschatten“, sagte er mit eisiger Stimme.

Blutschatten blinzelte, überrascht von Ner’zhuls Tonfall.

„Noch einmal werde ich das nicht hinnehmen.“ Ner’zhul erhob sich, getrieben von seiner Wut. Er ballte die Hände zu Fäusten und konzentrierte sich auf seine Umgebung. Seine Schamanenmagie hatte ihn vor langer Zeit mit dieser Welt eins werden lassen, ihn befähigt, die Elemente selbst zu nutzen. Aber die Elemente reagierten schon lange nicht mehr auf seinen Ruf – seit er Kil’jaeden Gefolgschaft geschworen hatte. Es war, als wären die Elemente von der dämonischen Energie angewidert, die nun sein ganzes Volk befleckte.

Aber dafür hatte er neue Fähigkeiten erlangt...

Zuvor waren die Wälder, abgesehen von den Kriegsschreien und dem Jammern der Sterbenden, ruhig gewesen. Nun aber stieg ein Wind aus dem Nichts auf. Ein Greif, der gerade im kontrollierten Sinkflug gewesen war, den Schnabel zu einem wütenden Schrei geöffnet, die Klauen ausgestreckt, krächzte jetzt wild, als er plötzlich wie von einer unsichtbaren Hand hin und her geworfen wurde. Der Reiter bemühte sich, nicht herunterzufallen, versagte aber und stürzte schwer. Der Greif schoss zurück in den Himmel.

Ner’zhul gestikulierte mit beiden Händen, und der Wind nahm trockenen, grauen Sand auf, um sowohl den Greif als auch den Reiter damit zu treffen.

Der Wildhammerzwerg schrie vor Schmerz auf, als seine Haut vom Fleisch geschält wurde. Für Ner’zhuls Ohren war es ein süßes Geräusch. Der Greif hatte auch nicht mehr Glück. Federn flogen, und Bluttropfen trieben durch den wirbelnden Wind. Sekunden später lagen nur noch zwei Haufen matschigen Fleisches auf dem Waldboden.

Doch Ner’zhul war noch nicht fertig.

Mit einer Bewegung seiner linken Hand katapultierte er kopfgroße Steine in die Luft. Es wirkte, als hätte der Boden sie selbst nach oben geschleudert. Ner’zhul wandte sich dem Rest der Wildhammerzwerge zu. Weitere Steine brachen aus dem Boden hervor, jagten in den Himmel, und die Greife versuchten, ihnen mit ihren Reitern auszuweichen.

Der Angriff auf die Orcs endete, weil die Wildhammerzwerge plötzlich aufpassen mussten, nicht mit den Felsen zusammenzuprallen.

Ner’zhul wandte sich an Blutschatten. Ein überlegenes Lachen lag auf seinen Lippen.

Der Todesritter schaute ihn überrascht an, erholte sich jedoch schnell von seiner Verblüffung. „Gut gemacht“, lobte er. „Mal sehen, ob ich die Verwirrung noch steigern kann.“ Er beobachtete die Gestalten am Himmel und verengte seine Augen. „Da“, sagte er schließlich und zeigte auf einen bestimmten Zwerg. „Den habe ich schon mal während des Zweiten Krieges gesehen. Das ist ihr Anführer.“

Blutschatten stand auf und hob seine Hände. Sie begannen in pulsierendem Grün zu leuchten. Dann schoss ein Energiestrahl nach oben und traf Greif und Reiter.

Der Greif brüllte vor Schmerz und stürzte mit eng anliegenden Flügeln in die Tiefe. Zur selben Zeit zuckte sein Reiter und fiel aus dem Sattel. Der Greif schaffte es gerade noch rechtzeitig, seinen Sturzflug abzufangen, seine Flügel auszubreiten und den eben noch unvermeidlich erscheinenden Aufprall in einen turbulenten Gleitflug umzumünzen. Schnell entfernte er sich in die Schatten.

Sein Reiter hatte nicht so viel Glück. Der Zwerg krachte zu Boden und bewegte sich nicht mehr. Blutschatten eilte bereits mit Kilrogg und Ner’zhul zu ihm.

Es war der erste Zwerg, den Ner’zhul aus der Nähe sah, und er musterte die kleine, merkwürdige Gestalt sehr genau. Sie war stämmig und muskulös, hatte schroffe Gesichtszüge und einen langen, geflochtenen Bart. Fast überall prangten Tätowierungen. Der Wildhammerzwerg blutete aus mehreren Wunden, aber sein Brustkorb hob und senkte sich noch rhythmisch.

„Ausgezeichnet“, bemerkte Kilrogg, zog einen Lederriemen aus seinem Beutel und fesselte dem Zwerg die Hände auf den Rücken. Dann band er die Füße zusammen. „Jetzt haben wir einen Gefangenen.“ Er zog den gefesselten Zwerg auf die Beine und brüllte: „Verschwindet, ihr geflügelte Pest, oder wir schlachten euren Anführer ab und fressen ihn, während ihr dabei zuseht!“

Die Wildhammerzwerge beschlossen offenbar, dass sie erst einmal genug hatten. Die Greife krächzten und klackten mit den Schnäbeln, dann drehten sie ab, flogen über die Bäume davon und verschwanden aus der Sicht.

Nur Kilroggs Gefangener blieb zurück. Aber das würde nicht so bleiben.

„Wir müssen unsere Verluste feststellen“, meinte Kilrogg, nachdem die Wildhammerzwerge fort waren. „Und wir sollten Kundschafter ausschicken, die Ausschau nach dem Rest der Allianzarmee halten.“

Ner’zhul nickte. „Kümmert euch darum“, sagte er geistesabwesend.

Er würde eher sterben, als zuzugeben, dass er von seiner eigenen Kraft überrascht worden war.

Es war so leicht gewesen – und so machtvoll.

Das Resultat war mehr als beeindruckend und fühlte sich... gut an.

„Wir haben ein Viertel unserer Leute eingebüßt“, berichtete Kilrogg etwas später. Er trat neben Ner’zhul, der an einen Baum gelehnt wartete. „Diese Zwerge wissen, wie man schnell und effektiv angreift. Und sie nutzten die Bäume zu ihrem Vorteil.“

Ner’zhul konnte den widerwilligen Respekt im Tonfall des alternden Häuptlings hören. Kilrogg war viel zu sehr Stratege, als dass er eine gute Taktik nicht zu würdigen gewusst hätte. Selbst wenn es die des Gegners war.

Blutschatten trat zu ihnen. „Der Rest ihrer Armee nähert sich uns noch immer schnell“, bestätigte er. „Sie haben die Zwerge offensichtlich vorausgeschickt, um uns zu verlangsamen.“

Der Todesritter bleckte die Zähne und sah zu dem Gefangenen, der zu Ner’zhuls Füßen lag. Der Zwerg hatte mehrere Male gestöhnt, war aber bislang noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen.

„Wie weit hinter uns sind sie?“, wollte Ner’zhul wissen.

„Immer noch einen Tag, vielleicht zwei. Aber in unserem derzeitigen Zustand kommen wir nicht gegen sie an.“

Ner’zhul nickte. „Dann bleibt uns nur noch eine Möglichkeit“, stellte er fest. „Wir müssen nach Auchindoun.“

Kilrogg erschrak, seine Augen weiteten sich, obwohl er gewusst haben musste, dass es so kommen würde.

„N-nein!“, stammelte er. „Das geht nicht! Nicht dorthin!“

„Sei keine Memme!“, zog ihn Blutschatten höhnisch auf. „Wir haben keine andere Wahl. Nur so können wir darauf hoffen, die Allianzarmee zu überleben und den Schwarzen Tempel zu erreichen!“

Aber der einäugige Orc schüttelte entschlossen den Kopf. „Es muss noch einen anderen Weg geben...“ Er fasste Ner’zhul und Blutauge am Arm. „Es muss einen anderen Weg geben! Wir können nicht nach Auch... ihr wisst schon... gehen! Das wäre unser aller Ende!“

„Falsch“, antwortete Ner’zhul kalt, streifte die Berührung ab und schaute den Orc an. „Auchindoun ist eine unwirtliche Ruine und eine Erinnerung an einen hässlichen Abschnitt unserer Vergangenheit. Mehr nicht.“

Natürlich war es mehr. Viel mehr. Auchindoun war schon gut über hundert Sommer alt gewesen, als Ner’zhul noch ein Säugling gewesen war. Es hatte den Draenei gehört und lag, wie alles andere auch, tief in den Wäldern von Terokkar verborgen! Der alte Schamane hatte ihnen erzählt, dass es sich um einen heiligen Ort handelte, an dem die Draenei ihre Toten begruben und wo sie hingingen, um mit den Geistern in Verbindung zu treten. Ähnlich, wie die Orc-Schamanen mit ihren Ahnen kommunizierten.

Als Jugendliche waren Ner’zhul und seine Klansbrüder durch den Wald geschlichen, um den merkwürdigen Ort zu erkunden und hatten sich die gemeißelte Steinkuppel angesehen. Sie hatten einander herausgefordert, dort hineinzugehen, durch die Tore zu laufen, die in den hohen Steinblock gehauen waren, etwas da drinnen zu berühren und dann zurückzukommen.

Keiner von ihnen hatte sich getraut. Ner’zhul war am weitesten vorgedrungen. Er war zum Eingang geschlichen und hatte seine Hände über den Stein bewegt, der die Tore bildete. Aber weiter war er nicht gegangen. Nach Meinung seines Klan-Schamanen sollte das auch niemand tun. „Die toten Draenei beschützen die Ihren“, hatte er gesagt.

Dann war der Krieg gekommen. Die Orcs hatten sich zusammengeschlossen und ihre Klanrivalitäten beigelegt. Gemeinsam hatten sie die friedlichen Draenei angegriffen und abgeschlachtet. Ner’zhul versuchte, nicht an seine Rolle in dem Plan oder an die schreckliche Kreatur zu denken, die den Befehl gegeben hatte, diese ruhigen, harmlosen Nachbarn zu vernichten. Und als Ner’zhul sich geweigert hatte, sein Volk der Kontrolle dieses Fremden zu unterwerfen, als er dem grandiosen Plan des Wesens Widerstand geleistet hatte, wurde er ausgetauscht.

Gul’dan hatte sich freiwillig dem Fremden hingegeben, er unterwarf sich dem Willen der Kreatur und erhielt dafür immense Kraft. Gul’dan hatte die Horde mit dem Blutrausch infiziert, der Orcs in jene Wilden verwandelt hatte, die sie heute waren. Dann hatten sie die Draenei und deren ganze Kultur vernichtet. Nur ein paar wenige waren entkommen. Sie waren nach Auchindoun geflohen, darauf hoffend, dass die Orcs sie nicht dorthin verfolgen würden.

Sie hatten sich getäuscht. Gul’dans Machthunger war unstillbar, und sein neuer Meister hatte ihm unglaubliche Macht versprochen, wenn er die Draenei vernichtete. Deshalb hatte Gul’dan Späher ausgesandt – eine Gruppe von Zauberern aus dem Schattenrat. Dem Schattenrat, der Schwarzfaust, den Kriegshäuptling der Horde, insgeheim kontrollierte. Sie waren nach Auchindoun gegangen, siegesgewiss, und hatten sich bereits die Kraft ausgemalt, die ihnen mögliche Beute-Artefakte verleihen würden.

Doch etwas war schiefgegangen. Sie hatten tatsächlich ein Artefakt gefunden. Aber es enthielt ein merkwürdiges Wesen. Ob das Wesen absichtlich oder infolge sorgloser Überheblichkeit befreit worden war, wusste man nicht. Doch die Flucht des Wesens hatte Auchindoun erschüttert. Die Steinkuppel und der große Tempel darin waren eingestürzt. Die zahllosen Tunnel darunter, die die toten Draenei beherbergten, explodierten. Die Detonationen hatten den Wald im Umkreis einer Meile zerstört und den Boden mit den Knochen jener Draenei übersät, die einst in den Katakomben von Auchindoun gelegen hatten.

Nur ein paar der Kundschafter überlebten und entkamen, um Gul’dan zu berichten, dass die Totenstadt zerstört worden war. Immerhin hatte sicherlich auch kein Draenei überlebt, und so war niemand jemals dorthin zurückgekehrt. Die Orcs hatten die Knochenwüste, wie der Bereich um Auchindoun fortan genannt wurde, gemieden.

Bis heute.

„Wir haben keine andere Wahl“, wiederholte sich Ner’zhul und sah zuerst Kilrogg und dann Blutschatten an. „Wir müssen dorthin. Einige der Tunnel existieren sicher noch, zumindest teilweise, und darin können wir uns vielleicht verteidigen. Ohne einen solchen Schutz werden die Allianzstreitkräfte uns alle töten – und unser Ziel mit uns.“

Kilrogg plapperte etwas Unverständliches, und Blutschatten sah ihn verächtlich an, seine roten Augen zogen sich zusammen. „Ner’zhul hat recht. Wir haben keine andere Wahl. Aber wir müssen mit Bedacht vorgehen. Ich will nichts aufwecken, was wir nicht besiegen können.“

„Dann ist es beschlossen“, sagte Ner’zhul. „Oder nicht, Kilrogg? Ich würde dich nur ungern zurücklassen.“

Der alte Häuptling schluckte schwer und senkte den Kopf. „Ner’zhul, du weißt, dass ich vor nichts Lebendigem Angst habe. Vor nichts, das ich bekämpfen und in Stücke hauen kann. Aber dieser Ort...“ Er seufzte schwer. „Der Klan des blutenden Auges geht dorthin, wohin uns Ner’zhul führt.“

„Gut. Gemeinsam sind wir für alles gewappnet, egal, was in diesen Mauern auch auf uns lauern mag. Nun sammelt eure Krieger und Todesritter“, befahl er den beiden Kommandeuren. „Wir müssen die Knochenwüste so schnell wie möglich erreichen.“

Kilrogg nickte und ging. Blutschatten schaute ihm nach, dann salutierte er vor Ner’zhul und folgte dem anderen. Seine Todesritter scharten sich schon nach wenigen Schritten um ihn.

Ner’zhul wandte sich ebenfalls ab. Seine Hände berührten seinen Beutel und fühlten die darin befindlichen Artefakte. Trotz seiner starken Worte fragte er sich, was sie wohl in Auchindoun finden würden. Waren die toten Draenei immer noch dort? Würden sie ihn für die Handlungen seines ehemaligen Schülers verantwortlich machen? Oder würden sie akzeptieren, dass Gul’dan auch ihn, Ner’zhul, verraten hatte?

Würde sich die merkwürdige Ruine als Schutz vor der Allianzarmee erweisen – oder lauerten dort am Ende gar noch größere Gefahren auf die Orcs?

Aber ihm fiel keine bessere Lösung ein, und so mussten sie es herausfinden. Ner’zhul hoffte nur, dass er keinen furchtbaren Fehler beging.

Die Krieger der Horde blieben stehen und sahen sich um. Die Bäume endeten direkt hinter ihnen. Vor ihnen erstreckte sich graue Erde und die Knochenwüste. Auchindoun erhob sich in der Mitte, gedrungen und hässlich. Die Überreste der eingestürzten Kuppel ragten wie Zahnstümpfe daraus hervor. Der zerstörte Tempel lag eingebettet darin, wie ein abgeschlagener Kopf, der zur Hälfte vergraben war.

Ner’zhul sah sich um. Er konnte nicht anders. Der heilige Friedhof der Draenei war schon immer unheilvoll gewesen. Jetzt klafften Risse in der Tempelwand, ganze Sektionen waren ohne Dach, der Wald ringsum war verschwunden, und Knochen bedeckten den Boden. Er konnte das Auchindoun von heute kaum mit der grausamen Erhabenheit des Monuments in Einklang bringen, das ihn in seiner Jugend in solche Angst versetzt hatte.

Der Boden um ihn herum schien zu beben, und zuerst glaubte Ner’zhul, es sei nur das Blut, das durch seine Adern pulste. Denn sein Herz schlug hart beim Anblick der Totenstadt. Dann erkannte er, dass die Erschütterungen von außerhalb kamen, und er sah sich um. Seine Orcs bewegten sich nicht. Einige warfen sich nervöse Blicke zu, als suchten sie wie er nach etwas. Er blickte sich um und erkannte durch die Bäume Gestalten.

„Die Allianz ist direkt hinter uns!“, rief er, Seine Stimme war weithin zu vernehmen. „Wir müssen in Deckung, nach Auchindoun hinein. Beeilung!“

„Los, ihr nutzlosen Dummköpfe!“, brüllte Kilrogg und schlug mit seiner Axt so fest gegen einen nahe stehenden Stamm, dass der ganze Baum zitterte.

Geräusch und Bewegung rissen die Krieger aus ihrer Erstarrung. Nun liefen alle in Richtung der zerstörten Tore des Draeneigebäudes.

Als sie durch das große, schief stehende Portal kamen, spürte Ner’zhul, wie ihn ein Schauder der Angst durchfuhr. Gab es hier immer noch Geister, die diese Massengruft bewachten, so wie er sie gespürt hatte, als er das erste Mal vor langer Zeit hier gewesen war? Oder waren sie nach der Zerstörung gegangen?

Er hastete tief in den zerstörten Tempel und durch ein klaffendes Loch in die Überreste des Labyrinths. Kilrogg und Blutschatten waren bei ihm, ebenso wie mehrere von Kilroggs besten Kriegern.

Etwas, so schien es, hatte überlebt, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Ein eleganter Bogen, jetzt zertrümmert, erhob sich am Fuß der Treppe, die sie hinuntergestiegen waren. Und darüber sah Ner’zhul merkwürdige, anmutige Formen, die sehr schön wirkten. Dicke Säulen hatten einst ein hohes Dach gestützt. Und Teile davon standen noch. Ihre raue, schmucklose Oberfläche war ein krasser Gegensatz zu den verzierten Wänden, in die Nischen eingelassen waren.

Ein weißer oder goldener Schimmer wies gelegentlich darauf hin, was sie dort finden würden: Knochen. Zweifelsfrei hatten alle Nischen Überreste der Draenei enthalten. Doch die lagen nun größtenteils über die Knochenwüste verstreut. Die Ahnen der Draenei waren heute den Elementen ausgesetzt, wo sie doch einst friedlich im Schatten der schweren Steine darunter geruht hatten.

Der Boden hier bestand ebenfalls aus Stein, kleine Kacheln, die sich zu einem größeren, komplizierteren Muster wandelten. Breite Gänge verbanden die einzelnen Ebenen.

Ner’zhul blickte nach unten und erkannte mindestens sechs Etagen. Das Innere war von der verhängnisvollen Explosion zerstört worden. Die Ruine war jetzt Wind und Regen ausgesetzt.

Dann brachten ihn die anderen in einen breiten Tunnel, der aus dem Innenraum hinausführte.

„Die Wände hier sind immer noch stabil“, sagte Kilrogg, sah sich um und nickte zustimmend.

Ner’zhul war zufrieden. Kilrogg hatte ihn mit seiner schrecklichen Angst beunruhigt. Doch jetzt war Kilrogg zuversichtlich und lamentierte nicht länger.

„Ein paar eingestürzte Stellen, aber der größte Teil der Decke hält noch, und der Boden ist begehbar. Wir können unsere Krieger ein Stück weiter da hinten zusammenziehen, wo es etwas weniger verwüstet aussieht.“ Er deutete auf das Ende des Tunnels, der sich in die Schatten erstreckte.

Ner’zhul sah, dass er recht hatte. Dort lag weniger Geröll, und die Decke schien intakt. „Hier können wir einen starken Verteidigungsposten errichten. Die Allianz wird es nicht leicht haben, uns herauszubekommen, wenn wir erst mal drin sind.“

„Einige der unteren Stollen könnten noch intakt sein“, meinte Blutschatten. „Wir sollten sie sorgfältig untersuchen, bevor wir weitergehen. Wenn nichts... anderes dort ist, bieten sie vielleicht einen noch besseren Schutz.“

Kilrogg nickte und stellte einige seiner Krieger ab, um den Rest des Tunnels und die benachbarten Gänge abzusuchen. Er ermahnte sie aber, sich nicht zu weit zu entfernen.

Den anderen befahl er, Geröll zum Tunneleingang zu schleppen und einen niedrigen Wall zu errichten. Anschließend feilte er mit Blutschatten und Ner’zhul an Kampfstrategien.

Ein paar Stunden später kehrten Kilroggs Kundschafter zurück. Die Augen der Krieger leuchteten, und ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen. „Da ist etwas, das ihr euch ansehen müsst.“

„Was denn?“, fragte Ner’zhul, stand auf und rieb sich die Hände an den Schenkeln ab. Er und Blutschatten hatten an einem Notfallplan gearbeitet, der sie vielleicht retten konnte. Aber er war noch nicht ganz ausgereift.

„Ich... wir haben etwas gefunden“, antwortete der Krieger. Das Lächeln wurde breiter, und Ner’zhuls Laune besserte sich.

Was auch immer sie gefunden haben mochten, es war nach Meinung der Kundschafter ganz sicher keine Bedrohung. Ner’zhul bedeutete dem Orc voranzugehen. Sie verließen den Raum, den sie für die Besprechung genutzt hatten, und gingen einen Tunnel entlang. Andere Krieger hatten sich dort versammelt, und als Ner’zhul eintraf, zerstreuten sie sich.

„Bei den Ahnen!“, flüsterte Ner’zhul mit offenem Mund.

Vor ihm standen mehrere Gestalten. Eine war ein Oger, und der Rest... waren Orcs!

Ner’zhul kannte sie nicht. Auch Schmuck und Kleidung waren ihm völlig fremd.

„Wer seid ihr?“, wollte er wissen. Er blieb nur wenige Schritte vor den Fremden stehen. „Und was macht ihr hier in Auchindoun?“

Einer der Orcs trat vor. Er war klein und breit, so wie Gul’dan gebaut gewesen war. Und tatsächlich sah Ner’zhul viel von seinem früheren Schüler in den Gesichtszügen und der Haltung des Fremden.

Der Kopf des Orcs glitzerte im Schein der Fackeln, die die Krieger an den Wänden befestigt hatten. Sein langer, fransiger Bart war von schwarzen und silbernen Strähnen durchzogen. Eine Aura der Macht umgab ihn, als er in seinem runenverzierten Gewand mit einem beeindruckenden Stab in der Hand vortrat.

„Ner’zhul?“, sagte er leise, seine Stimme klang rau. „Bist du das? Wo ist Gul’dan?“

„Der Verräter Gul’dan ist tot“, antwortete Kilrogg, knurrte den Fremden an und schaute ihn mit einem Auge an. „Seine Pläne hätten uns beinahe alle in den Tod gerissen. Ner’zhul herrscht jetzt wieder über die Horde!“

Der Fremde nickte, offensichtlich erschütterten ihn die Neuigkeiten nicht. „Dann unterwerfe ich mich deiner Führerschaft, Ner’zhul“, sagte er. Die Worte klangen zögerlich, als hätte er schon eine ganze Weile nicht mehr gesprochen. „Ich bin Vorpil vom Schattenrat, obwohl du mich vielleicht nicht erkennst.“

„Vorpil!“ Ner’zhul starrte den Fremden an und blinzelte ungläubig im schwachen Licht, zugleich bemerkte er die Ähnlichkeit, die nur durch das Alter dieses Mannes getrübt wurde.

Der Vorpil, den er kannte, war ein vielversprechender junger Schamane des Donnerfürstenklans gewesen. Er hatte dichtes, dunkles Haar gehabt, das seinen Rücken hinabreichte. Sein Bart war kurz geschnitten gewesen und ebenfalls schwarz.

Was war mit ihm geschehen, dass er dermaßen gealtert war? Und wie hatte er solche magische Kraft erlangen können?

Blutschatten trat jetzt ebenfalls vor, weil auch er Mitglied von Gul’dans Schattenrat gewesen war. „Vorpil?“, flüsterte er. „Wie bist du hierhergekommen, alter Freund?“

Vorpil knurrte und zuckte zurück. Furcht zeichnete sich auf seinem stumpfen Gesicht ab, als er den Todesritter sah.

„Ganz ruhig“, beruhigte ihn Blutschatten. Er hob die Hände in einer besänftigenden Geste. „Ich bin’s, Teron Blutschatten.“

Für einen langen Moment starrte Vorpil Blutschatten an. Seine Augen zogen sich zusammen, als er sich den Todesritter genauer anschaute. Eine Sekunde später löste sich die Anspannung wieder.

„Teron Blutschatten?“, fragte er. „Es... ja, es fühlt sich wie du an, gefangen in verfaulendem Fleisch.“

Die Orcs senkten die Waffen, tauschten unsichere Blicke, vertrauten aber ihrem Anführer. Vorpil trat zögerlich vor.

„Was ist mit dir passiert? Was für ein totes Ding umschließt deinen Geist wie ein Mantel?“

„Ich lebe im Körper einer Kreatur, die sich Mensch nennt“, antwortete Blutschatten. Vorpil sah ihn ratlos an, deshalb fügte er hinzu: „Das ist eines der Völker, auf das wir gestoßen sind, als wir in jene andere Welt hingen... Azeroth. Die, zu der Gul’dan das Portal geöffnet hatte.“

„Andere Welt?“

Ner’zhul wurde ungeduldig. „Als unsere Welt starb, erschuf Gul’dan ein Portal zu einer anderen Welt, die man Azeroth nennt. Dort haben wir diese Menschen getroffen, und Blutschattens Geist lebt in einem ihrer Körper. Den Rest erzählen wir euch später, doch jetzt wollen wir eure Geschichte hören. Weil uns dieses Wissen in unserer gegenwärtigen Misere helfen könnte.“

„Welche Misere?“, fragte die größere Gestalt, die Ner’zhul schon zuvor aufgefallen war. Sie trat vor, um am Gespräch teilzunehmen. „Seid ihr in Gefahr?“

Er war ein Oger, wie Ner’zhul bereits erkannt hatte, aber anders als andere hatte er einen zweiten Kopf auf den Schultern, wie der Fackelschein enthüllte. Zweiköpfige Oger waren selten, und solche, die Hexenmeister waren, noch viel mehr.

Anhand der dunklen Energie, die der Oger ausstrahlte, erkannte Ner’zhul dessen magische Fähigkeiten. Nur zwei Oger waren je Mitglieder von Gul’dans innerem Zirkel gewesen, erinnerte er sich. Gul’dans rechte Hand Cho’gall und...

„Schwarzherz“, flüsterte Blutschatten, der offensichtlich zu dem gleichen Schluss gekommen war. „Bist du es wirklich...?“

Die beiden Köpfe der Kreatur nickten. „Ich bin es“, antwortete einer. „Aber vielleicht nicht so, wie ihr euch an mich erinnert“, ergänzte der zweite.

Das stimmte sicherlich. Ner’zhul hatte niemals mit Schwarzherz selbst zu tun gehabt. Gul’dan hatte den Oger persönlich rekrutiert, nachdem er die Kontrolle über die Horde übernahm. Aber Ner’zhul hatte ihn mehr als einmal gesehen, eine hoch aufragende Gestalt, mit langen Kriegerzöpfen und stechenden schwarzen Augen.

Diese Augen gab es jetzt nicht mehr. Eines der Häupter trug eine merkwürdige metallene Augenklappe über dem rechten Auge. Vielleicht war sie dort angeheftet. Um das andere Auge verlief eine Zauberertätowierung.

Der zweite Kopf, der von einer Kapuze bedeckt war, hatte nur ein einziges Auge über der Nase, das doppelt so groß war wie ein normales. Merkwürdige Runen bedeckten seinen Körper, und auf der Brust befand sich ein großes Zeichen. Der Oger hatte ein locker sitzendes Gewand an, das er über die Schultern gezogen hatte. Ein Gürtel hielt den Stoff über den Lenden. Dicke Armschützer bedeckten seine Handgelenke, und er trug einen großen, mit Dornen bewehrten Hammer in seiner übergroßen Hand.

Die pure Größe und Kraft von Schwarzherz waren seit jeher beeindruckend gewesen. Aber jetzt war er eine wahrhaft wilde Erscheinung.

„Ich frage noch mal“, rumpelte der Oger. „Welche Misslage?“

„Die Allianz ist uns auf den Fersen“, sagte Kilrogg. „Das sind die Menschen, von denen wir eben schon gesprochen haben, unterstützt von ein paar anderen Völkern. Wir sind ihnen zahlenmäßig unterlegen und haben ohne zusätzliche Hilfe keine Chance gegen sie.“

„Wir dürfen nicht versagen“, fügte Blutschatten hinzu. „Das Schicksal unseres Volkes hängt davon ab, dass Ner’zhul den Schwarzen Tempel erreicht. Dort wird er ein Ritual vollziehen, das uns alle rettet.“ Er erklärte nicht mehr, aber Schwarzherz und Vorpil nickten.

„Wir sind hier, seit Gul’dan uns nach Auchindoun geschickt hat“, erzählte Vorpil. „Wir haben in diesen Tunneln überlebt und gehofft, eines Tages zurück zur Horde zu kommen. Jetzt kommt die Horde zu uns. Wir kennen die Ruinen gut, weil wir hier schon seit Jahren leben.“ Die anderen hinter ihm nickten. „Wir werden mit euch gegen diese Menschen kämpfen und euch bei der Verteidigung helfen.“

„Ich zerschmettere jeden, der sich uns entgegenstellt“, stimmte Schwarzherz zu und hob seinen riesigen Hammer, sodass die oberen Dornen gegen die hohe Hallendecke stießen.

„Unsere Ahnen waren uns wohlgesonnen und haben uns in der Stunde der Not mit Nachschub versorgt“, sagte Ner’zhul. „Ihr seid erneut in der Horde willkommen, und ihr nehmt teil am Triumph unseres Volkes.“

Die Krieger um sie herum jubelten und skandierten so laut „Ner’zhul!“, „Vorpil!“, „Schwarzherz!“ und „Horde!“, dass die Wände wackelten.

Ner’zhul lächelte. Es war richtig gewesen, sich nach Auchindoun zu wagen. Mit diesen neuen Verbündeten würde er den Schwarzen Tempel gewiss rechtzeitig erreichen.

20

Danath ließ seine Faust in die andere Hand patschen. „Wir haben sie“, rief er. „Jetzt müssen wir nur noch da hinein und zuschlagen!“

„Ja, aber noch nicht sofort“, antwortete Talthressar, einer von Allerias Waldläufern, der während der Verfolgung der Horde irgendwie in die Rolle eines Beraters von Danath gerutscht war. Trotz seiner Unnahbarkeit mochte Danath den Elfen. Zudem hatte er meistens recht. „Wir müssen bis zum Morgen warten.''

„Bis zum Morgen haben sie sich eingegraben“, protestierte Danath. Er blickte auf den schlanken, rotblonden Waldläufer hinab. Dann fiel sein Blick über das mit Gebeinen übersäte Feld, das sich weitläufig über die riesigen Ruinen erstreckte. „Wenn wir die Orcs sofort angreifen, können wir sie erwischen, bevor sie sich verschanzen und ihre Verteidigung ausbauen!“

„Sieh dich um“, drängte Talthressar. „Du bist vielleicht bereit zum Kampf, aber deine Männer sind es nicht. Es wird dunkel, und sie sind erschöpft. Willst du, dass sie durch den Untergrund stolpern, blind für Gefahren und zu müde, um sich eines Hinterhalts zu erwehren?“

Danath schaute den Elf wütend und schmerzgeplagt zugleich an. „Sie haben Kurdran getötet!“

Diese Nachricht hatte die Männer, die ohnehin schon von Danaths brutalem Tempo erschöpft waren, erschüttert. Als die Wildhammerzwerge zurückgekommen waren, hatten sie gar nicht erst versucht, die Tränen zu verbergen. Auch Danath hatte sich abwenden müssen. Er hatte so viele Krieger verloren – und jetzt den plumpen, aber jovialen Zwerg. Wie viele mussten noch umkommen, bevor diese verfluchten grünen Bestien aufgehalten werden konnten?

„Ich weiß“, sagte Talthressar leise. „Doch du ehrst ihn nicht, indem du erschöpfte Männer in den Kampf führst, nur um ihn zu rächen. Denn dann werden sie genauso wie er einfach sterben.“

Danath blickte finster, aber er wusste, dass der Elf recht hatte. Er hatte seinen Männern einiges zugemutet, seit sie die orcische Zitadelle hinter sich gelassen hatten. Schließlich mussten sie Ner’zhul und seine Leute rechtzeitig erwischen.

Es war schon verrückt: Nun, da sie ihn endlich hatten, waren sie zum Kämpfen zu müde.

„Eine Nacht“, sagte er schließlich. „Wir lagern hier eine Nacht und greifen beim ersten Licht des Morgens an.“

„Eine weise Entscheidung“, stimmte Talthressar ihm zu, und wie üblich konnte Danath nicht sagen, ob der Waldläufer dabei sarkastisch klang oder nicht. Doch wie immer entschied er sich dafür, den Unterton des Elfen zu ignorieren und seine Worte so zu nehmen, wie er sie gesagt hatte.

„Lass die Männer das Lager aufschlagen“, befahl Danath einem Untergebenen. „Wir greifen im Morgengrauen an.“ Weil er sich darauf verlassen konnte, dass seine Befehle auch ohne Kontrolle umgesetzt wurden, stieg er vom Pferd und führte das erschöpfte und durstige Tier zum Fluss. Er wusch sein verschwitztes, staubiges Gesicht und trank selber. Dann ging er zu seinem Zelt und schlief sofort ein.

Als er ein paar Stunden später erwachte, sah er überrascht mehrere hohe Pfosten, die ein großes Rechteck absteckten.

„Was soll das?“, fragte er Herrick, einen seiner Befehlshaber. „Wir bleiben nur eine Nacht hier.“

Herrick zuckte die Achseln. „Einige der Männer meinten, dass hier ein guter Platz für ein Fort wäre“, erklärte er. „Sie wollten Pfosten stecken, um es zu markieren. Ich habe keinen Nachteil darin gesehen, also habe ich es zugelassen. Es ging schnell, die Elfen haben geholfen.“

„Im Angesicht des Opfers unseres Zwergenfreundes hielt ich es für eine schöne Geste“, sagte Talthressar und trat aus dem Schatten eines nahe stehenden Baumes. „Wir bilden immerhin eine Allianz. Wie könnte man das besser symbolisieren als dadurch, gemeinsam eine Festung zu bauen?“

Danath sah den Elf an. „Du warst doch derjenige, der mir gesagt hat, wie müde die Männer sind. Und jetzt fällen sie Bäume und setzen Pfosten, statt sich auszuruhen?“

Talthressar lächelte. „Es sind nur ein paar Pfeiler, und weil so viele geholfen haben, war die Arbeit leicht. Sieh dir das Ergebnis an.“

Danath schaute in die Richtung, die Talthressar ihm wies. Zwerge, Menschen und Elfen standen friedlich beieinander und plauderten. Sie wirkten immer noch müde, aber es lag auch ein Lächeln auf ihren Gesichtern. Einer von Danaths Leuten schlug sowohl dem Elf als auch dem Zwerg, mit denen er redete, auf die Schulter.

„Deine Männer hatten recht. Dieser Ort hat nicht nur einen strategischen Wert, sondern es ist auch der einzige Ort, der nicht rot und tot ist. Diese Wälder zumindest sind sehr lebendig. Wenn wir eines Tages hierher zurückkehren und beenden, was wir heute begonnen haben, sollten wir den Ort Allerias Posten nennen. Der Name passt. Die Orcs haben viel von Quel’Thalas zerstört, und so nehmen wir uns als Gegenleistung die einzige grüne Region, die es auf dieser verlassenen Welt gibt. Und wenn wir nicht zurückkommen, dienen diese Pfosten als Zeichen dafür, dass die Allianz den Wald betreten und für sich beansprucht hat.“

Talthressars Stimme klang während dieser kurzen Rede leidenschaftlicher, als Danath sie je zuvor gehört hatte. Er blickte erneut zu seinen Männern und nickte. „Aber zuerst kümmern wir uns um diese Orcs!“

Er verzehrte das Essen, das Herrick ihm aufzwang, suchte sich einen stillen Platz bei einem der Lagerfeuer im Osten, und dann streckte er seine Beine aus, verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich gegen einen Baumstumpf und schlief erneut ein.

Danath wachte von Rufen auf, die aus thalassianischen Worten und merkwürdigen kreischenden Lauten bestanden. Er stand auf. „Was geht hier vor?“

Er erhielt in dem Chaos keine Antwort. Als er auf die Quelle des Lärms zulief, bemerkte Danath, wie mehrere Elfen auf irgendetwas lagen, das dieses schrecklich kreischende Geräusch von sich gab.

„Tretet zurück!“, befahl er. Die Elfen erhoben sich widerstrebend und entstaubten ihre Rüstungen, während zwei Krieger eines der merkwürdigsten Wesen festhielten, das Danath je gesehen hatte.

Der Eindringling trug dunkelviolette Gewänder, die jetzt zerrissen und mit Blut und Gras verschmutzt waren. Er war in etwa so groß wie ein Mensch und hatte Arme und Beine. Aber damit hörte jede Ähnlichkeit auch schon auf. Aus der Kapuze ragte kein menschliches Gesicht, sondern der Kopf eines Vogels.

Er hatte ein langes, scharf geschnittenes Gesicht, wobei ein glänzender, violetter Schnabel den größten Teil einnahm. Dazu kamen schräg stehende ovale Augen, die in der Nacht gelb leuchteten. Ein Büschel Federn stand über jedem Auge wie eine menschliche Augenbraue ab. Auf dem Kopf dominierten rote, violette, goldene und braune Federn, die so etwas wie einen Haarschopf bildeten. Ein Auge war teilweise geschlossen, die Elfen waren bei der Gefangennahme offensichtlich nicht zimperlich gewesen.

„Was für ein Wesen bist du, und wieso schleichst du um unser Lager herum?“, wollte Talthressar wissen.

„Du verschwendest deinen Atem“, sagte Danath. „Es versteht unsere Sprache nicht.“

„Aber Grizzik, ja! Er versteht! Und keine Bedrohung er ist!“ Die Stimme der Kreatur war ein merkwürdiges Trillern, aber klar zu verstehen.

Danath blinzelte ihn an.

„Er ist wie ein dressierter Papagei. Er wiederholt nur, was wir sagen“, murmelte einer der Männer und hob seine Faust, um den Vogelmann zum Schweigen zu bringen.

„Nein, warte“, befahl Danath. „Sag das noch mal.“

„Grizzik! Keine Bedrohung er ist, nein, nein! Wollte doch nur wissen... wer ihr seid? Warum ihr kommen?“

Danath sah zu Talthressar, der mit den Schultern zuckte, dann trat er zurück und ließ Danath die Befragung führen.

„Dein Name ist Grizzik?“ Nach einem schnellen Nicken Grizziks fuhr Danath fort: „Beantworte unsere Fragen, und wir beantworten vielleicht deine. Was bist du?“

„Grizzik ist Arakkoa“, antwortete der Vogelmann. Seine Worte klangen merkwürdig abgehackt, und jedem folgte ein Pfeifen und Seufzen. „Alte Rasse. Vielleicht älteste der Welt. Grizzik neugierig. Keine Bedrohung!“

„Das hast du schon gesagt. Aber wieso hast du uns ausspioniert? Woher kennst du unsere Sprache?“

„Arakkoa schlau“, sagte Grizzik stolz. „Clever. Grizzik folgt euch, hört gut zu, lernt schnell! Denkt, ihr merkwürdig. Neugierig.“

„Sind die Arakkoa Freunde der Orcs oder ihre Feinde?“

Das erbrachte die bislang stärkste Reaktion. Grizziks Gesichtsfedern plusterten sich wie bei einem erschreckten Vogel auf. „Angst und Hass hat Grizzik... Nicht die Bösen. Ich habe gesehen. Aber jetzt...“ Er zitterte.

Danath hatte genug von Grizzik gesehen, um zu erkennen, dass er keine unmittelbare Bedrohung darstellte, und nickte den Elfen zu, die den Eindringling immer noch festhielten. „Gebt ihm Wasser und kümmert euch um die Wunden“, befahl er ihnen. Zu Grizzik sagte er: „Erkläre dich.“

„Arakkoa altes Volk. Wir unter uns bleiben. Aber! Wir beobachten friedliche Draenei, primitive Orcs. Nur wer konnte auch wissen? Wahnsinn überkam Orcs. Was... wir nicht wissen.“

Trotz des schweren Gewands zitterte er. Seine Federn bewegten sich, es schien ihm unbehaglich zu sein, als er fortfuhr.

„Orcs und Draenei keine Freunde... aber sie auch nicht hassen. Respekt haben.“

„Moment, nicht so schnell“, sagte Danath und hob eine Hand. „Langsamer. Orcs und Draenei? Draenei wie in Draenor?“

„Draenor, so sie nennen Welt, ja. Sie stolz auf sich, sie nennen ganze Welt nach sich. Sie stark... zuerst.“

„Du sagtest, Wahnsinn brach aus? Die Orcs wandten sich gegen die Draenei?“

Grizzik nickte. „O ja, ja. Einst viele, viele Draenei. Sie benutzen helles Licht. Leben hier lange Zeit. Sie denken, sie stark und gut. Niemand kann Draenei aufhalten, nein, nein. Aber Orcs...?“ Grizzik machte ein zischendes Geräusch und hob den Arm. „Weg. Nur ein paar noch hier. Jetzt einst stolze Draenei verstecken sich.“

Danath lief ein Schauder über den Rücken. „Die Orcs... haben eine ganze Zivilisation ausgelöscht?“ Er schaute Talthressar an. „Klingt, als hätte die Horde geübt, bevor sie nach Azeroth kam.“

„Das stimmt. Außer, dass Azeroth ihnen nicht zugefallen ist. Wir waren stärker.“

„Glücklicher vielleicht.“ Er schüttelte den Kopf. „Eine ganze Zivilisation von friedlichen Wesen. Was für eine verdammte Schande.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Arakkoa zu. „Rede weiter. Du hast gesagt, dass die Draenei friedlich, aber auch mächtig waren und dass die Orcs zuerst primitiv gewesen sind. Wie konnten sie dann die Draenei besiegen?“

„Die Orcs...“ Grizzik suchte nach Worten. „Sie kommen zusammen. Sind nicht länger getrennt.“

„Die Orcs haben verschiedene Klans“, sagte Talthressar.

„Es klingt, als wären sie nicht immer die vereinte Horde gewesen.“

„Langohr hat recht“, flötete Grizzik aufgeregt. Zu jeder anderen Zeit hätte Danath über den beleidigten Gesichtsausdruck gelacht, der über Talthressars Gesicht huschte. „Orcs nicht vereint. Sie werden stark, grausam. Hautfarbe ändert sich von... hm. Von diesem hier...“ Er wies auf eine braune Feder. „... nach diesem.“ Er zeigte auf eine grüne.

„Ihre Hautfarbe hat sich geändert? Von Braun nach Grün?“, fragte Danath und hob eine Augenbraue.

„Ja! Dann grüne Orcs greifen an und töten Draenei. Arakkoa sagen, wir als nächste dran!“ Er zeigte auf die großen Ruinen, die man gerade noch durch die Bäume erkennen konnte. „Auchindoun. Draenei-Tote schlafen hier. Es ist heilig. Das meiste...“ Er klopfte auf den Boden.

„Das meiste ist unterirdisch?“, fragte Danath.

Grizzik nickte. „Verläuft unter Boden, ja. Alle tot jetzt.“

Danath hatte eine Idee. „Warst du schon mal da? In Auchindoun? In den Tunneln?“

Grizzik nickte eifrig.

„Kennst du den Weg da durch?“, fragte Danath.

Grizzik nickte. „Ich war dort unten, viele, viele Male. Aber... warum wollt ihr da hin?“

„Ich bin Danath Trollbann von der Allianz“, antwortete Danath. „Wir haben die orcische Horde von unserer Welt bis hierher verfolgt. Und ich will sie im Morgengrauen angreifen, um sie zu vernichten und die Bedrohung zu beenden. Sie verstecken sich in den Tunneln. Ich werde sie finden. Wir... könnten deine Hilfe brauchen.“

Talthressar schaute Danath missbilligend an. Aber der Mensch ignorierte den Blick. Grizzik erschien harmlos, und er hasste offensichtlich die Horde. Wenn er sie davor bewahren konnte, sich im Labyrinth der Totenstadt zu verlaufen, würde Danath die Chance nutzen.

„Griz... Ich. Ich kenne einen Weg hinein. Weg, den selbst Orcs, die hier leben, nicht kennen.“ Er beugte sich vor. „Ich weiß, wo sie leben... welchen Weg neue Orcs nehmen werden.“

Danath und Talthressar tauschten erneut Blicke. „Das ist eine unglaublich nützliche Information“, sagte Danath. „Wir...“

„Ah!“ Der Arakkoa erhob sich aufgeregt und schaute sich die Greife an, die in den Bäumen rasteten. Ihre Klauen gruben sich tief in die Äste, ihre Köpfe steckten unter einem Flügel. Er lief auf sie zu.

„Großartig!“, flüsterte er und wollte dem nächsten Greif über die Schulter streichen. Das Tier flatterte leicht, wachte aber nicht auf. Danath bemerkte, dass Grizziks Hand einer Kralle glich. Doch er berührte die Greifenfedern sehr sanft.

„He da, was –", setzte einer der Wildhammerzwerge zum Protest an und lief auf Grizzik zu.

„Nicht aufregen, Fergun“, beschwichtigte Danath, bevor sich der Zwerg auf ihren potenziellen neuen Verbündeten stürzen konnte.

„Diese Tiere werden auf unserer Welt Greife genannt“, erklärte Danath. „Jeder Greif hat einen Reiter, einen Wildhammerzwerg, wie Fergun hier.“

Grizzik war beim letzten Greif in der Reihe angelangt, einem wundervollen Tier, das zitterte, als wäre ihm kalt, obwohl es eine laue Nacht war. „Sie trauert“, sagte Grizzik und strich ihr über Schulter und Rücken.

„Stimmt, es ist Sky’ree“, sagte Fergun in einem Tonfall, der schroffer als sonst war. „Kurdrans Tier.“

Grizzik klackerte mit dem Schnabel, legte den Kopf schief und sah Danath an.

„Sky’rees Reiter war Kurdran, der Anführer der Wildhammerzwerge“, erklärte Danath. „Er... er fiel heute in der Schlacht.“

Grizzik nickte. „Ah. Gefangener. Ich ihn sehen.“

„Gefangener?“, fragte Danath.

„Die Orcs bringen Gefangenen mit nach Auchindoun. Sieht aus wie er.“ Der Vogelmann zeigte auf Fergun. „Roter Pelz auf Kinn. Er sehr laut.“

Danath spürte die Erregung. Kurdran lebte? Er wandte sich an Talthressar. „Wir müssen ihn retten.“

„Der Zwerg kannte die Risiken“, erwiderte der Waldläufer kühl. „Und der Erfolg der Mission ist wichtiger als ein Einzelschicksal.“

Aber Danath schüttelte den Kopf. „Kurdran ist einer von Turalyons besten Befehlshabern. Die Tatsache, dass er lebt, beweist, dass die Horde seinen Wert kennt. Wenn sie ihn brechen, wird er wertvolle Informationen über die Allianz verraten. Wir müssen ihn da rausholen, bevor das geschieht. Und dieser... Arakkoa kann uns zu ihm bringen.“

Talthressar seufzte. „Grizzik, es ist zweifellos gefährlich, uns zu helfen. Warum tust du das?“

„Antwort leicht. Ihr seid gegen Horde“, antwortete Grizzik mit einem entschiedenen Klacken des Schnabels. „Ich auch hassen Horde für was sie Arakkoas angetan haben und unserer Welt.“

Danath sah von Grizzik zu Talthressar. Der Waldläufer nickte. Es war ihre beste Möglichkeit. Und wenn Grizzik versuchen sollte, sie zu verraten, würde er dafür bezahlen müssen.

„Gut, dann machen wir es so“, sagte er.

Grizzik zeichnete eine einfache Karte von Auchindoun und den Tunneln und erläuterte sie, wobei seine Sprachkenntnisse immer besser wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Danath die Idee, mit einer kleinen Gruppe einzudringen, bereits verworfen. Er hatte einen viel besseren Plan.

Nun ging er den langen, dunklen Tunnel hinab, nur mit der Fackel in der Hand, die etwas Licht spendete. Grizzik war ein kleines Stück vor ihm, und Talthressar befand sich zwischen den beiden. Weder der Elf noch der Arakkoa benötigten zusätzliches Licht. Und hinter Danath folgte die Hälfte seiner Männer.

„Tunnel sind breit. Zehn Allianzleute können nebeneinandergehen“, hatte Grizzik ihnen versichert. „Und hoch. Selbst Oger duckt sich nur! Draenei haben sie gut gebaut. Explosion, die zer... zerstörte innere Durchgänge, hat äußere Tunnel nicht erreicht. Immer noch sauber, trocken und sicher.“

Das hatte Danath überzeugt, besonders, nachdem Rellian mit Grizzik auf eine Probeerkundung gegangen war und von den Tunneln berichtete, die der Vogelmann ihm gezeigt hatte. „Die sind wie ein langer Gang im Palast“, hatte der Waldläufer gesagt. „Genauso, wie er es uns gesagt hat. Ich habe auch nichts anderes bemerkt. Nicht mal Ungeziefer.“

„Wir teilen uns in zwei Gruppen auf“, hatte Danath entschieden. „Die Hälfte der Truppen folgt mir durch die Tunnel und hoch nach Auchindoun. Die andere Hälfte greift von vorne an, schleicht sich durch die Tempelruinen ein, um die Horde abzulenken, während wir uns von hinten nähern. Einmal in Position, zermalmen wir sie zwischen uns.“

Und jetzt, weniger als eine Stunde, nachdem sie den Tunnel betreten hatten, stoppte Grizzik und wies auf eine breite Tür, die in die Wand eingelassen war. „Dahinter, Treppe“, erklärte der Arakkoa. „Bringt uns runter nach Auchindoun.“

Danath machte ein finsteres Gesicht. Er erinnerte sich an das Labyrinth, das der Arakkoa für sie gezeichnet hatte. „Und du weißt nicht, wo genau die Horde sich befindet – oder wo ihre Gefangenen sind?“, fragte er erneut.

Die Antwort des Vogelmanns war dieselbe wie zuvor. „Ich kenne Weg nach Auchindoun“, sagte er wieder, „aber kaum darüber hinaus.“ Eine Sekunde lang verlieh der Schatten seines Gewandes seinem langen, scharfen Gesicht etwas Düsteres. „Mein Volk... war nicht wirklich willkommen hier. Draenei verehren Tote hier, nicht heißen Eindringlinge willkommen. Ich hier rumlaufen, erforsche... erfahre ein wenig. Nur ein wenig.“

Danath nickte. Er wusste, es war zu viel verlangt, dass der Arakkoa sie direkt zu Kurdran führen würde. Doch der Gedanke, ziellos meilenweit durch die Tunnel zu irren, während die Horde irgendwo im Hinterhalt lag, gefiel ihm überhaupt nicht.

Grizzik griff nach der Tür... und sprang zurück. Der Schnabel klackte vor Überraschung. Seine Klauenhände hoben sich.

Dann wurde die Tür von der anderen Seite geöffnet. Danath erhob Schild und Schwert... und verharrte, starrte auf die Gestalt im Türrahmen.

21

Es war kein Orc.

Danath hatte so ein Wesen noch nie zuvor gesehen. Die Gestalt war groß und breitschultrig und hatte blassblaue Haut, die im trüben Fackelschein fast leuchtete. Ihre Gesichtszüge waren streng und edel, denen der Elfen ähnlich, aber derber. Sie hatte kleine, spitze Ohren und große, schräg stehende Augen. Eine Reihe gezahnter Plättchen bedeckte die Stirn des Wesens und endete knapp über den ernsten Augenbrauen; dicke Tentakel hingen an einem kleinen, buschigen Bart vom Kinn. Silbernes Haar umgab den Kopf und fiel über die Schultern des reich geschmückten, aber abgetragenen Gewandes. In der Hand hielt das Geschöpf einen verzierten Stab. Hufe ragten unter dem ausgefransten Saum hervor. Zudem bemerkte Danath, dass diese merkwürdige Gestalt auch einen Schwanz hatte.

Das Wesen sprach mit tiefer, sanfter Stimme und hob den Stab, dessen Spitze blassviolett leuchtete. Der Glanz spiegelte sich in seinen Augen wider. Diese Augen sahen Grizzik an, der hinter Danath kauerte, und sie verengten sich. Die Gestalt sprach erneut in wütendem Tonfall, und Grizzik antwortete in der gleichen Sprache.

„Was ist das für ein Wesen? Was will es?“, rief Danath. „Es ist offensichtlich nicht erfreut, dich zu sehen.“

„Ich ihm sagen, ich führe edle Krieger hierher, das ist alles.“

Das Wesen wandte sich ihnen erneut zu und spießte Danath mit seinem Blick auf. Dann murmelte es etwas, und sein Stab glühte erneut. Es öffnete die Augen und antwortete – wobei es ihre Sprache perfekt beherrschte.

„Diese... Kreatur... hat mir erzählt, dass sie euch hierher geführt hat. Was seid ihr, und was wollt ihr hier im Kreise der verehrten Toten?“

Danath senkte den Schild und steckte das Schwert zurück. Er war schockiert, dass sein Gegenüber seine Sprache beherrschte. Aber es war ihm wichtiger, das Wesen davon zu überzeugen, sie vorbeizulassen, als herauszufinden, wie es dieses Kunststück bewerkstelligte.

„Ich entschuldige mich für mein Eindringen“, begann er. „Wir wollen weder eure Toten noch dich stören. Aber die Horde hat in diesen Tunneln Zuflucht gefunden und hält unseren Freund gefangen. Wir wollen ihn befreien und die Orcs schlagen.“

Das Wesen – Danath nahm an, dass es ein Draenei war, weil Grizzik berichtet hatte, dass es deren Tempel war – schaute bei der Erwähnung der Horde auf, nickte aber, als Danath fertig war. „Ja, die Orcs sind in unsere Tunnel eingedrungen“, bestätigte es, senkte seinen Stab und stellte ihn auf den Boden. „Sie befinden sich im Schattenlabyrinth, dem tiefsten Teil von Auchindoun. Dem Bereich, der am wenigsten beschädigt ist. Dorthin werden sie euren Freund gebracht haben. Außerdem hält sich dort die Hauptstreitmacht der Horde auf.“

„Die Hauptstreitmacht?“, fragte Danath und beugte sich neugierig vor.

„Einige der Orcs befinden sich schon seit Längerem hier“, antwortete der Draenei. „Seit der Zeit kurz vor der Explosion. Sie wohnen in einem anderen Tunnel.“ Er schüttelte den Kopf. Eine Mischung aus Wut und Trauer war auf seinen edlen Gesichtszügen zu sehen. „Sie haben den Tempel schon zu lange mit ihrer Anwesenheit beschmutzt.“

„Wir werden uns schon bald darum kümmern.“

„Ihr habt mir euer Anliegen genannt. Jetzt sagt mir, was für eine Art von Geschöpf ihr seid. Ich bin viel herumgekommen, aber so etwas wie euch habe ich noch nie erblickt.“

„Ich bin ein Mensch“, antwortete Danath. „Wir stammen von Azeroth, einer anderen Welt. Die Orcs haben ein Tor zwischen unserer Welt und Draenor geöffnet und sind bei uns eingedrungen. Aber wir haben ihre Armee geschlagen und sie zurückgetrieben. Jetzt wollen wir das Portal für immer schließen, um unsere Heimat und unser Volk zu schützen.“

Der Draenei beobachtete ihn. Die großen Augen blinzelten nicht. Danath spürte, dass der Fremde irgendwie den Wahrheitsgehalt seiner Worte überprüfte. Schließlich nickte er. „Das ist ein edles Ziel“, sagte er, trat aus dem Türrahmen und stellte sich vor Danath. „Ich bin Nemuraan, einer der letzten Auchenai“, stellte er sich vor. „Wir waren die Priester unseres Volkes und kümmerten uns um die Toten in Auchindoun.“

Danath stellte sich und Talthressar vor und verbeugte sich.

„Ich heiße euer Unternehmen gut, sowohl die Rettung eures Freundes als auch die Vernichtung der Horde“, fuhr Nemuraan fort. „Ich kann euch bei beiden Aufgaben helfen, wenn ihr wollt.“

„Dafür wäre ich dankbar“, antwortete Danath aufrichtig erfreut. Er zeigte dem Auchenai die grobe Karte, die Grizzik gezeichnet hatte. „Das ist alles, was ich von Auchindoun kenne.“

Nemuraan untersuchte die Skizze und lachte bitter. „Hat der da die Karte für euch gezeichnet?“, fragte er und zeigte mit einem schnellen Zucken seines tentakelbewehrten Kinns auf den Arakkoa. Grizzik befand sich, als wollte er Deckung suchen, inmitten der Allianzkrieger.

Danath nickte. „Er streift seit Jahren durch unsere Hallen“, fuhr der Auchenai fort, „aber er weiß wenig, außer, wo sich Gegenstände finden, die er stehlen kann.“

„Ich wollte nichts Böses“, protestierte Grizzik. „Ich nicht wusste, dass noch jemand lebt in Auchindoun. Ich hätte nie genommen etwas, wenn ich geglaubt hätte...“

„Wenn du geglaubt hättest, dabei erwischt zu werden?“, unterbrach ihn Nemuraan. „Seid vorsichtig mit ihm“, warnte er Danath. „Die Arakkoa waren schon immer eine verschlagene Rasse und sind sehr selbstsüchtig.“

„Bislang hat er die Wahrheit gesagt“, antwortete Danath, „und ich glaube ihm, dass er die Horde hasst.“

„Ja!“, bestätigte Grizzik eifrig. Seine dunklen Augen glitzerten. „Ich hasse sie alle! Bitte, bitte! Wir haben gemeinsamen Feind!“

„Das stimmt“, bestätigte Nemuraan nach einem Moment. „Nun gut, Arakkoa, dann machen wir von jetzt an einen Neubeginn.“

Der Auchenai wandte sich wieder Danath zu, nahm das Pergament aus seiner Hand und zog einen kleinen, schwarzen Stift aus seinem Gewand hervor. Mit einigen schnellen Markierungen änderte er ein paar Linien, verband ein paar Tunnel und erweiterte die Karte beträchtlich. „Die Orcs sind hier“, erklärte er und wies auf eine Sektion. „Kommt. Ich werde euch dorthin führen.“

Ohne ein weiteres Wort warf er Danath die Karte zu und wandte sich ab. Dann kletterte er die Stufen hinauf, wobei das Klackern seiner Hufe auf dem Steinboden nachklang.

Danath sah Talthressar und Rellian an, die beide nickten. Er atmete tief ein und folgte dem Draenei nach Auchindoun hinein.

„Hast du hier die ganzen Jahre allein gelebt?“, fragte er Nemuraan leise, als der sie in einen zweiten Gang führte und dann durch eine Reihe sich windender Korridore.

„Es gab noch andere“, erwiderte der Auchinai, der seinen Stab erhoben hatte, um den Weg zu leuchten. „Einige von uns überlebten den Angriff der Horde und flohen in die Tunnel. Andere Draenei, die Schutz vor dem plötzlichen Ansturm der Horde suchten, kamen später dazu. Viele davon starben bei der Explosion, und andere werden seitdem vermisst. Nur eine Handvoll ist noch da.“

Danath sah sich um und fragte sich, wo die anderen wohl sein mochten. Aber vor ihm schüttelte Nemuraan den Kopf.

„Du wirst sie nicht sehen. Obwohl du edel und ehrlich wirkst, wäre es nicht sehr klug, den Rest meines Volkes in Gefahr zu bringen. Sie bleiben versteckt, während ich euch helfe. Damit, falls ihr mich verratet, unsere Rasse weiterbesteht.“

„Eine weise Vorsichtsmaßnahme“, erkannte Danath an. „Ich hätte dasselbe getan.“

Sie gingen noch eine Weile weiter und blieben schließlich vor einer Tür stehen. „Hier beginnt das Schattenlabyrinth“, erklärte Nemuraan. „Hinter dieser Tür befindet sich die Horde.“ Er beobachtete Danath genau, sein Gesicht wirkte düster, aber in seinen Augen leuchtete so etwas wie Anteilnahme oder Freude. „Ich würde euch gern weiterhelfen, wenn ihr gestattet“, bot er leise an. „Obwohl ich euch warnen muss, denn diese Hilfe könnte für einige beunruhigend sein.“

Danath furchte die Stirn und hob dabei eine Augenbraue. „Was meinst du?“

Der Auchenai neigte den Kopf. „Ich bewache die Seelen all derer, die von uns gegangen sind“, erklärte er bescheiden, die Hände umfassten den Stab. „In Zeiten der Not kann ich sie rufen. Ich würde das jetzt tun, sie würden es genießen, diese heiligen Hallen von den Orcs zu befreien.“

Danath war vor allem über den nüchternen Ton, mit dem dieses Angebot unterbreitet wurde, erstaunt. Er wusste, dass die Todesritter der Horde Geister von Orcs waren, die in menschlichen Körpern steckten. Also konnten Geister eindeutig den Tod überleben. Aber er hatte gelernt, dass man die Dahingeschiedenen besser ruhen ließ.

Doch wenn Nemuraan der Beschützer der Toten war... war es sicher in Ordnung, wenn er sie um Hilfe bat – oder nicht? Danath hatte Turalyon einmal gesagt, dass die Geister der gefallenen Männer mit ihm kämpfen würden, wenn sie die Orcs gefunden hatten. Aber das war nur metaphorisch gemeint gewesen. Jetzt sah es so aus, als ob die Geister anderer Gefallener tatsächlich kämpfen würden.

Danath zuckte die Schultern. Diese Überlegungen waren etwas für Menschen mit einem esoterischeren Verständnis der Welt. Vom militärischen Standpunkt aus betrachtet konnte er sicherlich jede Hilfe brauchen.

„Ich bin geehrt“, sagte er, an Nemuraan gewandt. „Und wenn es sie nicht stört oder verärgert, nehmen wir die Hilfe gern an.“

Nemuraan nickte und verneigte sich tief. Er war offensichtlich zufrieden mit Danaths Antwort. Dann straffte er sich und erhob seinen Stab. Violettes Licht strahlte den Gang entlang, erfüllte ihn mit Helligkeit, und die Decke begann zu schimmern. Dieser Schimmer wurde heller, seine Farben veränderten sich von Violett zu Blau, Grün und Gold, als sie niedersanken und größer wurden und... Gestalt annnahmen.

Unmittelbar neben Danath und Nemuraan verwandelte sich eins dieser Lichter in eine feste Form. Eindeutig ein Draenei, der aber kräftiger als Nemuraan gebaut war. Er trug einen geschmückten Plattenpanzer statt eines Gewands, einen riesigen Kriegshammer über der Schulter, und ein langer Mantel wehte hinter ihm her. Andere nahmen ebenfalls Gestalt an und füllten den Raum.

Und sie alle sahen Danath und seine Leute an.

Wind entstand aus dem Nichts, strich durch Danaths Mantel und verwirbelte Talthressars langes Haar. Eine schneidende Kälte erfasste Danath, und er begann unkontrolliert zu zittern. Die Geisterkrieger traten vor, schön und unerbittlich. Danath war vor Schreck wie versteinert. Ihr Anführer streckte die Hand aus und berührte Danaths Stirn. Der Mensch schrie auf, als Bilder in seinem Geist auftauchten. Der junge Farol und Vann bei den Ställen vor dem Aufbruch. Vanns Worte, die abgeschnitten wurden, als ein Orc-Knüppel ihn für immer ruhigstellte. Er selbst über sein Pferd gebeugt, lebend, damit die Toten ihren Frieden fanden. Leichen... so viele, meine Jungs, meine Jungs. Es tut mir leid, so leid...

Das Bild der Horde, stark und bewaffnet, die über fruchtbare Felder rannte. Allerdings handelte es sich nicht um Azeroth. Hunderte Felder, Hunderte Welten, unschuldige Leute starben, als die grüne Flut, die nicht dorthin gehörte, das Leben aus ihnen heraussog.

Dann zog sie auf die nächste Welt weiter und auf die nächste...

„Deine Seele ist betrübt, Danath Trollbann von der Allianz“, sagte der Geist, obwohl sich sein Mund nicht bewegte. Die Worte erklangen in Danaths Geist. „Du trauerst um die Gefallenen. Gleichwohl du mit Trauer und Wut in deinem Herzen hierhergekommen bist, sind die wahren Gründe, die dich antreiben, nobel. Finde Frieden. Ich bin Boulestraan, einst war ich bekannt als das Blendende Licht. Meine Armee und ich helfen dir in deinem Kampf.“

Die kalte Angst verschwand, wurde ersetzt von einer merkwürdigen Art Frieden. Danath blinzelte. Er sah den Geist erneut an und bemerkte, dass dessen Augen aus reinem Gold bestanden und dass goldenes Licht auf seiner Stirn lag.

„Wir stehen in eurer Schuld“, sagte Danath. Es war schwer, die Worte herauszubringen oder den Blick von der Gestalt abzuwenden. Danath fragte sich, ob es ähnlich war, wenn Turalyon vom Ruhm des Heiligen Lichtes sprach. Boulestraan und seine Geisterkrieger wirkten plötzlich nicht mehr erschreckend, sondern erhaben, golden, leuchtend und schön. Danath erkannte, dass er geprüft worden war. Erleichterung überkam ihn, als er sah, wie die toten Draenei schützend vor ihm im Raum schwebten.

Schnell schüttelte er den Kopf, um wieder klar denken zu können. Danath befestigte den Schild an seinem Arm. Er zog sein Schwert und umfasste den mit Leder umwickelten Griff. Dann blickte er zu Talthresar und Rellian.

„Wenn wir da draußen sind, bleibt ihr bei mir“, sagte er. „Wir müssen Kurdran finden.“ Schließlich wandte er sich an die Männer unter seinem Kommando. „Die Orcs sind hinter dieser Tür. Sie wissen nicht, dass wir hier sind. Und sie erwarten sicherlich keinen Angriff vor dem Morgengrauen. Wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Lasst es uns nutzen. Wenn ihr durch diese Tür geht, greift den nächstbesten Orc an. Brüllt und tretet Dinge um, die euch im Weg stehen. Wir wollen sie verwirren, in Panik versetzen. Sie sollen nicht abschätzen können, wie vielen Feinden sie gegenübertreten.“ Er grinste. „Das macht sie zu leichten Zielen.“ Die Männer nickten und erhoben ihre Fäuste zu einem stillen Jubeln.

Danath hob ebenfalls die Faust und hielt die Fackel hoch. Dann wandte er sich wieder der Tür zu und nickte Nemuraan zu, sie zu öffnen.

Der Auchenai drückte die Klinke, dann riss er die Tür mit überraschender Kraft auf. Es ertönte ein dumpfes Schaben von Stein auf Stein, und etwas knackte. In dem engen Raum dröhnte dieses Geräusch wie Donnerhall.

„Für die Söhne Lothars!“, rief Danath, als er durch die Öffnung sprang. Die Tür führte in einen Tunnel mittlerer Größe, nicht weit hinter einer provisorischen Wand. Es waren vielleicht ein Dutzend Orcs anwesend, die herumlagen, schliefen oder Ausrüstung reparierten. Sie sahen erschreckt auf, als er vorwärtsstürmte. Mehrere Orcs kamen auf die Beine und suchten nach ihren Waffen. Aber sie waren zu langsam. Danaths erster Hieb erwischte einen Orc an der Kehle, als der gerade Alarm schlagen wollte. Er wirbelte herum, traf einen weiteren Orc über der Stirn und stach der Kreatur mit dem Schwert ins Herz, als sie den Kopf schüttelte, um die Sicht klar zu bekommen.

Jetzt waren mehrere seiner Männer bei ihm.

Dann kamen die leuchtenden, goldenen Toten herein, unerbittlich und schön, ihre Waffen feinstofflich, aber tödlich. Die Orcs verfielen in Panik, als sie die Toten sahen, und schrien vor Angst. Viele ließen ihre Waffen fallen und warfen sich auf den Boden, wo sie schnell erledigt wurden. Die meisten Orcs waren gar nicht vollständig gerüstet.

„Vorwärts!“, schrie Danath seinen Männern zu, selbst als der letzte Orc fiel. „Vorwärts! Tötet jeden Orc, den ihr seht!“ Er blickte zu Boulestraan. „Schick deine Krieger mit ihnen“, sagte er, und der Kommandeur der Draenei nickte. Seine Geisterkrieger teilten sich bereits auf, um Danaths Männer zu begleiten. „Nemuraan... weise mir den Weg zu dem Gefangenen!“

Der Auchenai nickte und öffnete eine Tür im hinteren Bereich. Dann führte er Danath und zwei elfische Waldläufer durch einen kurzen, schmalen Gang. Grizzik folgte ihnen dichtauf. Sie gingen weiter und gelangten in einen großen Raum am Ende des Korridors. Hier saßen weitere Orcs und schliefen oder aßen. Glücklicherweise hielten beide Waldläufer ihre Bogen bereit, und die Pfeile flogen, von ihren anmutigen Händen abgefeuert, und töteten bereits mehrere Orcs, bevor die auch nur merkten, dass sie nicht mehr allein waren.

Dann war Danath mittendrin. Sein Schwert schlug tiefe Wunden, und die Schreie und das Stöhnen seiner Opfer vermischten sich mit den Geräuschen des Chaos, die er aus den Räumen hinter sich hörte, wo seine Männer dieselbe grausige Arbeit erledigten.

Grizzik war auch nicht untätig. Der Vogelmann vollführte einen merkwürdigen gleitenden Sprung, der ihn geräuschlos hinter mehrere Orcs beförderte. Seine krallenartigen Hände schossen vor und durchtrennten einem Orc die Kehle. Ein zweiter Orc wandte sich um, seine Axt erhoben, aber der Arakkoa duckte sich darunter hinweg und wirbelte herum. Dann pickte er dem Orc die Augen aus, bevor er auch ihm die Kehle zerfetzte. Was immer der Arakkoa auch sein mochte, dachte Danath, der ihn aus den Augenwinkeln wahrnahm, wehrlos war er nicht.

„Hier lang!“, drängelte Nemuraan, nachdem die Verteidiger des Raumes gefallen waren. Er führte sie durch die blutverschmierte Kammer zu einer weiteren Tür. Der Auchenai hatte selbst keinen Orc angegriffen, obwohl seine Präsenz und das ausgestrahlte Licht es ihnen erleichtert hatten, die Orcs zu verwirren und zu erledigen. Die neue Tür führte sie in einen viel kleineren Raum, dessen eine Hälfte ein merkwürdiges Holzgestell mit Querträgern beanspruchte.

Daran festgebunden war eine kleine, muskulöse Gestalt. Überall war vertrocknetes Blut, selbst auf ihrer Haut. Sie hing bewusstlos in den Fesseln, und Danath, ganz der erfahrene Krieger, schaute einen Moment lang erschreckt auf, angesichts der Gräueltaten, die seinem Freund angetan worden waren.

Ein einziger, schwerer Orc lehnte an der Wand. Er trug eine Keule mit Dornen und sollte den Gefangenen bewachen. Der Krieger stieß sich von der Wand ab, als Danath in den Raum stürmte. Überraschung lag auf seinem plumpen Gesicht. Seine Augen weiteten sich noch mehr, als die Elfen zwei Pfeile in seine Brust jagten. Ein dritter Pfeil steckte genau zwischen seinen Augen, und der Orc starb, bevor er etwas sagen konnte.

Danath hackte bereits auf die Fesseln ein, die seinen Freund festhielten. „Kurdran!“, rief er und berührte ihn. „Kurdran!“

Talthressar murmelte etwas in seiner melodischen Sprache, aber auch er war blass, als er Danath half, den Wildhammerzwerg auf den Tisch zu legen. Danath stand immer noch unter Schock. Beide Arme des Zwerges waren auf unnatürliche Weise verdreht, und sein muskelbepackter Körper schien mehr Wunden und Schnitte als Tätowierungen aufzuweisen. Seine Hände und Beine waren gebrochen, als hätte jemand mit einem Knüppel darauf eingedroschen. Das einzige Lebenszeichen war ein schwaches Heben und Senken der Brust. Der Zwerg sah wie ein Stück Fleisch in einer Schlachterei aus. Was hatten die Orcs ihm nur angetan?

„Licht... Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll“, sagte Danath, seine Stimme klang belegt, als er auf den blutigen Körper schaute.

„Ich werde helfen... wenn du es mir erlaubst.“ Danaths Kopf fuhr hoch. Nemuraan trat vor, sein Stab glühte. „Ich bin ein Priester meines Volkes. Ich tue, was ich kann, um ihn zu heilen. Aber ihr solltet wissen... der Geist eures Freundes hängt nur noch schwach am Leben. Ich kann versuchen, ihn zu heilen, oder ich kann ihm den Übergang erleichtern. Wenn ihr ihn lieber sterben...“

„Nein!“, schrie Danath. „Das habe ich zu oft erlebt... bitte. Wenn du ihn heilen kannst, tu es.“

Danath und Talthressar traten zurück, als der Draenei seine Hand ausstreckte. Er legte sie auf Kurdrans Kopf, der mit getrocknetem Blut überzogen war, und hob seinen Stab. Der Draenei schloss die Augen und begann zu beten.

Danath schnappte nach Luft, als Nemuraans Körper zu leuchten begann. Er kannte die Worte nicht, aber sie beruhigten sein Herz. Das Glühen wurde an den Fingerspitzen des Draenei heller, dort, wo sie auf Kurdrans Stirn lagen. Schließlich war das Licht so grell, dass Danath widerstrebend die Augen schließen musste.

Er hatte das schon zuvor erlebt. Das Wesen von einer anderen Welt, dieser Draenei, der so merkwürdig aussah, benutzte das Licht ebenso wie Turalyon.

Ein Grunzen ließ Danath die Augen öffnen. „He, was...?“, murmelte Kurdran, sein Kopf warf sich von einer Seite auf die andere. „Macht doch, ihr grünhäutigen Bestien!“ Er öffnete die Augen und sah auf, als die blaue Gestalt sich über ihn beugte.

„Es ist alles in Ordnung“, versicherte Danath ihm, bevor er kämpfen konnte, und legte dem Zwerg eine Hand auf die Schulter. Nemuraan trat zurück, das Licht um ihn herum wurde blasser, und er lächelte. „Er... Wird er wieder...?“

„Ich habe getan, was ich konnte. Er ist zum größten Teil geheilt. Aber ich konnte nicht alle Narben entfernen, vor allem, wenn es sich um alte Brüche handelte.“

„Wer ist gebrochen?“, knurrte Kurdran. Er setzte sich langsam auf, streckte die Hände und Füße aus und befühlte seinen Körper. „He, ich wusste gar nicht, dass ich so viel Blut in mir hatte.“ Er schaute zu Danath. „Ah, Danath, Kumpel!“, sagte er, als er erkannte, wer da neben ihm stand. Sein breites Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. „Du bist es, wie? Und absolut zur richtigen Zeit! Keine Sorge, diese Bestien haben kein Wort aus mir herausgekriegt. Hast du meinen Hammer mitgebracht?“

„Er sollte sich ausruhen“, ermahnte der Draenei.

„Pah! Ausruhen ist etwas für Tote“, knurrte Kurdran.

„Und manchmal nicht einmal für die“, sagte Talthressar und schaute Nemuraan an.

„Er ist ein Wildhammerzwerg“, sagte Danath, an den Priester gewandt. Das war die beste Erklärung, die er geben konnte. „Ich habe ihn dabei, Kurdran. Hier.“ Der Hammer war bei Sky’ree gewesen, als der Greif zurückgekehrt war. Danath hatte ihn in weiser Voraussicht mit in den Tunnel genommen. Er reichte dem Zwerg die Waffe und musste grinsen, als der den schweren Hammer nahm und ihn schulterte. Allerdings bewegte er sich dabei langsamer und steifer als zuvor.

„Gut.“ Kurdran inspizierte den Hammer schnell, dann nickte er zustimmend. „Nun, wie sieht der Plan aus, Kumpel? Und wer sind deine Freunde?“ Er nickte mit dem Kopf zu Grizzik und Nemuraan. Danath entging die Abscheu im Gesicht des Auchenai nicht, weil er mit dem Arakkoa im selben Atemzug genannt wurde.

„Nemuraan ist ein Auchenai, ein Totenpriester der Draenei“, erklärte Danath schnell. „Er ist einer der letzten Wächter hier. Du verdankst ihm dein Leben. Er hat dich geheilt.“

„Ah“, sagte Kurdran und verstand endlich. „Danke, Kumpel. Die Wildhammerzwerge vergessen so etwas nicht.“ Nemuraan neigte seinen Kopf.

„Und das ist Grizzik, der Arakkoa“, fuhr Danath fort. „Er hasst Orcs und hat uns aus dem Wald hierher geführt. Und der Plan?“ Er hob sein Schwert. „Die Truppen stürmen die Tunnel. Der Rest wird schon bald angreifen und die Orcs ablenken. Und wir werden Ner’zhul finden und seinen Kopf auf einem Spieß zurückbringen.“

„Ah, das ist ein Plan nach meinem Geschmack. Wo ist dieser Orc-Schamane denn?“

Sie sahen beide Nemuraan an, der den Kopf zur Seite neigte. „Der am leichtesten zu verteidigende Raum ist unsere frühere Gebetskammer“, sagte der Auchenai nach einem Moment. „Wahrscheinlich findet ihr ihn dort.“

„Dann auf dahin!“, sagte Danath. Nemuraan nickte. Er führte sie aus dem Raum hinaus und durch einen kurzen Gang zu einer breiten, schweren Steintür, die kunstvoll verziert war.

„Hier“, sagte er ihnen. „Hinter dieser Tür liegt die Gebetskammer.“ Trauer stand in seinem Blick. „Hierher kamen wir, um den Toten unseren Respekt zu zollen und mit ihnen zu reden.“

Rellian probierte die Türklinke aus. „Abgeschlossen“, sagte er.

„Tritt zurück, Kumpel“, drängelte Kurdran, als er den Hammer hob. „Das kann ein wenig splittern.“ Er war immer noch ziemlich unsicher auf den Beinen. Doch Danath schluckte den Protest hinunter. Er würde nicht versuchen, Kurdran aufzuhalten. Der Wildhammerzwerg musste sich selbst davon überzeugen, dass er noch kämpfen konnte. Danath hielt den Atem an, als der Zwerg Aufstellung nahm und dann mit dem Sturmhammer gegen die Tür drosch.

Der Donnerschlag, der dem Aufschlag folgte, warf Danath fast um. Ein lautes Krachen ertönte, und eine Staubwolke stieg auf. Als sie sich gelegt hatte, erkannte Danath, dass der Hieb die Tür zerschmettert hatte. Er konnte einen großen, runden Raum erkennen und zahlreiche Gestalten in dessen Mitte. Mehrere Orcs sahen überrascht auf, aber zwei waren sofort wieder auf den Beinen – ein massiger, einäugiger Orc und sein älter wirkender Klanbruder, auf dessen Gesicht ein Totenkopf prangte. Das musste Ner’zhul sein.

Ihre Blicke trafen sich kurz. Bevor Danath angreifen konnte, sagte Ner’zhul etwas zu dem einäugigen Orc, wandte sich ab und lief durch eine Tür am anderen Ende des Raumes.

„Nein, das tust du nicht!“, brüllte Danath und hetzte hinter Ner’zhul her. Aber der einäugige Orc blockierte ihm den Weg. Eine lange Narbe lief an einer Gesichtshälfte herab, und eine Klappe bedeckte das Auge. Doch das andere schaute Danath furchtlos an.

„Ich bin Kilrogg Totauge“, verkündete er stolz. Er sprach mit breitem Akzent und hämmerte mit der Hand gegen seine Brust, während er gleichzeitig die schwere Kriegsaxt hob. „Ich bin Häuptling des Klans des blutenden Auges. Ich habe viele Menschen getötet. Und du wirst nicht der letzte sein. Ich werde dich nicht vorbeilassen, das... schaffst du nicht.“

Danath beäugte den Feind vorsichtig. Er erkannte an den Strähnen grauen Haars und den Falten im Gesicht, dass Kilrogg älter als er selbst war. Aber sein Körper hatte immer noch viele Muskeln, und er bewegte sich mit der Anmut des geborenen Kriegers. Er schien den Begriff der Ehre zu kennen. Deshalb antwortete Danath ihm entsprechend.

„So sei es“, erwiderte er. Er hob sein Schwert hoch, um seinen Gegner zu grüßen. „Ich bin Danath Trollbann, Kommandeur der Allianzarmee. Ich habe viele Orcs getötet, und du wirst nicht der letzte sein. Und ich werde an dir vorbeikommen!“ Dann griff er an, den Schild vor sich haltend. Das Schwert ließ er bereits niedersausen.

Kilrogg blockte den Schlag mit der Axt ab und schlug Danath damit fast das Schwert aus der Hand, denn dessen Klinge verkantete sich zwischen der Schneide und dem Griff. Danath verlangsamte nicht, und sein Schild krachte ungebremst auf Kilroggs Brust. Der Orc taumelte einen Schritt zurück. Danath nutzte den Vorteil, um sein Schwert freizubekommen und erneut anzugreifen. Dieses Mal zielte er niedriger. Der Schlag erwischte Kilrogg knapp über der Taille, und der Häuptling grunzte, als Blut floss.

Die Wunde ließ ihn aber nicht erlahmen. Kilrogg antwortete mit einem eigenen Angriff. Er schlug mit der Faust vor Danaths Schild und verbeulte das schwere Metall. Danath wankte. Dann wirbelte Kilrogg mit der Axt herum und traf mit einem lässig geführten Schlag direkt unter den Rand von Danaths Schild. Danath musste zurückweichen, damit ihm nicht der Bauch aufgeschlitzt wurde. Die Axt drang durch den Schild, dabei war der Aufprall so hart, dass es Danath beinahe den Arm verdrehte.

Die Blicke der beiden trafen sich. Der Mensch bemerkte seine eigene widerwillige Bewunderung, als Kilrogg nickte. Jeder hielt den anderen für einen würdigen Gegner.

Die Temperatur fiel plötzlich, und Danath grinste. Schreie stiegen von überall im Raum auf. Sie zeugten nicht nur von Schmerz, sondern auch von der Furcht der Orcs vor den neuen Angreifern. Wieder einmal kamen Boulestraans Geistersoldaten den Allianztruppen zu Hilfe. Talthressar und Rellian schossen Pfeil auf Pfeil und trafen Orcs mit wohlplatzierten Schüssen. Kurdran hatte sich derweil auf die Orcs im vorderen Teil des Raumes konzentriert. Der Wildhammerzwerg hielt sie mit einer Hand in Schach und warf seinen Sturmhammer. Sein Kampfgeist war ungebrochen, obwohl die Orcs ihr Bestes gegeben hatten, ihn zu brechen.

Auch Kilrogg bemerkte, dass sich das Blatt wendete. Er brüllte vor Wut und griff an. Allerdings nicht Danath, sondern eine Gruppe von Männern an dessen Seite. Die schwere Axt durchpflügte in rasendem Tempo die Luft, traf, und zwei der Männer fielen um. Blut spritzte überall, als ihre Kameraden zurücksprangen und sich verzweifelt gegen den Anführer der Orcs wehrten. Die Geister der Draenei näherten sich ihm. Aber Kilrogg wich ihren Angriffen aus. Stattdessen konzentrierte er sich auf die Menschen. So schnell Danaths Männer auch die Orcs erledigten, so schnell riss Kilrogg Schneisen in ihre Reihen.

Plötzlich taumelte Danath. Ein dröhnendes Geräusch pochte in seinem Kopf. Er sah sich um, konnte aber nichts entdecken. Dann erkannte er, dass es von der Tür herkam, durch die Ner’zhul kurz zuvor geflohen war. Unter der Tür glühte es. Die Geräusche waren Gesang, wie Danath nun erkannte. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Danath wusste, dass hier irgendeine Magie gewirkt wurde.

Beim Licht, öffnete Ner’zhul das Portal etwa direkt hier?

„Wir müssen an ihnen vorbei!“, rief er seinen Männern zu. „In den nächsten Raum! Schnell!“

Doch Kilrogg verstellte immer noch den Weg. Der Häuptling war jetzt so gut wie allein. All seine Krieger waren von den Elfen, Zwergen, Menschen und Draenei niedergemacht worden. Aber er zeigte keine Anzeichen einer Niederlage. Danath vermutete, dass der große Orc bereit war, sich selbst zu opfern, um Ner’zhul die notwendige Zeit für seinen Zauber zu verschaffen.

Eine Stimme rief plötzlich etwas vom anderen Ende der Tür her. Danath konnte die gutturale Sprache nicht verstehen, doch das musste er auch gar nicht.

Was immer Ner’zhul hatte tun wollen, war bereits geschehen.

Ein berstendes Geräusch erklang plötzlich, und das Glühen unter der Tür verstärkte sich. Auf einmal war der Raum mit Licht und Geräuschen erfüllt. Doch beides schwand schnell. Der Raum wirkte nun dunkler als zuvor.

Kurdran schaffte es an dem stämmigen Orc vorbei. Keuchend schlug er gegen die nunmehr geschwärzte Tür. Sie zersplitterte mit lautem Krachen, und der Anführer der Wildhammerzwerge trat die Reste beiseite. In dem kleinen Raum befand sich auf dem Steinboden ein mit Runen versehener Kreis. Ansonsten war er leer.

Kilrogg sah auch zur Tür und grinste. „Du bist an mir vorbeigekommen... das gestehe ich dir zu. Gut gekämpft, Mensch. Doch am Ende hast du versagt. Mein Meister ist fort zum Schwarzen Tempel, wo er seinen Zauber wirken wird. Du kannst ihn nicht mehr aufhalten, und Welten ohne Ende werden unter dem unaufhaltsamen Marsch der Horde erbeben.“

„Beim Licht, zumindest du wirst ihm nicht folgen!“ Danath griff erneut an, Wut durchströmte ihn. Er schlug immer wieder zu. Doch jede Attacke wurde von dem gerissenen alten Krieger abgewehrt. Kilrogg schob Danaths Schild beiseite und schlug mit der Axt das Schwert des Allianzstreiters weg, bevor es seinen Bauch treffen konnte. Dann grinste er Danath an und zeigte seine langen Hauer, die aus seinem Unterkiefer ragten.

„Da musst du dich aber schon mehr anstrengen, Mensch“, neckte ihn der Orc. Er nahm die Axt in beide Hände, schlug erneut nach Danaths Gesicht und zog die Axt dann wieder zurück. So zwang er Danath, entweder zurückzuweichen oder den Kopf zu verlieren.

Beim nächsten Schlag duckte sich Danath und riss seinen Schild hoch. Er krachte in Kilroggs Arme und drückte sie ebenfalls nach oben, was den Orc aus dem Gleichgewicht brachte. Dann stieß Danath vor, sein Schwert erwischte den Orc am Bauch und versank tief darin. Er war fast überrascht, dass er es geschafft hatte.

Schreiend drückte Kilrogg seine Unterarme nach unten, wodurch der Schild auf Danaths Kopf krachte. Der taumelte zurück. Der Orc blutete stark, aber das schien ihn nur noch wütender zu machen. Er hob seine Axt erneut und traf Danaths Schild. Die Klinge steckte tief in dem schützenden Metall. Er sprang zurück, der Lederriemen des Schildes riss, und Danath war plötzlich ohne Verteidigung.

„Jetzt treten wir uns Klinge gegen Klinge gegenüber“, sagte Kilrogg, zog den Schild von der Axt und schleuderte ihn beiseite. „Und nur einer wird überleben und das Lied des Siegers singen.“

„Mir soll es recht sein“, murmelte Danath durch zusammengebissene Zähne. Er nahm das Schwert in beide Hände und stürmte mit hoch erhobener Waffe auf Kilrogg zu. Aber gerade als der Orc-Häuptling vorschnellte, blieb Danath stehen und nutzte das Bewegungsmoment, um sich um die eigene Achse zu drehen. Dann wechselte das Schwert von der einen in die andere Hand. Dadurch erwischte der Angriff Kilrogg nun von seiner blinden Seite.

Die blitzende Klinge überraschte den Orc, traf ihn am Hals und schnitt durch seine Kehle. Kilrogg stolperte, die Axt glitt ihm aus der Hand. Er presste die Finger auf die Wunde, um den Blutfluss zu stoppen. Aber der Häuptling vom Klan des blutenden Auges lachte, als er auf die Knie ging.

„Bei meinem Blut... die Horde... lebt“, keuchte er, seine Stimme wurde zu einem Flüstern. „Ihr Ahnen... ich komme...“ Dann verdrehten sich seine Augen, und Kilrogg Totauge fiel auf den Steinboden des Gebetsraums. Danath keuchte, erhob jedoch das Schwert als Ehrenbezeugung für den gefallenen Feind.

„Gut gemacht, Kumpel“, sagte Kurdran, trat neben Danath und schlug ihm auf die Schulter.

Aber Danath schüttelte den Kopf. „Ich habe versagt“, sagte er bitter und schaute auf Kilroggs Leichnam. „Er hatte recht. Er hat getan, was er sollte... er hat ihnen genug Zeit zur Flucht verschafft.“ Danath schaute finster und fletschte die Zähne. „Welchen Zauber sie auch immer gewirkt haben mögen, er hat sie zu einem Ort namens Schwarzer Tempel geführt! Wie können wir sie nur aufhalten? Ich weiß nicht einmal, wo das ist.“

Der Arakkoa wandte sich ihm mit glänzenden Augen zu. „Grizzik weiß! Kann euch hinbringen!“

„Du weißt, wo...?“

„Herr Kommandant!“ Einer von Danaths Männern stürmte in den Raum. Nemuraan folgte ihm zusammen mit den schwebenden Gestalten der toten Draenei. „Die Orcs sind auf der Flucht! Einige sind tiefer in die Tunnel geflohen!“ Er wartete offensichtlich auf eine Antwort und schien irritiert, als Danath nichts sagte. „Herr Kommandant?“

Kurdran stieß Danath an. „Du bist der Anführer, Kumpel“, erinnerte ihn der Wildhammerzwerg leise. „Selbst wenn du glaubst, dass du versagt hast, musst du das nicht die Truppen spüren lassen, oder?“

Er hatte natürlich recht. Danath nickte und straffte sich. Dann sah er den Soldaten an. „Lasst die Orcs fliehen“, sagte er. „Wir wissen, wohin Ner’zhul verschwunden ist, und wir werden ihm folgen. Wir reiten zu einem Ort, der der Schwarze Tempel genannt wird.“

„Der Schwarze Tempel?“

Danath bemerkte die Wut, die in der Stimme von Boulestraan schwang. Der Geist blickte finster. „Dieser Ort hieß einst Karabor und war unsere heiligste Stätte. Aber die Orcs beschmutzten ihn, wie sie alles beschmutzen, was sie berühren.“ Seine Hände umfassten seinen Hammer fester, der immer noch völlig sauber war, trotz der ganzen Orcs, die er damit erschlagen hatte. „Ich bete darum, dass ihr die Orcs von dem heiligen Boden vertreibt.“

Danath nickte. „Das ist der Plan. Danke für deine Hilfe. Es war mir eine Ehre, mit dir zusammen zu kämpfen.“

„Das war es auch für uns“, antwortete Boulestraan und verneigte sich. „Du und deine Allianz, ihr seid edle Krieger und ehrbare Menschen. Ich wünsche dir Erfolg, Danath Trollbann. Wir werden wieder ruhen, bis man uns erneut ruft.“ Dann verschwanden er und seine Krieger. Zurück blieb nur ein schwaches Leuchten, und auch das verlosch schnell.

Danath wandte sich an Nemuraan. Impulsiv sagte er: „Komm mit uns. Das hier ist kein Ort zum Leben, und du kannst deinem Volk besser dienen, wenn du in die Welt zurückkehrst. Wir nehmen dich sogar nach Azeroth mit, wenn du willst.“

Nemuraan lächelte. „Deine Welt muss wirklich ein wundersamer Ort sein, wenn von dort solche Menschen wie du kommen“, sagte er, „und ich bedanke mich für das Angebot. Aber mein Platz ist hier. Unsere Toten bleiben auf dieser Welt, sie ruhen hier in Auchindoun oder liegen verteilt in den Wäldern. Manche bilden sogar das Material für den Weg, den die Orcs fälschlicherweise ,Pfad des Ruhms’ nennen. Sie befinden sich hier auf Draenor, und hier kümmere ich mich um sie. Das Heilige Licht hat uns aus einem Grund hierher geschickt, und eines Tages wird es triumphieren. Bis dahin erfreue ich mich an der Gewissheit, dass ich euch geholfen habe und dass du und deine Leute auch das Licht in euch tragt. Schreite voran und treibe durch deinen Mut und deine Stärke die Orcs wie Spreu vor dem Sturm her. Und wer weiß, vielleicht bekämpfen unsere beiden Völker solche Übel ja eines Tages einmal gemeinsam.“ Er zögerte. „Um eines möchte ich dich vor dem Abschied noch bitten.“

Danath nickte. „Worum geht es?“

„Lass nicht vergehen, was das Licht geschaffen hat. Er ist ein edler und wilder Kämpfer, aber Weisheit zeichnet den wahren Krieger mehr aus als Tapferkeit.“ Er wies auf Kurdran, der finster schaute und errötete. Trotz seiner Besorgnis brachte Danath ein Lächeln zustande.

„Ich tue, was ich kann. Aber du weißt ja, wie dickköpfig er ist.“

„Pah, was ihr immer habt!“

„Komm schon, du wandelnde Wunde“, sagte Danath zu Kurdran. „Wir müssen den Schwarzen Tempel einnehmen.“ Mit einem letzten Nicken in Richtung des Auchenai kehrte Danath Trollbann zurück in die Gänge der Totenstadt. Er hoffte, dass Nemuraans Gebete für die Allianz Gehör finden würden.

22

„Keine Angst, wir sind noch auf der richtigen Fährte“, fühlte sich Khadgar bemüßigt zu sagen, als die Gruppe rastete, um etwas von dem herrlichen Wasser zu trinken. Seine Leute brauchten ein wenig Zuspruch.

Sie waren von der Orc-Zitadelle aus nach Norden geritten und hatten die raue Küste im Osten passiert. Der Boden sah immer noch aus wie in der Nähe des Portals, obwohl die Dürre hier nicht ganz so schlimm war. Aufgeplatzte Erdkruste, grauer Sand, vertrocknete Pflanzen und Bäume. Hier und da waren sie an grünen Flecken vorbeigekommen. Aber der größte Teil von Draenor war unwirtlich und verlassen.

Jetzt war der Boden unebener geworden, seine Vertiefungen und Erhöhungen traten deutlicher zutage, und der Wind peitschte von allen Seiten. So eine Bergkette hatte Khadgar noch nie gesehen. Steinerne Stacheln standen von den Steilwänden ab, und zwar in jede Richtung, als dürsteten die Spitzen nach Blut. Der Fels war auch von stumpfem Rotbraun, und am Himmel prangte Purpur. Es war einer der schaurigsten Orte, den er je betreten hatte, und er vermutete, dass die Schauder, die ihn durchliefen, ebenso darauf zurückzuführen waren wie auf den scharfen Wind, der zwischen den Spitzen pfiff.

Gedankenverloren wollte Khadgar eine der Spitzen in seiner Reichweite berühren, hielt aber inne, bevor er sie tatsächlich anfasste. Wahrscheinlich sollte man das Schicksal nicht leichtfertig herausfordern. „Der Schädel ist nicht mehr weit“, sagte er wieder.

„Bist du dir sicher?“, fragte Turalyon.

„Oh, vertrau mir, ich bin mir sicher.“ Er konnte die Präsenz des Schädels mittlerweile klar spüren. Es war ein dumpfes Pulsieren, genau hinter den Augen, das fast schon sichtbar wurde, wenn er sie zusammenkniff. Auf jeden Fall war Gul’dans Totenkopf nah.

„Gut“, antwortete Turalyon, verstaute seinen Hammer und beobachtete die Spitzen. „Ich habe genug von diesem Ort.“

„Ich glaube, wir...“, begann Khadgar.

Doch Alleria hob eine Hand und bat um Ruhe. „Hört nur!“

Khadgar strengte sich an, aber seine Ohren waren nicht so gut wie die der Elfe. Momente verstrichen. Doch alles, was er hörte, war der Wind.

Doch plötzlich war da noch etwas. Ein flatterndes Geräusch wie von Flügeln – nur irgendwie anders. Die einzige Kreatur, die er kannte, die solch ein Geräusch beim Fliegen machte, war...

„Drachen!“, rief er, packte Turalyon und zog seinen Freund, als er sich auf den Boden warf, mit nach unten. Genau hinter sich hörte er ein wütendes Brüllen und ein Zischen. Unglaublicher Schmerz durchdrang seinen Arm, und als er Atem holte, hörte er ein weiteres Zischen. Er hatte ein qualmendes Loch in seinem Ärmel und eine schlimm aussehende Verbrennung auf dem Arm. Etwas zerfraß auch die Steine unter ihnen.

Magma! Krasus hatte erzählt, dass schwarze Drachen Magma spien.

Khadgar sah mehrere kleine, schwarze Gestalten, die durch die Spitzen flogen und dann aufstiegen.

„Schilde hoch!“, rief Turalyon und sprang auf. „Und haltet die Waffen bereit! Das sind keine ausgewachsenen Drachen. Die können wir schlagen!“

Turalyon hatte recht. Die angreifenden Kreaturen waren nicht größer als Pferde, keine zwei Meter lang, aber mit einer deutlich breiteren Flügelspannweite. Sie hatten kleine Köpfe und nur wenige Stacheln auf dem Rücken. Khadgar erkannte, dass sie noch nicht ausgewachsen waren. Krasus hatte sie als kleine Drachen bezeichnet. Ja, kleine Drachen.

„Kleine Drachen... junge Drachen“, ermahnte er Turalyon und hob seinen Stab, als sich die schwarzen Drachen zu einem zweiten Angriff sammelten. Er war jetzt wieder in seinem Element und verhielt sich wie ein Anführer.

„Bogenschützen, Feuer frei!“, rief er. Neben ihm feuerte Alleria Pfeile auf die kleinen, wendigen Wesen ab. Ein Treffer erwischte einen Drachen direkt in der Kehle. Die Kraft ihres Schusses trieb den Pfeil durch die dünneren Schuppen, und der junge Drache bäumte sich vor Schmerz auf. Ein zweiter Pfeil durchbohrte sein Auge und Hirn. Die Echse fiel tot zu Boden.

Das beflügelte die Soldaten. Sie kämpften begeistert, schlugen nach den jungen Drachen und duckten sich, um den kleinen, aber scharfen Klauen und den faustgroßen Lavabrocken auszuweichen, die sie ausspien. Die Jungdrachen schossen an ihnen vorbei, wendeten und kamen zurück. Es waren jetzt weniger. Mehrere lagen tot zwischen den Spitzen.

Turalyon wollte etwas zu Khadgar sagen, doch er stolperte und fing sich gerade noch ab, um nicht auf der nächsten Ansammlung von Felsspitzen aufgespießt zu werden. Jeder wankte und versuchte das Gleichgewicht zu halten, als der Boden unter ihnen bebte.

„Was, im Namen des Lichts...?“, keuchte Turalyon, dann sah er zu Khadgar hinüber.

Khadgar schaute sich um und war besorgt, weil er nichts sah. Aber viel schlimmer war, dass er nicht wusste, was vorging.

Dann fiel er vor Schreck fast um.

Die Kreatur, die durch die Steinspitzen walzte, war selbst im Vergleich zu einem Oger gewaltig. Sie war mindestens doppelt so groß, hatte dicke Haut, die rau wie Stein war, und war an Armen und Schultern tätowiert. Eine Menge dunkler Stacheln verliefen wie ein Miniaturgebirge über ihren Rücken; weitere Stacheln standen von ihren Schultern und den Oberarmen ab.

Aber das Gesicht... das Gesicht war vielleicht das Schrecklichste daran. Es erinnerte an einen Oger, war jedoch viel intelligenter. Die Kreatur hatte keine Hauer, aber die Zähne waren lang, scharf und gelblich, die Ohren spitz und büschelig. Und ihr eines Auge leuchtete und starrte sie an.

„Eindringlinge!“, rief der Riese, die Kraft seines Schreis ließ die Steine um ihn herum bersten. „Zermalmt sie!“

Weitere Gestalten erschienen von Westen und Osten aus dem Steindickicht – allesamt Oger jenes Typs und jener Größe, wie Khadgar sie normalerweise kannte. Sie knurrten und lachten, als sie sich auf die Soldaten der Allianz zubewegten.

„Wartet!“, rief Khadgar. Zu seiner Erleichterung blieben die Kreaturen tatsächlich stehen. Dem Licht sei Dank hatte er die Möglichkeit, wenigstens mit ihnen zu reden. „Wir wollen euch nichts tun!“

„Nichts tun? Ihr lebt, das ist Bedrohung genug!“ Die Kreatur brüllte und kam weiter näher.

„Was auch immer du ihm gesagt hast, es scheint nicht zu funktionieren“, murmelte Turalyon. „Und verdammt, da kommen wieder die Drachen.“

Khadgar hätte nie gedacht, dass er sich einmal über den Anblick eines Drachen freuen würde. Aber als sie zurückkehrten, um erneut anzugreifen, wollte er ihnen danken.

Die Oger und ihr Meister waren abgelenkt, als die Drachen Magma auf beide Gruppen spien und die riesigen Wesen sich der Bedrohung von oben zuwandten. Die Oger schwangen große, kegelförmige Knüppel. Khadgar bemerkte, dass es sich dabei einfach um abgebrochene Spitzen aus den Bergen handelte.

Der Magier erkannte eine Chance, wenn er sie sah. „Die Drachen!“, rief er. „Greift die Drachen an!“

Alleria starrte ihn einen Moment lang an, und Khadgar wusste, was sie dachte. Dies war der perfekte Zeitpunkt zur Flucht. Sollten die Drachen doch die Oger und ihren merkwürdigen Anführer angreifen.

Turalyon grinste und nickte, er hatte es verstanden. Jetzt konzentrierten sich die Allianzstreitkräfte auch auf die fliegenden Reptilien und griffen sie mit Pfeilen und Schwertern an. Doch ihre Erfolge waren nichts verglichen mit dem, was die Oger erreichten. Die schlugen die Drachen einfach aus dem Himmel und trampelten darauf herum.

Ihr übergroßer Anführer wütete ebenfalls unter den Drachen. Aber er begnügte sich nicht mit einem Knüppel. Stattdessen griff er einfach zu und fing einen angreifenden schwarzen Drachen genauso leicht, wie Khadgar einen Apfel, den ein Freund ihm zuwarf, gefangen hätte. Das riesige Wesen hielt den Drachen in einer Hand. Daumen und Zeigefinger pressten die Flügel der jungen Echse zusammen, die sich verzweifelt wehrte. Dann führte die Bestie den Drachen zum Maul und verschlang den gepanzerten Körper auf einen Happen. Sie kaute ein paarmal, um den Rest der Flügel in das höhlengroße Maul zu bekommen, dann schluckte sie.

„Das war...“, begann Turalyon, aber er fand nicht die richtigen Worte. Er senkte das Schwert, hob sein Visier und war sich dessen kaum bewusst. „Du... diese...“

Die Kreatur sah ihn an. „Drachen kamen. Ihr hättet weglaufen können. Ihr aber nicht getan. Ihr geblieben und gekämpft. Uns geholfen.“

In der tiefen Stimme lag ein wenig Erstaunen. Khadgar verstand es nur zu gut. Er war bereit, darauf zu wetten, dass nur wenige Freiwillige ihr Leben riskiert hätten, um den Ogern zu helfen. Sein Herz schöpfte Hoffnung. Alles lief exakt so wie erhofft.

„Nein, wir sind nicht weggelaufen. Wir sind nicht eure Feinde. Wir wollen nur...“

Khadgar hatte gerade Luft geholt, um die Verhandlungen fortzusetzen, als der Boden erneut zu beben begann. Die Kreatur schaute in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie krümmte sich, warf die Arme schützend vor ihre breite Brust, und ein merkwürdiges Geräusch drang aus ihrem großen Maul, halb knurrend, halb wimmernd. Khadgar hätte schwören können, dass diese Bestie, die gerade einen Drachen verschluckt hatte, ängstlich wirkte.

Er schauderte, als er überlegte, was wohl so einem Wesen Angst einflößen mochte.

Die Frage wurde ein paar Minuten später beantwortet, als ein zweites riesiges Biest aus den Bergen kam. Diese Kreatur war noch größer als die erste. Sie hatte auch mehr Steinstacheln auf dem Rücken und den Armen. Ihre Haut war roter, das eine Auge so blass, dass es fast weiß wirkte, und die Zähne waren länger und schärfer.

Das weiße Auge verriet große Intelligenz, und sein Blick lag auf Khadgar, Turalyon und den anderen Menschen. „Wer seid?“, wollte es wissen. „Und warum ihr immer noch lebt?“

„Wir sind nur auf der Durchreise“, stammelte Khadgar. Die Augen des großen Wesens zogen sich skeptisch zusammen. „Wir sind nicht eure Feinde. Lass uns einfach gehen, und wir...“

„Nein.“ Die Endgültigkeit dieses einzigen Wortes war ernüchternd. „Wenn ihr geht, dann ihr reden. Reden von Gronn. Reden von Gruul.“ Der Riese schlug sich vor die Brust. „Horde kommt. Nein, besser ihr sterbt. Gronn bleiben sicher.“

Turalyon sah zur ersten Kreatur, mit der er geredet hatte. Er hoffte auf Hilfe, aber Khadgar wusste, dass er sie nicht bekommen würde. Das große Wesen hatte sich seit dem Rüffel zurückgezogen und wirkte wie ein gemaßregeltes Kind. Und das, so erkannte er, war es ja auch. Die zweite Kreatur war sein Vater, und das hier war sein Sprössling.

Der Gedanke ließ Khadgar erschaudern.

„Wir halten es geheim! Wir halfen... den Gronn gegen die Drachen! Der hier kann das bestätigen...“

Der Riese, der sich Gruul genannt hatte, schaute finster und blickte sich um. Offensichtlich sah er erst jetzt die Kadaver der Drachen, die überall herumlagen. „Ihr Drachentöter?“

„Ja“, antwortete Khadgar verzweifelt.

Aber Gruul ließ sich nicht so leicht austricksen. Er warf seinen riesigen Kopf zurück, sein reißzahnbewehrtes Maul stand offen... und dann lachte er. Das tiefe Röhren erschütterte die Wände um sie herum und ließ mehrere Spitzen zu Boden krachen.

„Tötet Baby-Drachen vielleicht“, sagte der Riese immer noch grinsend. „Wir tun das. Brauchen keine Hilfe. Jetzt ihr sterbt.“

„Warte!“, rief Khadgar. „Wobei brauchst du denn Hilfe?“ Sie konnten vielleicht weitere junge Drachen töten, wenn es denn sein musste.

Gruul ernüchterte sie sofort. „Ihr zu schwach. Ihr nicht helfen könnt.“

„Vielleicht können wir. Frag doch.“

Gruul war still, dann aber sagte er mit düsterer Stimme: „Pechschwingen Großvater.“

Es dauerte einen Moment, bis Khadgar herausgefunden hatte, wen Gruul meinte. Seine Augen weiteten sich, er platzte heraus: „Todesschwinge? Du willst, dass wir Todesschwinge töten?“

„Was?“, rief Turalyon. „Todesschwinge ist hier?“

„Und er will, dass wir ihn töten?“, stimmte Alleria mit ein.

Khadgar war ebenso geschockt wie sie. Sie wussten, dass sich die schwarzen Drachen mit der Horde verbündet hatten, und sie hatten gesehen, wie mehrere der Echsen durch das Portal nach Draenor gekommen waren. Aber er hatte angenommen, dass nur niederrangige Exemplare nach Draenor geflogen waren, nicht der Patriarch persönlich... der „Große und Schreckliche“ selbst!

„Er hat ein paar schwarze Drachen als Wachen bei den Orcs der Zitadelle zurückgelassen“, murmelte Turalyon. „Aber der Rest ist hier oben in den Bergen.“

Khadgar nickte, dann bemerkte er, dass Gruul ihn immer noch erwartungsvoll ansah.

Er atmete tief durch und richtete sich zur vollen Größe auf. „Ja. Natürlich. Mach dir keine Sorgen... wir kümmern uns um Todesschwinge“, verkündete er dem Gronn mit gespielter Überzeugung. „Er stellt für uns kein Problem dar.“ Er gab sein Bestes, um das entsetzte Schweigen seiner Freunde zu ignorieren, und betete darum, dass Gruul nicht den Schweiß sah, der ihm von der Stirn lief. Oder, wenn doch, dass er dessen wahre Bedeutung nicht verstand.

Gruul nickte und verzog sein Maul zu einem grotesken Lächeln. „Gut“, sagte er. „Dumm, aber tapfer! Gruul-ähnlich.“ Er sah auf sie hinab. „Dann beweist es.“ Er wies mit seiner riesigen Hand auf einen nahe gelegenen Gipfel. „Todesschwinge“, erklärte der Gronn. „Töten. Helft Gronn, die Pest der Berge loszuwerden. Dann... ihr dürft vorbei.“ Sein Lächeln wandelte sich zu einem düsteren Ausdruck. Er bleckte seine Reißzähne. „Erzählt niemandem!“

Khadgar nickte. „Einverstanden.“ Er hoffte, dass seine Stimme in Gruuls Ohren nicht so zittrig klang wie in seinen eigenen.

Gruul wandte sich ab und ging in Richtung des Gipfels, wo Todesschwinge hauste. Der riesige Gronn suchte sich keinen Weg, er schuf einfach einen. Seine schweren Füße zerschmetterten Steine und hinterließen einen breiten Pfad zwischen den Steinspitzen. Der kleinere Gronn eilte seinem Vater hinterher. Auch die Oger, die Khadgar jetzt sehr schmächtig vorkamen, obwohl sie immer noch doppelt so groß waren wie er, folgten ihren beiden Anführern.

Ihm kam ein Gedanke. Todesschwinge war hier... und der Schädel befand sich in seiner Nähe... Er überlegte eine Sekunde, schloss die Augen und lächelte dann.

„Was machst du da?“, flüsterte Alleria ihm zu. Turalyon passte sein Tempo dem ihren an. „Wir suchen Gul’dans Schädel und nicht Todesschwinge. Hast du auch nur den Hauch einer Vorstellung davon, wozu dieser Drache fähig ist?“

„Selbstverständlich“, antwortete Khadgar. „Aber der Drache besitzt den Schädel.“

„Was?“, rief Turalyon.

„Der Schädel befindet sich in derselben Richtung wie Todesschwinge auch. Wir kommen sowieso nicht drum herum, ihn zu bekämpfen.“

„Na wunderbar. Jetzt müssen wir nur Todesschwinge besiegen, um den Schädel zurückzubekommen!“ Alleria schauderte. „Da trete ich doch lieber jeden Tag gegen die Horde an!“

Innerlich stimmte Khadgar ihr zu, aber er sah keine andere Möglichkeit. Sie brauchten den Schädel, und Todesschwinge hatte ihn. Er war tief in Gedanken versunken und ging im Geiste seine Zauber durch, als Turalyon ihn am Arm fasste und in eine Richtung wies.

„Schau doch“, sagte er mit leiser Stimme.

Die Gruppe hatte ein tiefes Tal erreicht, das zu dem fraglichen Gipfel hinaufführte.

Eier – überall lagen Eier. Der ganze Boden war damit bedeckt. Sie waren gut fünfundzwanzig Zentimeter lang und leuchteten rot aus dem Inneren heraus. Dadurch erkannte man leicht die dunklen Adern, die die Schale durchzogen. Kleine, zusammengekrümmte Gestalten lagen darin.

„Das war also in den Wagen, die Alleria gesehen hat“, flüsterte Turalyon. „Kein Wunder, dass die Drachen sie bewachten! Todesschwinge brachte die Eier hier nach Draenor. Wenn der Nachwuchs schlüpft, werden diese Drachen die Welt überrennen!“

„Dann sorgen wir am besten dafür, dass sie nicht schlüpfen“, konterte Alleria, hob ihren Bogen und legte einen Pfeil auf.

Khadgar legte seine Hand an ihren linken Arm. „Nimm dir zuerst diese Ziele vor.“

Die anderen folgten seinem Blick und fluchten leise, als sie die dunklen Umrisse erkannten, die sich von der anderen Talseite näherten.

Glücklicherweise beschützte keiner der großen Drachen die Eier. Gruul schlug das erste junge Reptil zur Seite. Der kleine Drache prallte so fest gegen die Talwand, dass sich Steine lösten. Sein Körper stürzte zu Boden und blieb dort zerschmettert liegen.

Den nächsten Angreifer traf einer von Allerias Pfeilen ins rechte Auge. Und Khadgar ließ einen dritten mit einem Zauber zu Eis gefrieren. Doch die drei waren nur die Vorhut gewesen. Wilde Schreie ertönten von überall aus dem Tal, und plötzlich stürzten weitere dunkle Gestalten heran.

Die Oger gingen extrem brutal vor. Obwohl sie kleiner als der Gronn waren, konnten sie immer noch einen Jungdrachen niederringen und ihm den langen Hals brechen oder den Kopf zerschmettern. Viele waren Zauberer und feuerten Blitze aus arkaner Magie, die die Drachenflügel durchschlugen.

Zahlenmäßig waren ihnen die jungen Drachen überlegen. Doch die Oger bekamen Hilfe von den beiden Gronn und der Allianz. Turalyons Männer nutzten die Schilde als Schutz vor den Zähnen und Klauen der Drachen. So griffen sie die Tiere an den Flügeln an. Obwohl die so hart wie Leder waren, waren sie doch ihre Schwachstellen. Wenn ein Flügel erst gerissen war, fiel die Kreatur zu Boden, wo sie den größten Teil ihrer Wendigkeit einbüßte.

Die Oger eigneten sich diese Taktik schnell an und begannen, die Schwingen am Stück abzureißen. Dann zertrampelten sie die Kreaturen unter ihren massigen Füßen.

Diese Kampftechnik erinnerte Khadgar an grausame Kinder, die Schmetterlingen die Flügel ausrissen.

Angewidert murmelte Turalyon: „Bist du dir sicher, dass wir den richtigen Feind bekämpfen?“

Khadgar musste zugeben, dass dieses Vorgehen brutal war, fast schon grausam. Aber es war auch hocheffektiv.

Gruul und der andere Gronn hatten dicke Spitzen von den Klippen hinter dem Tal abgebrochen. Mit diesen Knüppeln konnten sie genügend Wind erzeugen, um die jungen Drachen zu behindern. So wurden sie zu leichteren Zielen für die Oger und die Menschen. Jeder Drache, der in Reichweite der Knüppel kam, wurde augenblicklich zerschmettert. Der Talboden war bald schon mit toten Echsen bedeckt.

„Die Eier als Nächstes“, sagte Khadgar zu Turalyon. Aber der Paladin zögerte. Er schaute zu einem Ei, bewegte sich aber nicht. Khadgar furchte die Stirn. „Was ist los?“, fragte er.

„Ich... Drachen sind fühlende Wesen. Sie denken, haben Emotionen. Es ist eine Sache, die Drachen zu bekämpfen, aber... das hier sind Kinder. Ungeborene. Sie können sich nicht wehren. Und wir schlachten sie ab.“

„Turalyon“, sagte Alleria. „Licht, ich liebe dich, nicht zuletzt wegen deines großen Herzens. Aber das hier sind schwarze Drachen. Du weißt, was geschieht, wenn wir sie jetzt nicht töten.“

Turalyon nickte grimmig und traf wieder eine dieser schwierigen Entscheidungen, die jeder General in der Schlacht treffen musste.

„Zerstört die Eier!“, rief er und zerschlug das erste mit dem eigenen Hammer. Die dicke Schale zersplitterte krachend, gefolgt von einem leiseren Geräusch, als der Hammer auf das Drachenembryo traf. Es war so groß wie ein mittelgroßer Hund, hatte rote Haut und Wulstgrate, wo später der Kopf und die Flügel entstehen würden. Es wehrte sich nicht, als es angegriffen wurde. Stattdessen zuckte es nur leicht. Eine hellrote Flüssigkeit lief aus dem zerbrochenen Ei, als die Schale zerbrach und das Junge darin auf den Boden fiel. Bald schon bewegte es sich nicht mehr.

Der Rest der Allianzkrieger machte schnell weiter. Gerade als Turalyon das letzte Ei zerschlug und die Oger die letzten Drachen zerteilten, hörte Khadgar einen lauten Schrei von der Bergspitze herunterschallen – dem Ort, wo er den Schädel zuletzt gespürt hatte.

Er sah auf und bemerkte einen weiteren Schatten, der sich in die Luft erhob. Seine Flügel verdunkelten das ganze Tal. Gegen ihn wirkte selbst Gruul wie ein Zwerg. Der Gronn presste sich gegen die Talwand, knurrte und richtete sich auf. Seine Oger und der kleinere Gronn waren nicht aus seinem Holz geschnitzt. Sie schrien und flohen in Panik. Die Gestalt stürzte herab, das Sonnenlicht glitzerte auf ihrer Haut, ihr langer Hals richtete sich auf. Das Maul war weit aufgerissen. Heiß strömte es aus ihrer Kehle, ein Strom glühender Magma, die Oger, Menschen, tote Drachen und zerschmetterte Eier augenblicklich in Asche verwandelte.

„Rückzug“, rief Turalyon seinen Männern zu, die bereits davonliefen. „Zurück zur Talwand!“

Dort sammelten sie sich. Khadgar, Turalyon und Alleria standen an vorderster Front. Khadgar schluckte. Der Magier hatte gewusst, dass die Kreatur riesig war, aber das hier... Todesschwinge war unglaublich groß. Die anderen Drachen erschienen dagegen wie Kinder.

Khadgar konnte es kaum glauben. Aber eine Sache machte ihn neugierig. Der Vater der schwarzen Drachen hatte silberne Platten auf dem Rücken, glitzerndes Metall lief sein Rückgrat hinunter. Unterhalb dieser Platten glühte es rot wie die Magma, mit der Todesschwinge sie gerade angegriffen hatte. Die riesigen Klauen des Drachen gruben sich tief in den Stein des Talbodens ein. Lediglich seine linke Vorderklaue hielt er hoch, als wäre er verletzt oder würde etwas damit tragen.

„Der Schädel“, flüsterte er zu Turalyon und Alleria. „Er hat den Schädel bei sich!“

„Nett von ihm, das Ding mitzubringen“, murmelte Turalyon. „Aber wie kriegen wir es?“

Todesschwinge faltete seine Flügel zusammen und setzte sich. Sein langer Hals reckte sich und schaute drohend auf sie herab. Seine roten Augen blitzten vor Wut.

Meine Kinder!“, heulte der Drache, seine Stimme klang wie ein Feuer, das Holz verzehrte. Wie Metall, das über Knochen schabte. Eine tiefe Trauer schwang darin mit. „Meine Kinder wurden ermordet!“ Sein Schwanz erhob sich, knallte zu Boden, und ein Riss lief durch die Erde. „Tretet vor, ihr widerlichen, feigen Schurken, Mörder wehrloser Kinder, und lernt Folter und Wahnsinn kennen, bevor ich euch fresse! Wer will als Erster zu Asche verbrannt werden?“

Seine glimmenden Augen verengten sich, als sie sich Gruul zuwandten. Mordlust loderte in seinem Blick. „Du“, sagte er und zog dabei die Silbe derart in die Länge, dass sie unfassbare Qualen versprach. Seine Stimme wurde fast zum Flüstern, klang beinahe schon zärtlich. Und Khadgar war dankbar, dass dieser schreckliche Blick an ihm vorbeigegangen war.

Aber Gruul verzagte nicht. „Ich!“, verkündete er. „Ich bin Gruul, der größte der Gronn! Dies mein Land. Meine Berge. Du sie mir nicht wegnehmen! Du gehen oder enden wie Kinder!“

Todesschwinge brüllte so laut, dass Khadgar fast taub wurde. „Meine Kinder!“, weinte er, und der Schmerz in seiner Stimme ließ Khadgar fast... fast... Sympathie für ihn empfinden. „Leib gewordene Perfektion... schön und hilflos...“ Die Worte wurden unverständlich, als Todesschwinge aufheulte. Magma tropfte aus seinem Maul und zerstörte den Stein, auf dem er stand. Sein Flügelschlag erzeugte fast tornadoartige Stürme.

Khadgar wünschte sich beinahe, er hätte auf Turalyons Einwände beim Zerstören der Eier gehört. Was hatten sie sich dabei gedacht?

Licht, was hatte er sich dabei gedacht? Sich gegen dieses Monster zu stellen, die alte, böse, schreckliche Manifestation des Zorns. Wie konnten sie dieses Geschöpf nur besiegen?

„Oh, wie tapfer von euch!“ Todesschwinges Trauer hatte sich in Hohn verwandelt. „Wie viel Mut es gekostet haben muss, die Schalen zu zerstören und die wehrlosen Kinder zu töten! Wie schade, dass ihr nicht lange genug lebt, um mit eurer edlen Tat prahlen zu können!“ Seine Flügel schlugen erneut. Der machtvolle Sturm, den sie entfachten, drückte Gruul an die Wand. Gruuls Oger jammerten vor Furcht. Sie umarmten die Talwände beinahe. Von ihnen konnte Gruul keine Hilfe erwarten.

„Jämmerliche Sterbliche! Ich hatte im Laufe der Geschichte schon viele Namen, die alle eine Verbindung mit dem Tod hatten. Neltharion, Xaxas und viele mehr. Aber ihr kennt mich am besten als Todesschwinge! Ich bin das Ende des Lebens, die Finsternis der Sagenwelt, der Herr des Todes, der Meister der Zerstörung. Und ich sage euch jetzt, dass diese Welt mir gehört!“

„Niemals!“, antwortete Gruul. Er knurrte und warf sich gegen Todesschwinge. Der riesige Gronn krachte gegen die Brust des Drachen. Die Wucht des Aufpralls ließ die Klippen ringsum erbeben. Steine rollten die Bergkuppen hinab. Der größte Teil der Allianzstreitkräfte stürzte, und selbst die Oger gingen in die Knie. Andere Drachen waren entlang des Tals erschienen, und auch sie mussten einen Schritt zurückweichen. Aber als der Staub sich legte, schüttelte Gruul nur den Kopf. Todesschwinge war unverletzt.

„Kannst du nicht mehr, o mächtiger Gruul?“, spottete Todesschwinge. Er senkte den Kopf, sodass seine knochige Stirn gegen die des Gronn drückte. „Kannst du nicht mehr?“

Er hob eine Vorderklaue, die andere war immer noch geschlossen. Er hielt die Tatze über Gruuls Kopf, als wollte er ihn wie ein Insekt zerquetschen. Es war wie ein Signal. Die Drachen stimmten einen Kriegsruf an, sprangen aus der Hocke und flogen mit tödlicher Präzision auf Menschen, Oger und Gronn zu. Die Oger schienen erstarrt zu sein. Sie sahen mit offenem Mund ihrem eigenen Untergang zu.

„Söhne Lothars! Zum Angriff!“

Turalyons Stimme war klar und stark, und man konnte sie viel weiter hören als normalerweise. Er hob den Hammer, seine Augen leuchteten, und er stürmte gegen die Drachen vor. Der Hammer glühte, als er den ersten am Schädel traf. Die Bestie fiel um wie ein Stein.

„Für Quel’Thalas!“ Alleria und ihre Waldläufer begannen zu feuern. Kriegsrufe erklangen von den Soldaten der Allianz, den Elfen und Menschen gleichermaßen. Darunter mischte sich das ohrenbetäubende Brüllen der Oger und Gronn, die sich langsam von dem Schreck erholt hatten. Die Drachen stürzten nach unten, erregt und stolz auf ihren Vater. Sie spien Magma oder schlugen mit den Klauen nach den Feinden.

Die Oger und Gronn schienen sich daran zu erinnern, dass sie auch schon früher Drachen bekämpft hatten. Und wieder begannen sie die Kreaturen aus der Luft zu pflücken und ihnen die Flügel auszureißen. Ein Oger schlug sein flatterndes Opfer so fest gegen die Wand, dass sie einstürzte. Steine rutschten den Berg hinunter und begruben alle, die sich nicht schnell genug in Sicherheit gebracht hatten.

Khadgar behielt den Kampf zwischen Todesschwinge und Gruul im Auge. Es war tapfer von dem Gronn, gegen den schwarzen Drachen anzutreten, aber er würde schon bald unterliegen. Der Magier vermutete, dass der einzige Grund, warum er noch nicht verloren hatte, der war, dass Todesschwinge mit ihm spielte. Er quälte die Kreatur, die, wie er glaubte, seine kostbare, abscheuliche Brut getötet hatte, bevor er sie endgültig erledigte.

Und dann – war er mit Gruul fertig.

Sie mussten Todesschwinge den Schädel abnehmen. Sie mussten es einfach.

Khadgar hob seinen Stab und murmelte Worte der Macht. Der daraus entstehende Blitz blendete seine Augen. Nachbilder erschienen, als er blinzelte. Der Blitz traf Todesschwinge in die Brust und ließ den Drachen ein paar Schritte zurücktaumeln. Die Blitze glitten von den Metallplatten am Rücken wie Wassertropfen von einer heißen Bratpfanne ab. Khadgar erkannte jedoch, dass der Drache unverletzt war.

„Gut getroffen, kleiner Magier“, meinte Todesschwinge. Sein Maul verzog sich zu einem kalten Lächeln. „Aber diese Magie beherrschte ich schon Jahrtausende, bevor deine Rasse auch nur das erste Mal davon hörte. Du musst dich schon mehr anstrengen, wenn du mich besiegen willst!“

Gruul warf sich erneut in die Schlacht. Khadgar musste ihn bewundern und überlegte verzweifelt, was zu tun war. Todesschwinge wandte seine Aufmerksamkeit dem Gronn zu. Er widerstand dessen Attacken mit Leichtigkeit und drosch ihn mit einem einzigen Schlag seiner Flügel beiseite.

Khadgar schaute den Drachen an. Ein merkwürdiges Gefühl durchfuhr ihn, als er ihn erneut angriff. Er sah mit Schrecken, wie Todesschwinge fast beiläufig einem Spruch widerstand, der seine Knochen in Eis hätte verwandeln sollen.

Todesschwinge hatte recht. Khadgar erkannte, dass er ein arroganter Narr gewesen war. Es gab keine Möglichkeit, die gepanzerte Haut zu durchdringen.

Gepanzert...

Khadgars Augen verengten sich. Todesschwinge schien im roten Sonnenlicht zu leuchten. Er glitzerte wie dunkles Messing – oder Blut.

Metallpanzerung...

Mit Lücken und Rissen, unter denen das Magma rot glühte.

Und dann begriff er. Sein Eiszauber hatte nicht gewirkt, weil er zu schwach für die Hitze in Todesschwinges Körper war. Der schwarze Drache bestand förmlich aus Magma. Und die Panzerplatten auf seinem Rücken – die, wie Khadgar nun erkannte, an den Ecken und Verbindungsstellen glühend heiß waren – hielten ihn zusammen.

Blitze funktionierten nicht. Feuer und Eis waren nutzlos. Das war seine mächtigste Magie, und sie kratzte nicht einmal an dem Drachen.

Aber wie wäre es mit dem schwächsten Zauber? Was war mit einem der ersten Sprüche, die man in Dalaran erlernte? Ein Taschenspielertrick, den jeder Schüler beherrschte.

Hoffnung, schmerzvoll und berauschend, stieg in ihm auf. Vielleicht würde es funktionieren. Es war die letzte Karte, die er ausspielen konnte. Aber er musste näher heran.

Khadgar straffte seine Schultern und stürmte vor, vorbei an Turalyon und Alleria, die einen schwarzen Drachen gemeinsam mit zwei Ogern bekämpften.

Dann ging er allein auf Todesschwinge zu.

Glücklicherweise hielt Gruul Todesschwinge beschäftigt.

Und keine der beiden großen Kreaturen bemerkte den alt wirkenden Mann, der sich an sie heranschlich, bis er nur noch zehn Schritte von Todesschwinge entfernt war. Gruul kämpfte und versuchte, dem krallenbewehrten Fuß zu entkommen, mit dem Todesschwinge ihn festhielt. Der Drache beugte sich vor, sein kräftiges Gebiss war weit geöffnet, als Khadgar seine Hand erhob und den Zauber wirkte.

Die Magie spürend, sah sich Todesschwinge um, erblickte Khadgar und lachte. „Noch mehr Zauberei?“, spottete der Drache. Seine Augen glichen denen einer belustigten Katze. „Wie unterhaltsam. Hast du immer noch nicht erkannt, dass deine stärksten Sprüche mir nichts anhaben können?“

Doch dann erkannte er die Worte von Khadgars Zauber, und die Augen des Drachen weiteten sich vor Schreck. „Was hast du... erbärmlicher Wicht?! Ich lasse dich verstummen!“ Er wandte sich von Gruul ab und mit fürchterlicher Entschlossenheit Khadgar zu.

Der Anblick war so erschreckend, dass Khadgar beinahe vergaß, den Zauber zu beenden. Er schüttelte den Kopf, sammelte sich und sprach das Kommandowort.

Ein lautes Knacken stieg von dem Drachen auf. Todesschwinge brüllte erneut, wand sich vor Schmerz, als die Metallpanzerung, die seinen Körper bedeckte, sich von ihm zu lösen begann. Verbindungsstücke öffneten sich, und mehrere Platten fielen ab. Wo dies geschah, brach das Magma wie aus einem Vulkan hervor. Es spritzte heraus und verteilte sich auf dem Talboden.

Die Rüstung hatte Todesschwinge zusammengehalten. Und als Khadgars Spruch sie entfernte, begann der Drache diesen Zusammenhalt einzubüßen.

„Nein!“ Todesschwinge war aufs äußerste entsetzt. Er wandte seinen Hals, um sich den Schaden zu betrachten, und sah das zerdrückte, verbogene Metall, die auslaufende Magma. Schließlich blickten seine glühenden Augen Khadgar an. „Du hast vielleicht diese Schlacht gewonnen. Aber höre dies und höre gut zu: Dich merke ich mir, Magier!“

Khadgar schluckte, unfähig, dem Blick auszuweichen.

„Ich habe dein Gesicht in mein Gedächtnis eingebrannt“, fuhr Todesschwinge fort. „Ich werde dich in deinen Träumen verfolgen und auch in deinen wachen Momenten. Ich komme wieder und finde dich. Und wenn das geschieht, dann bettelst du um deinen Tod, denn es ist der einzige Ausweg aus diesem Schrecken!“

Seine mächtigen Flügel entfalteten sich, seine Klauen öffneten sich und ließen Gruul und den Schädel los. Todesschwinge hob ab. Schwer kämpften seine Flügel, damit er in die Berge kam. Khadgars zitternde Beine gaben schließlich nach. Plötzlich hockte er auf dem Boden, schnappte nach Luft und war sich bewusst, dass er gerade unglaubliches Glück gehabt hatte.

Nachdem ihr Vater und Herrscher fort war, schienen die übrigen schwarzen Drachen ihren Kampfwillen verloren zu haben. Eine der größeren Kreaturen verließ das Schlachtfeld sofort. Ihr Körper war mit zahlreichen schweren Wunden übersät, und ein Flügel hing in einem merkwürdigen Winkel herab.

„Vater“, schrie er und schnappte nach dem kleineren Gronn, der ihn an seinem Schwanz festhielt. „Vater, warte auf mich!“ Er spie Magma und verbrannte damit dem Gronn die Hände. Dann hob er ab und folgte Todesschwinge.

Durch die Flucht von Todesschwinge ermutigt, schienen die Oger und Gronn sich wie verrückt in die Schlacht zu stürzen. Sie warfen sich auf die Drachen, die nicht rechtzeitig geflohen waren, zerrissen sie mit ihren großen, fleischigen Pranken oder drehten ihnen die Hälse um. Die Leichen warfen sie in die Luft und spießten sie auf den Steinspitzen auf.

Khadgar nutzte die Situation und hob den Schädel auf, den Todesschwinge fallen gelassen hatte.

Mensch... aber mächtig. Was für ein großes Potenzial spüre ich hier? Aber das konnte man ja erwarten, von dem jungen Schüler Medivhs. Du kannst noch stärker werden. Warum wirst du nicht mein Schüler? Ich lehre dich, dass Blut und Kampf der Schlüssel zu wahrer...

„Ah!“ Khadgar schnappte nach Luft. Dabei ließ er den Schädel fast fallen. „Gul’dan!“ Er fletschte die Zähne und schirmte seinen Geist ab. Selbst tot, so schien es, war Gul’dan eine Gefahr.

Schnell verstaute er den Schädel in einem Beutel und lief dorthin, wo Turalyon und die anderen immer noch kämpften.

„Ich habe den Schädel“, berichtete er Turalyon, der gerade den letzten Zuckungen eines Drachen auswich.

„Gut gemacht“, sagte Turalyon. „Dann lass uns hier verschwinden. Rückzug! Sofort!“ Die Männer sammelten sich schnell. Die Oger und die Gronns waren zu sehr damit beschäftigt, die Drachen zu quälen, um ihren Abzug überhaupt zu bemerken.

Turalyon führte sie schnell aus den Bergen. „Dein Plan hat funktioniert, Khadgar, und zwar sehr gut“, sagte er zu seinem Freund, nachdem sie aus dem Tal und dem Gemetzel heraus waren. „Wir haben den Schädel in unseren Besitz gebracht und uns um die Drachen gekümmert. Die werden der Horde so schnell nicht mehr helfen.“

Khadgar dachte über Todesschwinges Drohung nach. Er konnte einen Schauder nicht unterdrücken. Er war sich nicht sicher, ob Turalyons Optimismus gerechtfertigt war. Trotzdem nickte er, als würde er es glauben. „Jetzt ist nur noch Ner’zhul übrig. Wenn ich erst das Buch habe, kann ich das Portal endlich versiegeln.“

Sie mussten also nur einen mächtigen Schamanen aufhalten, der die Kräfte von Himmel und Erde zu nutzen verstand, um Portale in zahllose Welten zu öffnen... Aber sie hatten auch gerade einem extrem starken Drachen einen Rückschlag verpasst. Und vielleicht schafften sie die andere Sache auch.

Eines war jedenfalls sicher: Wenn sie die Orcs nicht auf Draenor aufhielten... würden sie sie niemals stoppen können.

23

„Dorf voraus!“, rief Ba’rak. Er beugte sich vor und legte die Hände auf die Oberschenkel, um wieder zu Atem zu kommen. Das getrocknete Blut klebte noch an den behelfsmäßigen Verbänden, die ihm angelegt worden waren, nachdem Kargath Messerfaust dem Klan der zerschmetterten Hand befohlen hatte, die Höllenfeuerzitadelle zu verlassen.

Aber immerhin gehörte Ba’rak noch zu denen, die mit den leichtesten Wunden davongekommen waren.

Und wegen der zahlreichen Verletzten waren sie ja hier.

„Ich werde allein weitergehen“, sagte Kargath zu Ba’rak und den anderen. „Ich bin schneller.“ Er sah die Orcs an. „Erholt euch. Wenn ich zurückkomme, machen wir uns zum Schwarzen Tempel auf.“

Unterwegs fragte sich Kargath, wie es eigentlich so weit gekommen war. Natürlich hatte ihm Ner’zhul den Befehl gegeben, zurückzubleiben und die Allianz an der Höllenfeuerzitadelle aufzuhalten. Aber es war offensichtlich, dass der Schamane nicht mit ihrem Überleben rechnete. Der Tod auf dem Schlachtfeld war weder für Kargath noch sonst jemanden vom Klan der zerschmetterten Hand ein Problem. Doch ehrenvoll zu sterben, war eine Sache, es grundlos zu tun, eine ganz andere. Und Ner’zhul und die anderen wehrlos der Allianz zu überlassen, entehrte ihn und seinen ganzen Klan. Selbst wenn sie dabei ihr Leben verloren.

Deshalb hatte Kargath, als er merkte, dass die Allianz die Zitadelle eroberte, die restlichen Krieger versammelt und war zum Schwarzen Tempel aufgebrochen. Er konnte allerdings weniger Krieger um sich scharen als erhofft, und viele waren noch dazu so schwer verwundet, dass sie nicht einmal die erste Nacht überstanden.

Jetzt waren nur noch eine Handvoll Orcs übrig geblieben, und kein Einziger von ihnen war unverletzt.

Er marschierte weiter, nur unterbewusst nahm er die Landschaft um sich herum wahr. Der größte Teil Draenors glich der Höllenfeuerhalbinsel, überall nur aufgeplatzter roter Boden und öde Flächen.

Warum war dann hier aber noch alles grün? Üppiges Gras federte seine Schritte ab, Büsche und hohe Bäume prägten das Bild der Umgebung. Nagrand war ganz eindeutig nicht von derselben Trostlosigkeit überschattet wie der Rest der Welt. Nur – warum?

Es war nicht ohne Ironie: Der grünste und gesündeste Bereich Draenors war ausgerechnet die Heimat der kranken und schwachen Orcs.

Als er den kleinen Hügel bestieg, sah Kargath das Dorf vor sich liegen. Die soliden Mauern, die überdachten Hütten und die Vorbauten aus Brettern wirkten wie in den meisten Orc-Dörfern, einschließlich seinem eigenen. Eine Sekunde lang gab sich Kargath der Vorstellung hin, dass er seine Krieger hierher führte, die bisherigen Bewohner vertrieb und das Dorf in Besitz nahm. Sie hätten den Krieg vorbeiziehen lassen können.

Ner’zhul erwartete ohnehin nicht, irgendeinen von ihnen jemals wiederzusehen. Deshalb wäre er wohl auch nicht überrascht, wenn sie niemals auftauchten. Sie konnten die Horde in andere Welten vordringen lassen und sich selbst hier niederlassen, Vieh hüten, Felder bestellen und, wenn der alte Blutrausch sie erneut überkam, Tiere des Waldes jagen.

Aber nein!, schalt sich Kargath. Er hatte den Eid geschworen, für die Horde zu kämpfen. Wie konnte er weiterleben oder einem seiner Krieger noch in die Augen schauen, wenn er dafür nicht alles gab? Außerdem dachte er schaudernd, das Dorf zu erobern, hieße gegen die jetzigen Bewohner zu kämpfen. Und er glaubte nicht, dass einer seiner Krieger dazu derzeit in der Lage war.

Vorsichtig näherte sich Kargath dem Dorf. Er bemerkte ein paar Orcs, die sich träge bewegten, braune Flecken in ihrer grünen Umgebung. Aber sie hatten ihn noch nicht entdeckt. Als er noch gut dreißig Meter entfernt war, blieb er stehen.

„Geyah!“, rief er und musste husten, weil das Luftholen ihm wegen seiner Verletzung schwerfiel. „Großmutter Geyah!“

Die Orcs, die ihm schon vorher aufgefallen waren, sahen auf. Zuerst waren sie erschreckt, dann verschwanden sie in der nächstgelegenen Hütte. Hoffentlich holten sie Geyah, überlegte Kargath bitter. Er bezweifelte, dass er noch Kraft für einen zweiten Ruf hatte.

Einen Moment später raschelten die Vorhänge vor einer der Hütten und wurden zur Seite gezogen. Großmutter Geyah trat heraus und stapfte ihm entgegen. Sie kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen.

„Wer ist da?“, rief sie, ihre Stimme klang so energisch wie immer.

„Kargath Messerfaust, Häuptling vom Klan der zerschmetterten Hand“, antwortete er und zwang sich, aufrecht zu stehen, während sie näherkam.

„Kargath, also? Ich habe dich seit Jahren nicht mehr gesehen“, meinte Geyah. Sie blieb auf halbem Weg zwischen ihm und den Hütten stehen und sah ihn an. Ihre Augen waren immer noch violett, bemerkte Kargath, und ihr langes Haar immer noch dicht, wenn auch grau durchwirkt. Sie sah nicht krank aus, aber ungeduldig. Und ihre Lippen umspielte etwas wie... Abscheu. „Was willst du hier?“, wollte sie wissen und bestätigte seinen Eindruck.

„Die Armee der Allianz ist nach Draenor einmarschiert“, berichtete Kargath. Sein Sinn für Dringlichkeit kämpfte mit dem Respekt vor dem Alter, der ihm von frühester Jugend an eingebläut worden war. „Sie haben die Höllenfeuerzitadelle eingenommen und marschieren schon bald zum Schwarzen Tempel.“

„Und was geht mich das an?“, fragte Geyah. „Beide Orte sind Monumente des Krieges. Wir sind besser dran ohne sie.“

„Ich brauche Krieger“, erklärte Kargath und hoffte, dass er zuversichtlich und fordernd klang, nicht verzweifelt. „Jeder Orc, der irgendwie kämpfen kann, muss sofort mit mir kommen!“

Geyah starrte ihn mit großen Augen an. „Bist du verrückt?“, platzte es aus ihr heraus. „Das hier ist das Dorf der Kranken, oder hast du das vergessen?“ Sie beobachtete ihn, und ein listiges Grinsen lag auf ihren Lippen. „Nein, ich sehe, das hast du nicht. Oder würdest du diese Unterhaltung lieber in einer der Hütten fortsetzen?“

Als er unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat, leicht wankend, wurde ihr Grinsen breiter. „Wie ich es mir dachte. Du weißt, wer hier lebt.“ Ihr Grinsen wurde düster. „Und jetzt willst du ihren Leiden ein weiteres hinzufügen und sie in deinen dummen Krieg hineinziehen? Warum sollten sie kämpfen? Warum sollte das irgendeiner von uns tun?“ Sie sah ihn herausfordernd an. „Ihr habt die Welt der Menschen angegriffen – und das ist die Folge davon.“

Kargath spürte, wie sich seine Zähne fletschten, als die Wut die Angst zu übersteigen begann. „Wir gehören alle zur Horde“, erinnerte er sie. „Wir sind ein Volk, und wir überleben alle oder sterben gemeinsam.“ Er musterte sie schärfer, dann änderte er die Taktik. „Ner’zhul sagt, dass er uns aus diesem Höllenloch herausbringen kann. Wenn er es zum Schwarzen Tempel schafft und die Allianz lange genug aufhält, kann er Portale in andere Welten öffnen. Du könntest eine eigene Welt für dich und deine Patienten haben.“

„Was stimmt denn mit dieser hier nicht?“, antwortete Geyah. Sie wies auf das Grün um sie herum. „Mir gefällt es hier.“

„Diese Welt stirbt.“

„Nur ein Teil davon“, erwiderte sie. „Der Teil, den ihr, du und deine dummen Hexenmeister, befleckt habt. Nagrant ist fruchtbar wie immer.“ Sie wirkte selbstgefällig. „Es ist mag’har... unverdorben. Und so sind seine Bewohner. Sie haben vielleicht die roten Pocken, sterben vielleicht sogar daran. Aber wenigstens ist ihre pockenvernarbte Haut braun, und sie wurden nicht von der schwarzen Magie der Horde verdorben.“

„Es ist deine Pflicht!“, beharrte Kargath. „All deine Krieger müssen sofort mit mir kommen!“

Geyah lachte ihn aus. „Du willst sie?“, fragte sie. „Dann hol sie dir selbst. Zerre sie aus ihren Krankenbetten, und du kannst sie mit in deinen Krieg nehmen.“

Kargath schaute sie an, doch seine Wut war erwacht und überstrahlte alles, einschließlich der Angst. „Sie wirken aber nicht krank“, sagte er und schaute an ihr vorbei, wo viele der Orcs aus ihren Hütten getreten waren, um zuzusehen. Selbst aus der Entfernung konnte er erkennen, dass einige humpelten, andere sich krümmten oder gebeugt gingen. Aber alle schienen noch die richtige Zahl an Gliedmaßen zu haben. Und solange sie eine Keule tragen konnten, würde er sie nehmen.

Er ging auf das Dorf zu, als eine Gestalt aus der Hütte trat und auf ihn zukam. Es war ein junger Krieger, und beim Näherkommen erkannte Kargath, dass er groß und muskelbepackt war. Auch er taumelte, schwankte auf den Beinen. Seine braune Haut war bleich, abgesehen von den Stellen, wo bösartige rote Pusteln prangten. Aus vielen lief eine dünne, rote Flüssigkeit, die eher wie Tränen wirkte, nicht wie Blut.

Erschreckt erkannte Kargath den jungen Orc. Es war Garrosh Höllschrei, Groms Sohn!

„Was ist hier los?“, fragte Garrosh und schlurfte neben Geyah. „Was willst du hier? Geht es um die Horde?“ Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Ist es mein...?“ Ein fürchterlicher Schrei stieg aus seiner Kehle auf. Dann fiel er auf die Knie, erbrach Blut und Galle. Beides lief sein Kinn hinab und tropfte in das Gras darunter.

„Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht überanstrengen“, knurrte Geyah und stützte ihn. Sie schien kein Problem damit zu haben, ihn zu berühren. „Du hast immer noch die Pocken, und dir geht es nicht annähernd so gut, dass du die Hütte verlassen kannst!“ Dann sah sie zu Kargath, ein böses Lächeln auf den Lippen. „Willst du, dass er mit dir in die Schlacht zieht? Sind das die Krieger, die du hier zu finden hoffst?“

Kargath war zurückgesprungen, als Garrosh Blut zu spucken begann, und er wich weiter zurück. „Nein. Das sind keine Krieger.“ Enttäuschung und Verzweiflung vergifteten seine Worte. „Sie sind nicht einmal mehr Orcs... sie sind völlig nutzlos.“ Er blickte zu Geyah, zu Garrosh und den anderen Dorfbewohnern. „Ihr armseligen Schwächlinge!“, knurrte er und erhob seine Stimme, so gut er konnte. „Tut der Horde einen Gefallen und sterbt in euren Behausungen! Wenn ihr nicht dabei helfen könnt, euer Volk zu verteidigen, habt ihr auch kein Recht zu leben!“

Damit wandte er sich ab und ging davon. Er konnte nichts anderes tun, als seine Krieger zu nehmen und in die Hügel zu verschwinden. Er hatte nicht genug Leute, um entscheidend in den Kampf um den Schwarzen Tempel eingreifen zu können.

Je länger er darüber nachdachte, desto weniger glaubte er, Ner’zhul etwas zu schulden. Er würde die paar Kämpfer mitnehmen, die er hatte, einen Ort finden, an dem sie sich verbergen konnten, und sich erholen. Eines Tages würden sie wieder stark sein, und sie würden die Höllenfeuerzitadelle zurückerobern und von dort aus auch den Rest des Landes. Und wenn er schließlich starb, würde das auf seinen Füßen sein.

Er schauderte angesichts dessen, was hinter ihm lag. Egal, was passierte, er würde nicht so enden wie sie.

„Wir müssen dich zurück ins Bett bekommen“, schimpfte Geyah mit Garrosh in deutlich freundlicherem Tonfall.

Garrosh schüttelte ihre Hände ab. „Was hat er gesagt?“, wollte er wissen. Seine Kehle war rau, nachdem er so viel Flüssigkeit verloren hatte. „War es... war es wegen meines Vaters? Lebt... er noch?“

Geyah schaute weg, unfähig, der Hoffnung in den Augen des Jungen zu begegnen. Ob Grom noch lebte? Sie wusste es nicht.

Nicht, dass es von Interesse gewesen wäre. Sie hatte viel vom alten Höllschrei während der letzten paar Jahre gehört. Von seiner Wildheit, seinem Blutrausch und seinem Hang zur Gewalt. Er war der Erste gewesen, der sich der Horde und Gul’dans verdorbener Magie hingegeben hatte. Und das hatte ihn zutiefst verdorben.

Selbst wenn er also noch lebte, war er sicherlich jenseits aller Erlösung.

„Er hat nichts über deinen Vater gesagt“, antwortete sie und packte Garrosh wieder beim Arm. Dabei ließ sie nicht zu, dass er sie erneut wegschob. „Ich bin mir sicher, er lebt noch, und es geht ihm gut. Kargath hätte sonst bestimmt etwas gesagt.“

Garrosh nickte und ließ sich wegführen. Seine Kraft war verbraucht.

Geyahs Herz war bei ihm und allen anderen, um die sie sich kümmerte. Würden sie die roten Pocken überleben? Einige vielleicht, aber nicht alle. Ein Teil von ihr spürte, dass zumindest der Tod ihrer Schützlinge reiner war als das Ende der anderen Orcs, deren Seele befleckt worden war.

Sie schüttelte den Kopf und ging mit Garrosh zu den Hütten zurück. Sie schaute kein einziges Mal hinter sich, um zu sehen, wie der grünhäutige Kargath sich entfernte.

24

„Ho, Kameraden!“

Turalyon sah überrascht auf. Es war bewölkt, und jemand kam in diesem Moment aus den schweren Wolken herabgeflogen.

Der Ruf hielt Alleria und ihre Waldläufer gerade noch davon ab, auf die niederstürzende Gestalt zu feuern. Turalyon wollte schon seine Männer zur Verteidigung rufen, ließ es aber bleiben, als er erkannte, wer sich da näherte. Er stemmte, mit einem Lächeln auf den Lippen, die Hände in die Hüfte, als Sky’ree ihre Flügel ausbreitete und zur Landung ansetzte.

Kurdran stieg bereits von Sky’rees Rücken ab, während sich ihre Krallen noch tief in die Erde gruben. Er lief zu Turalyon, wo Khadgar und Alleria warteten. Turalyons Freude, den Zwerg wiederzusehen, schwand, als er dessen steifen, langsamen Gang bemerkte. Verwirrt beobachtete er die merkwürdige, gebeugte Gestalt, die ebenfalls abstieg und hinter Kurdran herschritt.

„Ah, ich freue mich, euch alle zu sehen“, sagte Kurdran, schüttelte Turalyon und Khadgar die Hände und gab Alleria einen Handkuss. „Das war eine verdammt knappe Sache, weil diese grünen Bestien mich gefangen genommen hatten.“

Turalyon furchte die Stirn und beobachtete seinen kleinen Freund. „Ich bin froh, dass du entkommen bist.“

„Das stimmt nicht ganz. Ich wurde gerettet – und vollständig geheilt“, korrigierte ihn Kurdran. „Freund Danath half mir und erstürmte ihre ganze Ruine. Die Orcs nannten sie Auchindoun. Wir fanden einen merkwürdigen Freund dort, der dir das eine oder andere über das Heilen mithilfe des Lichts beibringen könnte. Ich... ahm... um mich stand es nämlich nicht zum Besten.“

Turalyon sah seinen Freund voller Zuneigung an. Kurdrans Erzählung klang, als wäre er dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen. „Ich freue mich“, sagte er eifrig.

„Der nächste Teil wird dich nicht so erfreuen. Ner’zhul ist uns entkommen. Er und seine Todesritter haben einen Zauber gewirkt, der sie an einen anderen Ort brachte. Sie nennen ihn den Schwarzen Tempel. Wir konnten sie leider nicht aufhalten.“

Turalyon seufzte und legte eine Hand auf Kurdrans Schulter. „Kein Sorge, Kurdran. Ich weiß, dass ihr, du und Danath, euer Bestes gegeben habt. Ich bin froh, dass ihr es geschafft habt, hierher zu finden.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Schwarzer Tempel, das klingt nicht gut. Was wissen wir darüber?“

„Nicht viel. Aber diese gefiederte Kreatur hier wird uns hinbringen.“ Kurdran wies auf die Gestalt, die ihn auf Sky’rees Rücken begleitet hatte. Sie verneigte sich unterwürfig. „Das ist Grizzik. Er führte Danath nach Auchindoun hinein.“

„Grizzik kennt Weg“, sagte das Wesen mit hoher Stimme. „Ich erzähle euch von Schwarzem Tempel. Ich weiß, was und wo!“

„Ist das dein Wohltäter?“, fragte Alleria. „Der, der dich geheilt hat?“

„Nein, nein, das war ein Draenei – eine lange Geschichte.“

„Was bist du dann?“, fragte Alleria leise, und Turalyon erkannte, dass ihre Elfenaugen die Schatten der tiefen Kapuze durchdrungen hatten, die Grizziks Gesicht verdeckte.

„Ich Arakkoa“, antwortete Grizzik und schob die Kapuze zurück. Turalyon versuchte seinen Schrecken angesichts des langen Schnabels und des Gefieders zu verbergen. „Wir geboren auf dieser Welt, so wie Orcs. Lange Arakkoa blieben unter sich. Wenig wir haben Kontakt zu Orcs oder Draenei. Dann Orcs kämpften, schlossen zusammen sich. Schlachteten Draenei ab.“

„Auchindoun war eine Begräbnisstätte der Draenei“, erklärte Kurdran. „Das hat Grizzik mir erzählt.“

„Und Schwarzer Tempel gehört auch ihnen“, fügte Grizzik hinzu. „Obwohl er damals anders genannt wurde. Dort Draenei schlugen letztes Gefecht, und dort meine Artgenossen und ich auch gegen Orcs gekämpft.“ Seine Augen glänzten vor Wut, obwohl Turalyon auch ein wenig Heimtücke zu erkennen glaubte. „Wir versagt. Obwohl nicht durch Mangel an Waffen. Orcs hatten Zauberer, Gul’dan. Er sehr stark. Er verändert Erde, erhebt großen Vulkan in unserer Mitte.“ Seine kleinen Augen glommen vor Wut.

„Gul’dan, hmm?“ Khadgar nahm einen Beutel von der Schulter und holte den Schädel heraus. „Das ist alles, was von ihm übrig geblieben ist. Er wird euch keinen Ärger mehr machen“, sagte der alt wirkende, tatsächlich aber junge Magier dem Arakkoa, bevor er den Schädel mit einem hastig verborgenen Ausdruck der Erleichterung zurücksteckte.

Grizziks Augen weiteten sich. „Du getötet Gul’dan?“, fragte er, seine Stimme ein gehauchtes Flüstern.

„Nein“, gestand Turalyon ein. „Jemand anders hat ihn zuerst erwischt. Aber wir haben die Macht der Horde gebrochen und eine ihrer wichtigsten Festungen eingenommen. Jetzt müssen wir nur noch zum Schwarzen Tempel, Ner’zhul finden und ihn ebenfalls töten.“

Der Arakkoa bewegte den Kopf ruckartig. „Ich kann zeigen euch Weg“, versicherte er ihnen.

Turalyon sah Kurdran an, und der Anführer der Wildhammerzwerge zuckte die Achseln. Turalyon verstand. Der schlaue Zwerg war sich nicht sicher, ob man Grizzik vertrauen konnte, aber sie hatten keine andere Wahl. „Danke“, sagte er dem Arakkoa. „Wir freuen uns über deine Hilfe.“ Er wandte sich an Kurdran. „Wir zeichnen heute Abend eine grobe Karte, die auf Grizziks Informationen basiert. Ich will, dass du morgen zu Danath zurückfliegst. Wir müssen uns entscheiden, wo wir uns treffen, um von dort aus in die Schlacht zu ziehen.“

Kurdran nickte. „In Ordnung, Kumpel, ein guter Plan. Aber wer hat jetzt ein Bier für mich und was zum Essen? Wenn ich mich ein wenig erholt habe, berichte ich dir alles über unsere Reise und die Schlacht bei Auchindoun.“

Turalyon lächelte. „Ich kann es kaum abwarten“, sagte er dem Zwerg. Und es stimmte. Er sah Alleria an und lächelte, als sie ihre Hände in seine legte. Morgen würden sie wieder gemeinsam losziehen, aber heute wenigstens konnten sie beisammensitzen, trinken und der fraglos spannenden Geschichte des Wildhammerzwergs lauschen.

Einige Tage später ritten sie durch zwei niedrige Bergzüge und sahen ein weites Tal, das sich vor ihnen erstreckte. Als Kurdran sie gefunden hatte, hatten sie sich gerade auf gleicher Höhe mit der Höllenfeuerzitadelle und dem Dunklen Portal befunden, wie die Orcs diese Orte nannten. Grizzik hatte sie weiter nach Süden geführt und war dann nach Osten abgebogen. Schließlich hatten sie die Verschlingende See erreicht – so bezeichnete der Arakkoa das Meer. An dessen Ufer stand der Schwarze Tempel, wo das Schattenmondtal in die Berge überging. Und hier warteten Danath und der Rest der Allianzarmee auf sie.

Danath und seine Leute waren nicht untätig gewesen. Das bemerkte Turalyon beim Näherkommen. Ein einfaches, aber effektives Lager entstand in der südwestlichen Ecke des Tals. Dicke Wände aus Baumstämmen waren schon halb hochgezogen.

„Das war Kurdrans Idee“, sagte Danath und drückte Turalyons Hand. „Er meinte, wir brauchten einen Ort, wo wir das Tal im Auge behalten konnten. Und diese Stelle erschien uns beiden hoch genug gelegen.“

Turalyon nickte. Es stimmte. Von hier aus konnte man das ganze Land überblicken, inklusive des riesigen Vulkans in der Mitte, der Rauch, Asche und Lava spie.

„Und dazu müssen wir das Tal nicht mal betreten“, fügte Kurdran hinzu. „Die Lava ist grün, und der ganze Boden ist damit durchtränkt.“

Khadgar nickte, und Turalyon bemerkte den gequälten Gesichtsausdruck seines Freundes. „Teufelsmagie“, flüsterte er. „Die reinste Form, der ich je begegnet bin.“ Der Erzmagier schüttelte den Kopf. „Ich möchte gar nicht erst wissen, was für Zauber Gul’dan dafür wirken musste. Das ist wider die Natur. Kein Wunder, dass diese Welt stirbt.“ Er schaute düster zu Kurdran. „Halt deine Leute davon so fern wie möglich“, ermahnte er ihn. „Und geht nicht öfter als unbedingt nötig ins Tal.“

„Klar, verstanden, wir bleiben da weg“, versicherte ihm Kurdran. „Außerdem haben wir das Tal bereits erkundet.“ Er holte ein Pergament hervor und zeigte ihnen die Karte, die er gezeichnet hatte. „Der Schwarze Tempel ist hier, am östlichen Rand“, sagte er und wies auf das massive, dunkle Gebäude, das man deutlich durch das Tal erkennen konnte. „Der einzige Weg dahin führt hier durch. Die Senke wirkt wie ein großes Hufeisen und ist zu dieser Seite offen.“

„Irgendein Zeichen von Ner’zhul?“, fragte Alleria.

„Ja, er befindet sich hier“, antwortete Kurdran. „Und auch diese Todesritter. Dazu einige Orcs, aber nicht viele.“ Er grinste. „Wir haben sie festgesetzt. Die gehen nirgendwohin.“

Turalyon sah zu Danath, der nickte. „Wir belagern den Tempel, sobald wir dort ankommen“, erklärte er. „Ich will nicht riskieren, dass sie Verstärkung erhalten.“

„Gut.“ Turalyon wandte sich an die anderen. „Wir müssen selbst sehen, wie wir dahinüber kommen. Khadgar, du bist der Schlüssel. Du musst Ner’zhul ausschalten und diesen Zauber aufhalten. Alleria, du und deine Waldläufer beschützt ihn mit euren Bögen. Schießt auf alles, was auch nur in seine Richtung schaut. Ich werde mich um alles in seiner Nähe kümmern. Wir schlagen uns durch ihre Verteidigung, finden Ner’zhul, töten ihn, holen die Artefakte und sind wieder weg. Einverstanden?“

„Absolut“, stimmte Khadgar zu, und die anderen nickten.

„Gut“. Turalyon seufzte, sprach ein schnelles Gebet und rief das Heilige Licht um Schutz für sie alle an. Er spürte, wie der Segen über sie kam, warm und beruhigend, und dafür dankte er. Er fasste Kurdran, Danath und Khadgar an den Händen. Dann wandte er sich Alleria zu. Sie lächelte ihn tapfer an, aber sie kannte die Risiken.

Dem Licht sei Dank waren sie nicht so töricht gewesen, immer einander weiter aus dem Weg zu gehen. Stattdessen hatten sie Stärke und Trost beieinander gefunden. Er hielt sie einen Moment lang ganz fest, legte sein Kinn auf ihr schimmerndes Haar, dann hob er ihren Kopf an, um sie zu küssen. Schließlich schenkte er ihr sein fröhlichstes Lachen und schulterte den Hammer. „Auf geht’s.“

Sie stürmten ins Tal. Die übrigen Allianzstreitkräfte waren direkt hinter Turalyon. Nur eine Handvoll Männer blieb zurück, um das Lager zu bewachen.

Als sie um den Vulkan herumkamen, sah Turalyon den Schwarzen Tempel zum ersten Mal aus der Nähe, und nur sein Glaube bewahrte ihn davor, sein Pferd herumzureißen und in die entgegengesetzte Richtung davonzugaloppieren.

Der Ort war gewaltig, er überragte sogar den Vulkan. Der Stein, aus dem der Tempel gehauen war, war vielleicht früher einmal hell gewesen. Aber nun bedeckten ihn Asche und verdorbene Substanzen, die jegliches Licht verschluckten. Das Gebäude ragte wie ein Schatten auf, der Gestalt angenommen hatte. Gedrungen, hässlich und gefährlich verhöhnte es die Armee, die gegen seine Mauern anrannte.

Turalyon erkannte, dass jede Mauer mit Symbolen verziert war, obwohl er keine Details erkennen konnte. Auf der Spitze ragte etwas hervor, das wie eine nach dem Himmel greifende Hand aussah. Noch während Turalyon diesen Anblick verdaute, stolperte sein Pferd, und er wurde beinahe zu Boden geworfen. Blitze – grün, laut und unheilvoll, erfüllt mit Dunkelheit statt Licht – überzogen den Himmel. Sein Pferd wieherte vor Angst und richtete sich auf. Sein Reiter war kaum weniger eingeschüchtert, tat aber sein Bestes, um das Tier zu beruhigen.

„Was ist los?“, rief er Khadgar über das Donnern zu.

„Der Himmel ist in Ordnung“, gab Khadgar zurück. „Ich fürchte, dass...“

Ihm wurden die Worte abgeschnitten, als die Erde erneut bebte und der Himmel grün aufblitzte.

Turalyon sah noch einen Blitz, und sein Kopf fuhr hoch.

Die nach oben greifende Hand glühte rot.

„O nein“, stöhnte er und wandte sich an Khadgar.

„Ich hatte recht“, rief Khadgar. „Ner’zhul hat mit dem Zauber begonnen.“

„Können wir ihn aufhalten?“

„Ich kann es“, antwortete Khadgar grimmig. „Verschaff mir nur etwas Zeit.“

„Wird erledigt.“ Turalyon hob seinen Hammer und rief seinen Glauben an. Die so gewonnene Kraft leitete er in die gesegnete Waffe. Die Oberfläche des Hammers begann zu leuchten, und das Licht breitete sich aus, bis es heller als der Vulkan strahlte. Orcs und Todesritter, die vor dem Schwarzen Tempel kämpften, schauten geblendet weg. Aber die Allianzkrieger beeinflusste das Licht nicht. Deshalb jubelten seine Soldaten, als Turalyon an ihnen vorbeigaloppierte und sein Hammer eine Schneise durch die Verteidiger des Tempels schlug.

Bis ihm eine Gestalt in den Weg trat.

„Dein kleines Licht macht mir keine Angst!“, rief Teron Blutschatten. Er hielt einen juwelenbesetzten Stab in der Hand. Jeder, der es sehen konnte, merkte, dass der Todesritter log. Er hatte seine Kapuze nach hinten gestreift, und sein hässliches, verwesendes Gesicht und die brennenden roten Augen waren sichtbar geworden. Das Gesicht war schmerzverzerrt und sein Körper angespannt. Blutschatten hob die merkwürdige Waffe. Sie leuchtete in vielen Farben, und die Strahlen kämpften gegen Turalyons Leuchten an, versuchten gar, es zu übertreffen.

„Das Heilige Licht ist all das, was du nicht bist, Monster“, rief Turalyon zur Antwort, richtete den Hammer auf Blutschatten und strahlte das Licht auf ihn ab. „Wenn du es nicht fürchtest, dann heiße es willkommen!“

Der Stoß traf Blutschatten, aber der hielt seinen Stab vor sich und fing damit Turalyons Angriff ab. Er zerteilte das weiße Licht wie ein Prisma in viele Farbstrahlen. Dann schlug der Todesritter zu. Er deutete mit dem Stab auf Turalyon. Daraufhin entstand an der Spitze ein Schatten, der den Kommandeur der Allianz umgab.

Turalyon spürte, wie die Finsternis ihn zu zerquetschen versuchte. Sie begrub sein Licht und seine Glieder gleichzeitig. Er kämpfte dagegen an und wand sich, um freizukommen. Die Luft rauschte an ihm vorbei, und er knallte hart auf die Erde. Der Angriff hatte ihn offenbar vom Pferd geworfen. Aber die Finsternis lastete weiter auf ihm und presste ihn zu Boden.

Er schnappte nach Luft, doch seine Lungen weigerten sich zu atmen, weigerten sich, seinen Befehlen zu gehorchen. Er war zusammengebrochen.

Das hatte ja so kommen müssen, er war nicht einmal in der Lage, sich auf seinem Pferd zu halten. Was für ein General war er eigentlich? Auch seine Männer würden sterben. Er hatte sie direkt in den Tod geführt. Lothar wäre so enttäuscht von ihm...

Turalyon zuckte am Boden, wollte atmen, aber die Ranken der Finsternis umgaben seine Brust und zogen sich immer enger zusammen. Wie eine Schlange wanden sie sich um ihn herum, fixierten seine Arme an der Seite, erzwangen sich den Zugang zu Mund, Nase, Augen... ah, wie es brannte! Tränen liefen aus seinen geschlossenen Lidern, sie schürten aber nur das Feuer.

Und so würde er sterben – weil er versagt hatte, eine Katastrophe. Er war für alle Toten verantwortlich, für all die Unschuldigen auf anderen Welten, erstarrt vor Furcht, wenn die grüne Flut über sie kam. Die Männer, die ihm geglaubt hatten, als er ihnen versprach, das Licht sei mit ihnen. Licht... welches Licht... wo war es jetzt, da er es brauchte...?

Alleria!

Auch sie wäre tot, träfe ihre Familie und würde ihn verfluchen, egal, an welche Form des Lebens nach dem Tod die Elfen auch immer glauben mochten. Sie hatte ihn nie geliebt, das erkannte er jetzt. Er war nur ein Spielzeug gewesen, eins, das sie überleben würde, eins, das sie weggeschmissen hätte. Khadgar – Kurdran – Danath –

Die dunklen Ranken zogen sich zusammen. Turalyon öffnete die Augen, er starrte ins Leere.

Es tut mir leid, Lothar. Ich habe dich enttäuscht. Ich bin nicht du. Ich habe...

Er blinzelte.

Er hatte sie so gut geführt, wie er konnte. Nein, er war nicht Anduin Lothar, der Löwe von Azeroth. Nur Lothar konnte Lothar sein. Es wäre der Gipfel der Arroganz, etwas anderes zu behaupten. Er war Turalyon, und das Licht war mit ihm. Es hatte ihn bislang nicht enttäuscht, nicht, wenn er aus vollem Herzen gebetet hatte.

Frag nur. Du musst nur fragen, mit reinem Herzen. Deshalb hat Lothar dich erwählt. Nicht, weil er glaubte, du wärst er, sondern weil er wusste, dass du immer du selbst sein würdest.

Turalyon atmete flach, behindert von den dunklen Ranken, und betete. Er öffnete die Augen und wusste – ohne zu verstehen, warum –, dass sie reines, weißes Licht abstrahlten. Er sah auf die Ranken hinab, und sie vergingen. Sie wichen von ihm, so wie Schatten immer vor Licht weichen mussten. Er atmete tief ein, sein Brustkorb hob und senkte sich, er kam auf die Beine, ergriff seinen Hammer und erschlug, was von den Schatten noch übrig geblieben war.

Der Angriff hatte nur wenige Sekunden gedauert, aber er hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Blutschatten hatte die Ablenkung genutzt, um näher heranzukommen. Und als Turalyon wieder einen freieren Blick hatte, erkannte er, dass der Todesritter nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt war. Dessen rote Augen weiteten sich, als Turalyon vortrat. Er hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass sich der junge Kommandeur der Allianz so schnell befreien konnte. Deshalb war er auf den kräftigen Schlag nicht vorbereitet, mit dem Turalyon ihn auf der Brust traf. Turalyon war sich sicher, dass er Knochen brechen hörte. Der Todesritter taumelte, fiel aber nicht.

„Du kannst nicht gewinnen“, zischte Blutschatten durch seine gefletschten Zähne. „Ich bin bereits tot... was kannst du mir schon antun?“

Sein Stab stieß vor, erwischte Turalyon am Bauch und warf ihn um. Blutschattens Hand streifte über Turalyons Helm. Schmerzen durchzuckten seinen Schädel, als hätte ein Schraubstock den Helm zerquetscht. Sterne explodierten vor seinen Augen, und er spürte, wie die Welt kippte.

In seiner Verzweiflung schlug er erneut mit dem Hammer zu, ein mächtiger, beidhändig geführter Hieb. Und er spürte, wie der schwere Hammerkopf etwas Festes streifte. Es klapperte, dann holte er tief Luft, und der Schmerz verging.

Turalyon blinzelte die Sterne weg und atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er blickte gerade rechtzeitig auf, um Blutschatten taumeln zu sehen, ein Arm hing an der Seite herunter. Als der Todesritter das Gleichgewicht verloren hatte, stürmte Turalyon mit erhobenem Hammer nach vorne. Er beschwor seinen Glauben, und das Licht brach aus ihm und dem Hammer hervor. Es war zu hell, um hineinblicken zu können.

Der Todesritter schrie und hob seine Hände, um seine Augen vor der Strahlung zu schützen, die gerade sein Fleisch versengte.

„Beim Licht!“, brüllte Turalyon. Es war gleichermaßen Lobpreisung, Gebet und Versprechen. Das Licht leuchtete grell. Er schlug mit dem Hammer zu und zerstörte nicht nur den wiederbelebten Körper. Er spaltete ihn regelrecht, und das Licht schnitt durch Teron Blutschatten, bis er ein durchnässter, rauchender Klumpen war.

Ein schreckliches Heulen drang an Turalyons Ohren, und er starrte mit Schrecken und Unglauben auf das kreischende Irrlicht, das Teron Blutschattens Seele davontragen wollte.

Der Paladin hob den leuchtenden Hammer und schlug noch einmal zu. Aber der Hieb kam etwas zu spät, und der Geist war fort, floh vor Schmerz und Frustration schreiend hinauf in den knisternden grünschwarzen Himmel.

„Weiter geht’s!“, riss Allerias Stimme Turalyon aus seinen Gedanken. Sein Herz wollte sie sehen. Eilig kletterte er auf sein Pferd und galoppierte zu ihr.

Vor ihnen ritt Khadgar, und sie holten ihn schnell ein. Der Todesritter war der letzte Verteidiger des Tempels gewesen. Jetzt befanden sie sich im Schwarzen Tempel selbst und sahen die lange Wendeltreppe, die nach oben führte, wo ein fahles Licht herableuchtete.

Alleria... Khadgar... Danath... Kurdrun – verdammt, sie waren schließlich nicht hier, um zu sterben. Mit einem Kopfschütteln brach Turalyon den letzten Bann, den der Schatten über ihn gelegt hatte, nahm seinen Hammer und ritt seiner Bestimmung entgegen.

25

Ner’zhul stand auf dem Dach des Schwarzen Tempels in der Mitte des aufgemalten Kreises. Über ihm, verdeckt von den Wolken und den grünen Blitzen, erreichte die große Konjunktion mit dem Seher, dem Stab und dem Folianten ihren Höhepunkt.

Unter seinen Füßen konnte Ner’zhul die Kraftlinien von Draenor spüren, die sich hier kreuzten. Als er die Augen schloss, fühlte er, wie die ganze Welt unter seinem Griff erbebte. Deshalb hatten die Draenei ihren Tempel hier gebaut, und deshalb war dies der einzige Ort, wo er den Zauber wirken konnte. Von hier aus vermochte er die Energie des Planeten anzuzapfen, die er für seine Magie benötigte.

In einem größeren Kreis, der den kleineren umgab, standen mehrere von Blutschattens Todesrittern. Es waren die wenigen Hexenmeister, die Schicksalshammers Zorn überlebt hatten, und eine Handvoll seiner eigenen Schattenmond-Orcs. Die letzte Gruppe stand im dritten und größten Kreis und blickte mit erhobenen Waffen nach außen. Sie waren zum Schutz da, während die anderen Ner’zhul dabei halfen, dem Planeten Energie zu entziehen und das Ritual zu beenden.

Sie zauberten bereits den ganzen Tag, seit die Konjunktion am Himmel stattfand. Und nur die Energie, die ihn durchfloss, bewahrte den Schamanen davor, vor Müdigkeit oder Hunger zusammenzubrechen. Aber seine Haut prickelte und das Haar tanzte, als würde es von einem unsichtbaren Wind bewegt.

Sie näherten sich dem Ende des Spruchs. Die Allianz rannte schon seit Stunden gegen die dicken Mauern des Schwarzen Tempels an, und die Verteidigungslinien konnten jeden Moment fallen. Doch die Menschen würden zu spät kommen, dachte Ner’zhul triumphierend. Er erhob das Zepter des Sargeras mit der rechten Hand und mit der linken das Auge von Dalaran. Beides leuchtete hell, ein inneres Licht strömte aus dem Kopf des Zepters und tanzte von Facette zu Facette im violetten Zentrum des Auges.

Die beiden Artefakte fokussierten die Energielinien und formten sie fast zu physischer Gestalt. Plötzlich durchströmte eine ungekannte Stärke Ner’zhuls Glieder. Sein ganzer Körper erzitterte, und er wusste, dass er nicht mehr auf dem Steindach stand, sondern darüber schwebte. Die Energie hob ihn von der Oberfläche weg.

„Jetzt!“, rief er, berührte die Spitze des Zepters und das Zentrum des Auges und spürte, wie die restliche Energie durch seine Arme und Beine und in Herz und Geist floss.

Er wusste, dass seine Augen hell leuchteten, heller als die Sonne, und er konnte die magischen Linien sehen, die über die Welt verliefen. Die Energiestränge bahnten sich ihren Weg zwischen den Welten und dem Rest des Kosmos.

Er konnte die energetischen Barrieren um Draenor spüren und sie so leicht zerteilen wie einen Bogen Pergament.

Die Welt wurde erschüttert. Der Boden bebte, der Himmel grollte. Ein fürchterlich schabendes Geräusch erklang aus dem Bauch der Erde und traf auf ein ohrenbetäubendes Kreischen, das von über den Wolken herabdrang.

Draenor brüllte vor Schmerz. Die anderen Teilnehmer schwankten, als der Tempel sich bewegte. Viele fielen auf die Knie. Auch Ner’zhul taumelte, schaffte es aber stehenzubleiben, unterstützt von der Kraft, die ihn durchströmte.

Er konnte spüren, wie die Magie über die Realität hinweg wie eine Angelschnur in die Leere reichte; Draenors Energie verlieh ihr genügend Antrieb, und sie verhakte sich in etwas Festem.

Einer anderen Welt.

Die Schnur spannte sich, ein scharfer Ton erklang, durchlief Ner’zhul, und ein korrespondierender Klang kam durch die Schnur zurück... und riss ein Loch in ihre Realität.

Ein Spalt. Es war ein Spalt!

Ner’zhul erkannte das Gefühl. Die rohe Kraft von Luft, Erde und Natur, der Verbindung, die diese mit der nächsten Welt verknüpfte. Er lächelte und schloss die Augen. Gierig trank er das berauschende Gefühl des Erfolges.

Er hatte es geschafft! Er hatte einen Spalt geöffnet!

Und nicht nur einen. Er spürte, dass sich weitere Risse auftaten – überall auf Draenor. Wie kleine Blasen, die aus dem Meer aufstiegen und zerplatzten, wenn sie an die Oberfläche kamen. Wie Blitzeinschläge in einem Sturm, der den ganzen Planeten überzog. Jeder Spalt brannte in seinem Geist wie ein Vulkan.

Er konnte Kundschafter zu ihnen schicken. Die würden ihm von den neu entdeckten Welten berichten. Dann würde er jenen Ort auswählen, der dem alten Draenor am ähnlichsten war, und die Horde dorthin führen. Und danach vielleicht zu einer weiteren Welt... und noch einer... bis sein Volk so viele Welten in Besitz genommen hatte, wie es nur wollte. So viele, wie es leicht halten konnte. Bis jeder Klan seinen eigenen Planeten besaß.

Dann würde niemand sie mehr aufhalten können.

Obris, eine der Wachen, fragte: „Ist das unsere neue Welt?“

Tatsächlich sah die Landschaft, die sie durch den wellenförmigen Spalt erkennen konnten, nicht sehr einladend aus. Viel konnte man nicht sehen. Es reichte aber aus, um Ner’zhul zu beunruhigen.

Etwas flatterte, ragte auf und war dann verschwunden. Ein fahles Licht zuckte, dann verschwand es.

„Das sieht nicht wie ein Ort aus, den...“

„Ruhe!“, schrie Ner’zhul und wirbelte zu Obris herum. „Wir...“

In diesem Moment der Unaufmerksamkeit zitterte das Auge. Ner’zhul furchte die Stirn und umschloss das Artefakt fester. Es schien sich wie ein Fisch zu winden, und bevor er erkannte, was geschah, sprang es aus seiner Hand, glitt durch die Luft...

... und landete in der Hand eines großen, breitschultrigen Mannes mit weißem Haar und violettem Gewand. Der Stab in seiner Hand leuchtete machtvoll, und seine Augen blitzten.

Ein Menschenzauberer. Er hatte Ner’zhul den Sieg buchstäblich aus der Hand genommen.

Hinter dem Magier stand ein Mann in voller Rüstung, der einen Hammer trug und blendend weißes Licht ausstrahlte. Ner’zhul erkannte, dass dieser Mann nicht nur ein Krieger war, sondern so etwas ähnliches wie ein Schamane.

Die Elfe neben ihm besaß keine magischen Fähigkeiten, aber ihr Gesicht zeigte gerechten Zorn. Sie hatte einen Pfeil aufgelegt und zielte damit auf ihn.

Ner’zhul erzitterte. Wie konnten sie es wagen? Wie konnten sie es wagen, seinen Moment des absoluten Ruhms zu unterbrechen? Ner’zhul erkannte, dass er keine Angst oder Sorge verspürte, nur wilde, unglaubliche Wut.

„Das Auge wird dir nichts nützen, wenn du Staub bist!“, schrie er und ließ sich von seinem Zorn leiten. Er tobte in ihm, war rein, heiß und tödlich. Mit einem Schrei erhob er seine Hände. Der Stein gehorchte und brach unter den Füßen der Eindringlinge weg.

Gerade noch rechtzeitig sprangen die Eindringlinge der Allianz zur Seite, rollten sich ab und brachten ihre Waffen in Anschlag. Aber Ner’zhul war noch nicht fertig. Noch lange nicht. Er hatte gerade erst angefangen.

Er hob die zerborstenen Felsstücke an und lenkte sie auf die Allianzleute zu. Wind und Regen umpeitschten sie. Er ließ sie hilflos in der Luft schweben, bevor er gnadenlos die Steine auf sie fallen ließ. Ner’zhul erfreute sich daran, die Menschen leiden zu sehen. Mit Mühe wandte er sich ab und schrie: „Durch den Spalt! Sofort! Ruhm und eine neue Welt erwarten uns!“

Obris starrte ihn mit offenem Mund an. „Töte die Eindringlinge der Allianz und lass uns unsere Horde sammeln! Du kannst doch nicht ernsthaft nur ein paar wenigen die Flucht ermöglichen! Was ist mit unseren Brüdern, die jetzt gerade kämpfen? Grom und der Kriegshymnenklan befinden sich immer noch auf Azeroth. Frauen und Kinder sind überall verstreut. Wir können sie nicht zurücklassen! Das wäre feige...“

Plötzlich überkam Ner’zhul die Erkenntnis. Etwas hatte ihn klein gehalten. Erst jetzt... jetzt, fühlte er sich frei von Schuld, frei von der Schande, frei vom Bestreben, seinem Volk etwas Gutes zu tun.

Das, erkannte er, war die eigentliche Last gewesen. Er hatte einst den Tod als Teil des Zyklus akzeptiert, ihn dann gefürchtet, später erkannt, dass er selbst der Todesbringer war... und hatte all die schwere Bürde getragen.

Doch das galt ab sofort nicht mehr. Er war frei.

Er würdigte Obris nicht einmal einer Antwort. Ner’zhul streckte seine Hand aus. Blitze bildeten sich auf seiner Handfläche und zischten in einem funkensprühenden Bogen auf den Orc zu. Donnernd schlugen sie in Obris’ Brust ein und schleuderten ihn zurück. Er krachte gegen die Wand und glitt zu Boden. Ein rauchendes Loch klaffte in seiner Brust. Obris stand nicht wieder auf.

Ner’zhul wirbelte zu den anderen herum, die ihn schockiert anstarrten. „Die anderen Orcs sind verloren. Sie haben ihren Zweck erfüllt. Von diesem Punkt an gehört alles, was wir erreichen, uns allein. Ich bin die Horde, und ich werde überleben. Wählt mich – oder wählt den Tod!“

Als sie sich nicht bewegten, knurrte er und hob das Zepter. Jetzt bewegten sie sich, als wären sie plötzlich befreit, und liefen auf den flackernden Spalt zu, der ein paar Zentimeter über dem Dach begann und gut drei Meter hoch reichte. Ner’zhul wartete und hielt den Spalt mit seiner Kraft und seinem Willen offen. Dann trat er selbst hindurch.

Er hatte gerade genug Zeit, um nach Luft zu schnappen, bevor der Spalt sich hinter ihm schloss.

26

Khadgars Kopf dröhnte, doch er spürte, wie seinen Körper warme, heilende Energie durchströmte. Er stand auf und fluchte. Der Spalt verschwand gerade und hinterließ ein schwaches Nachbild wie eine Rauchspur. Ner’zhul und seine Orcs waren fort.

„... wir kamen zu spät. Er ist weg.“

„Weg? Beim Licht, nein!“ Turalyon befand sich direkt hinter Khadgar, hatte den Spalt aber wohl nicht bemerkt. Khadgar hatte ihn mit seinen erweiterten Sinnen bereits gespürt, bevor er ihn tatsächlich gesehen hatte. Auch wenn Turalyon über große Kraft verfügen mochte, so zog er aus seinem Bündnis mit dem Heiligen Licht noch lange kein Verständnis für arkane Magie.

„Er muss den Spalt hinter sich geschlossen haben“, überlegte Khadgar, als er und Turalyon auf das Dach traten. Alleria kam zu ihnen.

„Aber du hast das Auge von Dalaran zurückbekommen“, bemerkte Alleria. „Das ist doch wichtig, oder nicht?“ Khadgar nickte. „Nur, was machen wir jetzt?“ Sie schaute vom Schwarzen Tempel hinab. „Zumindest sieht es so aus, als gewännen wir dort unten.“

„Gib es eine Möglichkeit, ihm zu folgen?“, fragte Turalyon.

Khadgar schüttelte den Kopf. „Ich kenne den Spruch nicht, den Ner’zhul benutzt hat, und ich weiß auch nicht, wie man die Welt finden soll, auf die ihn der Spalt geführt hat. Selbst wenn ich einen neuen Zugang öffnen würde, gäbe es keine Garantie, dass er uns auf dieselbe Welt bringt.“ Seine Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem beansprucht. Er furchte die Stirn und ging zu den drei Kreisen, die sich auf dem Boden befanden.

„Was ist?“

„Macht“, sagte Khadgar abwesend. „Mehr Macht, als ich je an einem Ort gespürt habe, außer in Medivhs Turm.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Deshalb also“, murmelte er. „Ich hatte mich gefragt, warum Ner’zhul uns die Höllenfeuerzitadelle überlassen hat, statt sie richtig zu verteidigen und den Spruch dort zu wirken. Aber das konnte er nicht. Er musste hier sein. Er brauchte die Magie dieses Ortes, um das Ritual zu vollziehen.“

„Bringt uns das irgendwie weiter?“, fragte Alleria.

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete er. „Vielleicht.“ Er trat in den mittleren Kreis, und sein Kopf fiel zurück, der Mund war zu einem stummen Schrei aufgerissen.

Solch eine Macht! Sie durchströmte ihn wie wildes Feuer, entzündete seine Adern, überlud alle Sinne.

Ner’zhul war ein Schamane, kein Magier. Seine Magie stammte aus der Erde, dem Himmel und dem Wasser – aus der Welt selbst. Und dieser Ort war ein Fokus für die Macht dieser Welt. Hier hatte Ner’zhul die volle Stärke dessen abbekommen, was er zuvor bereits mehrfach gestreift hatte, aber auf schwächerem Niveau. Er wusste, wie man damit umging.

Für Khadgar war es eine völlig neue Erfahrung. Und eine gefährliche.

Aber Khadgar war nicht umsonst Erzmagier. Er war ein zu großen Hoffnungen Anlass gebender Schüler in Dalaran gewesen und hatte viel in seiner kurzen Lehrzeit bei Medivh gelernt... und noch mehr danach. Er war ein Meister der Magie, und wenn diese Form auch neu für ihn war, so war es dennoch Magie. Und das bedeutete, dass es eine Frage der Willenskraft war.

Und die besaß Khadgar.

Langsam zügelte er seine Sinne, bezähmte die neue Energie, bis sie nur noch ein Brummen im Hintergrund war. Dann öffnete er die Augen... und schnappte nach Luft.

An diesem Ort, voll der Kraft einer ganzen Welt, konnte er sehen, was ihm zuvor verwehrt gewesen war.

„O nein“, stöhnte er.

„Was ist?“, fragte Turalyon.

„Der Spalt...“, hauchte Khadgar. Er fand kaum die passenden Worte, um zu beschreiben, was er sah. „Ner’zhul hat nicht nur einen geöffnet, sondern viele, die über die ganze Welt verstreut sind.“ Sie flackerten und glitzerten, wirkten wie Glühwürmchen an einem Sommerabend. „Es ist... Ich glaube nicht, dass Draenor das aushalten kann. Es kann dem nicht standhalten. Die Spalte sind Risse... und diese Risse sprengen den ganzen verdammten Planeten.“ Und uns mit ihm, dachte er, sagte es aber nicht.

Turalyon und Alleria sahen einander an. Gleichzeitig wandten sie sich Khadgar zu.

„Was können wir tun? Und wie viel Zeit haben wir?“

Noch während er die Worte sprach, durchlief ein Beben den Tempel und dessen Umgebung. Der Vulkan bebte und spie noch mehr giftige Lava aus, die eine grüne Wolke bildete.

Dann hörte Khadgar hinter sich ein schreckliches Krachen und ein ohrenbetäubendes Rumpeln. Er blickte über die Schulter und sah, wie Felsmassen herabstürzten. Der Schwarze Tempel war mit Blick auf die Berge errichtet worden, die die See überragten. Und diese Gipfel brachen weg. Das meiste Geröll stürzte ins Meer, aber etwas rollte auch auf sie zu.

Schnell murmelte Khadgar einen Spruch, der sie vor der Steinlawine abschirmte. Die drei blieben gut geschützt, als Felsen, Geröll und Staub an ihnen vorbeidonnerten.

Ein zweiter Zauber sicherte den Bereich direkt unter ihnen, wo die Streitkräfte der Allianz sich bereits um die Reste der Horde kümmerten. Viele der Orcs waren weggelaufen, als sich das Schlachtenglück gegen sie gewandt hatte, und die herabstürzenden Felsen beschleunigten nur ihre kopflose Flucht.

Draenor war jetzt die Bestie, die sich vor Schmerz selbst in Stücke riss. Und plötzlich dämmerte es Khadgar, dass Draenor vielleicht nicht alleine sterben würde.

„Azeroth ist in Gefahr!“, rief er über den Lärm hinweg.

„Diese Spalten sind Verbindungen zwischen den Welten. Und das Dunkle Portal ist die größte und stabilste.“ Eine merkwürdige Stille entstand, als das Beben plötzlich verebbte.

Khadgar sprach schnell weiter. „Unsere Welten sind miteinander verbunden. Die Schäden hier könnten durch das Portal greifen und Azeroth ebenfalls betreffen!“ Er verzog das Gesicht, trat aus dem Kreis und versuchte, nicht vor Bestürzung zu stöhnen, als das Energieniveau wieder auf ein normales Maß sank. Es war, als würde man ein Freudenfeuer gegen eine simple Fackel austauschen. Aber er wusste, dass ihm Gefahr drohte, wenn er länger blieb. „Ich muss zurück zum Dunklen Portal!“

„Hast du alles, was du brauchst, um es zu schließen?“

„Ich habe den Schädel. Und das Buch ist hier irgendwo. Ich werde es finden“, sagte er selbstsicherer, als er sich fühlte.

Turalyon nickte. „Ich sammle meine Truppen“, versprach er.

Doch Khadgar schüttelte den Kopf. „Dafür ist keine Zeit!“, widersprach er und packte seinen Freund an der Schulter. „Verstehst du denn nicht? Es tut mir leid, Turalyon, so leid. Aber ich kann das Portal jetzt noch nicht schließen. Wenn Draenor zerstört wird, könnte es Azeroth mit ins Verderben reißen!“

Er sah, dass in Turalyon das Begreifen einsetzte, und er hasste die Resignation, die damit einherging. Doch sein Freund nickte. „Wir nehmen die Greife“, verkündete er. „Das ist der schnellste Weg zurück.“ Dann straffte er die Schultern. „Ich rede mit den Soldaten, bevor wir gehen. Wie wenig Zeit auch sein mag, das haben sie verdient.“ Er reichte Alleria eine Hand, und gemeinsam liefen sie die Stufen hinab.

Khadgar bekam kaum mit, wie sie gingen. Er hatte Ner’zhul das Auge einfach aus der Hand genommen, aber er hatte keine Zeit gehabt, Medivhs Buch zu finden, bevor Ner’zhul sich gerächt hatte. Es war hier irgendwo, sagte er sich selbst. Er musste es einfach finden, damit der Zauber in Eintracht mit der Sternenkonstellation funktionierte.

Ner’zhul hatte ein silberbeschlagenes Zepter in der Hand gehalten, als er verschwand. Wahrscheinlich war es das Zepter des Sargeras. Es war ohnehin besser, wenn so ein verfluchtes Artefakt weit weg von Azeroth war. Nur, wo war das verdammte Buch? Er musste die Aufgabe erfüllen, und zwar jetzt, bevor es für sie alle zu spät war.

Er streckte seine Sinne aus, es war jedoch zu viel Magie in der Luft, um irgendetwas klar lokalisieren zu können.

Das Buch könnte direkt vor meiner Nase liegen oder meilenweit entfernt. Verdammt!, dachte er frustriert.

Khadgar erspähte aus dem Augenwinkel eine schwache Bewegung. Er wirbelte herum, bereit, sich zu verteidigen.

Eine der Leichen hatte sich bewegt, wenn auch nur schwach. Der Körper war schlimm verkohlt, und Khadgar erkannte, dass es der Orc war, den Ner’zhul angegriffen hatte, bevor er durch das Portal ging. Derjenige, der Ner’zhul einen Feigling genannt hatte, weil er die anderen zurückließ.

Wieder war Khadgar froh, dass er den Ring dabeihatte, der ihn andere Sprachen verstehen ließ. Er senkte seine Hände.

Der Orc schnaufte und grunzte, offensichtlich hatte er große Schmerzen. Er griff nach etwas und hielt es Khadgar mit enormer Anstrengung entgegen. Es war ein großer, rechteckiger Gegenstand mit verzierten Metallecken.

Khadgar hielt den Atem an, als er erkannte, was es war.

Medivhs Buch.

„Ich bin... kein Schamane. Aber Obris ist schlau genug, um zu wissen... dass es dir nützlich sein wird.“

Khadgar zögerte. Der Orc war dem Tode geweiht, doch es konnte immer noch ein Trick sein. „Ja“, sagte er schließlich. „Und warum gibst du es mir dann? Ich bin dein Feind.“

„Du bist wenigstens ein ehrenhafter Feind“, knurrte Obris. „Ner’zhul hat uns verraten. Er hat die Horde neu wieder erstehen lassen und meinen Klan des lachenden Schädels hineingezwungen. Er versprach uns einen Neubeginn. Aber sobald...“, er hustete, „... sobald er Sicherheit fand, floh er. Er und seine Lieblinge... Der Rest von uns... bedeutete ihm nichts.“

Die Augen leuchteten ein letztes Mal. „Ich wäre sehr froh, wenn ich wüsste, dass meine letzte Tat die wäre, sich ihm zu widersetzen. Nimm es. Nimm es, verflucht seist du! Nimm es und lass ihn für seinen Verrat bezahlen!“

Khadgar ging auf den sterbenden Orc zu und löste sanft das Buch aus dessen geschwärzten, blutigen Händen. „Ich verspreche dir, Obris: Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ner’zhul aufzuhalten.“

Der Orc nickte, schloss die Augen und wurde ganz still – für immer.

Die Launen des Schicksals, überlegte Khadgar, löste schnell den Verschluss und öffnete das Buch. Er erinnerte sich daran, den schweren Folianten vor ein paar Jahren in Medivhs Bibliothek gesehen zu haben.

So viel war seitdem geschehen. Fast, als wäre ein ganzes Leben vergangen. Damals hatte er Angst vor dem Buch verspürt, die aber von seiner Neugierde übertrumpft worden war. Glücklicherweise hatten ihn die Schutzzauber davon abgehalten, das Werk zu öffnen. Sonst hätte ihn die darin wohnende Magie vernichtet.

Jetzt mied Khadgar sie mit Leichtigkeit und durchstöberte den Inhalt des Buches in wachsender Erregung. Wie er erwartet hatte, enthielten die Seiten Details darüber, wie Medivh und Gul’dan zusammen am Spalt gearbeitet hatten. Mit diesen Details und der immer noch vorhandenen Kraft in Gul’dans Schädel war Khadgar zuversichtlich, das Dunkle Portal endgültig schließen zu können.

Aber würde er es noch rechtzeitig schaffen?

Flügelschlag ließ ihn aufblicken. Mehrere Greife kreisten über dem Dach, ihre Schwingen waren ausgebreitet, als sie landeten. Khadgar sah Kurdran und einen anderen Wildhammerzwerg, die dem Magier Zeichen gaben. Er nickte, stopfte das Buch in einen Beutel, ergriff die ausgestreckte Hand des Zwergs und schwang sich auf den Greif.

„Wo sind Alleria und Turalyon?“, rief Khadgar Kurdran zu.

„Sie reden mit den Soldaten“, antwortete der Zwerg.

„Sie müssen sich aber beeilen“, sagte Khadgar und schüttelte den Kopf. „Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Auf zum Dunklen Portal!“

Der Greif kreischte, als sein Reiter die Zügel anzog. Dann erhob er sich, schlug mit den Flügeln gegen den Wind und meisterte das Gewicht zweier Passagiere.

Khadgar sah, wie der Schwarze Tempel unter ihm verschwand und schloss die Augen. Sein Haupt- und Barthaar wehten hinter ihm her. Er hielt den Beutel fest umschlungen.

Mithilfe der Greife würden sie das Portal binnen Minuten und nicht erst in Stunden oder Tagen erreichen.

Er hoffte nur, dass nicht schon alles zu spät war.

Alleria legte den Kopf an die Schulter ihres Geliebten, als sie auf dem Greif über dem Schwarzen Tempel schwebten. Sanft umschlang sie Turalyons Hüfte, um ihm moralischen Halt zu geben. Sie wusste, wie düster es in seinem Herzen aussah, angesichts dessen, was er tun musste. Aber sie wusste auch, dass er nicht kneifen würde.

„Söhne Lothars!“, rief Turalyon und hob seinen Hammer.

Alleria schaute weg, denn das Licht durchdrang die darüber liegenden Wolken und strahlte hell über das ganze Tal, vom Schwarzen Tempel bis zum Eingang, wo das Fort der Allianz lag. „Vor vielen Monaten kamen wir durch das Dunkle Portal, ohne zu wissen, was uns erwartete. Aber wir wussten, was unsere Aufgabe war: Wir mussten die Horde daran hindern, andere Welten zu erobern, so wie sie es bei unserem geliebten Azeroth tat... Doch wir versagten! Jetzt aber ist genau der Moment gekommen, für den wir gekämpft haben: Khadgar hat, was er braucht, um das Portal zu schließen. Aber dieser Welt droht das Chaos. Azeroth, unsere Heimat, ist erneut in großer Gefahr. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um Azeroth und unsere Familien, die wir zurückließen, zu retten.“

Er ließ seinen Blick über die Männer schweifen, und Alleria wusste, dass sich jedes Gesicht in sein Gedächtnis einbrannte.

„Ich werde Khadgar helfen, ihn beschützen, weil es sicherlich Widerstand geben wird“, fuhr Turalyon fort. „Ihr... müsst hier die Stellung halten. Ihr habt mich niemals enttäuscht. Ich weiß, meine Brüder, ihr werdet mich auch jetzt nicht enttäuschen.“ Seine Stimme brach.

Durch die Tränen in ihren eigenen Augen sah sie ihn weinen.

„Keiner von uns weiß, was passieren wird. Vielleicht überleben wir, finden heim, leben ein erfülltes Leben und erzählen unseren Enkeln Geschichten. Oder wir sterben hier auf dieser Welt. Wie das Schicksal entscheidet. Ein Schicksal, das, wie ich weiß, jeder von euch gern annehmen wird. Weil wir für unsere Welt, unsere Familien und unsere Ehre kämpfen. Wir kämpfen, damit andere in Freiheit leben können. Und wenn es irgendetwas auf dieser Welt oder einer anderen gibt, für das es sich zu sterben lohnt, dann ist es... die Freiheit der anderen!“

Alleria starrte ihn an. Seine Augen, die immer noch mit Tränen gefüllt waren, leuchteten jetzt in strahlend weißem Licht. Ehrfurcht durchfuhr sie.

So strahlend... Turalyon, mein Geliebter, du bist so strahlend.

„Söhne Lothars! Das Licht ist mit euch! Das war es immer und wird es immer sein. Für Azeroth!“

Sein Hammer leuchtete heller als der Tag, und viele der gefangen genommenen Orcs in der Nähe stürzten zu Boden und schrien, als seine Aura sich in ihre Augen fraß.

Turalyons Soldaten jedoch wurden durch das Leuchten gestärkt und jubelten, als der Greif aufstieg und Turalyon und Alleria hinter den Wildhammerzwergen zum Dunklen Portal brachte.

„Wenn ich könnte, würde ich bei ihnen bleiben“, murmelte er leise.

Sie küsste seinen Hals. „Das weiß ich, Geliebter. Ihre Herzen sind mit dem Licht erfüllt – so bist du stets bei ihnen.“

Rings um das Dunkle Portal herrschte das Chaos. Turalyon hatte seinen Truppen die ungeschminkte Wahrheit gesagt. Khadgar musste verteidigt werden. Er hatte nur noch nicht erkannt, wie sehr er und seine Freunde den Zauberer schützen mussten. Danath, Khadgar, Kurdran und mehrere andere waren vor ihnen angekommen und bahnten sich bereits kämpfend den Weg zum Portal. Es schien, als hätten die Orcs sich hier gesammelt. Ner’zhuls plötzliches Verschwinden hatte mehrere Klans auf Draenor zurückgelassen, und sie alle hatten begriffen: Das Dunkle Portal war der einzige stabile Spalt – und der einzige, der auf eine Welt führte, von der sie wussten, dass sie bewohnbar war.

Der Kampf fand aber nicht nur auf Draenor statt, sondern auch auf der anderen Seite des Portals. Offensichtlich hatten die Orcs dort erneut die Kontrolle errungen. Sie versuchten, sich durch das Portal zurück nach Draenor zu kämpfen und ahnten nichts von der Katastrophe auf ihrer Heimatwelt. Die Streitkräfte der Allianz hielten sie noch auf Abstand, Turalyon konnte jedoch nicht auf Hilfe hoffen. Er und seine wenigen Getreuen standen allein zwischen der Horde und Azeroth.

Aber sie mussten auch keine Schlacht gewinnen, erinnerte er sich. Ihr Ziel war lediglich, Khadgar und die anderen Magier zu beschützen, während sie das Portal ein für allemal versiegelten.

„Tu, was du tun musst“, sagte er, an Khadgar gewandt, der neben ihm stand. Die anderen Magier hatten sich um ihn herum versammelt.

Der alt wirkende junge Erzmagier nickte, hob seine Hände und schloss die Augen. Sein Stab lag in der einen Hand, der Schädel Gul’dans in der anderen, und er begann zu singen. Energien bündelten sich und umwirbelten ihn.

Die Orcs waren ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Sie kämpften verzweifelt und wild, um ihrer kollabierenden Welt zu entkommen, koste es, was es wolle.

Der Boden bebte so stark, dass die Krieger kaum stehen konnten, und die Schlacht, als Orcs und Menschen aufeinandertrafen, verkam zu einer wüsten Prügelei. Alle Beteiligten waren unfähig, planvoll anzugreifen. Der Himmel zuckte unter Blitzen, Stürme zogen auf und in hohem Tempo wieder ab. Sterne wurden kurz sichtbar, dann wieder die Sonne.

Der Planet spielte verrückt.

Zwischen den Gefechten sah Turalyon kurz Khadgar. Die anderen Magier hatten sich ihm jetzt angeschlossen, alle waren von Strahlen umgeben, und wenn er blinzelte, konnte Turalyon die Spuren der Energie sehen, die in Khadgar hineinströmten. Er wusste, dass sein Freund die ganze Kraft aufsog. So konnte er sich auf das Portal konzentrieren, um es für immer zu zerstören.

Gerade als Khadgars Gesang den Höhepunkt erreichte, hörte Turalyon ein merkwürdiges Reißen, erst laut, dann aber auch wieder schwach, als fände es sowohl in der Nähe, als auch in der Ferne statt.

Er hatte etwas Ähnliches über dem Schwarzen Tempel vernommen, und nachdem er einen weiteren Orc ausgeschaltet hatte, sah er sich um und bemerkte einen merkwürdigen Schimmer in der Luft, nicht weit von ihnen entfernt.

Dicht hinter den Magiern entstand ein neuer Spalt!

Die Erde erzitterte unter seinen Füßen, und instinktiv wich Turalyon zurück.

Der Boden öffnete sich dort, wo er noch vor einer Sekunde gestanden hatte, und weitete sich aus wie ein hungriges Maul. Gezackte Risse bildeten sich, und plötzlich flog ein riesiger Erdklumpen hoch. Dieser nahm eine Gruppe Menschen und Orcs mit sich und warf sie, als er sich wild in der Luft drehte, wie ein bockendes Pferd den Reiter ab.

Khadgar hatte nicht übertrieben. Draenor ging tatsächlich in Stücke.

Turalyon starrte immer noch auf den fliegenden Klumpen Erde, als Khadgar seinen Stab anhob und ein Lichtstrahl daraus das Dunkle Portal traf.

Das Licht war zu hell, als dass man hätte hineinsehen können, aber anders als das Heilige Licht bestand es aus vielen wirbelnden und tanzenden Farben. Es war reine Magie, in einen einzigen Zauber gelegt, und als diese Magie auf die wirbelnde Oberfläche des Tores traf, klang es wie zerspringendes Glas.

Dann begann das Dunkle Portal zu zerbersten, der Vorhang aus Energie spaltete sich auf und zersplitterte, als der Spruch ihn auflöste.

„Es ist vollbracht“, sagte Khadgar müde. Er stellte seinen Stab auf den Boden und stützte sich darauf. Dann sah er auf und bemerkte einen von Kurdrans Zwergen. Es war ein junger Wildhammerzwerg, der gerade einen Orc mit seinem Sturmhammer attackierte.

„Du!“, rief Khadgar. „Nimm das!“ Er verstaute den Schädel in einem Beutel und warf dem überraschten Zwerg das Bündel zu. „Nimm es und fliege nach Azeroth! Das muss zu den Kirin Tor!“

„Aber“, erwiderte der junge Zwerg, „kommst du nicht selbst dorthin?“

Khadgar schüttelte seinen weißhaarigen Kopf. „Nein. Wir müssen das Portal hier ausschalten. Nur so können wir sichergehen, dass der verderbliche Einfluss nicht nach Azeroth hinüberreicht.“

Turalyon holte tief Luft. Das war es dann also. Khadgar hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Und er hatte offen ausgesprochen, was alle vermutet hatten: Nur dieser Zwerg würde zurückkehren. Der Rest von ihnen würde auf dieser Welt stranden, die sich mit jeder weiteren Sekunde dem Nichts näherte.

Nun, dann sollte es so sein.

Der Paladin sah, wie der junge Wildhammerzwerg zögerte. Er war unsicher, was er antworten sollte.

Plötzlich schnappte Turalyon nach Luft, als er den Orc sah, der den unachtsamen Zwerg mit seiner Axt attackierte. Aber bevor Turalyon eine Warnung rufen konnte, flog ein Sturmhammer an ihm vorbei, traf den Axtschwinger mit einem Donnern, das in seinen Ohren dröhnte, und Axt und Orc stürzten zu Boden.

„Los doch, Kumpel!“, befahl Kurdran. Sein Sturmhammer kehrte zu ihm zurück, als er Sky’ree neben den überraschten Zwerg lenkte.

Der jüngere Wildhammerkrieger nickte, beugte sich vor, um den Beutel von Khadgar aufzunehmen, und spornte dann seinen Greif mit Hacke, Knie und Ellbogen an.

Der reagierte sofort, schlug mit den Flügeln und schoss pfeilgleich in das kollabierende Portal.

Doch als er unter den zusammenbrechenden Säulen anhielt, leuchtete der Beutel auf, das Portal reagierte, und die Lichtflut blendete sie.

Turalyon hörte den Greif vor Schmerz brüllen, und der Zwerg schrie ebenso, aber Turalyon konnte nicht sehen, was mit ihnen passiert war. Die schrecklichen Geräusche wurden von dem wilden Rumpeln übertönt.

Bevor er begriff, was geschehen war, gab es einen ohrenbetäubenden Knall, und Khadgar flog rückwärts. Er krachte zu Boden und war für eine Sekunde ohnmächtig. Als er kurz danach zu sich kam, keuchend, kaum in der Lage zu atmen, spähte er sofort zum Portal.

Es war verschwunden.

Die riesigen Statuen waren zu unkenntlichen Blöcken zerfallen. Die drei Säulen, die das Tor gebildet hatten, waren nichts anderes mehr als Schutt.

Man konnte Azeroth nicht mehr sehen.

Sie hatten es geschafft. Sie hatten den Spalt zerstört... und das Portal. Und jetzt waren sie für immer abgeschnitten von allem, was sie kannten.

Um ihn herum kamen die Angehörigen der Horde und der Allianz wieder auf die Beine. Und Draenor bockte erneut.

Die Orcs flogen hoch und erkannten im Gegensatz zu Khadgar nicht, dass sie nirgendwohin flüchten konnten.

Der Zusammenbruch des Portals hatte Draenor offensichtlich noch weitere Wunden zugefügt, und das Beben steigerte sich in seiner Stärke und Frequenz.

Sie wurden permanent geschaukelt und hin und her geworfen, als befänden sie sich in einer Nußschale auf rauer See. Der Boden wellte sich wie Wasser, und der Himmel war dichter als Nebel.

Was für ein schmachvoller Tod, dachte Khadgar mit ein wenig trockenem Humor. Wenn einem das Hirn von einem Klumpen Erde herausgeschlagen wird.

Er sah sich ein letztes Mal nach seinen Freunden um. Danath stand und bekämpfte Orcs, die noch nicht geflohen waren. Alleria war hingefallen. Turalyon half ihr auf die Beine und wickelte rasch einen provisorischen Verband um eine böse Wunde an ihrem Arm.

Vielleicht, weil er Khadgars Blick spürte, schaute Turalyon auf. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment, und Turalyon lächelte so ruhig und freundlich, wie Khadgar es von dem Paladin kannte. Alleria sah zu dem Erzmagier und nickte. Das helle Blond ihrer Haare war mit Staub überzogen, und hier und da war auch Blut. Kurdran ritt immer noch auf dem fliegenden Sky’ree und grüßte mit dem Hammer.

Und so würde es enden. Khadgar hatte immer vermutet, dass sie dies nicht überleben würden, aber er war dankbar, dass sie das Portal hatten schließen können und ihre Welt damit gerettet hatten. Und er war ebenso dankbar dafür, dass, wenn sie denn sterben mussten – was, wie er überlegte, alle Menschen einmal mussten –, dies hier und gemeinsam mit seinen Freunden geschah. Seite an Seite kämpfend, wie sie es immer getan hatten.

Ein schwaches Glimmen erreichte sein Auge.

Er blinzelte. Nein, es war tatsächlich da. Ein verwaschener Schemen prangte auf dem Stoff aus Zeit und Raum. Ein weiterer Spalt.

Eine weitere Welt. Eine, die vielleicht nicht gerade zugrunde ging.

„Da!“, brüllte er, so laut er konnte, und wies auf den Spalt. „Wir gehen da durch! Es ist unsere einzige Chance zu entkommen!“

Turalyon und Alleria blickten einander an. Khadgar konnte nicht verstehen, was sie in dem ohrenbetäubenden Lärm sagten. Aber er sah, wie sie sich einen Moment lang festhielten, die Hände miteinander verbunden, und sich dann dem Spalt zuwandten.

Sie waren alle durch das Dunkle Portal nach Draenor gereist.

Aber damals hatten sie wenigstens eine vage Vorstellung gehabt, was sie vorfinden würden. Doch hier...

Draenors Todeszuckungen hielten an, und Khadgar fiel schwer zu Boden. Er stand wieder auf. Mit aufgeschlagenen Knien und Handflächen sah er zum Spalt. War er die Erlösung, oder barg er ein schlimmeres Schicksal? Khadgar wusste es nicht. Niemand wusste es.

Sie mussten es herausfinden... auf die eine oder andere Weise.

Khadgar – Erzmagier, alter Mann, junger Mann – schluckte schwer und warf sich hindurch.

27

„Los, weiter, Krieger der Horde! Wir sind nicht mehr fern!“

Grom Höllschreis Stimme schnitt durch den Lärm und bestärkte alle, die sie hörten. Rexxar wirbelte herum. Mit der Kriegsaxt in der Linken durchtrennte er einem Allianzkrieger den Hals, und mit der Axt in der Rechten spaltete er einen.

Neben ihm kämpfte sein Wolf Haratha. Er knurrte und sprang. Seine scharfen Zähne bissen in den Unterarm eines dritten Kriegers. Rexxar hörte das unverwechselbare Knacken von Knochen, die von Zähnen zerbissen wurden, und der Mann schrie auf. Das Schwert fiel ihm aus der Hand. Haratha ließ den zerfleischten Arm los, und in einer pfeilschnellen Bewegung sprang er dem Mann an die Kehle.

Sie waren ein tödliches Team.

Rexxar konnte Grom Höllschrei sehen, den Häuptling des Kriegshymnenklans. Seine Axt Blutdurst sang und schnitt durch die Feinde. Andere Krieger seines Klans kämpften neben ihrem Anführer. Ihre Gesänge und Kriegsrufe erschufen eine furchtbare Melodie des Todes und der Zerstörung. Rexxar war einer der wenigen, der diesem Klan nicht angehörte, aber das tat nichts zur Sache. Er hatte eigentlich gar keinen Klan. Zumindest keinen, der mit der Horde zu tun hatte.

Sein eigenes Volk, die Mok’Nathal, waren stets unabhängig gewesen. Sie waren nur wenige, weshalb ihr Leben schwierig gewesen war. Darauf beschränkt, ihr Land am Schergrat gegen Oger zu verteidigen, die es besetzen wollten. Rexxar hatte versucht, seinem Vater Leoroxx von dem Dunklen Portal zu erzählen, das die Orcs bauten, und von der Chance, eine frische, neue Welt für die belagerten Mok’Nathal zu finden. Aber Leoroxx verstand nur, dass sein Sohn nicht dort bleiben wollte, wo er geboren war, um seine Heimat zu verteidigen. Beide wollten sie ihrem Volk helfen, aber am Ende war Rexxar der Horde gefolgt und war für seine Wahl verstoßen worden. Und nun war die Horde die einzige Familie, die ihm geblieben war.

Aber er war ja schon immer anders gewesen.

Ein weiterer Mensch ging zu Boden. Rexxar sah auf. Durch seine Körpergröße konnte er über die anderen Krieger hinwegsehen. Grom hatte recht – sie waren nicht weit vom Dunklen Portal entfernt. Vielleicht hundert Menschen standen zwischen ihm und seiner Heimatwelt. Rexxar grinste und hob beide Äxte. Er würde diese Zahl deutlich verkleinern.

Während der letzten paar Monate hatte das Kriegsglück immer wieder gewechselt. Die Allianz hatte sie eine kurze Zeit lang in einem kleinen Tal eingeschlossen, das direkt neben diesem lag.

Aber sie konnten die Horde dort nicht lange halten. Die Menschen unterschätzten die Willensstärke und Wildheit der Orcs. Und Grom hatte seine Leute in die Freiheit geführt. Sie hatten sich an einem Ort namens Steinard im Norden neu gesammelt. Das war der Außenposten der Horde gewesen, als sie beim ersten Mal durch das Dunkle Portal gekommen waren. Der Sumpf, zwar stinkend und unangenehm, hatte immerhin Leben und Wasser geboten. Und Grom hatte verhindert, dass die Orcs verzweifelten. Sie hatten Steinard mit Vorräten aufgebaut, die sie aus Angriffen auf Allianztransporte erbeutet hatten. Und schließlich hatten sie die Kontrolle über das Dunkle Portal zurückerlangt.

Es war auf und ab gegangen mit Horde und Allianz. Aber jetzt war das kleine Spiel zu Ende. Grom hatte beschlossen, dass es Zeit für die Heimkehr war. Kein anderer Klan war gekommen, um ihnen zu helfen. Und obwohl sie immer noch eine Streitmacht waren, mit der man rechnen musste, wie die Allianz gerade feststellte, wurde ihre Zahl allmählich kleiner, während die Allianz von Minute zu Minute zahlreicher zu werden schien.

Außerdem war da noch die Sache mit dem merkwürdigen Gerät. Grom Höllschrei würde keinen seiner Leute aufgrund des Verrats eines anderen sterben lassen. Rexxar wollte dabei sein, wenn Grom zurückkehrte und sich denjenigen vornahm, der den Befehl erteilt hatte.

Ein Mensch griff ihn von einem Pferd aus an, das Schwert hoch erhoben und den Schild bereit. Aber er hatte nicht mit Rexxars Körpergröße gerechnet. Rexxar parierte den Schlag mit einer Axt und krachte in den Mann, während er mit der anderen das Schwert wegschlug.

Als der Reiter aus dem Sattel geworfen wurde, hob Rexxar beide Äxte hoch, und das eigene Bewegungsmoment sorgte dafür, dass der Mann aufgespießt wurde. Rexxar grinste und stieß einen wilden Kriegsschrei aus. Dann zog er die Äxte heraus und stieg über den toten Soldaten. Das reiterlose Pferd wandte sich ab und floh vor Haratas Bissen.

Manchmal war es gut, ein Halb-Oger zu sein.

Etwas flackerte am Rand seines Sichtfelds, als er kurz das Innere des Dunklen Portals wahrnehmen konnte. Er hatte es nur eine Sekunde lang gesehen, aber deutlich Blitze erkannt, Staubwolken, peitschende Wellen und einen bebenden Boden. Das Portal hatte bislang immer die andere Seite gezeigt, deshalb hatte er während des Kampfes immer wieder einmal nach Draenor hineinschauen können. Aber was er jetzt gesehen hatte – das war nicht mehr seine Heimatwelt. Das war ein Ort wie aus einem Albtraum!

Dann attackierte ihn ein weiterer Soldat der Allianz, und das lenkte Rexxars Gedanken augenblicklich auf die Schlacht zurück. Er erledigte den Krieger mit Leichtigkeit, aber direkt neben ihm hatte ein anderer Orc nicht so viel Glück. Er trug das Gewand eines Hexenmeisters und dieselbe grüne Haut wie die meisten Mitglieder der Horde. Rexxar, der der Horde erst kurz, bevor sie Azeroth angriffen hatte, beigetreten war, hatte sich nicht verändert. Es gab hier mehrere Hexenmeister. Einige waren recht mächtig, doch ihre Todesmagie brauchte Zeit, und im Schlachtenverlauf geschahen manche Dinge schnell.

Zwei Krieger griffen den Hexer gemeinsam an, und während der Zauberer einen von ihnen überwältigen konnte und ihn in heillosem Schrecken fliehen ließ, hatte der andere ihm in die Brust gestochen, bevor ein nahe stehender Kriegshymnenkämpfer dem Menschen mit seinem Knüppel den Schädel zertrümmerte. Jetzt wankte der Hexenmeister, eine Hand an den wachsenden Blutfleck gepresst. Seine Haut wurde schon bleich, Schweiß rann über seine Stirn.

Rexxar grunzte und schüttelte den Kopf. Er hatte nur wenig für Hexenmeister übrig, und dieser hatte sich offensichtlich nicht ausreichend auf die Schlacht vorbereitet.

Der Hexer bemerkte die Bewegung, und der verwundete Orc starrte Rexxar an. Ekel und Verachtung schwelten in seinem Blick. Dann trat er vor, streckte seine Handfläche vor sich aus.

„Du!“, rief der Hexer, „Halbblut! Du bist nicht wirklich von der Horde. Kein echter Orc. Aber du wirst reichen. Komm her!“

Rexxar schaute den Zauberer an, zu überrascht um zu antworten. Dieser Hexenmeister beleidigte ihn und erwartete dann auch noch Hilfe? War er komplett verrückt geworden?

Doch als der Zauberer näherkam, sah Rexxar das grüne Schimmern, das seine Hände umgab. Er atmete schnell ein, weil er das seltene Gefühl von Angst verspürte.

Nein, der Zauberer wollte keine Hilfe, keine herkömmliche jedenfalls – er wollte Rexxars Lebenskraft. Hexenmeister konnten anderen die Lebensenergie absaugen und sich selbst heilen. Dieser Prozess forderte einen hohen Preis. Eine schwere Wunde konnte einen gesunden Orc töten.

Und die Wunde dieses Hexers war tödlich.

Rexxar versuchte zurückzuweichen, aber er war eingezwängt. Die Orcs und Menschen hinter ihm standen zu dicht zusammen, als dass er sich hätte bewegen können. Er knurrte und hob beide Äxte. Eher würde er den Zauberer umbringen, als dass er so enden wollte...

Aber der Orc vollführte eine Geste, und plötzlich fiel Rexxar auf die Knie. Unglaublicher Schmerz durchfuhr ihn.

„Wie? Gar nicht mehr so selbstsicher?“, verspottete der Hexer ihn leise und trat nah genug an ihn heran, dass sein Atem über Rexxars Haut strich.

Rexxar krümmte sich, wand sich vor Schmerz und konnte sich nicht wehren.

„Tut es weh? Keine Angst. Bald sind die Schmerzen fort.“ Er hob seine Hände absichtlich langsam an, um den Moment auszukosten. Und dann sah Rexxar, wie sich die grün leuchtenden Hände näherten. Er meinte bereits zu spüren, wie ihm die Energie entzogen wurde. Müdigkeit überkam ihn.

Ein wildes Knurren drang durch den Nebel der Folter, und ein großer, schwarzer Schatten krachte in den Zauberer.

„Harata, nein!“ Weil der Zauberer abgelenkt war, brach der Bann, und Rexxar konnte sich wieder bewegen. Aber es war zu spät. Sein ergebener Wolfsgefährte hatte den Hexer weggeschubst, doch dabei hatte dessen Hand den dicken Pelz des Wolfes berührt. Rexxar schaute erschrocken auf, als sein Freund vor seinen Augen verging. Der starke Wolf sank binnen Sekunden in sich zusammen. Sein Körper wurde zu Staub, der vom Wind verweht wurde.

„Ah, jetzt geht es mir besser“, sagte der Zauberer, stand auf und wischte sich über sein Gewand. Der Blutfleck blieb, er bewegte sich jetzt allerdings wieder normal. „Dein Tier hat dir das Leben gerettet“, wandte er sich mit einem gemeinen Grinsen an Rexxar.

„Ja, das hat es“, antwortete Rexxar leise und wirbelte mit beiden Äxten. „Aber wer rettet dich jetzt?“

Er schlug aus dem Handgelenk zu. Die Äxte drangen tief in die Brust des Hexenmeisters ein. Rexxar hatte viel seiner bemerkenswerten Stärke in den Schlag gelegt, und der Zauberer fiel durch die Wucht des Schlages auf die Knie. Die Äxte schnitten durch ihn hindurch, und er landete auf dem blutdurchtränkten Boden.

Rexxar sah auf den Leichnam, keuchte, dann blickte er zu der Stelle, wo sein Wolf gestorben war. Die Wut durchdrang ihn noch und dröhnte in seinen Ohren. Er kniete sich hin und legte seine vom Hexenmeisterblut benetzte Hand auf den Staub.

„Du bist gerächt, mein Freund“, sagte er leise, „obwohl es mir lieber wäre, du wärst noch bei mir.“ Er atmete tief durch, stand auf, bezähmte seine Trauer und seine Wut und rief nach dem Anführer des Kriegshymnenklans.

Grom sah auf, bemerkte Rexxar und winkte dem Halb-Orc mit der Axt zu. Deshalb hatte Rexxar den Anführer des Kriegshymnenklans immer gemocht, trotz all seiner Wildheit und Gewaltbereitschaft. Grom hatte ihm immer denselben Respekt gezollt wie jedem anderen Krieger. Dafür hatte er auch stets Grom respektiert, aber jetzt waren Erfolge wichtiger als Manieren.

„Das Portal!“, brüllte Rexxar und zeigte darauf. „Da stimmt etwas nicht!“

Grom schaute genau in dem Moment auf das Portal, als eine Handvoll Orcs hindurchwankte. Zuerst erhob sich Rexxars Herz, er dachte, dass die Horde ihnen Hilfe geschickt hatte. Aber dann erkannte er, dass diese Orcs bereits geschlagen waren und bluteten. Und dass sie eher rannten als marschierten. Sie liefen, als würden sie vor etwas fliehen. Etwas auf Draenor.

„Lauft!“, rief einer von ihnen, als er mit einem Soldaten der Allianz zusammenstieß. Der Soldat fiel hin, doch der Orc rannte weiter, ohne sich um sein hilfloses Opfer zu kümmern. „Lauft!“

„Was geht da vor?“, fragte Grom, und Rexxar zuckte die Achseln, nicht weniger verwirrt. Sie starrten beide auf das Dunkle Portal, als die dortige Szenerie sich änderte. Sie wandelte sich von einer verrückt gewordenen Landschaft zu einem Mahlstrom wirbelnder Farben und dann zu völliger Dunkelheit.

Danach verschwand sie.

Einen Herzschlag später begann der steinerne Rahmen zusammenzubrechen, der das Dunkle Portal, den Spalt zwischen den Welten, eingerahmt hatte.

Das Geräusch steigerte sich zu einem Crescendo, und dann kollabierte das Zentrum. Die beiden massiven Hälften brachen donnernd zusammen, und eine Wolke aus Staub und Steinsplittern stieg auf. Die Stützpfeiler fielen als Nächstes, aus dem Gleichgewicht gebracht von dem ursprünglichen Aufprall.

Rexxar zog den Kopf ein und legte den Stoff seiner Kapuze vor den Mund, um den Staub nicht einatmen zu müssen. Orcs und Menschen verteilten sich und versuchten dem Chaos und dem Geröll zu entkommen.

„Nein!“, schrie jemand. Stöhnen und Schreie erfüllten die Luft.

Rexxar starrte auf die Überreste, die einst das Tor zwischen den Welten gebildet hatten. Das Portal – vernichtet? Bedeutete das, dass sie niemals mehr heimkommen würden? Was würde jetzt aus ihnen werden?

Glücklicherweise bewahrte ein Orc kühlen Kopf. „Neu gruppieren!“, brüllte Grom und schlug Rexxar auf die Schulter. „Du sammelst jeden auf dieser Seite ein, ich auf der anderen. Wir treffen uns am Eingang des Tals!“

Rexxar wurde aus der Erstarrung gerissen, nickte und gehorchte. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, verzichtete Rexxar auf die schützende Vermummung. Er konnte immer noch die Panik spüren, drängte sie aber zurück, um sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die Grom ihm zugewiesen hatte. Jeden Orc, den er sah, schickte er zum Taleingang, und entweder wegen seiner Größe oder wegen der beiden Äxte, die er trug – oder weil sie einfach auf Befehle warteten –, gehorchten die Orcs ohne jedes Widerwort.

Als Rexxar selbst am Taleingang ankam, war Grom ebenfalls zurück und mit ihnen alle Mitglieder der Horde auf Azeroth. Die meisten blickten so benommen, wie er sich fühlte.

„Grom! Das Portal ist verschwunden!“, stammelte einer von ihnen.

„Was sollen wir tun?“

„Ja. Das Portal ist verschwunden. Und die Allianz gruppiert sich neu“, verkündete Grom laut und wies in die Richtung, in der sich die Menschen neu formierten, vor den Überresten des ehemaligen Portals. „Sie glauben, dass wir leichte Beute sind. Sie glauben, wir wären ohne das Portal verloren und verängstigt. Aber sie irren sich. Wir sind die Horde!“

Seine glühenden roten Augen schauten über die Menge vor ihm, und er hob Blutdurst. „Wir gehen nach Norden, zurück nach Steinard. Wir kriegen heraus, was mit unserer Welt geschehen ist. Wir versorgen unsere Verwundeten. Wir überleben! Dann formieren wir uns neu, damit wir den Menschen zu unseren Bedingungen, nicht zu ihren, entgegentreten.“ Er knurrte. „Die Allianz nähert sich. Wird sie uns besiegen?“

„Nein!“, erklang es aus den Reihen der Orcs.

Rexxar hielt sie insgeheim für die letzten Überreste der orcischen Horde.

Grom grinste, warf seinen Kopf zurück, öffnete seinen schwarz tätowierten Mund und stieß einen Kriegsruf aus, bevor er losstürmte.

Seine Leute folgten ihm.

Dieser da war der Richtige! Grom ging zu dem Orc, der eingemummt neben dem Feuer saß, als sie in dieser Nacht in Steinard kampierten. Er war nicht staubig oder blutig, und Grom kannte alle seine Krieger. Er legte seine Hände auf die Schultern des Orcs und zog ihn zu sich heran. Grom ragte über dem Orc auf, dessen Augen vor Überraschung geweitet waren.

Hinter Grom stand Rexxar.

Mühelos hob Grom den Orc an und hielt ihn in der Luft. Verzweifelt zappelte der Orc mit den Beinen. Der Häuptling des Kriegshymnenklans beugte sich vor.

„Also“, sagte Grom leise, und ein finsterer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Was im Namen der Ahnen ist dort drüben passiert?“

Der Orc zitterte und erzählte alles, was er wusste. Seine Artgenossen hörten ihm gebannt zu. Das einzige Geräusch war die Stimme des Orcs, das Knacken des Feuers und die allgegenwärtigen Geräusche des nächtlichen Sumpfs.

Als er endete, schwiegen alle. Sie starrten ihn nur an, zu schockiert, um etwas zu sagen.

Schließlich, nach mehreren Minuten, schüttelte sich Grom. „So“, knurrte er und sah die anderen einschüchternd an, bis sie ihre Blicke abwandten. Nervös scharrten sie mit den Füßen. „Dann bereiten wir uns vor.“

„Vorbereiten?“, schrie Rexxar.

Grom sah den Krieger an, der halb Orc und halb Oger war.

„Worauf vorbereiten, Höllschrei? Unsere Welt ist tot. Unsere Leute sind tot. Und wir sind für immer hier gefangen. Ganz auf uns allein gestellt. Auf was im Namen der Ahnen sollten wir uns also vorbereiten?“ Rexxars Griff um die Axt war so fest, dass Grom glaubte, der Schaft könnte brechen.

„Wir bereiten uns auf die Rache für die Toten vor!“, knurrte Grom. Das Bild von Garrosh stand wieder vor seinem geistigen Auge. Sein Sohn und Erbe. Mein Junge, dachte er, mein Junge, tot wie der Rest.

„Wir sind alles, was übrig geblieben ist!“, erklärte er und fuhr die anderen Orcs an: „Wir sind jetzt die Horde! Wenn wir aufgeben, bedeutet das das Ende von allem, was wir kennen. Alles, was uns wichtig ist! Unser Volk wird nicht sterben, bevor wir uns nicht niederlegen und den Tod wie Feiglinge erwarten! Wenn Ner’zhuls Pläne...“

„Ner’zhul!“, brüllte Rexxar und beugte sich vor. Sein Gesicht war Grom jetzt ganz nah. „Der ist doch an allem schuld! Wer sonst könnte eine Welt zum Zusammenbruch bringen? Er hat uns alle verraten. Er versprach, Draenor zu retten, und hat es stattdessen zerstört!“

„Das wissen wir nicht!“, widersprach Grom. „Wir wussten, dass er mit extrem mächtiger Magie hantierte, um das Portal zu anderen Welten zu öffnen. Vielleicht ging etwas schief?“

„Oder es lief genau richtig... für ihn!“, fuhr Rexxar wütend fort. „Vielleicht hat er uns alle nur benutzt, unsere ganze Welt, um seine Ziele zu verwirklichen? Das hat Gul’dan doch gemacht, oder nicht?“

Viele der umstehenden Orcs grunzten oder murmelten ihre Zustimmung. Jeder wusste von Gul’dans Verrat und wie er die Orcs den Sieg im Zweiten Krieg gekostet hatte.

„Und wer hat Gul’dan ausgebildet?“, fuhr Rexxar fort. „Wer brachte ihm alles bei? Ner’zhul! Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!“

Das Murmeln wurde lauter und wütender. Grom wusste, dass er dieses Gespräch beenden musste, bevor sich die versammelten Krieger in einen wütenden Mob verwandelten.

„Begreift ihr denn nicht, dass das egal ist?“, begann er und stellte Rexxars Wut die eigene Ruhe entgegen. „Sollen wir unsere Entscheidung auf Gerüchten gründen lassen? Sollen wir uns nach dem verzehren, was hätte sein können, und uns darüber aufregen, was vielleicht passiert ist? Benimmt sich so die mächtige Horde?“ Er sah von Orc zu Orc und bezog sie in das Gespräch mit ein. Er war zufrieden, als das Murmeln erstarb und sie gespannt erwarteten, was er noch zu sagen hatte.

„Wir haben überlebt! Wir sind auf Azeroth, einer Welt voller Leben, Land und Schlachten. Wir können die Horde wieder aufbauen und die Welt erneut angreifen!“

Einige Orcs jubelten bei seiner Ansprache. Grom nutzte diese Stimmung zu seinem Vorteil und schwang Blutdurst über seinem Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

„Ja, die Allianz jagt uns“, rief er. „Und wir sind derzeit kein Gegner für sie. Aber eines Tages, und das wird schon bald sein, sind wir es wieder! Hier können wir uns ausruhen, erholen und planen. Von hier aus starten wir Angriffe, wie wir es bereits seit einigen Monden tun. Wir werden neu erstarken. Wir werden wieder die Jäger sein, und die Menschen werden vor Angst erzittern!“ Er hielt seine Axt immer noch über dem Kopf, senkte aber jetzt die Stimme, damit seine Worte fast schon schmeichelnd in die plötzliche Stille sinken konnten. „Und eines Tages werden wir, die Horde, uns gegen die Menschen erheben und uns rächen!“

Die Krieger jubelten und brüllten. Sie hoben ihre eigenen Waffen, und Grom nickte zufrieden. Sie standen alle hinter ihm. Alle waren wieder vereint.

Alle – bis auf einen.

„Du wurdest mehrfach betrogen, jedes Mal von einem anderen Orc, der die Führerschaft beanspruchte – und du beschreitest immer noch denselben Weg“, sagte Rexxar leise, obwohl seine Augen vor Wut brannten. „Du hast gar keinen Grund mehr zu kämpfen! Früher kämpften wir, um unser Volk zu schützen und diese Welt zu erobern. Aber unsere Leute sind fort! Wir brauchen diese Welt nicht mehr! Mit diesen paar Orcs kannst du leicht einen Ort finden, an dem uns die Menschen niemals aufspüren werden. Und das, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen!“

„Woher käme dann der Ruhm?“, rief ein anderer Orc.

Grom nickte. „Was ist dein Leben ohne Kampf?“, wollte er von Rexxar wissen. „Du bist ein Krieger, du verstehst uns! Kämpfen hält uns stark!“

„Vielleicht“, gestand das Halbblut ein. „Aber warum kämpfen, wenn es keinen Grund dafür gibt? Wenn es reiner Selbstzweck wäre? Wir müssen niemanden retten oder irgendetwas gewinnen, nicht einmal Ruhm. Diese Schlachten dienen nur dazu, den Blutrausch zu stillen, geboren aus der Liebe zur Gewalt. Und dessen bin ich überdrüssig. Ich will nicht länger daran teilhaben.“

„Feigling!“, rief jemand, und Rexxars Augen zogen sich zusammen, als er sich zur vollen Größe aufrichtete. Er brachte die Doppeläxte auf Schulterhöhe.

„Tritt vor und wiederhole das“, drohte er. „Tritt vor, wo ich dich deutlich sehen kann, und nenn mich noch einmal Feigling! Dann wirst du schon sehen, ob ich vor einem Kampf zurückschrecke!“

Keiner bewegte sich, und nach einer Sekunde schüttelte Rexxar den Kopf, ein Lächeln lag auf seinen markanten Zügen. „Ihr seid die Feiglinge“, verkündete er und spie die Worte aus. „Ihr seid zu ängstlich, um außerhalb der Lügen und Versprechungen zu leben, die euch gemacht wurden. Ihr habt keinen Mut und keine Ehre. Deshalb kann man euch nicht trauen. Von jetzt an traue ich nur noch den Tieren.“

Grom hatte gemischte Gefühle, als er den großen Krieger gehen sah. Wie konnte Rexxar es wagen, sie jetzt zu verlassen, wo sie unbedingt zusammenbleiben mussten? Andererseits, wer konnte es ihm verdenken? Er gehörte nicht einmal im eigentlichen Sinne der Horde an. Weil die Mok’Nathal nie den Schergrat verlassen wollten. Groms Wissen nach hatte nur Rexxar sich der Horde angeschlossen und im Ersten und Zweiten Krieg gekämpft. Und was hatte es ihm eingebracht? Er hatte seine Welt verloren, sein Volk und selbst seinen Begleiter, den Wolf. War es da ein Wunder, dass der Halb-Orc sich betrogen fühlte?

„Niemand verlässt die Horde“, rief jemand. „Wir sollten ihn an den Ohren zurückschleifen oder töten!“

„Er hat uns alle beleidigt“, bemerkte ein anderer. „Er sollte für diese Anmaßung sterben!“

„Wir brauchen seine Kraft“, konterte ein dritter. „Wir können es uns nicht leisten, ihn zu verlieren!“

„Genug!“, brüllte Grom und sah sie an. Die Zwischenrufer verstummten. „Lasst ihn ziehen“, befahl er. „Rexxar hat der Horde gut gedient. Lasst ihm nun seinen Frieden.“

„Und was ist mit uns?“, wollte einer der Krieger wissen. „Was machen wir jetzt?“

„Wir wissen, was zu tun ist“, antwortete Grom. „Diese Welt ist nun unsere Heimat. Lasst uns darin leben.“

Aber als sie nickten und zum Feuer zurückgingen, um sich leise über Pläne, Siege und Nachschub zu unterhalten, kamen Grom Rexxars Worte wieder in den Sinn.

Ein Teil von ihm fragte sich, ob sie jemals das wiederfinden würden, was sie vor langer Zeit verloren hatten: ihren Frieden.

28

Turalyon kam aus dem Spalt und blinzelte. „Ist... ist das... Draenor?“

Sie waren Draenors Vernichtung entgangen, indem sie in eine andere Welt geflohen waren. Eine, die sie kaum verstehen konnten.

Khadgar und die anderen Magier hatten sie vor den Erschütterungen abgeschirmt, die durch den Spalt gedrungen waren. Und nachdem es ruhiger geworden war, waren sie zurückgekehrt.

Sie hofften, Kameraden zu finden, die überlebt hatten. Aber als er erkannte, was geschehen war, blieb Turalyon stehen und sah sich um. Nur Allerias Ziehen an seiner Hand erinnerte ihn daran, dass er beiseitetreten musste, damit die anderen nachkommen konnten.

„Ja. Oder zumindest das, was davon übrig geblieben ist“, sagte Khadgar. Turalyon erkannte das Geröll, das einst das Dunkle Portal gewesen war, mit der Ehrenfeste und der Höllenfeuerzitadelle in der Ferne. Die aufgeplatzte rote Erde sah aus wie immer. Aber der Himmel...!

Von dort oben waberten jetzt neue Farben, und Bänder aus Licht zogen sich darüber, die niemals den Boden berührten.

Die Sonne war verschwunden, der Himmel dunkelrot, aber Turalyon konnte den Mond über ihnen stehen sehen, der größer wirkte als je zuvor. Eine zweite rötliche Sphäre befand sich tief am Horizont, und eine hellblaue schwebte direkt darüber. Irrlichter flogen hin und her.

Und während der Boden dieselbe Farbe und Konsistenz wie zuvor besaß, sah Turalyon nicht weit entfernt einen Keil zerborstener Erde, der vielleicht dreißig Meter hoch aufragte. Er bewegte sich leicht in den wilden Winden, die um sie herum tobten, blieb aber sonst an Ort und Stelle liegen. Andere Bruchstücke bewegten sich auch.

„Die Schäden haben die Realität, wie wir sie bislang kannten, angegriffen und verändert“, fuhr Khadgar fort. „Schwerkraft, Raum, vielleicht die Zeit selbst funktionieren hier nicht mehr richtig.“

Khadgars Worte wurden von einem reißenden Geräusch unter ihnen verschluckt. Turalyon fasste Khadgar und Alleria am Arm und zerrte sie beide instinktiv weg.

„Zurück!“, rief Turalyon, obwohl er sich nicht sicher war, ob seine Männer ihn über das Aufbrechen des Bodens und das Heulen des Windes hinweg hören konnten. „Fort von dem Spalt!“

Er deutete nach Westen, zur Ehrenfeste. Sie rannten los und vergaßen in der Panik alle Befehle.

Sie setzten keinen Augenblick zu früh zur Flucht an. Als Turalyon Khadgar und Alleria mit sich zog, begann der Untergrund, auf dem sie standen, zu beben. Sie sprangen vor und erreichten knapp den Boden dahinter, bevor der Vorsprung hinter ihnen zusammenbrach. Felsbrocken und Erdreich flogen davon.

Vorher war das Dunkle Portal teilweise von Bergen im Osten umgeben gewesen und an einer Seite vom Meer begrenzt. Jetzt war ein Großteil der Berge verschwunden und erschreckenderweise auch das Wasser. Die herabfallenden Erdbrocken landeten auf einer leeren Ebene. Sie waren das Überbleibsel einer Welt, die in gähnender Dunkelheit lag. Nur hier und da zuckten Lichtblitze.

„Herr Kommandant“, sagte einer der Männer. „War das... war das nicht dort, wo früher der Spalt klaffte?“

„Ja“, antwortete Turalyon. „Das war es.“

Der Spalt, durch den sie zuerst von Draenor geflohen waren, hatte sich tatsächlich auf der Kuppe befunden und war kollabiert. Nur die Überreste des Dunklen Portals waren zurückgeblieben.

Stille kehrte ein, und Turalyon spürte die wachsende Verzweiflung. „Schaut dort!“ In geringer Entfernung entdeckte er eine vertraute Ansammlung von Gebäuden. „Die Ehrenfeste steht noch. Wir haben sie als unsere Festung auf Draenor errichtet, und als solche nutzen wir sie auch.“

Staubig und erschöpft sah er die Männer an. „Wir wussten, dass wir vielleicht nicht zurückkehren könnten. Beim Licht, wir erwarteten zu sterben, aber wir leben. Das Portal ist geschlossen. Wir haben erledigt, wofür wir hierherkamen. Was wir jetzt tun – liegt an uns. Andere sind noch dort draußen. Wir müssen sie finden und herbringen. Wir werden diese Welt auskundschaften. Uns neue Verbündete suchen. Die Horde weiter bekämpfen –jedenfalls das, was von ihr übrig ist. Damit sie so etwas nie wieder versucht. Das Licht ist mit uns. Wir haben viel Arbeit vor uns. Aber die Welt wird so werden, wie wir sie gestalten!“

Alleria trat neben ihn, ihre Augen strahlten. Er drückte fest ihre Hand. Turalyon sah zu Khadgar, der nickte. Seine jungen Augen lächelten zustimmend.

Der Paladin sah wieder seine Männer an. Sie waren immer noch besorgt, immer noch unsicher. Aber die Verzweiflung und die Angst waren fort.

Diese Welt wird so werden, wie wir sie uns gestalten.

„Auf!“, sagte Turalyon und wies zur Ehrenfeste. „Gehen wir heim...“

Epilog

„Ner’zhul!“

Der Orc-Schamane und Kriegshäuptling der Horde schrie auf, als er seinen Namen hörte. Seine Augen flackerten auf. Sofort griff das merkwürdige strudelnde Nichts um ihn herum seine Sinne an. Er kniff die Augen zusammen und hoffte, das Gefühl verdrängen zu können, das ihn wahnsinnig zu machen drohte. Dann hörte er die Stimme durch das Heulen und Krachen um sich herum erneut.

„Ner’zhul!“

Er blinzelte und sah sich um. Nur einen Steinwurf entfernt –zumindest schien es ihm so, aber schon eine Sekunde später hätte er schwören können, dass es Meilen waren – bemerkte Ner’zhul eine dunkle Gestalt. Sie wirkte wie ein Orc. Ein genauerer Blick bestätigte es: grüne Haut, Hauer und lange Zöpfe. Eindeutig ein Orc, und zwar einer, in dem Ner’zhul einen seiner Schattenmondkrieger erkannte.

Der Krieger bewegte sich aber nicht. Ner’zhul glaubte nur zu sehen, dass sich sein Brustkorb hob und senkte. Doch an diesem Ort konnte man sich nicht einmal dessen sicher sein.

Andere Gestalten schwebten durch den Mahlstrom aus Licht und Schatten. Alle, die mit ihm durch den Spalt gegangen waren, schienen hier zu sein.

Die Frage war nur, wo hier war. Warum hatte ihn der Spalt nicht in eine andere Welt entlassen?

Denn wo auch immer er sich befinden mochte, in einem war sich Ner’zhul ganz sicher: Dies war keine normale Welt.

Was war geschehen? Warum war er wach, während alle anderen in einem tiefen Schlaf gefangen schienen?

Eine Reihe von Lichtern zog an ihm vorbei, und eine Sekunde lang sah Ner’zhul leuchtende Schimmer, die ihn und die anderen umgaben. Seine Augen weiteten sich, als er aber fürchten musste, dass seine Sinne überbeansprucht wurden, schloss er sie schnell.

Da hatte er es jedoch schon gesehen: Sie saßen tatsächlich in der Falle; etwas band sie an diesen Ort!

„Ner’zhul!“

Sein Name trieb erneut durch diese merkwürdige Welt, nur spürte Ner’zhul diesmal, wie etwas an ihm zerrte. Der andere Orc verschwand schnell – oder vielleicht war ja auch er selbst derjenige, der sich bewegte –, während die anderen an Ort und Stelle blieben. Binnen Minuten war Ner’zhul allein, weit abgedrängt vom Rest.

Und dann fiel ein großer Schatten auf ihn. Er blickte hoch – in das Gesicht des personifizierten Zorns.

Vor Ner’zhul stand ein riesiges Wesen in einer schweren Rüstung aus geätztem blutrotem Metall. Das Gesicht der Gestalt erinnerte an einen Draenei, intelligent und schlau, aber mit hellroter Haut und einer dämonischen Ausstrahlung. Die Kreatur hatte kurze, gewölbte Hörner an den Schläfen und zwei merkwürdige Tentakel, die aus ihrem Kinn hervorsprangen. Ein kurz geschnittener Bart umrahmte das Maul. Mehrere Ohrringe glitzerten, und die Augen der Kreatur leuchteten dunkelgelb.

Ner’zhul erkannte sie sofort.

„Hohes Wesen“, japste er und gab sein Bestes, um sich zu verneigen, obwohl seine Glieder immer noch seltsam steif waren.

„Ah, Ner’zhul, mein untreuer, kleiner Diener“, antwortete KiFjaeden, Dämonenlord der Brennenden Legion. „Hast du etwa geglaubt, ich hätte dich vergessen?“

„Nein, hohes Wesen, natürlich nicht.“ In Wahrheit hatte Ner’zhul es insgeheim doch gehofft. Und nach ein paar Jahren hatte er es sogar geglaubt.

Jetzt sank ihm das Herz, als der Dämonenlord weitersprach.

„Oh, ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, Ner’zhul“, versicherte ihm KiFjaeden. „Du hast mir ein wichtiges Geschäft verdorben, weißt du?“ Der Dämonenlord lachte eisig. „Und jetzt sollst du dafür bezahlen!“

„Ich...“, begann Ner’zhul, aber sein Hirn war kaum in der Lage, Worte zu bilden.

„Du konntest es einfach nicht lassen“, beendete KiFjaeden den Satz für ihn. „Ich wusste, dass du wieder versuchen würdest, die Magie zu nutzen, die du weder verstanden hast noch beherrschen konntest. Ich wartete und wusste, dass dich eines Tages deine eigene Arroganz zu mir bringen würde.“ Er breitete seine behandschuhten Hände weit aus. „Und hier sind wir nun!“ Seine Augen verwandelten sich in messerscharfe Schlitze. „Du hast von deinem Tod geträumt. Dem wolltest du entkommen. Jetzt, meine kleine Puppe, wird der Tod alles sein, was du jemals kennenlernen wirst.“

Seine Blicke brannten sich in Ner’zhuls Verstand. Schmerz durchwühlte den Schamanen, als ihm das Fleisch vom lebendigen Körper gezogen wurden, der Tod umgab ihn, näherte sich. Das Blut seiner Stammesbrüder klebte an seinen Händen, seih eigenes Blut bedeckte sie, ein morbides Gemisch aus Tod, Leben und peinigender Folter.

„Nein!“, schrie Ner’zhul, schlug um sich und versuchte sich von den unsichtbaren Fesseln zu befreien. „Mein Volk braucht mich noch!“

Gelächter schüttelte den Dämon, ein schreckliches Geräusch, das Ner’zhuls Herz zum Erbeben brachte.

„Ich wusste, dass sie dir nichts bedeuteten. Mach dir also keine Sorgen“, flüsterte der Dämonenlord. Er berührte mit einer Fingerspitze Ner’zhuls Wange. Es brannte. Hitze und Schmerz fluteten durch Ner’zhuls Leib. „Für sie gibt es keine Rettung. Hast du das immer noch nicht begriffen? Kleine Puppe, du kannst ja nicht mal dich selbst retten.“

Dann verdrehte er die Finger, seine gespreizte Hand lag auf Ner’zhuls Gesicht, und der Orc-Schamane ließ den Kopf zurückfallen. Ein schrecklicher Schrei kam über seine Lippen, und er wusste, dass es nur der erste von vielen sein würde.