Alexander Dumas
Der Graf von Monte Christo
Erster Band
Marseille. — Die Ankunft
Am 25. Februar 1815 fuhr der Dreimaster Pharao langsam und wie zögernd in den Hafen von Marseille. Eine Trauerwolke schien das Schiff zu umschweben. Gespannt folgte eine schaulustige Menge allenBewegungen des Fahrzeugs undbemerktebei dessen Näherkommen, daß es von einem auffallend jungen und wohlgestalten, dabei aber anscheinend ebenso tatkräftigen wie geschickten Manne gelenkt wurde.
Das Volk von Marseille, dem schon seit Gründung der Stadt einiges Griechenblut durch die Adern rollt, ist von Natur lebhaft und neugierig. In jenen Tagen kam dazu einebesondere Unruhe, die vor allem die Herzen der heißblütigen Provençalen erfüllte. Seit neun Monaten weilte Napoleon nach jähem Sturz von halbgottähnlicher Machthöhe als Verbannter auf dem unfernen Eiseneiland Elba. Die Royalisten triumphierten in Frankreich, und nichts war gefährlicher, alsbonapartistischer Umtriebe oder auch nurbonapartistischer Gesinnung verdächtig zu sein. Nichtsdestoweniger raunte sich die immer wachsende Zahl der Wohlunterrichteten zu, der kleine Korse mit dem großen Zäsarenkopfbereite sich vor, die ihm aufgedrängte Maske des gebändigten Löwen abzuwerfen. DieBeschränktheit der Anhänger des neuen Königs, Ludwigs XVIII., die alle Errungenschaften der Revolution zurückzuschrauben wünschten, die Uneinigkeit der in Wien um das Erbe des Verbannten sich streitenden Mächte, der noch frische Ruhmesglanz desblendenden napoleonischen Namens ließen die Augen vieler Franzosen sich immer aufgeregter und erwartungsvoller nach dem Süden richten.
Unter derbewegten des Pharao harrenden Menge fiel ein Mann auf, der, wie es schien, vor Unruhe die Einfahrt des Schiffes gar nicht erwarten konnte. Er sprang in eine kleineBarke undbefahl, dem Pharao entgegenzurudern, den er auchbald erreichte. Als der junge Leiter des Fahrzeugs dieBarke sich nähern sah, verließ er seinen Posten neben dem Lotsen, dessenBefehle er mit rascher Gebärde und lebhaftemBlick für die Mannschaft wiederholt hatte, nahm den Hut in die Hand und lehnte sich über dieBrüstung des Schiffes.
Es war ein Jüngling von achtzehnbis zwanzig Jahren mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren. In seiner ganzen Person drückte sich Ruhe und Entschlossenheit aus, wie sie den Menschen eigentümlich sind, die von Kindheit an mit der Gefahr zu kämpfen haben.
Ah, Sie sind es, Dantes, rief der Mann in derBarke; was ist geschehen, und wasbedeutet das traurige Aussehen des Schiffes?
Ein großes Unglück, Herr Morel, antwortete der junge Mann. Auf der Höhe von Civita Vecchia haben wir denbraven Kapitän Leclère verloren.
Und die Ladung? fragte lebhaft der Reeder.
Ist glücklich geborgen, Herr Morel, und ich glaube, Sie werden in dieser Hinsicht zufrieden sein; aber der arme Kapitän…
Was ist ihm denn geschehen? fragte der Reeder, sichtbar erleichtert, was ist ihm denn geschehen, dembraven Kapitän?
Er ist tot. — In das Meer gefallen?
Nein, er starban einer Hirnentzündung. Dann wandte sich der junge Seemann seinen Leuten zu, rief: Holla, he! Jeder an seinen Posten zum Ankern! und erst als er sah, daß seineBefehle vollführt wurden, kehrte er zu Herrn Morel zurück.
Und wie ist das Unglück gekommen? fragte der Reeder.
Mein Gott, ganz überraschend. Nach einer langen Unterredung mit dem Hafenkommandanten verließ der Kapitän Neapel in sehr aufgeregtem Zustande. Nach 24 Stunden faßte ihn das Fieber, drei Tage nachher war er tot… Er ruht in einer Hängematte, eine Kugel an den Füßen und eine am Kopf, auf der Höhe der Insel Giglio. Wirbringen der Witwe sein Ehrenkreuz und seinen Degen zurück. Warum mußte er, fuhr der junge Mann schwermütig fort, zehn Jahre gegen die Engländer kämpfen, um nun einen solchen Strohtod zu sterben?
Verdammt! Wir sind alle sterblich, und die Alten müssen den Jungen Platz machen, und von dem Augenblicke an, wo ich sicherbin, daß die Ladung…
Siebefindet sich in gutem Zustande, Herr Morel, dafür stehe ich. Das ist eine Ladung, die ich Ihnen nicht für 25000 Franken Nutzen aus der Hand zu geben rate. Dann, als man um den Leuchtturm am Hafeneingang fuhr, rief er: Alle Segel gestrichen!
DerBefehl wurde mit derselben Geschwindigkeit ausgeführt, wie auf einem Kriegsschiffe, und das Schiff rückte nur noch langsam vorwärts.
Wenn Sie heraufkommen wollen, Herr Morel, sagte Dantes, die Unruhe des Reeders wahrnehmend, hier ist Ihr Rechnungsführer, Herr Danglars, der wird Ihnen jede Auskunft geben. Ich meinesteils muß für die Ankerung sorgen. — Der Reeder ließ sich das nicht zweimal sagen und erstiegbehende das Schiff, wo ihm, während Dantes auf seinen Posten zurückkehrte, Danglars entgegenkam.
Danglars war ein Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, unterwürfig gegen seine Obern undbarsch gegen seine Untergebenen, Eigenschaften, die ihn allgemeinbei der Mannschaft ebenso verhaßt machten, wie Edmond Dantesbei ihrbeliebt war. Nun, Herr Morel, sagte Danglars, Sie wissenbereits das Unglück, nicht wahr?
Ja, ja, der arme Leclère! Einbraver, ehrlicher Mann!
Und ein trefflicher Seemann, ergraut zwischen Himmel und Wasser, wie es sich für einen Mann geziemt, dem die Interessen eines so wichtigen Hauses wie Morel und Sohn anvertraut sind.
Aber, versetzte der Reeder, mit den Augen dem geschäftigen Dantes folgend, es scheint mir, manbraucht nicht gerade ein so alter Seemann zu sein, um sein Handwerk zu kennen, und unser Freund Edmond hier treibt das seinige, meine ich, wie ein Mensch, der niemandes Rat nötig hat.
Ja, antwortete Danglars, auf Dantes einenBlick des Hasses werfend, ja, der ist jung und fürchtet nichts. Kaum war der Kapitän tot, so übernahm er das Kommando, ohne jemand um Rat zu fragen, und ließ uns anderthalbTage auf der Insel Elba verlieren, statt unmittelbar nach Marseille zurückzukehren.
Was die Übernahme des Kommandosbetrifft, sagte der Reeder, so war dies seine Pflicht als Sekond; was aber das Verlieren von anderthalbTagen auf der Insel Elbabetrifft, so hatte er unrecht, wenn nicht das Schiff Haverei ausbessern mußte.
Das Schiffbefand sich so wohl, wie ich michbefinde, und diese anderthalbTage dientenbloß dem Vergnügen, ans Land zu steigen.
Dantes, sagte der Reeder, sich nach dem jungen Mann umwendend, kommen Sie hierher!
Ichbitte um Entschuldigung, erwiderte Dantes, ich stehe sogleich zu Diensten; dann rief er der Mannschaft zu: Anker geworfen!
Sogleich fiel der Anker, und die Kette rasselte geräuschvoll hinterdrein. Dantesbliebtrotz der Gegenwart des Lotsen an seinem Posten, bis dieses letzte Manöverbeendigt war. Dann rief er: Hißt die Flagge Halbmast! Kreuzt die Segelstangen! Sie sehen, sagte Danglars, auf mein Wort, er hält sichbereits für den Kapitän.
Gott verdamme mich, warum sollen wir ihn nicht an diesem Posten lassen? entgegnete der Reeder; ich weiß wohl, er ist jung, aber er scheint mir ganzbei der Sache undbereits recht erfahren zu sein.
Eine Zorneswolke trübte Danglars' Miene.
Um Vergebung, Herr Morel, sagte Dantes nähertretend; nun, da das Schiff geankert hat, stehe ich zuBefehl.
Danglars machte einen Schritt rückwärts.
Ich wollte Sie fragen, warum Sie an der Insel Elba angehalten haben, begann der Reeder.
Es geschah in Vollzug eines letztenBefehls des Kapitäns Leclère, der mir sterbend ein Paket für den GroßmarschallBertrand übergab.
Sie haben ihn also gesehen, Edmond?
Wen? — Den Großmarschall. — Ja.
Morel schaute um sich her, zog Dantesbeiseite und fragte lebhaft: Wie geht es dem Kaiser?
Gut, soviel ich mit meinen eigenen Augen sehen konnte.
Haben Sie mit ihm gesprochen? Was sagte er?
Er stellte Fragen an mich über das Schiff, über Zeit und Weg unserer Fahrt nach Marseille und über die Ladung. Ich glaube, wäre ich der Herr des Schiffes gewesen, so hätte er es kaufen wollen. Aber ich sagte ihm, ich sei nur Sekond, und das Schiff gehöre dem Hause Morel und Sohn. Ah, erwiderte er, ich kenne das Haus. Die Morel sind ein altes Reedergeschlecht, und ein Morel stand in demselben Regimente mit mir in Valence in Garnison.
Das istbei Gott wahr! rief der Reeder ganz freudig, es war Policar Morel, mein Oheim, der später Kapitän geworden ist. Dantes, Sie werden meinem Oheim sagen, daß der Kaiser sich seiner erinnert hat, und der alte Murrkopf wird weinen. Gut, gut, fuhr der Reeder, dem jungen Menschen vertraulich auf die Schulter klopfend, fort, Sie haben wohl daran getan, Dantes, den Auftrag des Kapitäns Leclère zu erfüllen und an der Insel Elba anzuhalten. Doch wenn man wüßte, daß Sie dem Marschall ein Paket übergeben und mit dem Kaiser gesprochen haben… es könnte Sie gefährden.
Wie sollte mich dies gefährden? entgegnete Dantes. Ich weiß nicht einmal, was ich überbrachte, und der Kaiser richtete nur die nächstliegenden Fragen an mich. Doch um Vergebung, hier sind die Zollbeamten. Sie erlauben… nicht wahr?
Gewiß, mein lieber Dantes. Der junge Mann entfernte sich, und je weiter er sich entfernte, desto näher kam Danglars.
Nun, fragte er, er scheint Ihnen gute Gründe für seinen Aufenthalt in Elba angegeben zu haben?
Vortreffliche Gründe, antwortete der Reeder, und es läßt sich nichts dagegen einwenden. Kapitän Leclère selbst hatte ihm denBefehl erteilt.
Ah! was den Kapitän Leclèrebetrifft… hat Dantes Ihnen nicht einenBrief von ihm zugestellt?
Nein! Hatte er denn einen?
Ich glaubte, der Kapitän Leclère hätte ihm außer dem Paket auch einenBrief anvertraut.
Von welchem Paket sprechen Sie, Danglars?
Von dem, das Dantes auf Elba abzugeben hatte.
Woher wissen Sie, daß er ein Paket abzugeben hatte?
Danglars errötete und sagte: Ich ging an der halbgeöffneten Tür der Kapitänskabine vorüber und sah, wie Leclère denBrief und das Paket Dantes einhändigte.
Er hat mir nichts davon gesagt, entgegnete der Reeder, wird mir aber wohl denBrief noch übergeben.
Danglars überlegte einen Augenblick und erwiderte: Ichbitte Sie, Herr Morel, nicht mit Dantes davon zu sprechen; ich werde mich getäuscht haben.
In diesem Augenblick kehrte der junge Mann zurück, während Danglars sich entfernte.
Nun, mein lieber Dantes, sind Sie frei? fragte der Reeder. — Jawohl, alles ist in Ordnung. — Sie können mit mir zu Mittag speisen. — Ichbitte, entschuldigen Sie mich, Herr Morel; mein ersterBesuch gehört meinem Vater. Doch ichbin darum nicht minder dankbar für die Ehre, die Sie mir erzeigen. — Recht, Dantes, ganz recht. Ich weiß, daß Sie ein guter Sohn sind; aber nach diesem erstenBesuche zählen wir auf Sie. — Entschuldigen Sie abermals, nach diesem erstenBesuche habe ich einen zweiten zu machen, der mir nicht minder am Herzen liegt. — Ah! das ist wahr, Dantes, ich vergaß, daß es unter den Kataloniern jemand gibt, der mit nicht geringerer Ungeduld auf Sie wartet, als Ihr Vater. Es ist die schöne Mercedes.
Dantes errötete.
Ah! ah! sagte der Reeder, ich wundere mich gar nicht mehr, daß sie dreimal zu mir gekommen ist und mich um Nachricht über den Pharao gebeten hat. Edmond, Sie sind nicht zubeklagen, Sie haben eine hübscheBraut. Doch da fällt mir ein, hat Ihnen nicht der Kapitän Leclère sterbend einenBrief für mich gegeben?
Es war ihm unmöglich, zu schreiben. Nun möchte ich mir aber noch auf einige Tage Urlauberbitten.
Um zu heiraten?
Einmal und dann, um nach Paris zu gehen.
Gut, gut, Sie nehmen sich so viel Zeit, als Sie wollen, Dantes. Zum Löschen des Schiffesbrauchen wir an sechs Wochen, und vor drei Monaten gehen wir nicht wieder in See. Sie müssen also erst in drei Monaten hier sein. Der Pharao, fuhr der Reeder, den jungen Mann auf die Schulter klopfend, fort, könnte nicht ohne seinen Kapitän abgehen.
Ohne seinen Kapitän? rief Dantes mit funkelnden Augen, Sie entsprechen den geheimsten Hoffnungen meines Herzens. Es wäre also wirklich Ihre Absicht, mich zum Kapitän des Pharao zu ernennen?
Wenn ich allein wäre, würde ich Ihnen die Hand reichen, lieber Dantes, und sagen: Es ist abgemacht! Aber ich habe einen Associe, und Sie kennen das italienische Sprichwort: Che ha compagno ha padrone. (Wer einen Kompagnon hat, hat auch einen Herrn.) Doch zur Hälfte ist das Geschäft wenigstens abgeschlossen, denn von zwei Stimmen haben Siebereits eine. Überlassen Sie es mir, Ihnen die andere zu verschaffen; ich werde mein möglichstes tun!
Oh, Herr Morel! rief der junge Seemann und ergriff, mit Tränen in den Augen, die Hände des Reeders, Herr Morel, ich danke Ihnen in meines Vaters und in Mercedes' Namen.
Es ist gut, Edmond, es gibt einen Gott im Himmel für diebraven Leute! Besuchen Sie Ihren Vater und Mercedes, und kommen Sie dann zu mir zurück!
Soll ich Sie nicht an das Land führen?
Nein, ich danke, ichbleibe hier, um meine Rechnung mit Danglars zu ordnen. Sind Sie während der Reise mit ihm zufrieden gewesen?
Das kommt auf den Sinn an, in dem Sie diese Frage an mich richten. InBezug auf gute Kameradschaft, nein; denn ich glaube, er liebt mich nicht mehr, seitdem ichbei einem kleinen Streit die Dummheitbeging, ihm vorzuschlagen, zehn Minuten an der Insel Monte Christo anzuhalten, um den Streit auszumachen, ein Vorschlag, den er mit Recht zurückwies. Fragen Sie mich aber nach dem Rechnungsführer, so glaube ich, daß Sie mit der Art und Weise, wie er sein Geschäftbesorgt hat, zufrieden sein werden.
Wie aber? sagte der Reeder; wenn Sie Kapitän des Pharao wären, würden Sie Danglars gernbehalten?
Kapitän oder Sekond, antwortete Dantes, ich werde stets die größte Achtung vor denen haben, die das Vertrauen meiner Reederbesitzen.
Schön, schön, Dantes, ich sehe, daß Sie in jederBeziehung einbraverBursche sind; ich will Sie nicht länger aufhalten, denn Sie stehen gewiß wie auf glühenden Kohlen.
Auf Wiedersehen, Herr Morel, und tausend Dank! Der junge Seemann sprang in den Kahn und gabBefehl, an der Cannebière zu landen. Der Reeder folgte ihm lächelnd mit den Augenbis zum Kai, sah ihn aussteigen und sich unter derbunten Menge verlieren, die von neun Uhr morgensbis neun Uhr abends dieberühmte Rue de la Cannebière durchströmt, auf welche die Marseiller so stolz sind, daß sie mit dem größten Ernste von der Welt sagen: Wenn Paris die Cannebière hätte, so wäre es ein kleines Marseille.
Als er sich umwandte, erblickte der Reeder Danglars hinter sich, der dem Anscheine nach seineBefehle erwartete, in Wirklichkeit aber dem jungen Seemanne mit demBlicke folgte. Nur war ein großer Unterschied in dem Ausdruck dieserbeidenBlicke, die demselben Menschen folgten.
Vater und Sohn
Überlassen wir es dem gehässigen Danglars, dem Reeder einenboshaften Argwohn gegen Dantes ins Ohr zu flüstern, und folgen wir diesem, der den Weg in die Rue de Noilles einschlägt, in ein kleines auf der rechten Seite der Allee de Meillan gelegenes Haus tritt, rasch die vier Stockwerke einer dunkeln Treppe hinaussteigt und, sich mit der einen Hand am Geländer haltend, mit der andern die Schläge seines Herzens zurückdrängend, vor einer halbgeöffneten Tür stehenbleibt.
Hier wohnte sein Vater. Die Nachricht von der Ankunft des Pharao war noch nichtbis zu dem Greise gedrungen, der, auf einem Stuhle sitzend, mit zitternder Hand Kapuzinerkresse, vermischt mit Rebwinden, die sich am Gitter seines Fensters hinaufrankten, durch Stäbe zusammenzuhalten suchte. Plötzlich fühlte er sich von Armen umfaßt, und eine wohlbekannte Stimme rief hinter ihm: Mein Vater, mein guter Vater!
Mit einem Schrei wandte sich der Alte um, und als er seinen Sohn erblickte, warf er sichbebend undbleich in seine Arme. Was hast du denn Vater? rief der junge Mannbeunruhigt, dubist doch nicht krank?
Nein, nein, mein lieber Edmond, mein Sohn, mein Kind, nein, ich erwartete dich nicht, und die Freudebei deinem unvorhergesehenen Anblick… ach! mein Gott, ich glaube, ich sterbe.
Beruhige dich doch, mein Vater, ichbin es, ich! Man sagt, die Freude könne nicht schaden, und darumbin ich hier ohne Vorbereitung eingetreten. Ich komme zurück, Vater, und wir werden nun glücklich sein.
Ah, destobesser, mein Junge, versetzte der Greis; aber wie werden wir glücklich sein? Du verläßt mich also nicht mehr? Erzähle mir von deinem Glücke!
Der Herr verzeihe mir, erwiderte der junge Mann, daß ich mich über ein Glück freue, das mit der Trauer einer andern Familie erkauft ist, aber Gott weiß, daß ich dieses Glück nicht gewünscht habe. Derbrave Kapitän Leclère ist gestorben, und durch Herrn Morels Fürsprachebekomme ich wahrscheinlich seinen Platz. Begreifst du, Vater, mit zwanzig Jahren Kapitän… mit hundert Louisd'or Gehalt und einem Anteil am Gewinn! Ist das nicht mehr, als ein armer Matrose wie ich hoffen durfte?
Ja, mein Sohn, ja, das ist ein großes Glück.
Von dem ersten Gelde, das ich verdiene, sollst du auch ein Häuschen mit einem Gartenbekommen, um deine Reben und deine Kapuzinerkresse zu pflanzen. Aber was hast du denn, Vater? Man könnte glauben, du seiest unwohl.
Geduld, Geduld, das hat nichts zu sagen.
Aber schon schwanden dem Greise die Kräfte, und er sank rückwärts nieder.
Rasch, rasch, ein Glas Wein wird dich wiederbeleben; wo verwahrst du deinen Wein? sagte der junge Mann und öffnete zwei, drei Schränke.
Ach, sprach der Greis matt, es ist kein Wein mehr da.
Wie, kein Wein mehr da? rief, jetzt ebenfalls erbleichend, Dantes, indem er abwechselnd die hohlen Wangen des Greises und die leeren Schränke anschaute. Kein Wein mehr hier? Hat es dir etwa an Geld gefehlt?
Es fehlt mir an nichts, da du hierbist.
Ich habe dir dochbei meiner Abreise vor drei Monaten zweihundert Franken zurückgelassen, stammelte Dantes, sich den Schweiß abtrocknend, der von seiner Stirn lief.
Ja, ja, Edmond, das ist wahr; aber du hattestbei deinem Abgang eine kleine Schuldbei dem Nachbar Caderousse vergessen. Er erinnerte mich daran und sagte, wenn ich nicht für dichbezahlte, so würde er sich von Herrn Morelbezahlen lassen; dubegreifst, aus Furcht, es könnte dir schaden…
Aber ich war ihm 140 Franken schuldig! rief Dantes. Und du hast sie ihm von den 200 Franken gegeben, die ich dir zurückließ?
Der Greis machte ein Zeichen mit dem Kopfe.
Du hast also drei Monate lang von sechzig Franken gelebt?
Du weißt, wie wenig ichbedarf, sagte der Greis.
Oh! mein Gott, mein Gott! vergibmir, rief Edmond und warf sich vor dem alten Mann auf die Knie.
Bah! Dubist hier, erwiderte lächelnd der Greis, und nun ist alles vergessen, alles ist nun gut.
Ja, ichbin hier, versetzte der junge Mann, ichbin hier mit einer schönen Zukunft vor mir und mit einigem Geld; hier, Vater, nimm, nimm und laß sogleich etwas holen!
Und er leerte auf den Tisch seine Taschen aus, die ein Dutzend Goldstücke und etwas kleinere Münze enthielten.
Sachte, sachte, sagte der Greis lächelnd, mit deiner Erlaubnis werde ich deineBörse nurbescheidenbenützen; wenn man mich zu viele Dinge auf einmal kaufen sehen würde, könnte man glauben, ich hätte auf deine Ankunft warten müssen.
Ja, wie du willst; aber vor allem nimm eine Magd an! Du sollst nicht länger alleinbleiben. Ich habe geschmuggelten Kaffee und vortrefflichen Tabak in einem Kistchen im Schiffsraum; morgen erhältst dubeides. Doch still, hier kommt jemand.
Es ist Caderousse, der wohl deine Ankunft erfahren hat.
Gut, abermals Lippen, die etwas sagen, während das Herz etwas ganz anderes denkt! murmelte Edmond. Doch gleichviel, es ist ein Nachbar, der uns einst Dienste geleistet hat, darum soll er willkommen sein.
In dem Augenblick, wo Edmond seinen Satz mit leiser Stimme vollendete, sah man einen schwarzenbärtigen Kopf in der Tür erscheinen; es war Caderousse, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, seines Standes ein Schneider.
Ah! Dubist endlich zurückgekehrt, Edmond? sagte er in echt Marseiller Mundart und mitbreitem Lächeln.
Wie Sie sehen, Meister Caderousse, undbereit, Ihnen gefällig zu sein, antwortete Dantes, seine Kälte nur schlecht unter dieser höflichen Anrede verbergend.
Danke, danke, zum Glückbrauche ich nichts, und zuweilen können mich sogar anderebrauchen. Ich sage das nicht deinetwegen, fuhr er fort, als Dantes eine unwillkürlicheBewegung machte. Ich habe dir Geld geliehen; du hast michbezahlt; das kommt unter guten Nachbarn vor, und wir sind quitt.
Wir sind nie quitt gegen die, welche uns Dienste geleistet haben, antwortete Dantes, denn wenn man ihnen sonst nichts mehr schuldet, so ist man ihnen doch Dank schuldig.
Wozu davon reden? Was geschehen ist, ist geschehen. Reden wir von deiner glücklichen Rückkehr, mein Junge. Ich war an den Hafen hinausgegangen und traf dort Danglars, der mir erzählte, daß ihr gut angekommen seid; und dann eilte ich hierher, um dir die Hand zu drücken. Nun, du stehst also aufsbeste mit Herrn Morel, du Schlaukopf?
Herr Morel hat mir stets viel Güte erwiesen, und ich hoffe, sein Kapitän zu werden, antwortete Dantes.
Destobesser, destobesser! Das wird allen alten Freunden Freude machen, und ich kenne jemand da unten hinter der Zitadelle Saint‑Nicolas, der nicht ärgerlich darüber sein wird. Mercedes? sagte der Greis.
Ja, Vater, versetzte Dantes, und jetzt, da ich gesehen habe, daß du dich wohlbefindest und alles hast, was dubrauchst, bitte ich dich um Erlaubnis, bei den Kataloniern meinenBesuch zu machen.
Geh, mein Sohn, geh, sagte der alte Dantes, und Gott segne deine Frau, wie er mich in meinem Sohne gesegnet hat.
Seine Frau! rief Caderousse, wie Ihr rasch zu Werke geht. Es scheint mir, sie ist es noch nicht.
Nein, aber aller Wahrscheinlichkeit nach, antwortete Edmond, wird sie esbald werden.
Gleichviel, gleichviel, sagte Caderousse, du hast wohl daran getan, dich zubeeilen, mein Sohn.
Warum?
Weil Mercedes ein hübsches Mädchen ist, und es den hübschen Mädchen nicht an Liebhabern fehlt. Ihrbesonders laufen sie zu Dutzenden nach.
Wirklich? sagte Edmond mit einem Lächeln, unter dem sich ein leichter Schatten von Unruhe verbarg.
Oh ja, antwortete Caderousse, und sogar schöne Partien; aber dubegreifst, du sollst Kapitän werden, und man wird sich wohl hüten, deine Hand auszuschlagen.
Still, sagte der junge Mann, ich habe einebessere Meinung als Ihr von den Frauen im allgemeinen und von Mercedes insbesondere, ichbin überzeugt, daß sie mir, mag ich Kapitän sein oder nicht, treubleiben wird.
Destobesser, destobesser, versetzte Caderousse, wenn man sich verheiraten will, tut man immer gut, zu glauben. Doch, wie gesagt, folge mir, mein Junge, verliere keine Zeit, melde ihr deine Ankunft und teile ihr deine Hoffnungen mit!
Ich gehe, sagte Edmond, umarmte seinen Vater, grüßte Caderousse und entfernte sich.
Caderoussebliebnoch einen Augenblick, nahm dann von dem alten Dantes Abschied, ging ebenfalls die Treppe hinabund suchte Danglars wieder auf, der ihn an der Ecke der Rue Senac erwartete.
Nun, sagte Danglars, hast du ihn gesehen? Hat er von seiner Hoffnung, Kapitän zu werden, gesprochen?
Er spricht davon, als ober esbereits wäre.
Geduld! Geduld! sagte Danglars, mir scheint, er hat's gar zu eilig. Und er ist immer noch in die Katalonierin verliebt?
Wie toll; soeben ist er zu ihr gegangen. Doch wenn ich mich nicht sehr täusche, wird er hier auf Schwierigkeiten stoßen.
Sag einmal, du liebst Dantes nicht, wie? — Ich liebe die Anmaßenden nie. — Nun also, was weißt du von der Katalonierin? — NichtsBestimmtes; nur habe ich gesehen, daß Mercedes, so oft sie in die Stadt kommt, von einem großen schwarzen Katalonier, den sie Vetter nennt, begleitet wird. — Ah, wirklich? Und glaubst du, dieser Vetter mache ihr den Hof? — Ich denke wohl. Was zum Teufel kann einBursche von einundzwanzig Jahren mit einem hübschen Mädchen von siebzehn weiter machen?
Und du sagst, Dantes sei zu den Kataloniern gegangen?
Ja, wenn wir ihm folgen, so können wir im Garten der Reservebei einem Glase Wein das weitere abwarten.
Beidebegaben sich mit raschen Schritten nach dembezeichneten Orte und ließen sich eine Flasche Weinbringen. Der Vater Pamphile, der sie ihnen vorsetzte, hatte Dantes vor kaum zehn Minuten vorübergehen sehen.
Die Katalonier
Hundert Schritte von der Laube, wo diebeiden Freunde den sprudelnden Lamalgue‑Wein tranken, erhobsich hinter einem nackten, sonnigen Hügel die kleine Ansiedlung der Katalonier. Eines Tages wanderte eine Anzahl Katalonier aus dem Mutterland aus und landete hier, wo sie sich noch heutebefindet. Man wußte nicht, woher sie kam, und kannte nicht einmal ihre Sprache. Einer von den Führern, der Provençalisch verstand, bat die Gemeinde Marseille, ihnen dieses nackte, unfruchtbare Vorgebirge zu geben, auf das sie ihre Schiffe gezogen hatten. DieBitte wurde gewährt, und drei Monate nachher erhobsich um ihre fünfzehn Fahrzeuge ein kleines Dorf. Seit dreibis vier Jahrhunderten sind sie ihrem Vorgebirge treu geblieben, ohne sich mit derBevölkerung von Marseille zu vermischen, denn sie heirateten unter sich undbehielten Sitten, Tracht und Sprache ihres Mutterlandesbei.
In einer der einfachen Hütten stand ein junges Mädchen mit rabenschwarzen Haaren und Augen an der Wand. Ihrebis an den Ellbogen entblößten Arme, die zwar gebräunt, aber schön geformt waren, bebten wie von fieberhafter Ungeduld, und sie stampfte mit ihrem geschmeidigen, schön gebogenen Fuße auf die Erde, so daß die reine, stolze, kühne Form ihres mit einembaumwollenen StrumpfbekleidetenBeines ein wenig sichtbar wurde.
Drei Schritte von ihr saß auf einem Stuhle ein großer etwa zwanzigjährigerBursche undbetrachtete sie mit einer Miene, in der sich Unruhe und Trotzbekämpften. Seine Augen sahen fragend und verlangend aus, aber der feste, entschiedeneBlick des jungen Mädchensbeherrschte den Jüngling.
Wie steht's, Mercedes, sagte der junge Mann, Ostern naht; ist's da nicht Zeit, Hochzeit zu machen? Antwortet mir!
Ich habe Euch hundertmal geantwortet, Fernand, und Ihr müßt in der Tat Euer eigener Feind sein, daß Ihr mich noch einmal fragt!
Wiederholt es, ichbitte Euch, noch einmal, daß ich es endlich glauben kann! Sagt mir zum hundertstenmale, daß Ihr eine Liebe ausschlagt, die Eure Mutterbilligte! Macht mir'sbegreiflich, daß Ihr mit meinem Glücke Euer Spiel treibt, daß mein Leben und mein Tod nichts für Euch sind. Ach, mein Gott, zehn Jahre lang habe ich geträumt. Euer Gatte zu werden, und soll nun diese Hoffnung verlieren, die der einzige Zweck meines Lebens war!
Ichbin es wenigstens nicht gewesen, die Euch in dieser Hoffnung ermutigt hat, Fernand, antwortete Mercedes. Ihr könnt mir in dieser Hinsicht nichts vorwerfen. Stets sagte ich Euch: Ich liebe Euch wie meinenBruder, fordert aber nie mehr von mir, denn mein Herz gehört einem andern. Das habe ich Euch immer gesagt, Fernand.
Ich weiß es wohl, Mercedes, antwortete der junge Mann. Ja, Ihr habt mir gegenüber das grausame Verdienst der Offenherzigkeit. Aber vergeßt Ihr, daßbei den Kataloniern das heilige Gesetzbesteht, sich nur untereinander zu heiraten?
Ihr täuscht Euch, Fernand, das ist kein Gesetz, es ist eine Gewohnheit und nichts weiter. Führt diese Gewohnheit nicht zu Euren Gunsten an! Ihr seid zur Aushebung vorgemerkt; jeden Augenblick könnt Ihr zur Fahne einberufen werden. Seid Ihr aber Soldat, was sollte dann aus mir werden, dem verlassenen, vermögenslosen Mädchen, das als einzige Habe nur einebaufällige Hüttebesitzt, in der ein paar abgenutzte Netze hängen… die elende Erbschaft von meinem Vater und meiner Mutter? Seit sie im vorigen Jahre starb, lebe ich fast nur von der öffentlichen Wohltätigkeit. Zuweilen tut Ihr, als wäre ich Euch nützlich, um das Recht zu haben, Euren Fischfang mit mir zu teilen. Ich nehme es an, Fernand, weil Ihr mein Vetter seid, weil wir miteinander erzogen worden sind, und mehr noch, weil es Euch zu viel Kummer machen würde, wenn ich es ausschlüge; aber ich fühle wohl, daß der Fisch ein Almosen ist.
Wenn Ihr aber, die arme und verlassene Mercedes, mirbesser gefallt als die Tochter des stolzesten Reeders und des reichstenBankiers von Marseille? Wasbraucht ein Mann aus dem Volk wie ich? Ein ehrliches Weib, eine gute Wirtschafterin. Und wo kann ich da etwasBesseres finden, als Ihr seid?
Fernand, antwortete Mercedes, den Kopf schüttelnd, man ist eine schlechte Wirtschafterin und kann nicht dafür stehen, daß man eine ehrliche Fraubleibt, wenn man einen andern Mann liebt, als seinen Gatten. Begnügt Euch mit meiner Freundschaft, denn ich wiederhole Euch, das ist alles, was ich Euch versprechen kann, und ich verspreche nur, was ich halten kann.
Ja, ichbegreife, sagte Fernand, Ihr ertragt geduldig Eure Armut, aber Ihr habt Furcht vor der meinen. Nun wohl, Mercedes, von Euch geliebt, werde ich mich aufzuschwingen suchen. Ihrbringt mir Glück, und ich werde reich. Ich kann mein Fischergewerbe ausdehnen, ich kann als Kommis in ein Kontor eintreten, ich kann sogar Kaufmann werden!
Ihr könnt das alles nicht, Fernand, Ihr seid als Soldat vorgemerkt, und wenn Ihr noch hier weilt, so ist dies nur der Fall, weil gegenwärtig kein Krieg geführt wird. Bleibt also Fischer und — begnügt Euch mit meiner Freundschaft, da ich Euch nichts anderes geben kann.
Oh, Mercedes, Ihr seid nur so grausam und hart gegen mich, weil Ihr einen andern erwartet; aber der ist vielleicht unbeständig wie das Meer.
Fernand, rief Mercedes, ich hielt Euch für gut, aber ich täuschte mich! Ihr habt ein schlechtes Herz, daß Ihr mit Eurer Eifersucht den Zorn des Himmels herabruft. Nun wohl, ichbekenne es offen: Ich erwarte und liebe den, welchen Ihr meint.
Der junge Katalonier machte eine wütende Gebärde.
Ich verstehe Euch, Fernand, Ihr werdet Euch dafür rächen, daß ich Euch nicht liebe, Ihr werdet Euer katalonisches Messer mit seinem Dolche kreuzen! Wohin wird Euch das führen? Dahin, daß Ihr meine Freundschaft verliert, wenn Ihrbesiegt werdet; daß Ihr meine Freundschaft in Haß verwandelt, wenn Ihr Sieger seid. Glaubt mir, Streit mit einem Manne suchen, ist ein schlechtes Mittel, der Frau zu gefallen, die diesen Mann liebt. Nein, Fernand, Ihr werdet Euch nicht so durch Eure schlimmen Gedanken hinreißen lassen. Da Ihr mich nicht als Fraubesitzen könnt, so werdet Ihr Euchbegnügen, mich zur Freundin und zur Schwester zu haben. Und überdies, fügte sie mit unruhigen, tränenfeuchten Augen hinzu, Ihr habt soeben gesagt, das Meer sei treulos. Schon seit vier Monaten ist er abgereist, und seit vier Monaten habe ich viele Stürme gezählt.
Fernandbliebunempfindlich. Er suchte nicht die Tränen zu trocknen, die über Mercedes' Wangen herabrollten, und dennoch hätte er für jede ihrer Tränen einenBecher seinesBlutes gegeben; aber diese Tränen flossen nicht für ihn. Er stand auf, ging in der Hütte umher, kehrte zurück, bliebmit düsterem Auge und geballten Fäusten vor Mercedes stehen und sagte: Laßt hören, Mercedes, noch einmal, antwortet: Steht Euer Entschluß fest?
Ich liebe Edmond Dantes, antwortete kalt das junge Mädchen, und kein anderer als Edmond soll mein Gatte werden.
Und Ihr werdet ihn immer lieben?
Solange ich lebe.
Fernand ließ ganz entmutigt das Haupt sinken und stieß einen Seufzer aus. Dann, plötzlich die Stirn wieder erhebend, rief er: Aber wenn er tot ist?
Wenn er tot ist, sterbe ich.
Aber wenn er Euch vergißt?
Mercedes! rief eine freudige Stimme vor dem Hause, Mercedes!
Ah, rief das junge Mädchen, vor Entzücken errötend und ausspringend, Ihr seht, daß er mich nicht vergessen hat, denn er ist da!
Eilig lief sie zur Tür, öffnete sie und rief mit jubelndem Tone: Herein, Edmond, hierbin ich!
Fernand wichbleich undbebend zurück, wie ein Reisender in den Tropen, der sich plötzlich einer giftigen Schlange mit gähnendem Rachen gegenüber sieht, stieß an seinen Stuhl und sank zitternd darauf nieder.
Edmond und Mercedes lagen einander in den Armen. Die glühende Sonne von Marseille drang durch die Öffnung der Tür herein und übergoß sie mit einer Woge von Licht. Anfangs sahen sie nichts von dem, was sie umgab. Ein unermeßliches Glück erhobsie über die Welt, und sie sprachen nur in abgebrochenen Worten, wie sie sowohl der lebhaftesten Freude wie nicht minder dem quälenden Schmerze zum Ausdruck dienen können.
Plötzlich erblickte Edmond Fernands düsteres Antlitz, dasbleich und drohend aus dem Schatten hervortrat. Durch eineBewegung, von der er sich vielleicht selbst nicht Rechenschaft gab, fuhr der junge Katalonier mit der Hand an das Messer, das in seinem Gürtel stak.
Ah! um Vergebung, sagte Dantes, ebenfalls die Stirn faltend, ich hatte nichtbemerkt, daß wir zu dritt sind! Sich sodann an Mercedes wendend, fragte er: Wer ist dieser Herr?
Dieser Herr wird deinbester Freund sein, Dantes, denn es ist auch mein Freund; es ist mein Vetter, es ist meinBruder, es ist Fernand, der Mann, den ich nach dir, Edmond, am meisten in der Welt liebe. Erkennst du Fernand nicht wieder?
Ah, gewiß! sagte Edmond, und ohne Mercedes zu verlassen, deren Hand er in der seinigen hielt, reichte er mit einer herzlichenBewegung seine andere Hand dem Katalonier.
Aber Fernand, weit entfernt, diese freundschaftliche Gebärde zu erwidern, bliebstumm und unbeweglich wie eine Statue. Da ließ Edmond seinen forschendenBlick über diebewegte, zitternde Mercedes und dann über den düsteren, drohenden Fernand gleiten, und dieser eineBlick sagte ihm alles. — Der Zorn stieg ihm zu Kopfe.
Als ich mit so großer Eile zu Euch lief, Mercedes, wußte ich nicht, daß ich einen Feind hier finden würde, sagte er.
Einen Feind! rief Mercedes, mit einem zornigenBlicke auf ihren Vetter; einen Feindbei mir, sagst du, Edmond? Wenn ich das glaubte, so nähme ich dichbeim Arme, ginge nach Marseille und würde dieses Haus verlassen, um nie mehr dahin zurückzukehren.
Fernands Auge schleuderte einenBlitz.
Und wenn dir ein Unglück widerführe, Edmond, fügte sie mit eisiger Stimme hinzu, die Fernandbewies, daß sie in der Tiefe seiner finsteren Gedanken gelesen hatte, wenn dir ein Unglück widerführe, so stiege ich auf das Kap Morgion und stürzte mich über die Felsen hinab.
Fernand wurde furchtbarbleich.
Aber du hast dich getäuscht, Edmond, fuhr sie fort, du hast keinen Feind hier, denn hier sehe ich nur Fernand, meinenBruder, der dir die Hand wie ein ergebener Freund drücken wird.
Undbei diesen Worten heftete Mercedes ihren gebieterischenBlick auf den Katalonier, der, von diesemBlicke wiebezaubert, sich langsam Edmond näherte und ihm die Hand reichte. Aber kaum hatte er die Handberührt, als er fühlte, daß er etwas getan, das über seine Kräfte ging, und aus dem Hause stürzte.
Oh! rief er, wie ein Wahnsinniger fortrennend und mit den Händen in seinen Haaren wühlend, wer wird mich von diesem Menschenbefreien! Wehe mir! wehe mir!
He, Katalonier! he, Fernand! wohin läufst du? rief eine Stimme.
Der junge Mannbliebstehen, schaute umher und sah Caderousse, der mit Danglars unter einer Laube an einem Tische saß.
He! sagte Caderousse, warum kommst du nicht zu uns? Hast du so große Eile, daß du nicht einmal deinen Freunden einen guten Morgen wünschen kannst?
Fernand schaute die Männer mit einfältiger Miene an und antwortete nicht.
Er scheint ganz verblüfft, sagte Danglars leise und stieß dabei Caderousse mit dem Knie. Sollten wir uns getäuscht haben und keinenBundesgenossen in ihm finden?
Verdammt! Wollen doch sehen! erwiderte Caderousse und fügte, zu dem jungen Mann gewendet, hinzu: Nun, Katalonier, willst du nicht kommen?
Fernand trocknete den Schweiß von seiner Stirn und trat langsam unter die schattige Laube, deren Frische seinem erhitzten Körper wohlzutun schien.
Guten Morgen, sagte er, Ihr habt mich gerufen, nicht wahr? Und dabei ließ er sich erschöpft auf einen Stuhl fallen.
Ich rief dich, weil du wie ein Narr liefst, und weil ichbefürchtete, du könntest dich ins Meer stürzen, erwiderte lachend Caderousse. Was zum Teufel, wenn man Freunde hat, so muß man ihnen nicht nur ein Glas Wein anbieten, sondern sie auch verhindern, drei oder vier Pinten Wasser zu schlucken.
Fernand stieß einen Seufzer aus, der einem Schluchzen ähnlich klang, und ließ seinen Kopf auf seine Fäuste sinken, die er kreuzweise auf den Tisch gelegt hatte.
Wie geht's, Fernand? Soll ich dir was sagen, versetzte Caderousse mit plumper Offenheit, du siehst aus wie ein aus dem Felde geschlagener Liebhaber.
Und erbegleitete diesen Spaß mit schwerfälligem Lachen.
Bah! sagte Danglars, ein junger Mann von diesem Schnitte kann unmöglich in der Liebe unglücklich sein. Du scherzest, Caderousse.
Oh nein, erwiderte dieser, höre nur, wie er seufzt. Ruhig, Fernand, fügte Caderousse hinzu, die Nase hochgehalten und geantwortet! Es ist nicht liebenswürdig. Freunden nicht zu antworten, die sich nach unsrer Gesundheit erkundigen.
Meine Gesundheit ist gut, antwortete Fernand, seine Fäuste krampfhaft zusammenziehend, aber ohne den Kopf zu heben.
Oh, siehst du, Danglars, sagte Caderousse und machte dabei seinem Freunde aus einem Augenwinkel ein Zeichen, das ist die Sache: Fernand, den du hier siehst, ein guter, braver Katalonier, einer derbesten Fischer von Marseille, ist in ein schönes Mädchen, namens Mercedes, verliebt. Doch leider scheint das junge Mädchen seinerseits in den Sekond des Pharao verliebt zu sein. Und da der Pharao heute in den Hafen eingelaufen ist, so verstehst du…
Nein, ich verstehe nicht, erwiderte Danglars.
Der arme Fernand wird seinen Abschiedbekommen haben, fuhr Caderousse fort.
Wohl und was ist dabei? sagte Fernand, das Haupt erhebend, und schaute Caderousse wie ein Mensch an, der einen sucht, auf den er seinen Zorn fallen lassen kann. Mercedes hängt von niemand ab, nicht wahr? Es steht ihr frei, zu lieben, wen sie will!
Ah! wenn du es so nimmst, entgegnete Caderousse, so ist es etwas anderes. Ich hielt dich für einen Katalonier, und man hat mir gesagt, die Katalonier wären nicht die Männer, die sich von andern ausstechen lassen; man sagte mir weiter, Fernand seibesonders furchtbar in seiner Rache.
Fernand lächelte mitleidig und erwiderte: Ein Verliebter ist nie furchtbar.
Armer Junge! versetzte Danglars, der sich den Anschein gab, alsbeklagte er den jungen Mann aus der Tiefe seines Herzens. Was willst du? Er war nicht darauf gefaßt, Dantes so plötzlich zurückkommen zu sehen. Er hielt ihn vielleicht für tot, für ungetreu, wer weiß? Man ist in solchen Fällen um so empfindlicher, je unerwarteter sie eintreten.
In jedem Fall, sagte Caderousse, auf den der Wein seine Wirkung auszuüben anfing, ist Fernand nicht der einzige, den Dantes' glückliche Ankunft ärgert! Nicht wahr, Danglars?
Du sprichst die Wahrheit, und ich glaube fast, behaupten zu können, daß ihm dies Unglückbringen wird.
Doch gleichviel, versetzte Caderousse, goß Fernand ein Glas Wein ein und füllte zum zehntenmale sein eigenes Glas, während Danglars nur an dem seinigen genippt hatte, gleichviel, inzwischen heiratet er Mercedes, die schöne Mercedes; er kommt wenigstens deshalbzurück.
Während dieser Wortebetrachtete Danglars mit durchdringendemBlick den jungen Mann, auf dessen Herz Caderousses Worte wie geschmolzenesBlei fielen.
Und wann soll die Hochzeit sein? fragte er.
Oh! so weit ist's noch nicht, murmelte Fernand.
Nein, aber es wirdbald so weit sein, entgegnete Caderousse; so gewiß, als Dantes Kapitän sein wird, nicht wahr, Danglars?
Danglarsbebtebei diesem unerwarteten Streiche und wandte sich zu Caderousse, um auf dessen Gesicht zu lesen, obihm der Stich mit Vorbedacht versetzt worden sei. Aber er sah nichts, als den Neid aus dem infolge der Trunkenheitbereits albern aussehenden Gesichte.
Nun gut, sagte er, die Gläser wieder füllend, trinken wir also auf die Gesundheit des Kapitäns Edmond Dantes, des Gatten der schönen Katalonierin!
Caderousse setzte mit einer schweren Hand sein Glas an den Mund und leerte es auf einen Zug. Fernand nahm das seinige und schleuderte es auf die Erde.
He, he, he! rief Caderousse, was erblicke ich da oben auf dem Hügel in der Richtung der Katalonier! Sieh doch, Fernand, du hast einbesseres Gesicht, als ich. Ich glaube, ich fange an, doppelt zu sehen, und du weißt, der Wein ist ein Verräter. Man sollte glauben, es seien zwei Liebende, die Hand in Hand nebeneinander gehen. Gott vergebe mir! Sie vermuten nicht, daß wir sie sehen, und umarmen sich sogar.
Danglars folgte lauernd allen schmerzlichenBewegungen in Fernands sich sichtlich entstellendem Gesichte.
Oho, Dantes! oho, schönes Mädchen! rief jetzt Caderousse, kommt doch mal her und sagt uns, wann die Hochzeit sein wird.
Willst du wohl schweigen, sagte Danglars, der sich den Anschein gab, als wollte er Caderousse zurückhalten, der sich mit der Halsstarrigkeit eines Trunkenen aus der Laube hervorneigte. Mach, daß du nicht von derBank fällst, und laß die Verliebten sich ruhig lieben! Sieh Herrn Fernand an, und nimm dir einBeispiel an ihm! Er ist vernünftig.
Vielleicht wäre Fernand, außer sich und von Danglars ausgestachelt wie der Stier durch dieBandilleros, hinausgestürzt, denn er hatte sichbereits erhoben und schien sich auf seinen Nebenbuhler stürzen zu wollen; aber lachend und mutig erhobMercedes ihr schönes Haupt und ließ ihren klarenBlick strahlen. Da erinnerte sich Fernand ihrer Drohung, sich den Tod zu geben, wenn Edmond umkäme, und er fiel völlig entmutigt auf seinen Stuhl zurück.
Danglars schaute achselzuckend diebeiden andern an und murmelte: Was soll man mit solchen Einfaltspinseln machen? Was nützt mir derblöde Neid, der sich im Weine statt in Galleberauscht, und die kindische Verliebtheit, die sich, statt zu handeln, in Klagen und Winseln verzehrt? — Der Anmaßende wird triumphieren, wenn ich nicht die Karten mische, fügte er mit düsterm Lächeln hinzu.
Holla, schrie Cadcrousse, sich halbaufrichtend und mit den Fäusten auf den Tisch stützend, holla, Edmond! Siehst du die Freunde nicht, oderbist dubereits zu stolz, um mit ihnen zu sprechen?
Nein, mein lieber Caderousse, antwortete Dantes, ichbin nicht zu stolz, ichbin glücklich, und das Glückblendet, glaube ich, noch mehr als der Stolz.
Das lasse ich mir gefallen; das ist eine Erklärung, sagte Caderousse. Ei, guten Morgen, Frau Dantes.
Mercedes grüßte ernst und erwiderte: Das ist noch nicht mein Name, und in meinem Lande sagt man, esbringe Unglück, wenn man ein Mädchen mit dem Namen ihresBräutigams anredet, ehe dieser ihr Gatte geworden ist; ichbitte Sie also, nennen Sie mich Mercedes.
Die Hochzeit soll also ungesäumt stattfinden, Herr Dantes? fragte Danglars undbegrüßte das junge Paar.
Sobald als möglich, Herr Danglars. Heute die Verträgebei meinem Vater, und spätestens übermorgen das Hochzeitsmahl hier in der Reserve. Die Freunde werden sich hoffentlich einfinden; das heißt, Sie sind eingeladen, Herr Danglars, und du ebenfalls, Caderousse.
Und Fernand? versetzte Caderousse mit einem ekelhaften Gelächter; Fernand auch?
DerBruder meiner Frau ist meinBruder, und wir könnten es nur mit tiefemBedauern sehen, Mercedes und ich, wenn er sich in einem solchen Augenblicke von uns fernhielte.
Fernand öffnete den Mund, um zu antworten; aber seine Stimme versagte, und er vermochte nicht ein Wort hervorzubringen.
Heute Vertrag, übermorgen Hochzeit! Teufel, Sie sind sehr eilig, Kapitän! Was! wir haben Zeit; der Pharao geht nicht vor drei Monaten in See.
Man soll das Glück nie versäumen, Herr Danglars, und wenn man lange gelitten hat, scheut man sich, an das Glück zu glauben. Es ist jedoch diesmal nicht die Selbstsucht, die mich treibt; ich muß nach Paris reisen.
Ah, wirklich, nach Paris, und Sie kommen zum erstenmal dahin, Dantes? — Ja.
Sie haben Geschäfte dort?
Nicht für meine Rechnung; es ist ein letzter Auftrag von unserm armen Kapitän Leclère, den ich zu erfüllen habe. Seien Sie übrigens unbesorgt, ich werde mir nur so viel Zeit nehmen, als ich zur Hin- und Herreisebrauche.
Ja, ja, ich verstehe, sagte Danglars laut; dann fügte er leise hinzu: Nach Paris, ohne Zweifel, um denBrief, den ihm der Großmarschall gegeben hat, an seine Adresse abzuliefern. Bei Gott, dieserBriefbringt mich auf einen vortrefflichen Gedanken. Ha, Dantes, mein Freund! Du stehst in der Liste des Pharao noch nicht unter Nr. 1.
Dann rief er dem sichbereits entfernenden Edmond zu: Glückliche Reise!
Ich danke, antwortete Edmond, drehte den Kopf um undbegleitete dieseBewegung mit einer freundschaftlichen Gebärde. Hieraus setzten die Liebenden ihren Weg fort, ruhig und freudig, wie zwei über die Maßen Glückliche.
Das Komplott
Danglars folgte Edmond und Mercedes mit den Augen, bis sie an einer Ecke des Forts Saint‑Nicolas verschwanden. Dannbemerkte er, daß Fernandbleich und zitternd auf seinen Stuhl gesunken war, während Caderousse die Worte eines Trinkliedes stammelte.
Ah! mein lieber Herr, sagte Danglars zu Fernand, das ist eine Heirat, die mir nicht alle Leute glücklich zu machen scheint.
Siebringt mich in Verzweiflung, erwiderte Fernand.
Sie liebten also Mercedes?
Solange wir uns kennen, habe ich sie stets geliebt.
Und Sie reißen sich die Haare aus, statt etwas dagegen zu unternehmen? Zum Teufel, ich glaubte nicht, daß die Leute Ihrer Nation so handelten!
Was soll ich tun? fragte Fernand.
Was weiß ich! Geht es mich an? Ichbin nicht in Fräulein Mercedes verliebt, denk' ich, sondern Sie. Suchet, so werdet ihr finden, sagt das Evangelium.
Ich wollte den Menschen erdolchen; aber sie sagte mir, wenn ihremBräutigam ein Unglück widerführe, so würde sie sich töten.
Dummkopf! murmelte Danglars, sie mag sich umbringen oder nicht, wenn nur Dantes nicht Kapitän wird.
Und ehe Mercedes stirbt, versetzte Fernand mit dem Tone unerschütterlicher Entschlossenheit, würde ich mir selbst den Tod geben.
Das nenne ich Liebe, sagte Caderousse mit einer immer mehr weinschweren Zunge, oder ich verstehe mich nicht darauf.
Sie scheinen mir einbraverBursche zu sein, sagte Danglars, und der Teufel soll mich holen, ich wüßte etwas, Ihre Pein zu enden, denn…
Was meinen Sie? sagte Fernand, begierig, weiteres zu hören.
Was sagte ich? Ich weiß es nicht mehr! Durch diesen Trunkenbold von Caderousse habe ich den Faden meiner Gedanken verloren. Caderousse hatte den letzten Vers eines damals sehrbeliebten Liedes zu singen angefangen:
Alle Sünder trinken Wasser, Wie die Sündflut unsbeweist…
Sie sagten, mein Herr, versetzte Fernand, Sie wüßten etwas, meine Pein zu enden; dann fügten Sie hinzu…
Ja, denn es genügt dazu, scheint mir, daß Dantes nicht die heiratet, die Sie lieben, und die Heirat kann, denke ich, wohl unterbleiben, ohne daß Dantes stirbt.
Der Tod allein wird sie trennen, erwiderte Fernand.
Sie urteilen wie eine Schnecke, mein Freund, sagte Caderousse, und Danglars hier, der ein feinerBursche, ein Schlaukopf, ein wahrer Grieche ist, wird Ihnenbeweisen, daß Sie unrecht haben. Beweise es ihm, Danglars, ich habe mich für dich verbürgt. Sage ihm, es sei nicht nötig, daß Dantes sterbe, Überdies wär' es schade, wenn Dantes stürbe, er ist ein guter Kerl… ich liebe ihn… auf Dantes' Gesundheit!
Fernand erhobsich ungeduldig.
Lassen Sie ihn schwatzen, versetzte Danglars, den jungen Mann zurückhaltend. Übrigens, sobetrunken er auch ist, so redet er doch die Wahrheit. Die Abwesenheit trennt ebensogut, wie der Tod. Denken Sie sich, es wären zwischen Edmond und Mercedes die Mauern eines Gefängnisses, so würden sie fürs erste nicht minder getrennt sein, als wenn ein Grabstein zwischen ihnen läge.
Ja, aber aus dem Gefängnis kommt man zurück, sagte Caderousse, der sich mit den Trümmern seines Verstandes an das Gespräch festklammerte, und wenn man draußen ist und Edmond Dantes heißt, so rächt man sich.
Gleichviel, murmelte Fernand.
Warum sollte man auch Dantes in ein Gefängnis stecken? Er hat weder geraubt noch gemordet, versetzte Caderousse und leerte abermals ein Glas Wein.
Danglars verfolgte in den trüben Augen des Schneiders die Fortschritte der Trunkenheit und sagte sodann zu Fernand: Begreifen Sie nun, daß es nicht nötig wäre, ihn zu töten?
Nein, gewiß nicht, hätte man ein Mittel, Dantes festnehmen zu lassen. Aber, besitzen Sie dieses Mittel?
Wenn man gut suchte, erwiderte Danglars, könnte man wohl eins finden. Doch zum Teufel, wozu menge ich mich drein? Was geht's mich an?
Ich weiß nicht, obes Sie angeht, sagte Fernand und faßte ihn am Arme; aber ich weiß, daß Sie irgend einenbesonderen Grund zum Haß gegen Dantes haben. Wer selbst haßt, täuscht sich nicht in den Gefühlen der andern.
Ich, einen Grund, Dantes zu hassen? Keinen, auf mein Wort. Ich sah Sie unglücklich, und Ihr Unglück erregte meine Teilnahme, das ist alles. Aber, wenn Sie glauben, ich handle für meine eigene Rechnung, Gottbefohlen, lieber Freund! Ziehen Sie sich nur aus der Klemme, wie Sie können…
Und Danglars stellte sich, als wollte er weggehen.
Nein, sagte Fernand, ihn zurückhaltend, bleiben Sie! Es liegt mir am Ende wenig dran, obSie Dantes grollen oder nicht. Ich hasse ihn und gestehe es laut. Finden Sie das Mittel, so führe ich es aus, vorausgesetzt, daß es nicht sein Tod ist, denn Mercedes hat gesagt, sie würde sich umbringen, wenn man Dantes tötete. Also her das Mittel — schnell das Mittel!
Ja, versetzte Danglars. Die Franzosen sind hierin den Spaniern überlegen. Die Spanierbedenken und erwägen, die Franzosen erfinden. Kellner, eine Feder, Tinte und Papier!
Wenn manbedenkt, sagte Caderousse und ließ seine Hand auf das Papier fallen, das der Kellner gebracht hatte, daß hier etwas ist, womit man einen Menschen sicherer verderben kann, als wenn man ihm an der Ecke eines Waldes auflauerte, um ihn zu ermorden! Ich habe immer mehr Furcht vor einer Feder, einer Flasche Tinte und einemBlatt Papier gehabt, als vor einem Degen oder einer Pistole.
DerBursche ist noch nicht sobetrunken, wie er aussieht. Schenken Sie ihm ein, Fernand!
Fernand füllte Caderousses Glas.
Also, ich sagte Ihnen, fuhr Danglars fort, als er sah, daß der letzte Rest von Caderousses Vernunft in dem neuen Glase Wein vollends zu verschwinden anfing, wenn z. B. nach einer Reise, wie sie Dantes gemacht hat, wobei er die Insel Elbaberührte, ihn jemandbei dem Staatsanwalt alsbonapartistischen Agenten anzeigte…
Ich würde ihn anzeigen, sagte lebhaft der junge Mann.
Ja, aber dann läßt man Sie Ihre Erklärung unterschreiben. Man stellt Sie dem, den Sie angezeigt haben, gegenüber. Zwar liefere ich Ihnen, was Sie zur Unterstützung Ihrer Anklagebrauchen; aber Dantes kann nicht ewig im Gefängnissebleiben; eines Tages verläßt er es, und dann wehe dem, der ihn hineingebracht hat.
Oh! davor ist mir nichtbange, sagte Fernand, er soll nur kommen, Streit mit mir anzufangen.
Ja, und Mercedes, die Sie schon haßt, wenn Sie nur das Unglück haben, die Haut ihres geliebten Edmond zu ritzen?
Das ist richtig, versetzte Fernand.
Nein, nein, sagte Danglars, wenn man sich zu dergleichen entschlösse, so wäre esbesser, ganz einfach, wie ich dies eben tue, mit der linken Hand, damit die Schrift nicht erkannt wird, eine kleine Denunziation zu schreiben.
Und Danglars schriebzugleich mit der linken Hand in einer Schrift, die keine Ähnlichkeit mit seiner gewöhnlichen Handschrift hatte, folgende Zeilen, die er Fernand übergab:
«Der Herr Staatsanwalt wird von einem Freunde des Thrones und der Religionbenachrichtigt, daß Edmond Dantes, Sekond des Schiffes Pharao, heute morgen von Smyrna angelangt ist, nachdem er Neapel und Porto Ferrajo auf Elbaberührt hat, von Murat einenBrief für den Usurpator und von dem Usurpator einenBrief für dasbonapartistische Komitee in Paris übernommen hat. DenBeweis für sein Verbrechen wird man erlangen, wenn man ihn verhaftet; denn man findet diesenBrief entwederbei ihm oderbei seinem Vater oder in seiner Kajüte anBord des Pharao.«
So ist Ihre Rache vernünftig, fuhr Danglars fort, denn sie kann auf keine Weise auf Sie zurückfallen, und die Sache macht sich ganz von selbst. Man darf diesenBrief nur noch adressieren. Dann wäre alles abgemacht.
Und Danglars schriebdie Adresse.
Ja, alles wäre abgemacht, rief Caderousse, der mit einer letzten Anstrengung seines Geistes dem Vorlesen gefolgt war und noch dunkelbegriff, was für unselige Folgen eine solche Anzeige nach sich ziehen könnte. Ja, alles wäre abgemacht; aber das Ganze wäre eine Schändlichkeit. Und er streckte den Arm aus, um denBrief zu nehmen. Danglars aber stieß das Papierbeiseite und erwiderte: Was ich sage und hier mache, geschieht doch nur im Scherz, und es würde mir vor allem leid tun, wenn Dantes, dem guten Dantes etwas widerführe. Seht selbst… und er zerknitterte denBrief und warf ihn in eine Ecke der Laube.
So ist es gut, sagte Caderousse, Dantes ist mein Freund, und ich will nicht, daß man ihmBöses zufüge.
Wer zum Teufel denkt daran, ihmBöses zuzufügen? Ich nicht, Fernand auch nicht, sagte Danglars, stand auf und sah dabei den jungen Mann an, der sitzen geblieben war, aberbeständig nach dem in die Ecke geworfenen verräterischen Papier schielte.
Dann Wein her, sagte Caderousse. Ich will auf die Gesundheit von Edmond und der schönen Mercedes trinken.
Nein, für heute haben wir genug, es ist Zeit, nach Hause zu kommen. Gibmir den Arm und laß uns gehen, sagte Danglars und zog Caderousse in der Richtung von Marseille mit sich fort.
Als er aber zwanzig Schritte gemacht hatte, wandte er sich um und sah, daß sich Fernand auf das Papier stürzte, es sogleich in die Tasche steckte und sich dann eiligst aus der Laube entfernte.
Gut, gut, murmelte Danglars, die Sache ist im Gange, und man darf ihr nur ihren Lauf lassen.
Das Verlobungsmahl
Am andern Morgen erhobsich die Sonne rein und glänzend, und ihre purpurnen Strahlen übergossen wie mit Rubinen die schäumenden Spitzen der Meereswellen.
Das Verlobungsmahl war im großen Saale des ersten Stockes der Reservebereitet worden. In der Mitte der langen Tafel saß auf der einen Seite die reizende Mercedes, rechts von ihr im Sonntagsstaate der alte Dantes, während zu ihrer Linken ihr Vetter Fernand Platz genommen hatte. Ihnen gegenüber saß derBräutigam, neben ihm Herr Morel, der das Verlobungsfest seines zukünftigen Kapitäns mit seiner Gegenwartbeehrte.
In ihrer Nähebefanden sich auch Danglars sowie Caderousse, den die Hoffnung auf ein gutes Mahl vollends mit Dantes ausgesöhnt hatte und in dessen Gedächtnis nur eine schwankende Erinnerung von dem geblieben war, was sich am Tage vorher zugetragen hatte.
Außer diesen unsbekannten Gästen waren zahlreiche Freunde desBräutigams, Seeleute und Soldaten, anwesend, diebereits anfingen, dem reichen Mahle zuzusprechen.
Schon liefen um die Tafel Würste von Arles mit ihrem eigentümlichen, starken Gerüche, Seekrebse mitblendender Schale, Prayres in rosafarbiger Muschel, Seeigel, die Kastanien glichen, und alle die Leckerbissen, welche die Wellen auf das sandige Ufer wälzen und die dankbaren Schiffer mit dem Namen Seefrüchtebezeichnen.
Ein schönes Schweigen, sagte Dantes' Vater, ein Glas Wein, gelbwie Topas, schlürfend. Sollte man glauben, es seien hier dreißig Personen, die sich frohe Zeit machen wollen?
Ei, auch einBräutigam kann nicht immer heiter sein, erwiderte Caderousse.
Es ist wahr, sagte Dantes, ichbin zu glücklich in diesem Augenblick, um heiter zu sein. Die Freudebringt zuweilen eine seltsame Wirkung hervor, sie drängt, wie der Schmerz, die laute Äußerung zurück. Es scheint mir, der Mensch ist nicht geschaffen, so leicht glücklich zu werden. Man muß kämpfen, um das Glück zu erobern, und ich weiß gar nicht, wodurch ich das Glück, Mercedes' Gatte zu sein, verdient habe.
Der Gatte, der Gatte, rief Caderousse lachend, noch nicht, mein Kapitän! Versuche es einmal, den Gatten zu spielen, und du wirst sehen, wie man dich aufnimmt!
Mercedes errötete.
Fernand quälte sich auf seinem Stuhle, bebtebei dem geringsten Geräusche und wischte sich jeden Augenblick große Schweißtropfen ab. Von Zeit zu Zeit schaute er nach Marseille zu, als ober auf irgend etwasBesonderes wartete.
Bei Gott, manbraucht mich nicht Lügen zu strafen; Mercedes ist allerdings noch nicht meine Frau, sagte Dantes und zog seine Uhr. Aber in anderthalbStunden wird sie es sein.
Alle ließen Ausrufe des Erstaunens hören, nur Dantes Vater nicht, der durch einbreites Lachen seine noch schönen Zähne zeigte. Mercedes lächelte und errötete nicht mehr. Fernand faßte krampfhaft nach dem Hefte seines Messers.
Ja, meine Freunde, fuhr Dantes fort, dank dem Eintreten des Herrn Morel, des Mannes, dem ich nach meinem Vater am meisten auf dieser Welt zu verdanken habe, sind alle Schwierigkeitenbeseitigt. Alle Förmlichkeiten sind erfüllt, und um halbdrei Uhr erwartet uns der Maire von Marseille auf dem Rathause.
Fernand schloß die Augen; eine feurige Wolkebrannte auf seinen Augenlidern; er stützte sich auf den Tisch und konnte sich eines dumpfen Seufzers nicht erwehren, der sich in dem Geräusche des Gelächters und der Glückwünsche der Versammlung verlor.
Das lass' ich mir gefallen, sagte der alte Dantes. Gestern morgen hier angekommen, heute um drei Uhr geheiratet! Die Seeleute segeln rasch in den Hafen.
Aber die sonstigen Förmlichkeiten? wandte Danglars ein, der Vertrag, die schriftlichen Erklärungen?
Der Vertrag? entgegnete Dantes lachend, der Vertrag ist fertig. Mercedes hat nichts, ich habe auch nichts. Dabedurfte es keines langen Schreibens und kostet auch nicht so viel… Dieser Scherz veranlaßte einen Ausbruch der Freude und desBeifalls.
Was wir für ein Verlobungsmahl hielten, ist also ein Hochzeitsmahl, sagte Danglars.
Nein, erwiderte Dantes, seid unbesorgt! Ihr sollt nichts dabei verlieren. Morgen früh reise ich nach Paris. Vier Tage hin, vier Tage her und einen Tag, um gewissenhaft meinen Auftrag zu vollziehen. Am ersten Märzbin ich dann zurück, und am zweiten findet das wahre Hochzeitsmahl statt.
Die Aussicht auf einen neuen Schmaus verdoppelte die Heiterkeit dergestalt, daß der Greis, der sich anfangs über die Stillebeklagt hatte, mitten unter dem allgemeinen Gespräche vergebliche Versuche machte, seinen Glückwunsch für das zukünftige Ehepaar anzubringen. Es herrschte um die Tafel die geräuschvolle, ungebundene Heiterkeit, diebei Leuten aus dem Arbeiterstande das Ende des Mahles zubezeichnen pflegt. Alle sprachen zu gleicher Zeit, und niemand antwortete auf das, was man ihm sagte, sondern jederbeschäftigte sich nur mit seinen eigenen Gedanken.
FernandsBlässe schien auf Danglars' Wangen übergegangen und Fernand selbst wie ein Verdammter im Fegefeuer zu sein. Er stand zuerst auf, ging im Saal umher undbemühte sich, sein Ohr von dem Klang der Lieder und des Zusammenstoßens der Gläser abzuwenden. Caderousse näherte sich ihm in dem Augenblicke, wo Danglars ihn in einer Ecke des Saales aufsuchte.
In der Tat, sagte Caderousse, dem Dantes' freundliches Wesen undbesonders der gute Wein des Vaters Pamphile den ganzen Rest des Hasses und Neides gegen den jungen Seemann fortgeschwemmt hatten, in der Tat, Dantes ist ein vortrefflicherBursche, und wenn ich ihn neben seinerBraut sitzen sehe, sage ich mir, es wäre schade gewesen, wenn man ihm den schlechten Streich gespielt hätte, den ihr gestern miteinander verabredet habt.
Du hast auch gesehen, erwiderte Danglars, daß ich die Sache vereitelt habe. Fernand war anfangs so verzweifelt, daß er mirbange machte; aber von dem Augenblicke an, wo er sich dazu entschloß, als ersterBrautführerbei der Hochzeit seines Nebenbuhlers aufzutreten, war nichts mehr zu sagen.
Caderousse schaute Fernand an, der leichenblaß war.
Gehen wir, sagte jetzt Mercedes mit sanfter Stimme, es ist zwei Uhr, und man erwartet uns um halbdrei.
Laßt uns gehen! riefen alle Gäste im Chor. In demselben Augenblick sah Danglars, wie Fernand, der auf dem Fenstersimse saß, plötzlich seine verstörten Augen weit aufriß, mit einer krampfhaftenBewegung sich erhobund dann wieder auf den Sims zurückfiel. Fast gleichzeitig vernahm man ein dumpfes Geräusch auf der Treppe. Dieses Geräusch schwerer Tritte und der verworrene Lärm von Stimmen, vermischt mit dem Klirren von Waffen, übertönten das Gespräch der Gäste und erregten die allgemeine Aufmerksamkeit, die sich durch ein auffälliges Stillschweigen kundgab. Der Lärm näherte sich, drei Schläge ertönten an der Tür, jeder schaute seinen Nachbar mit erstaunter Miene an.
Im Namen des Gesetzes! rief eine scharfe Stimme, der niemand antwortete. Sogleich öffnete sich die Tür, und ein Kommissar mit seiner Schärpe, dem vierbewaffnete Soldaten unter Anführung eines Korporals folgten, trat in den Saal. — Die Unruhe machte dem Schrecken Platz.
Was gibt es? sagte der Reeder, dem Kommissar, den er kannte, entgegengehend. Es findet hier sicherlich ein Irrtum statt.
Wenn ein Irrtum stattfindet, Herr Morel, antwortete der Kommissar, so glauben Sie mir, er wird schleunigst wieder gut gemacht werden. Im Augenblickbin ich der Träger eines Verhaftbefehles und muß meinen Austrag, wenn auch mitBedauern, vollziehen. Wer von Ihnen, meine Herren, ist Edmond Dantes?
AlleBlicke wandten sich dem jungen Manne zu, der erregt, aber voll Würde einen Schritt vorwärts machte und erwiderte: Ichbin es, was wollen Sie von mir?
Edmond Dantes, sagte der Kommissar, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes.
Sie verhaften mich? sagte Edmond mit leichterBlässe. Warum verhaften Sie mich?
Ich weiß es nicht, mein Herr; aber Ihr erstes Verhör wird Sie darüberbelehren.
Herr Morelbegriff, daß sich nichts gegen die unbeugsame Gewalt der Verhältnisse tun ließ. Ein Kommissar in amtlicher Eigenschaft ist kein Mensch mehr; er ist die starre Hand des kalten, tauben Gesetzes. Der Greis aber stürzte demBeamten entgegen; es gibt Dinge, die das Herz eines Vaters oder einer Mutter niebegreifen wird. Erbat, er flehte; Bitten und Tränen vermochten nichts; aber seine Verzweiflung war so groß, daß der Kommissar dadurch gerührt wurde.
Mein Herr, sagte er, beruhigen Sie sich, Ihr Sohn hat vielleicht irgend eine Zoll- oder Sanitätsvorschrift übersehen, und wenn man die gewünschte Auskunft von ihm erhalten hat, wird man ihn aller Wahrscheinlichkeit nach in Freiheit setzen.
Was soll denn dasbedeuten? sagte Caderousse zu Danglars, der den Erstaunten spielte.
Weiß ich es? entgegnete Danglars. Mir geht's wie dir; ich sehe, was vorgeht, begreife nichts davon undbleibe ganz verwirrt.
Caderousse suchte mit seinen Augen Fernand; er war verschwunden, und nun trat ihm die ganze Szene vom vorhergehenden Tage mit furchtbarer Klarheit vor die Seele.
Oh, oh! sagte er mit dumpfer Stimme, ist das die Folge des Scherzes, von dem du gestern sprachst, Danglars? In diesem Falle wehe dem, der ihn gemacht hat, denn er ist sehr schlecht!
Keineswegs, rief Danglars, du weißt, daß ich das Papier zerrissen habe.
Du hast es nicht zerrissen, du warfst es in die Ecke.
Schweig, du hast nichts gesehen, du warstbetrunken.
Wo ist Fernand? sagte Caderousse.
Weiß ich es? antwortete Danglars. Ohne Zweifel geht er seinen Geschäften nach.
Während dieses Gespräches drückte Dantes allen seinen Freunden die Hand und gabsich mit den Worten in Verhaft: Seid ruhig, der Irrtum wird sich aufklären, und wahrscheinlich komme ich nicht ins Gefängnis.
Ganz gewiß nicht, dafür wollte ich stehen, sagte Danglars, der sich in diesem Augenblicke der Hauptgruppe näherte.
Der Kommissar ging vor Dantes die Treppe hinab. Ein Wagen, dessen Schlag geöffnet war, wartete vor der Tür. Dantes stieg ein. Der Schlag wurde geschlossen, und der Wagen fuhr nach Marseille.
Lebwohl, Edmond, rief Mercedes, ans Fenster stürzend.
Der Gefangene hörte diesen letzten Schrei, der wie ein Schluchzen aus dem zerrissenen Herzen derBraut hervordrang. Er fuhr rasch mit dem Kopfe zu dem Schlage hinaus und rief: Auf Wiedersehen, Mercedes! Dann verschwand der Wagen hinter einer Ecke des Forts Saint‑Nicolas.
Erwartet mich hier, sagte der Reeder, ich nehme den ersten Wagen, den ich treffe, eile nach Marseille undbringe euchbald Nachricht.
Gehen Sie, riefen alle Stimmen, und kommen Siebald zurück!
Nach der Entfernung derbeiden Männer herrschte einen Augenblick unter den Zurückbleibenden eine gewisseBetäubung. Der Greis und Mercedes verharrten eine Zeit lang jedes in seinen eigenen Schmerz versunken; dann aberbegegneten sich ihre Augen, und in demBewußtsein, zwei von demselben Schlage getroffene Opfer zu sein, fielen sie einander in die Arme. Inzwischen kehrte Fernand zurück, schenkte sich ein Glas Wasser ein, leerte es und setzte sich auf einen Stuhl. Da dieser zufällig unweit des Ortes stand, wo Mercedes in die Arme des Greises sank, rückte Fernand seinen Stuhl unwillkürlich zurück.
Er ist's gewesen, sagte Caderousse, der den Katalonier nicht aus dem Gesichte verloren hatte, zu Danglars.
Ich glaube es nicht, erwiderte Danglars, er ist zu dumm dazu. In jedem Fall mag der Streich auf den zurückfallen, der ihn ausgeführt hat!
Du meinst nicht den, der den Rat gegeben hat?
Ah! meiner Treu, soll man für das verantwortlich sein, was man in die Luft spricht? rief Danglars.
Ja, wenn das, was man in die Luft spricht, gerade auf das gewünschte Ziel zurückfällt.
Während dieser Zeit stellten die andern Gäste allerlei Vermutungen über die Verhaftung auf, und einer von ihnen wandte sich auch an Danglars mit der Frage, was seine Meinung von der Sache sei.
Ich, versetzte Danglars, ich denke, daß er ein paarBallen verbotene Waren mitgebracht hat.
Oh, nun erinnere ich mich, murmelte der arme Vater, sich an diese leere Vermutung anklammernd, er sagte mir gestern, er hätte für mich eine Kiste Kaffee und eine Kiste Tabak.
Seht, das ist es, sagte Danglars; die Zollbeamten werden in unserer Abwesenheit einenBesuch anBord des Pharao gemacht und den verborgenen Honig entdeckt haben.
Mercedes wollte dies nicht glauben; ihrbisher zurückgepreßter Schmerz machte sich plötzlich in gewaltigem Schluchzen Luft.
Ruhig, ruhig! Hoffnung! sagte der Alte, ohne zu wissen, was er sprach. Hoffnung! wiederholte Danglars. Hoffnung! suchte Fernand zu murmeln, aber das Wort erstickte auf seinen Lippen.
Meine Herren, rief einer von den Gästen, der als Schildwache an den Fenstern geblieben war, meine Herren, ein Wagen. Es ist Herr Morel. Mut, Mut! Ohne Zweifelbringt er uns gute Nachricht.
Mercedes und der alte Vater liefen dem Reeder entgegen, dem sie an der Türbegegneten. Herr Morel war sehrbleich.
Nun? riefen sie gleichzeitig.
Meine Freunde, antwortete der Reeder, die Sache ist ernster, als wir dachten.
Oh, Gott, rief Mercedes, er ist unschuldig!
Ich glaube es, antwortete Herr Morel, aber man klagt ihn an, einbonapartistischer Agent zu sein.
Wer die Geschichte jener Tage kennt, weiß, wie furchtbar damals eine solche Anklage war.
Mercedes stieß einen Schrei aus; der Greis sank auf einen Stuhl.
Oh! Du hast mich hintergangen, Danglars, murmelte Caderousse, und der Scherz ist ausgeführt worden; aber ich kann diesen Greis und dieses Mädchen nicht vor Schmerz sterben lassen, und ich werde ihnen alles sagen.
Schweig, Unglücklicher! rief Danglars, oder ich stehe nicht für dich selber; wer sagt dir, daß Dantes nicht wirklich schuldig ist? Das Schiff hat die Insel Elbaberührt, er ist an das Land gestiegen und einen ganzen Tag in Porto Ferrajo geblieben; wenn man einenBriefbei ihm fände, der ihn kompromittierte, so müßten die, welche ihn unterstützt hätten, als seine Mitschuldigen gelten!
Mit dem raschen Instinkte der Selbstsuchtbegriff Caderousse, wie furchtbar und gefährlich diese versteckte Drohung war. Er schaute Danglars mit Augen voll Furcht und Schmerz an.
Gehen wir, ich kann hier nicht längerbleiben, sagte er.
Ja, komm, versetzte Danglars, froh, Caderousses Absicht vereitelt zu haben; komm, sie mögen sich herausziehen, wie sie können!
Sie entfernten sich undbald auch die übrigen Gäste. Fernand, der nun wieder die Stütze des jungen Mädchens geworden war, nahm Mercedesbei der Hand und führte sie zu den Kataloniern zurück. Dantes' Freunde geleiteten den halbohnmächtigen Greis nach den Allées de Meillan. Bald verbreitete sich das Gerücht, Dantes sei alsbonapartistischer Agent verhaftet worden, durch die ganze Stadt.
Hätten Sie das geglaubt, lieber Danglars? sagte Herr Morel, als er seinen Rechnungsführer und Caderousse einholte, denn er eilte selbst in die Stadt zurück, um von dem ihmbekannten Staatsanwalt, Herrn von Villefort, etwas über Edmond zu erfahren; hätten Sie das geglaubt?
Bei Gott! erwiderte Danglars, ich sagte Ihnen, Dantes sei ohne allen Grund auf der Insel Elba gelandet, und dieser Aufenthalt war mir verdächtig vorgekommen.
Haben Sie Ihren Verdacht irgend jemand außer mir mitgeteilt?
Ich hütete mich wohl, erwiderte Danglars ganz leise; Sie wissen, wegen Ihres Oheims, des Herrn Policar Morel, der unter dem andern gedient hat und aus seiner Gesinnung keinen Hehl macht, stehen Sie in Verdacht, Napoleon zubeklagen Ich mußte fürchten, Edmond zu schaden, und damit auch Ihnen; es gibt Dinge, die man seinem Reeder mitzuteilen und allen anderen zu verbergen verpflichtet ist.
Gut, Danglars, gut! sagte der Reeder; Sie sind einbraver Mann; auch habe ich an Sie gedacht für den Fall, daß dieser arme Dantes Kapitän des Pharao würde, ich fragte ihn, was er von Ihnen dächte, und obes ihm widerstrebe, Sie an Ihrem Posten zubehalten, denn ich weiß nicht, ich glaubte, eine gewisse Kälte zwischen euch wahrzunehmen.
Und was hat er Ihnen geantwortet?
Er glaube wirklich unter Umständen, die er auch nannte, unrecht gegen Sie gehabt zu haben, aber jeder, der das Vertrauen des Reedersbesitze, besitze auch das seinige.
Der Heuchler! murmelte Danglars.
Armer Dantes! sagte Caderousse, er ist offenbar ein vortrefflicher Junge.
Ja, aber mittlerweile ist der Pharao ohne Kapitän, versetzte Herr Morel.
Oh, da wir erst in drei Monaten abreisen, so läßt sich hoffen, daß Dantes dann wieder in Freiheit gesetzt sein wird, undbis dahinbin ich da, Herr Morel, antwortete Danglars. Sie wissen, daß ich die Führung eines Schiffes so gut verstehe, wie ein Kapitän, der nach den entferntesten Ländern Fahrten unternimmt, und wenn Edmond aus dem Gefängnis kommt, brauchen Sie niemand zu danken. Er nimmt seinen Platz wieder ein und ich den meinigen, und damit ist die ganze Sache abgemacht.
Ich danke, Danglars, damit ist wirklich alles geordnet, übernehmen Sie also das Kommando, ichbevollmächtige Sie dazu, undbeaufsichtigen Sie das Löschen der Ladung! Welches Unglück auch dem einzelnenbegegnen mag, die Geschäfte dürfen nie darunter leiden.
Seien Sie unbesorgt! Aber kann man ihn denn wenigstens sehen, den guten Edmond?
Ich werde Ihnen dasbald sagen, Danglars; ich will versuchen, Herrn von Villefort zu sprechen und zu Gunsten des Gefangenen umzustimmen. Ich weiß wohl, daß er ein wütender Royalist ist; aber wenn auch Royalist und Staatsanwalt, ist er doch ein Mensch, und ich halte ihn nicht fürbösartig.
Nein, aber ich hörte, er sei ehrgeizig, und das ist dem sehr ähnlich.
Nun, wir wollen sehen, sagte Herr Morel mit einem Seufzer; gehen Sie anBord, ich komme zu Ihnen. Und er verließ die zwei Freunde, um den Weg nach dem Justizpalaste einzuschlagen.
Du siehst, welche Wendung die Sache nimmt, sagte Danglars zu Caderousse. Hast du noch Lust, Dantes zu unterstützen?
Gewiß nicht, aber es ist doch etwas Furchtbares, daß ein Scherz solche Folgen hat.
Der Teufel! Wer hat ihn gemacht? Weder du noch ich, sondern Fernand. Du weißt, daß ich das Papier in einen Winkel geworfen habe; ich glaubte sogar, ich hätte es zerrissen.
Nein, nein, erwiderte Caderousse.
Fernand wird es aufgehoben haben, sagte Danglars; er hat es wahrscheinlich kopieren lassen… vielleicht hat er sich nicht einmal diese Mühe genommen; wenn ichbedenke, mein Gott!.. er hat am Ende meinen eigenenBrief abgeschickt. Zum Glück hatte ich meine Handschrift verstellt.
Ich gäbe viel, wenn dies nicht geschehen wäre, versetzte Caderousse, oder wenn ich wenigstens in keinerBeziehung dazu stände. Du wirst sehen, esbringt uns Unglück.
Wenn es einem Unglückbringen soll, so ist das der wahre Schuldige, und der ist Fernand, wir sind es nicht. Was soll uns widerfahren? Wir haben uns nur ruhig zu verhalten, von der ganzen Geschichte keinen Ton zu reden, und das Gewitter geht vorüber.
Amen, sagte Caderousse, machte Danglars ein Zeichen des Abschiedes und wandte sich nach den Allées de Meillan, wobei er jedochbeständig den Kopf schüttelte und mit sich selbst sprach, ganz von peinigenden Gedanken erfüllt.
Gut, sagte Danglars, die Sache nimmt die von mir vorhergesehene Wendung; ichbin fürs erste Kapitän, und wenn dieser Dummkopf von Caderousse schweigen kann, für immer Kapitän. Es kann also nur das eine dazwischen treten, daß das Gericht Dantes freiläßt. Doch, fügte er lächelnd hinzu, die Justiz ist die Justiz, und ich verlasse mich auf sie.
Hierauf sprang er in eineBarke und gabden SchiffernBefehl, ihn nach dem Pharao zu rudern.
Der Staatsanwalt
In der Rue du Grand‑Cours, in einem der alten aristokratischen Häuser, feierte man zu derselben Stunde ebenfalls ein Verlobungsmahl. Nur gehörten die Gäste nicht dem Volke, sondern der Spitze der MarseillerBevölkerung an. Es waren ehemaligeBeamte, die unter dem Usurpator Napoleon ihren Abschied genommen hatten, alte Offiziere, die aus den Reihen des französischen Heeres desertiert waren, um zu Condés Armee überzugehen; junge Leute aus hoher Familie, in dem Hasse gegen den Mann erzogen, der dem französischen Volke nach fünf Jahren der Verbannung als Märtyrer und nach fünfzehn Jahren der Restauration als Gott erscheinen sollte.
Man saßbei Tische, und das Gespräch war im Schwunge, glühend von allen den Leidenschaften der Zeit, von den Leidenschaften, die um so lebendiger und erbitterter im Südenbrausten, als seit fünf Jahren der religiöse Haß den politischen unterstützte.
Der Kaiser, — Herr der Insel Elba, nachdem er der unumschränkteBeherrscher eines Weltalls gewesen war, eineBevölkerung von fünfbis sechstausend Seelen regierend, nachdem er: Es lebe Napoleon! von hundert und zwanzig Millionen in zehn verschiedenen Sprachen hatte rufen hören, wurde hier als ein für immer abgetaner Emporkömmling hingestellt. DieBeamten enthüllten seine politischen Mißgriffe, die Offiziere sprachen von Moskau und Leipzig, die Frauen von seiner Scheidung von Josephine.
Ein mit dem Sankt‑Ludwigskreuze geschmückter Mann erhobsich und schlug den Gästen die Gesundheit des Königs Ludwig XVIII. vor. Es war der Marquis von Saint‑Meran. Bei diesem Toast entstand eine gewaltigeBegeisterung. Die Gläser wurden emporgehoben, die Frauen machten ihre Sträuße los und streuten dieBlumen über das Tischtuch.
Wenn sie da wären, sagte die Marquise von Saint‑Meran, eine Frau mit trockenem Auge, dünnen Lippen, mit aristokratischer und trotz ihrer fünfzig Jahre noch zierlichen Haltung, alle diese Revolutionäre, die uns vertrieben haben, und die wir nun ganz ruhig in unseren alten Schlössern, die sie unter der Schreckensregierung für ein StückBrot erkauft haben, Meutereien anzetteln lassen, sie müßten anerkennen, daß die wahre Ergebenheit auf unserer Seite war, denn wir hielten an der einstürzenden Monarchie fest, während sie die aufgehende Sonnebegrüßten und ihr Glück machten, indem wir das unsere verloren; sie müßten anerkennen, daß unser König Ludwig der Vielgeliebte wirklich gut war, während ihr Usurpator nie etwas anderes gewesen ist, als Napoleon der Verfluchte, nicht wahr, Villefort?
Sie sagen, Frau Marquise?… verzeihen Sie, ich war nichtbeim Gespräche…
Ah, lassen Sie die Kinder, Marquise, versetzte der Greis, der den Toast ausgebracht hatte; diese Kinder wollen sich heiraten und haben natürlich von etwas anderem miteinander zu sprechen, als von Politik.
Ichbitte um Vergebung, meine Mutter, sagte eine junge, hübsche Dame mitblonden Haaren und mit Samtaugen, ich gebe Ihnen Herrn von Villefort zurück, den ich für eine Minute in Anspruch genommen hatte. Herr von Villefort, meine Mutter spricht mit Ihnen.
Die Marquisebegann, zärtlich lächelnd: Ich sage, Villefort, dieBonapartistenbesitzen weder unsereBegeisterung, noch unsere Überzeugung, noch unsere Ergebenheit.
Ah! gnädige Fran, Sie haben wenigstens etwas, das alles dies ersetzt, es ist der Fanatismus. Napoleon ist der Mohammed des Westens, er ist für alle diese dem Volke entstammenden, aber ehrgeizigen Menschen nicht nur ein Gesetzgeber und Herr, sondern auch das Musterbild der Gleichheit.
Napoleon das Musterbild der Gleichheit, rief die Marquise, und was werden Sie dann aus Robespierre machen? Es scheint mir, Sie stehlen ihm seinen Platz, um ihn dem Korsen zu geben.
Nein, gnädige Frau, antwortete Villefort, ich lasse jeden auf seinem Piedestal, Robespierre auf seinem Schafott, Napoleon auf der Vendomesäule; nur hat der eine eine Gleichheit gemacht, die erniedrigt, der andere eine Gleichheit, die erhöht; der eine hat die Könige auf das Niveau der Guillotine, der andere hat das Volk auf das Niveau des Thrones erhoben. Damit will ich nicht sagen, fügte er lachend hinzu, es seien nicht allebeide heillose Empörer, und der 9. Thermidor und der 4. April 1814 seien nicht glückliche Tage für Frankreich und würdig, durch die Freunde der Ordnung und der Monarchie gleich festlichbegangen zu werden; aber dies erklärt auch, warum Napoleon, obgleich gefallen, um, wie ich hoffe, nie mehr aufzustehen, seine Anhänger, seine Freundebehalten hat.
Wissen Sie, daß das, was Sie da sprechen, auf eine Meile nach Revolution riecht? Aber ich vergebe Ihnen. Man kann nicht der Sohn eines Girondisten sein, ohne einen Erdgeruchbeizubehalten.
Eine lebhafte Rötebedeckte Villeforts Stirn.
Mein Vater war Girondist, sagte er, das ist wahr; aber mein Vater hat nicht für den Tod des Königs gestimmt. Mein Vater wurde geächtet von derselben Schreckensregierung, welche Sie ächtete, und es fehlte nicht viel, so hätte er sein Haupt auf dasselbeBlutgerüst legen müssen, welches das Haupt Ihres Vaters fallen sah.
Ja, sagte die Marquise, ohne daß dieseblutige Erinnerung irgend eine Veränderung in ihren Gesichtszügen zur Folge hatte, nur mit dem Unterschiede, daßbeide aus geradezu entgegengesetzten Gründen den Kopf verloren hätten. ZumBeweise mag dienen, daß meine ganze Familie den verbannten Prinzen anhänglich geblieben ist, während sich die Ihrige eiligst mit der neuen Regierung verband, und daß, nachdem derBürger Noirtier Girondist gewesen war, der Graf Noirtier Senator geworden ist.
Meine Mutter, rief Renée, Sie wissen, daß es verabredet war, von diesen üblen Erinnerungen gar nicht mehr zu sprechen.
Gnädige Frau, versetzte Villefort, ich verbinde mich mit Fräulein von Saint‑Meran, um Sie demütigst um Vergessenheit des Vergangenen zubitten. Wozu soll es nützen, über Dinge zu klagen, vor denen selbst der Wille Gottes ohnmächtig ist? Gott kann die Zukunft verändern, aber die Vergangenheit nicht. Ich habe mich nicht nur von den Ansichten, sondern auch von dem Namen meines Vaters getrennt. Mein Vater war und ist vielleicht noch jetztBonapartist und heißt Noirtier; ichbin Royalist und heiße von Villefort.
Bravo, Villefort, sagte der Marquis, bravo, gut geantwortet! Ich habe auch der Marquise immer Vergessenheit des Vergangenen gepredigt, ohne es je von ihr erlangen zu können; Sie werden hoffentlich glücklicher sein.
Ja, es ist gut, sagte die Marquise, vergessen wir die Vergangenheit! Aber Villefort soll wenigstens für die Zukunft unbeugsam sein. Vergessen Sie nicht, Villefort, daß wirbei Sr. Majestät uns für Sie verantwortlich gemacht haben, daß Se. Majestät ebenfalls die Gnade hatte, auf unsere Empfehlung zu vergessen, — sie reichte ihm die Hand —, wie ich es auf IhreBitte tue. Nurbedenken Sie, wenn irgend ein Meuterer in Ihre Hände fällt, daß die Augen um so mehr auf Sie gerichtet sind, als man weiß, daß Sie einer Familie angehören, die vielleicht mit diesen Meuterern in Verbindung steht.
Ah, sagte Villefort, mein Amt undbesonders die Zeit, in der wir leben, gebieten mir, streng zu sein, und ich werde es sein. Bereits hatte ich einige politische Anklagen zu erheben, und ich habe in dieserBeziehung meine Probe abgelegt.
Oh, Herr von Villefort, rief eine hübsche, junge Dame, die Tochter des Grafen von Salvieur und eine Freundin des Fräuleins von Saint‑Meran, suchen Sie doch, solange wir in Marseille sind, einen schönen Prozeß zubekommen. Ich habe nie ein Schwurgericht gesehen, und man sagt, es sei etwas Interessantes.
In der Tat, sehr interessant, mein Fräulein, erwiderte der junge Staatsanwalt, denn statt einer scheinbaren Tragödie findet man ein wirkliches Drama, statt gespielter Schmerzen wirkliche Schmerzen. Statt, wenn der Vorhang herabgelassen ist, nach Hause zu gehen, mit seiner Familie zu Nacht zu speisen und sich ruhig niederzulegen, um am anderen Tage wieder anzufangen, kehrt mancher in das Gefängnis zurück, wo er den Henker findet. Sie sehen, daß es für Personen, die Aufregungen suchen, kein Schauspiel gibt, das diesem gleichkommt. Seien Sie unbesorgt, mein Fräulein, wenn sich Gelegenheit zeigt, werde ich es Ihnen verschaffen.
Oh! mein Gott! rief Renée düster, sprechen Sie im Ernste, Herr von Villefort?
In vollem Ernste, mein Fräulein, erwiderte derBeamte lächelnd. Und durch die schönen Prozesse, die das Fräulein wünscht, um seine Neugierde zubefriedigen, und die ich wünsche, um meinen Ehrgeiz zubefriedigen, wird sich die Lage der Dinge einigermaßen zuspitzen. Glauben Sie, daß diese Soldaten Napoleons, gewohnt, blindlings dem Feinde entgegenzugehen, überlegen, wenn sie eine Patrone abbrennen oder mit demBajonette angreifen? Werden sie mehr zaudern, einen Mann zu töten, den sie für ihren persönlichen Feind halten, als einen Russen, einen Österreicher, einen Ungarn, den sie nie zuvor gesehen haben? Überdies muß das so sein, sonst hätte unser Handwerk keine Entschuldigung. Ich selbst, wenn ich in dem Auge des Angeschuldigten den leuchtendenBlitz der Rache zucken sehe, fühle mich ermutigt, begeistert; es ist nicht mehr ein Prozeß, es ist ein Kampf; ich fechte gegen ihn, er macht seine Stöße, ich mache meine Gegenstöße, und der Kampf endigt, wie alle Kämpfe, mit einem Sieg oder mit einer Niederlage. Denken Sie an das Gefühl des Stolzes, das einen von der Schuld des Angeklagten überzeugten Staatsanwalt erfaßt, wenn er den Schuldigen unter dem Gewichte derBeweise, unter denBlitzen derBeredsamkeit sich niederbeugen sieht. Dieser Kopfbeugt sich, er wird fallen.
Renée stieß einen leichten Schrei aus.
Das letzte Mal, sagte einer von den Gästen, haben Sie Ihre Sache auch vortrefflich gemacht, Herr von Villefort. Sie wissen, den Mann, der seinen Vater ermordet hatte, haben Siebuchstäblich getötet, ehe ihn der Henker nurberührte.
Ah! für Vatermörder, das lasse ich mir gefallen, versetzte Renée, es gibt keine Strafe, die für solche Menschen groß genug wäre; aber für die unglücklichen politischen Angeklagten! Sie versprechen mir Nachsicht für die, welche ich Ihnen empfehlen werde, nicht wahr?
Seien Sie unbesorgt, erwiderte Herr von Villefort mit seinem reizenden Lächeln, wir setzen meine Anträge gemeinsam auf.
Meine Liebe, sagte die Marquise, kümmere dich um deine Vögel und um dein Hündchen, und laß deinen zukünftigen Gatten seine Geschäfte selbst abmachen.
Ich glaube, mir wäre es lieber, wenn Sie ein Arzt wären, sagte Renée; der Würgeengel, wenn er auch ein Engel ist, hat mich stets erschreckt.
Gute Renée! murmelte Villefort und schaute dabei das Mädchen mit liebevollen: Blicke an.
Meine Tochter, sagte der Marquis, Herr von Villefort wird der moralische und politische Arzt dieser Provinz werden; glaube mir, es ist ihm eine schöne Rolle übertragen.
In diesem Augenblick trat ein Kammerdiener ein und sagte Herrn von Villefort einige Worte ins Ohr. Dieser stand, sich entschuldigend, vom Tische auf und kam einige Minuten nachher mit heiterem Antlitz und lächelnden Lippen wieder zurück. Renée schaute ihn liebevoll an; mit seinenblauen Augen, mit seiner matten Gesichtsfarbe und seinem schwarzenBackenbarte war er ein wahrhaft zierlicher junger Mann. Die Seele des jungen Mädchens schien an seinen Lippen zu hängen und die Erklärung seines Verschwindens zu erwarten.
Nun, mein Fräulein, sagte Villefort, Sie wünschten soeben einen Arzt als Gatten zubesitzen. Ich habe mit den Schülern Äskulaps die Ähnlichkeit, daß mir nie die Gegenwart gehört, und daß man mich sogar an Ihrer Seite, sogarbeim Verlobungsmahle, stört.
Und aus welcher Veranlassung stört man Sie? fragte das Mädchen mit einer leichten Unruhe.
Ach! wegen eines Kranken, der, wenn das wahr ist, was man mir sagt, in der höchsten Gefahr schwebt. Diesmal ist es ein schwerer Fall, und die Krankheit führt zum Schafott.
Oh, mein Gott! rief Renée erbleichend.
Wirklich? fragte einstimmig die ganze Versammlung.
Es scheint, man hat einbonapartistisches Komplott entdeckt.
Ist es möglich? rief die Marquise.
Hier ist die Denunziation. Und Villefort las denBrief, den Danglars geschrieben, vor.
DieserBrief, sagte Renée, ist ja nur anonym; auch hat man ihn doch an den Ersten Staatsanwalt gerichtet und nicht an Sie.
Ja, aber der Erste Staatsanwalt ist nicht hier; in seiner Abwesenheit gelangte das Schreiben an den Sekretär, der dieBriefe zu öffnenbeauftragt war. Er hat also diesen geöffnet, mich suchen lassen, und da er mich nicht fand, Befehl zur Verhaftung gegeben.
Der Schuldige ist verhaftet? fragte die Marquise.
Das heißt der Angeklagte, verbesserte Renée.
Ja, erwiderte Villefort, und wie ich soeben Fräulein Renée zubemerken die Ehre hatte,… findet man den erwähntenBrief, so ist die Krankheit sehr gefährlich.
Gehen Sie, mein Freund, sagte der Marquis, versäumen Sie Ihre Pflichten nicht, umbei uns zu verweilen, wenn Sie der Dienst des Königs ruft.
Oh! Herr von Villefort, sagte Renée, die Hände faltend, seien Sie nachsichtig, es ist heute unser Verlobungstag.
Villefort ging um den Tisch und sagte, dem Stuhle des jungen Mädchens sich nähernd, auf dessen Lehne er sich stützte: Um Ihnen eine Unruhe zu ersparen, werde ich alles tun, was ich vermag; aber wenn dieBeschuldigung wahr ist, so wird wohl nichts übrigbleiben, als dies schlimmebonapartistische Kraut abzuschneiden.
Renéebebtebei dem Worte abschneiden, denn das Kraut, um das es sich handelte, hatte einen Kopf.
Bah! bah! rief die Marquise, hören Sie nicht auf dieses junge Mädchen, Villefort!
Und die Marquise reichte Villefort die trockene Hand, die er küßte, während er Renée ansah und dieser mit den Augen sagte: Ihre Hand ist es, die ich küsse oder wenigstens in diesem Augenblicke zu küssen wünschte.
Traurige Auspizien, murmelte Renée.
In der Tat, sagte die Marquise, dubist zum Verzweifeln kindisch; ich frage dich: Wie kannst du die Empfindeleien deiner Einbildungskraft und deines Herzens auf Staatsangelegenheiten übertragen?
Oh, meine Mutter, murmelte Renée.
Gnade für die schlechten Royalisten, Frau Marquise, sagte von Villefort, ich verspreche Ihnen, meine Aufgabe als Vertreter des Ersten Staatsanwalts gewissenhaft zu erfüllen, das heißt furchtbar streng zu sein.
Aber während derBeamte diese Worte an die Marquise richtete, warf er zu gleicher Zeit verstohlen seinerBraut einenBlick zu, und dieser sagte: Sei unbesorgt, Renée, um deiner Liebe willen werde ich nachsichtig sein.
Renée erwiderte diesenBlick mit ihrem süßesten Lächeln, und Villefort entfernte sich mit dem Paradiese im Herzen.
sgleichen zu entscheiden, berufen ist. Trotz derBeweglichkeit seiner Gesichtszüge, die der Staatsanwalt wie ein geschickter Schauspieler vor seinem Spiegel geübt hatte, fiel es ihm diesmal schwer, eine ernste Miene und einen düstern Ausdruckbeizubehalten. Abgesehen von der Erinnerung an die politische Laufbahn seines Vaters, die seiner Zukunft in den Weg treten konnte, war Gérard von Villefort in diesem Augenblick so glücklich, als es einem Menschen zu sein vergönnt ist. Schon an sich reich, nahm er mit siebenundzwanzig Jahren ein hohes Amt ein. Er war imBegriff, ein junges hübsches Mädchen, das er liebte, zu heiraten. Neben ihrer Schönheit hatte seineBraut noch den Vorzug, einer von den Familien anzugehören, die am Hofe im höchsten Ansehen standen, und außer dem politisch förderlichen Einflusse ihrer Elternbrachte sie ihrem Gatten eine Mitgift von 50 000 Talern, die sich eines Tages durch eine Erbschaft von einer halben Million vermehren sollte. Dies alles zusammen erhobden Staatsanwalt in einen solchen Zustand von Glückseligkeit, daß er sich jeden Augenblick zusammennehmen mußte, um die gewollte, seinem Amte angemessene Miene zur Schau zu tragen.
Vor der Tür fand er den Polizeikommissar, der auf ihn wartete. Beim Anblick des schwarzgekleideten Mannes viel er sofort aus der Höhe des dritten Himmels auf die materielle Erde, auf der wir einhergehen. Erbrachte nun sein Gesicht leichter in die gehörige Verfassung, näherte sich demBeamten und sagte: Hierbin ich, ich habe denBrief gelesen; Sie taten wohl daran, diesen Menschen zu verhaften. Geben Sie mir nun über ihn und über die Meuterei alle einzelnen Umstände an, die Sie in Erfahrung gebracht haben!
Über die Meuterei, mein Herr, wissen wir noch nichts; alle Papiere, die manbei ihmbekommen hat, sind in IhremBureau versiegelt niedergelegt worden. Was den Angeschuldigtenbetrifft, so haben Sie aus demBriefe, der ihn denunziert, ersehen, daß er Edmond Dantes heißt und Sekond anBord des Dreimasters» der Pharao «ist, derBaumwollenhandel mit Alexandrien und Smyrna treibt und dem Hause Morel und Sohn in Marseille gehört.
Hat erbei der Kriegsmarine gedient, ehe erbei der Handelsmarine diente?
Nein, er ist ein ganz junger Mensch.
In diesem Augenblicke, als Villefort, an die Ecke der Rue des Conseils gelangt war, redete ihn ein Mann an, der ihn zu erwarten schien; es war Herr Morel.
Ah, Herr von Villefort! rief derbrave Mann, ichbin sehr glücklich, Sie zu treffen. Denken Sie, daß man den seltsamsten, den unerhörtesten Mißgriffbegangen hat; man hat den Sekond meines Schiffes, Edmond Dantes, verhaftet.
Ich weiß es, mein Herr, antwortete Villefort, und werde ihn sogleich verhören.
Oh, Herr, fuhr Morel, hingerissen von seiner Freundschaft für den jungen Mann, fort, Sie kennen den nicht, den man anklagt, aber ich kenne ihn. Denken Sie sich den sanftesten, den redlichsten Menschen, und ich wage wohl zubehaupten, einen derbesten Seeleutebei der ganzen Handelsmarine. Oh, Herr von Villefort, ich empfehle Ihnen denselben aufrichtig und von ganzem Herzen.
Villefort gehörte, wie wir gesehen haben, der aristokratischen Partei der Stadt an und Morel der demokratischen. Der erste war Ultraroyalist, der zweite desBonapartismus verdächtig. Villefort schaute Morel mißtrauisch an und antwortete ihm mit kaltem Tone:
Sie wissen, mein Herr, daß man im Umgang sanftmütig, als Händler ehrlich, imBerufe geschickt und nichtsdestoweniger politisch ein großer Verbrecher sein kann. Sie wissen das, nicht wahr, mein Herr?
DerBeamte legte auf diese letzten Worte einenbesondern Nachdruck, als wollte er sie auf den Reeder selbst anwenden, während sein forschenderBlick dembis in die Tiefe des Herzens dringen zu wollen schien, der so kühn war, für einen andern einzutreten, während er wissen mußte, daß er selbst der Nachsichtbedurfte.
Morel errötete, denn er fühlte, daß sein Gewissen inBezug auf seine politische Gesinnung nicht ganz rein war, und überdiesbeunruhigte seinen Geist einigermaßen die vertrauliche Mitteilung, die ihm Dantes über die Zusammenkunft mit dem Großmarschall gemacht hatte, und die Worte, die vom Kaiser an Dantes gerichtet worden waren. Er fügte indessen mit dem Tone der tiefsten Teilnahme hinzu: Ichbitte Sie inständig, Herr von Villefort, seien Sie gerecht, wie Sie es sein müssen, gut, wie Sie es immer sind, und geben Sie uns schleunigst diesen armen Dantes zurück!
Das» geben Sie uns «klang in dem Ohre des Staatsanwalts ganz revolutionär.
Ei, ei, sagte er ganz leise zu sich selbst, geben Sie uns!.. sollte dieser Dantes zu irgend einer Massenverschwörung gehören, daß seinBeschützer sich unwillkürlich der Mehrzahlbedient? Man hat ihn, wie man mir sagte, in zahlreicher Gesellschaft verhaftet, das werden wohl seine Genossen gewesen sein! Laut fügte er hinzu: Mein Herr, Sie können vollkommen ruhig sein. Sie werden nicht vergeblich an meine Gerechtigkeit appelliert haben, wenn der Angeklagte unschuldig ist. Ist er dagegen schuldig, so werde ich genötigt sein, meine Pflicht zu tun.
Da er inzwischen die Tür seines unmittelbar an den Justizpalast stoßenden Hauses erreicht hatte, grüßte er mit eisiger Höflichkeit den unglücklichen Reeder, der wie versteinert auf dem Platzeblieb, und trat würdevoll in seine Wohnung. Das Vorzimmer war voll von Gendarmen und Polizeiagenten. Mitten unter ihnen stand, strengbewacht, ruhig und unbeweglich der Gefangene.
Villefort schritt durch das Vorzimmer, warf einen flüchtigenBlick auf Dantes, nahm einBündel Akten, das ihm ein Agent überreichte, und verschwand mit den Worten: Man führe den Gefangenen vor!
So rasch seinBlick auch gewesen war, so genügte er doch für Villefort, ihm einenBegriff von dem Menschen zu geben, den er verhören sollte. Auf dieserbreiten, offenen Stirn las er Verstand, im festen Auge Mut, in den fleischigen halbgeöffneten und elfenbeinweiße Zähne zeigenden Lippen Treuherzigkeit.
Einen Augenblick nach ihm trat Dantes ein. Der junge Mann war immer nochbleich, aber ruhig und sorglos. Er verbeugte sich vor seinem Richter mit ungezwungener Artigkeit und suchte dann mit den Augen einen Stuhl, alsbefände er sich im Zimmer des Reeders Morel.
Jetzt erstbegegnete er Villeforts düstermBlicke, demBlicke, der den Männern des Gesetzes eigentümlich ist, die nicht in ihren Gedanken lesen lassen wollen. DieserBlickbelehrte ihn, daß er sich vor der strengen Justizbefand.
Wer sind Sie und wie heißen Sie? fragte Villefort, in den Aktenblätternd, diebereits sehr umfangreich geworden waren.
Ich heiße Edmond Dantes undbin Sekond anBord des Schiffes Pharao.
Was taten Sie in dem Augenblick, wo Sie verhaftet wurden?
Ich wohnte meinem Verlobungsmahlebei, mein Herr, sagte Dantes mit leichtbewegter Stimme, so schmerzlich war der Kontrast jener Augenblicke der Freude mit der traurigen Szene, in der er hier auftrat, so sehr ließ Herrn von Villeforts, düsteres Gesicht seiner Mercedes' strahlendes Antlitz in um so hellerem Lichte erglänzen.
Sie wohnten Ihrem Verlobungsmahlebei? sagte Villefort, unwillkürlichbebend. So unempfindlich er gewöhnlich war, so erregte ihn doch dies Zusammentreffen lebhaft, und Dantes'bewegte Stimme erweckte eine sympathische Fiber im Grunde seiner Seele. Er heiratete auch, er war auch glücklich, wie Dantes, und man hatte ihn in seinem Glücke gestört, damit er zur Vernichtung der Freude eines Menschenbeitrüge, der, wie er, seiner Seligkeit so nahe stand.
Man sagt, Sie haben sehr auffallende politische Ansichten? fuhr nach einigen Augenblicken Villefort fort, der gern die Frage in die Form einer Anklage kleidete.
Meine politischen Ansichten, mein Herr? Ach! ich schäme michbeinahe, es zu gestehen, aber ich habe das nie gehabt, was man eine Ansicht nennt. Ichbin kaum neunzehn Jahre alt, ich weiß nichts, ichbin nichtbestimmt, irgend eine Rolle zu spielen; das wenige aber, was ich weiß und sein werde, wenn man mir die Stellebewilligt, nach der ich trachte, habe ich Herrn Morel zu verdanken. Alle meine Ansichten, ich sage nicht politische, sondern Privatansichten, beschränken sich auf folgende drei Gefühle: ich liebe meinen Vater, ich ehre Herrn Morel undbete Mercedes an. Das ist alles, was ich über meine Ansichten vor Gericht erklären kann, und Sie sehen, daß es nicht eben sehr interessant ist.
Während Dantes so sprach, schaute Villefort sein zugleich sanftes und offenes Gesicht an und erinnerte sich zugleich der Worte Renées, die, ohne den Gefangenen zu kennen, um Nachsicht für ihn gebeten hatte. Mit dem gewohnten Scharfblick, den er in der Erforschung des Verbrechens und der Verbrecherbereitsbesaß, erkannte er in jedem Worte Dantes' denBeweis seiner Unschuld.
Bei Gott, sagte Villefort zu sich selbst, das ist ein guterBursche, und ich werde hoffentlich nicht viel Mühe haben, michbei Renée willkommen zu machen, indem ich ihrer Empfehlung Folge leiste. Das trägt mir einen guten Händedruck vor aller Welt und insgeheim einen herzlichen Kuß ein.
Bei dieser doppelten Hoffnung erheiterte sich Villeforts Antlitz so, daß Dantes, der allenBewegungen in der Physiognomie seines Richters gefolgt war, lächelnd die große Veränderung in seinem Aussehenbemerkte.
Ist Ihnenbekannt, sagte Villefort, daß Sie Feinde haben?
Feinde, ich? erwiderte Dantes, ich habe das Glück, noch zu wenig zu sein, als daß mir meine Stellung Feinde verschafft haben sollte. Was meinen vielleicht etwas lebhaften Charakterbetrifft, so suche ich ihn stets meinen Untergeordneten gegenüber zu mildern. Ich habe zehnbis zwölf Matrosen unter meinemBefehle; und diese werden Ihnen aufBefragen sagen, daß sie mich lieben und achten, nicht wie einen Vater, dazubin ich noch zu jung, sondern wie einenBruder.
Aber in Ermanglung von Feinden haben Sie vielleicht Neider; Sie sollen mit neunzehn Jahren Kapitän werden, das ist ein hoher Posten in Ihrem Stande; Sie sollen ein hübsches Mädchen heiraten, das Sie liebt, das ist ein seltenes Glückbei allen Ständen der Erde. Diese zwei Vorzüge des Schicksals konnten Ihnen Neider zuziehen.
Ja, Sie haben recht. Sie müssen wohl die Menschenbesser kennen, als ich. Sollten aber diese Neider unter meinen Freunden sein, so gestehe ich, daß ich sie lieber nicht kennen lernen will, um sie nicht Hassen zu müssen.
Sie haben unrecht; man muß so klar als möglich um sich her sehen. In der Tat, Sie scheinen mir ein so ehrenwerter Mann zu sein, daß ich von der gewöhnlichen Regel des Gerichtsverfahrens abgehen und Ihnen zum Lichte verhelfen will, indem ich Ihnen die Anzeige mitteile, die Sie vor mich gebracht hat. Hier ist das Papier. Erkennen Sie die Handschrift?
Villefort zog denBrief aus seiner Tasche und reichte ihn Dantes. Dieser schaute und las. Eine Wolke zog über seine Stirn, und er sagte: Nein, ich kenne diese Handschrift nicht, sie ist verstellt, und dennoch hat sie eine sehr freie Form. Jedenfalls ist es eine geschickte Hand, die dies geschrieben hat; ichbin sehr glücklich, fügte er, Villefort dankbar anschauend, hinzu, daß ich es mit einem Manne, wie Sie sind, zu tun habe, denn in der Tat, mein Neider ist ein wahrer Feind.
Und an demBlitze, der in den Augen des jungen Mannes zuckte, als er diese Worte sprach, konnte Villefort erkennen, wieviel heftige Energie unter dieser äußeren Sanftmut verborgen lag.
Und nun antworten Sie mir offenherzig, sagte der Staatsanwalt, nicht wie ein Angeklagter seinem Richter, sondern wie ein Mensch in einer falschen Stellung einem andern Menschen antwortet, der sich für ihn interessiert. Was ist wahr an dieser anonymen Anklage?
Villefort warf denBrief, den ihm Dantes zurückgegeben hatte, mit einer Gebärde des Widerwillens auf den Schreibtisch.
Alles oder nichts, mein Herr. Hören Sie die reine Wahrheit, bei meiner Seemannsehre, bei meiner Liebe für Mercedes, bei dem Leben meines Vaters. Als wir Neapel verließen, wurde der Kapitän Leclère von einer Hirnentzündungbefallen. Unerwartet rasch verschlimmerte sich seine Krankheit, so daß er nach drei Tagen sein Ende herannahen fühlte und mich zu sichberief. Er ließ mich schwören, alles zu tun, was er von mir verlange, befahl mir, nach der Insel Elba zu steuern, dort dem Großmarschall einen Ring undBrief zu überbringen und schließlich eine Sendung zu erfüllen, mit der mich der Großmarschallbeauftragen würde. Es war die höchste Zeit; zwei Stunden nachher erfaßte ihn das Delirium; am andern Tage war er tot. Ich steuerte also nach der Insel Elba, wo ich am andern Tage anlangte, und stieg allein an das Land. Unverzüglich sandte ich dem Großmarschall den Ring, der mir als Erkennungszeichen dienen sollte, und alle Türen öffneten sich vor mir. Er empfing mich, fragte mich nach dem Tode des unglücklichen Leclère und übergabmir einenBrief, den er mich persönlich nach Paris zubringenbeauftragte. Ich versprach es ihm, denn es galt, den letzten Willen meines Kapitäns zu erfüllen. Ich stieg hier an das Land, ordnete rasch alles, was das Schiffbetraf, und lief dann zu meinerBraut, die ich liebevoller und schöner als je wiederfand. Ich feierte endlich, wie ich Ihnen sagte, mein Verlobungsmahl, sollte mich in einer Stunde verheiraten und gedachte morgen nach Paris abzureisen, als ich auf die Denunziation hin verhaftet wurde.
Ja, ja, murmelte Villefort, dies alles scheint mir der Wahrheit gemäß, und wenn Sie schuldig sind, so sind Sie nur einer Unklugheit schuldig, und diese entschuldigt sich noch durch dieBefehle Ihres Kapitäns. Geben Sie uns denBrief, den man Ihnen auf Elba eingehändigt hat! Verpfänden Sie mir Ihr Ehrenwort, sichbei der ersten Vorladung zu stellen, und kehren Sie zu Ihren Freunden zurück.
Ichbin also frei! rief Dantes im Übermaß der Freude.
Ja, nur geben Sie mir denBrief!
Er muß vor Ihnen liegen, mein Herr, denn man hat ihn mir mit meinen andern Papieren genommen.
Warten Sie, sagte Villefort zu Dantes, der seine Handschuhe und seinen Hut nahm; warten Sie! An wen war er adressiert?
An Herrn Noirtier, Rue Coq‑Héron in Paris.
Wie vomBlitz getroffen sank Villefort auf seinen Stuhl zurück. Aber mit krampfhafter Anstrengung erhober sichbald wieder, um den Stoß Papiere, die man Dantes abgenommen, zu erreichen, und zog nach kurzem Suchen den unseligenBrief hervor, auf den er einenBlick voll unsäglichen Schreckens warf.
Herr Noirtier, Rue Coq‑Héron Nr. 13, murmelte er, immer mehr erbleichend.
Ja, antwortete Dantes erstaunt. Kennen Sie ihn?
Nein, verfetzte Villefort lebhaft; ein treuer Diener des Königs kennt keine Verschwörer.
Es handelt sich also um eine Verschwörung? sagte Dantes, der von einer noch größerenBangigkeit als zuvor erfaßt wurde. Jedenfalls wußte ich, wie ich Ihnen vorhin sagte, durchaus nichts von der Depesche, deren Träger ich war.
Ja, versetzte Villefort mit dumpfem Tone, aber Sie wissen den Namen des Adressaten.
Um ihm selbst denBrief zu überbringen, mußte ich ihn wohl wissen.
Und Sie haben diesenBrief niemand gezeigt? fragte Villefort, während er las und immer mehr erbleichte.
Niemand, mein Herr, auf Ehre!
Niemand weiß, daß Sie der Träger eines von Elba kommenden und an Herrn Noirtier adressiertenBriefes waren?
Niemand, mit Ausnahme dessen, der ihn mir zugestellt hat.
Das ist zuviel, das ist noch zuviel! murmelte Villefort, und seine Stirn verdüsterte sich immer mehr, je näher er dem Ende desBriefes kam. Seinebleichen Lippen, seine zitternden Hände, seine glühenden Augen erregten in Dantes die traurigstenBefürchtungen. Nachdem Villefort vollends ausgelesen hatte, ließ er sein Haupt in seine Hände sinken undbliebeinen Augenblick unbeweglich.
Oh, mein Gott! was ist Ihnen denn? fragte Dantes schüchtern.
Villefort antwortete nicht; aber nach einer Minute richtete er seinenbleichen, verstörten Kopf wieder auf, las denBrief zum zweitenmale und sagte dann: Und Sie sagen, Sie wissen nichts von dem Inhalte desBriefes?
Ich wiederhole Ihnenbei meiner Ehre, ich weiß nichts davon, antwortete Dantes; aber mein Gott, was haben Sie denn? Sie sind unwohl! Soll ich läuten? Soll ich rufen?
Nein, antwortete Villefort, rasch aufstehend, rühren Sie sich nicht, sprechen Sie kein Wort! Ichbrauche nichts, ein vorübergehender Schwindel, nichts mehr. Antworten Sie!
Dantes erwartete das Verhör, das diese Frage ankündigte, aber vergebens. Villefort fiel auf seinen Stuhl zurück, fuhr mit eisiger Hand über seine mit Schweiß übergossene Stirn, las denBrief zum drittenmale und sagte zu sich selbst: Ah, wenn er weiß, was dieserBrief enthält, und wenn er je erfährt, daß Noirtier mein Vater ist, sobin ich verloren, auf immer verloren.
Und von Zeit zu Zeit schaute er Edmond an, als hätte seinBlick die unsichtbare Schranke durchbrechen können, welche im Herzen die Geheimnisse verbirgt, die der Mundbewahrt.
Wir dürfen nicht mehr daran zweifeln! rief er plötzlich.
Aber in des Himmels Namen, sagte der unglückliche junge Mann, wenn Sie an mir zweifeln, wenn Sie einen Verdacht gegen mich haben, so fragen Sie mich, und ichbinbereit zu antworten. i
Villefort raffte sich mit einer heftigen Anstrengung auf und sagte mit einem Tone, dem er Sicherheit verleihen wollte: Herr Dantes, die schwersten Anschuldigungen entspringen für Sie aus diesem Verhöre. Es steht also nicht in meiner Gewalt, wie ich anfangs gehofft habe, Sie in Freiheit zu setzen. Ehe ich eine solche Maßregel treffe, muß ich mich mit dem Untersuchungsrichterberaten. Sie haben jabisher gesehen, wie ich gegen Sie verfahrenbin.
Ja, mein Herr! rief Dantes, und ich danke Ihnen, denn Sie sind für mich eher ein Freund als ein Richter gewesen.
Nun wohl, ich werde Sie noch einige Zeit, doch so kurze Zeit als nur immer möglich, gefangen halten. Die Hauptanklage gegen Sie liegt in diesemBriefe, und Sie sehen…
Villefort näherte sich dem Kamin, warf ihn ins Feuer undbliebdabei stehen, bis er völlig in Asche verwandelt war.
Und Sie sehen, fuhr er fort, daß ich ihn vernichte. Doch hören Sie mich, nach einer solchen Handlung müssen Sie natürlich Zutrauen zu mir haben, nicht wahr?
Oh, befehlen Sie, ich werde IhreBefehlebefolgen!
Nein, sagte Villefort, sich dem jungen Mann nähernd, nein, ich will Ihnen keinenBefehl, sondern einen guten Rat geben. Ich will Siebis heute abend hier im Justizpalastebehalten; vielleicht wird ein anderer kommen und Siebefragen. Sagen Sie ihm alles, was Sie mir gesagt haben, aber kein Wort von diesemBriefe!
Ich verspreche es Ihnen.
Villefort sprach inbittendem Tone, und der Angeklagteberuhigte den Richter.
Siebegreifen, sagte er, einenBlick auf die Asche werfend, die noch die Form des Papiersbewahrte, nun, da dieserBrief vernichtet ist, wissen nur Sie und ich allein von seiner Existenz, und er kann Ihnen nie wieder vorgelegt werden. Verleugnen Sie ihn, wenn man davon spricht, verleugnen Sie ihn keck, und Sie sind gerettet!
Seien Sie unbesorgt, ich werde leugnen, sagte Dantes.
Gut, gut, versetzte Villefort und fuhr mit der Hand nach einer Klingelschnur. In dem Augenblicke aber, wo er läuten wollte, hielt er wieder inne und sagte: Es war der einzigeBrief, den Sie hatten?
Der einzige.
Schwören Sie?
Dantes streckte die Hand aus und sagte: Ich schwöre.
Villefort läutete. Der Polizeikommissar trat ein. Villefort sagte demBeamten einige Worte ins Ohr. Der Kommissar antwortete mit einerBewegung des Kopfes.
Folgen Sie dem Herrn! sagte Villefort zu Dantes.
Dantes verbeugte sich, warf einenBlick der Dankbarkeit auf Villefort und ging ab.
Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, als Villefort die Kräfte schwanden und er wie ohnmächtig auf einen Stuhl fiel.
Nach einem Augenblick aber murmelte er: Oh, mein Gott! Woran hängen Leben und Glück! Wäre der Erste Staatsanwalt in Marseille gewesen, hätte man den Untersuchungsrichter statt meiner gerufen, so war ich verloren, und dieses Papier, dieses verfluchte Papier stürzte mich in den Abgrund. Oh, Vater, wirst du denn immer als Hindernis zwischen mich und das Glück treten? Muß ich denn ewig mit deiner Vergangenheit kämpfen?
Dann schien plötzlich ein unerwarteter Gedanke seinen Geist zu durchzucken, sein Antlitz erleuchtete sich, ein Lächeln umspielte seine noch zusammengepreßten Lippen, und seine Augen gewannen wieder ihre Festigkeit. Ja, so ist es, sagte er; dieserBrief, der mich zu Grunde richten sollte, wird vielleicht mein Glück machen. Auf, Villefort, ans Werk!
Und nachdem er sich versichert hatte, daß der Angeschuldigte sich nicht mehr im Vorzimmerbefand, entfernte er sich ebenfalls und ging rasch nach dem Hause seinerBraut.
Das Kastell If
Das Vorzimmer durchschreitend, machte der Polizeikommissar zwei Gendarmen ein Zeichen. Man öffnete eine Tür, durch die die Wohnung des Staatsanwalts mit dem Justizpalast in Verbindung stand, und folgte einem durch die ganze Länge des Justizgebäudes führenden Gange nach dem Gefängnisse. Endlich kam man an eine Tür mit einem eisernen Gitter, an die der Polizeikommissar dreimal mit einem eisernen Hammer klopfte. Die Tür öffnete sich, und die Gendarmen schoben den Gefangenen, der abermals zögerte, mit Gewalt vorwärts. Dantes überschritt die furchtbare Schwelle, und die Tür schloß sich hinter ihm. Man führte ihn in ein ziemlich reines, aber mit Gittern und Riegeln versehenes Zimmer. Der Anblick seiner neuen Wohnung machte ihm nicht zu sehrbange. Die Worte des teilnehmenden Staatsanwalts klangen in seinem Ohre wie ein süßer Hoffnungston.
Es warbereits vier Uhr, als Dantes in sein Zimmer geführt wurde. Es war der erste März, die Tage waren noch kurz, und der Gefangenebefand sich frühzeitig im Dunkeln. Sein Gehör schärfte sich nun immer mehr, je mehr der Gesichtssinn versagte. Bei dem geringsten Geräusche erhober sich lebhaft und machte, in der Hoffnung, man käme, ihn in Freiheit zu setzen, einen Schritt nach der Tür; aberbald erstarbdas Geräusch in einer andern Richtung, und Dantes fiel wieder auf seinen Schemel zurück.
Endlich gegen zehn Uhr abends, in dem Augenblick, wo er die Hoffnung zu verlieren anfing, ließ sich ein neues Geräusch vernehmen, und diesmal schien es sich seinem Zimmer zuzuwenden. Es erschollen wirklich Tritte im Gange, die vor seiner Türe anhielten. Ein Schlüssel wurde im Schlosse gedreht, die Riegel klirrten, die massige Schranke von Eichenholz öffnete sich und ließ plötzlich in dem düsteren Zimmer dasblendende Licht zweier Fackeln aufleuchten.
Bei dem Schimmer dieser Fackeln sah Dantes die Säbel und Musketen von vier Gendarmen glänzen. Er hatte zwei Schritte vorwärts gemacht, bliebaber nun, als er diese Menschen gewahrte, auf der Stelle und fragte: Wollt ihr mich holen?
Ja, antwortete einer von den Gendarmen.
AufBefehl des Herrn Staatsanwaltsvertreters?
Ich denke wohl.
Gut, sagte Dantes, ichbinbereit, euch zu folgen.
Der Gedanke, daß man ihn aufBefehl des Herrn von Villefort hole, benahm dem Unglücklichen jede Furcht; er schritt ruhig und festen Schrittes vorwärts und stellte sich mitten unter die Gendarmen. Vor der Tür wartete ein Wagen, auf dem neben dem Kutscher ein Gefreiter saß. Der Kutschenschlag wurde geöffnet, und Dantes fühlte, daß man ihn hineinschob. Er war weder im stande, noch hatte er die Absicht, Widerstand zu leisten. In einem Augenblick saß er im Hintergrunde des Wagens zwischen zwei Gendarmen; die andern setzten sich auf den Vordersitz, und der schwere Wagen rollte mit dumpfem Lärm vorwärts.
Der Gefangene schaute nach den Öffnungen; sie waren vergittert, und kaum konnte er durch die dichten Stäbe seine Hand strecken. Er hatte nur sein Gefängnis verändert, das aber jetzt forteilte und ihn einem unbekannten Ziele immer näherbrachte. Dantes erkannte jedoch, daß man durch die Rue Tamaris nach dem Kai hinabfuhr.
Bald sah er durch seine Gitter die Lichter des Hafenwachtlokals glänzen. Der Wagen hielt still, der Gefreite stieg abund näherte sich der Wachtstube. Ein Dutzend Soldaten kamen heraus und stellten sich in Reih und Glied; Dantes sahbei dem Schimmer der Lichter ihre Flinten glänzen.
Sollte man meinetwegen eine solche militärische Macht entwickeln? sagte er zu sich selbst.
Den Schlag öffnend, beantwortete der Gefreite diese Frage, ohne ein Wort zu sprechen, denn Dantes sah, daß für ihn nur zwischen den zwei Reihen Soldaten ein Weg vom Wagen nach dem Hafen übrig gelassen war. Die zwei Gendarmen, die auf dem Vordersitze saßen, stiegen zuerst aus, dann ließ man ihn aussteigen, und endlich folgten die, welche an seiner Seite gesessen hatten. Man ging auf eineBarke zu, die ein Zollbeamter an dem Kai mittels einer Kettebefestigt hielt. Die Soldaten sahen Dantes mit einer Miene alberner Neugierde an. In wenigen Augenblickenbefand er sich im Hinterteile des Kahnes, immer zwischen den vier Gendarmen, während sich der Gefreite auf dem Vorderteile hielt. Ein kräftiger Stoß entfernte das Fahrzeug vom Lande, und vier Ruderer arbeiteten mit aller Macht. Auf einen Ruf von derBarke her senkte sich die Kette, die den Hafen schließt, und Dantesbefand sich außerhalbdesselben.
Die erste Regung des Gefangenen war, sobald er sich in freier Luft sah, die der Freude. Freie Luft ist die halbe Freiheit. Er atmete also mit vollerBrust den Wind ein, der auf seinen Flügeln alle die unbekannten Gerüche der Nacht und des Meeres dahertrug. Bald jedoch stieß er einen Seufzer aus. Er kam an der Reserve vorüber, wo er am selben Tagebis zu seiner Verhaftung so glücklich gewesen war, und durch zwei offene Fenster drang der Freudenlärm einesBalles zu ihm.
Dantes faltete die Hände, schlug die Augen zum Himmel auf undbetete, während dieBarke ihren Weg fortsetzte. Sie war an der Tête‑de‑More vorübergefahren und nun imBegriff, um dieBatterie zu rudern; Dantes konnte dieses Manöver nichtbegreifen und sagte daher: Wohin führt ihr mich?
Sie werden es sogleich erfahren. — Aber…
Es ist verboten, Ihnen eine Erklärung zu geben.
Dantes schwieg, aber die seltsamsten Gedanken durchkreuzten nun seinen Geist. Da man in einer solchenBarke keine lange Fahrt machen konnte, da kein Schiff in der Richtung, in der man fuhr, vor Anker lag, so dachte er, man würde ihn an einem entfernten Punkte der Küste ans Ufer setzen und ihmbedeuten, er sei frei. Er war nicht gebunden, was ihm als ein gutes Vorzeichen erschien. Hatte ihm nicht überdies der Staatsanwalt, der ihn so gutbehandelt hatte, gesagt, wenn er den unseligen Namen Noirtier nicht ausspräche, hätte er nichts zubefürchten? Hatte nicht Villefort in seiner Gegenwart den gefährlichenBrief, den einzigenBeweis, der gegen ihn vorlag, vernichtet? Er wartete also, stumm und in Gedanken versunken, und suchte mit dem an die Finsternis gewöhnten Auge des Seemanns trotz der Dunkelheit der Nacht den Raum zu durchdringen.
Man hatte die Insel Ratonneau, auf der ein Leuchtfeuerbrannte, zur Rechten gelassen und war, an der Küste hinfahrend, bis zur Höhe derBucht der Katalonier gelangt. Hier verdoppelten dieBlicke des Gefangenen ihre Kraft, hier wohnte Mercedes, und es kam ihm jeden Augenblick vor, als erschaute er an dem düsteren Ufer die schwankende, unbestimmte Form eines weiblichen Wesens.
Warum sollte Mercedes nicht eine Ahnung sagen, ihr Geliebter komme auf dreihundert Schritte vorüber? Ein einziges Lichtbranntebei den Kataloniern, und indem Dantes den Ausgangspunkt dieses Lichtes genau festzustellen suchte, erkannte er, daß es aus dem Zimmer seinerBraut stammte. Mercedes war also die einzige Person in der ganzen Kolonie, die noch wachte. Wenn er einen kräftigen Schrei ausstieß, konnte der junge Mann von seiner Verlobten gehört werden; aber eine falsche Scham hielt ihn zurück. Was würden seine Wächter sagen, wenn sie ihn wie einen Wahnsinnigen schreien hörten? Erbliebalso stumm, die Augen auf das Licht heftend. Inzwischen setzte dieBarke ihren Weg fort; aber der Gefangene dachte nicht an dieBarke, er dachte an Mercedes.
Eine Wendung des Fahrzeugs ließ das Licht verschwinden. Dantes drehte sich um undbemerkte, daß dieBarke auf das hohe Meer segelte.
Während er, in seine eigenen Gedanken versunken, hinausschaute, hatte man die Ruder durch Segel ersetzt, und dieBarke fuhr, vom Winde getrieben, vorwärts. Obgleich es Dantes widerstrebte, neue Fragen an die Gendarmen zu richten, näherte er sich doch dem einen, nahm ihnbei der Hand und sagte: Kamerad, bei Ihrem Gewissen, bei Ihrer Eigenschaft als Soldatbeschwöre ich Sie, haben Sie Mitleid und antworten Sie mir! Ichbin der Kapitän Dantes, ein guter und rechtschaffener Franzose, wenn auch irgend eines Verrats angeklagt; wohin führen Sie mich? Sprechen Sie, und auf Seemanns Wort, ich unterziehe mich meiner Pflicht und füge mich in mein Schicksal.
Der Gendarm kratzte sich hinter dem Ohr und schaute seinen Kameraden an. Dieser machte eineBewegung, die etwa sagen wollte: Aber meinBefehl?
DerBefehl verbietet Ihnen nicht, mir mitzuteilen, was ich in zehn Minuten oder in einer Stunde erfahren werde. Nur ersparen Sie mirbis dahin Jahrhunderte der Ungewißheit. Ich frage Sie, als obSie mein Freund wären. Glauben Sie mir, ich will mich weder wehren, noch fliehen. Übrigens kann ich das auch gar nicht. Wohin führen Sie mich?
So schauen Sie um sich her!
Dantes stand auf undblickte natürlich zuerst in der Richtung, nach der das Fahrzeug sichbewegte. Da sah er hundert Klafter vor sich den schwarzen Felsen, auf dem sich das düstere Kastell If erhebt. Die seltsame, öde Form und der Gedanke an das Gefängnis daselbst, das ein furchtbarer Schrecken umschwebte und das seit dreihundert Jahren Marseille Stoff zu den unseligsten Überlieferungenbot, wirkten auf Dantes, wie auf den zum Tod Verurteilten der Anblick des Schafotts.
Oh! mein Gott! rief er, das Kastell If! Was sollen wir dort?
Der Gendarm lächelte.
Aber man fährt mich doch nicht dahin, um mich einzukerkern? rief Dantes. Das Kastell If ist ein Staatsgefängnis und nur für gefährliche politische Verbrecherbestimmt. Ich habe kein Verbrechenbegangen. Gibt es dort Untersuchungsrichter, Beamte?
Soviel ich weiß, antwortete der Gendarm, findet man dort nur einen Gouverneur, Kerkermeister, eine Garnison und gute Mauern. Freund, spielen Sie nicht den Erstaunten; denn in der Tat, ich muß sonst glauben, Sie wollen meine Gefälligkeit dadurchbelohnen, daß Sie meiner spotten.
Dantes drückte dem Gendarmen die Hand zum Zerquetschen.
Siebehaupten also, sagte er, man führe mich nach dem Kastell If, um mich einzukerkern?
Das ist sehr wahrscheinlich, erwiderte der Gendarm.
Ohne Untersuchung, ohne Förmlichkeiten?
Die Förmlichkeiten sind erfüllt, die Untersuchung ist fertig.
Also trotz des Versprechens des Herrn von Villefort?
Ich weiß nicht, obHerr von Villefort Ihnen etwas versprochen hat, aber ich weiß, daß wir nach dem Kastell If fahren. Aber was machen Sie denn? Holla, Kameraden, herbei!
Mit einerBewegung so schnell wie derBlitz, der jedoch das geübte Auge des Gendarmen zuvorgekommen war, hatte sich Dantes in das Meer stürzen wollen. Aber vier kräftige Fäuste hielten ihn in dem Augenblicke zurück, wo seine Füße denBoden des Schiffes verließen. Brüllend vor Wut fiel er in dieBarke nieder.
Schön, rief der Gendarm, indem er ihm das Knie auf dieBrust setzte, schön, so halten Sie Ihr Seemannswort! Man traue doch den freundlichen Leuten! Machen Sie nur noch die geringsteBewegung, mein lieber Freund, so jage ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf. Ichbin meinem erstenBefehle untreu gewesen, ich werde den zweiten wortgetreubefolgen.
Und er senkte seinen Karabiner gegen Dantes, der das Ende des Laufes an seiner Schläfe fühlte. Einen Augenblick hatte er wirklich den Gedanken, die verboteneBewegung zu machen und so dein entsetzlichen Unglück, das ihn plötzlich mit seinen Geierkrallen gepackt hatte, ein Ende zubereiten. Aber gerade weil dieses Unglück so unerwartet gekommen war, dachte Dantes, es könnte nicht lange währen. Dann erinnerte er sich wieder der Versprechungen des Herrn von Villefort, und endlich kam ihm der Tod auf demBoden eines Fahrzeugs von der Hand eines Gendarmen häßlich, ekelhaft vor. — Er fiel also nieder auf den Grund derBarke, stieß ein Geheul der Wut aus und zernagte sich wie ein Wahnsinniger die Hände.
Beinahe in demselben Augenblicke erschütterte ein heftiger Stoß das Schiff. Einer von den Ruderern sprang auf den Felsen, den das Vorderteil derBarkeberührt hatte. Ein Seil ächzte, sich um einenBlock abwindend, und Dantes erkannte, daß man angelangt war und das Schiff anband.
Seine Wächter, die ihn zugleich am Arme und am Kragen hielten, nötigten ihn aufzustehen, zwangen ihn ans Land zu steigen und zogen ihn zu den Stufen, die nach dem Tore der Zitadelle führen. Dantes leistete übrigens keinen Widerstand. Sein langsamer Gang war eher die Folge von Willenlosigkeit, als von Widerstreben. Er warbetäubt und schwankte wie einBetrunkener; er sah abermals Soldaten, er fühlte Stufen, die ihn nötigten, seine Füße aufzuheben, erbemerkte, daß er unter einen Torweg kam und daß das Tor sich hinter ihm schloß, aber dies alles nahm er nur unwillkürlich wahr wie durch einen Nebel, ohne etwasBestimmtes zu unterscheiden. Er sah sogar das Meer nicht mehr, denn es faßte ihn der ungeheure Schmerz der Gefangenen, die das furchtbare Gefühl übermannt, daß sie gegen ihre Umgebung völlig ohnmächtig sind.
Einen Augenblick wurde ein Halt gemacht, während dessen er seinen Geist zusammenzufassen suchte. Erbefand sich in einem viereckigen, von vier hohen Mauern gebildeten Hofe. Man hörte den langsamen, regelmäßigen Tritt der Schildwachen und sah den Lauf ihrer Flinten funkeln. Hier wartete man ungefähr zehn Minuten. Überzeugt, daß Dantes nicht mehr entfliehen konnte, hatten ihn die Gendarmen losgelassen.
Geh, sagten die Gendarmen, Dantes fortschiebend. Der Gefangene folgte seinem Führer, der ihn nun in ein unterirdisches Gemach geleitete, dessen nackte, feuchte Wände von Tränen geschwängert zu sein schienen. Eine Art von Lampe auf einem Schemel, deren Docht in stinkendem Fett schwamm, beleuchtete die glänzenden Mauern dieses abscheulichen Aufenthaltes und zeigte Dantes seinen Führer, einen schlecht gekleideten, gemein aussehenden Gefangenwärter.
Das ist Ihr Zimmer für diese Nacht, sagte er, es ist schon spät, und der Herr Gouverneur hat sichbereits zuBett gelegt. Wenn er morgen erwacht und von den SiebetreffendenBefehlen Kenntnis genommen hat, wird er Ihnen vielleicht eine andere Wohnung anweisen. Inzwischen finden Sie hierBrot, Wasser in diesem Kruge und Stroh in einem Winkel da unten. Das ist alles, was ein Gefangener wünschen kann.
Und ehe Dantes daran dachte, seinen Mund zu einer Antwort zu öffnen, ehe erbemerkte, wohin der Kerkerknecht diesesBrot gelegt hatte, hatte der Gefangenwärter die Lampe genommen und, indem er die Tür schloß, denbläulichen Widerschein entzogen, der ihm, wiebei dem Schimmer einesBlitzes, die feuchten Wände seines Gefängnisses gezeigt hatte.
Erbefand sich nun allein in der Finsternis und in einer Stille, so stumm und so düster, wie diese Gewölbe, deren eisige Kälte er auf seine glühende Stirn sich herabsenken fühlte.
Als die ersten Strahlen des Morgens etwas Klarheit in diese Höhle gebracht hatten, kam der Gefangenwärter mit demBefehle zurück, den Gefangenen zu lassen, wo er war. Dantes hatte den Platz nicht verändert. Eine eiserne Hand schien ihn an die Stelle genagelt zu haben, auf der er am Abend zuvor gestanden hatte. Die ganze Nacht hatte er so, stehend und ohne einen Augenblick zu schlafen, zugebracht. Der Gefangenwärter näherte sich ihm, ging um ihn herum, aber Dantes schien ihn nicht zu sehen. Er schlug ihm auf die Schulter; Dantesbebte und schüttelte den Kopf.
Haben Sie denn nicht geschlafen? fragte der Gefangenwärter.
Ich weiß es nicht, antwortete Dantes.
Der Gefangenwärter schaute ihn erstaunt an. Haben Sie keinen Hunger? fuhr er fort.
Ich weiß es nicht, antwortete Dantes abermals.
Wünschen Sie etwas?
Ich wünsche den Gouverneur zu sehen.
Der Gefangenwärter zuckte die Achseln und entfernte sich. Dantes folgte ihm mit den Augen und streckte die Hände nach der halbgeöffneten Tür aus, aber die Tür schloß sich wieder. Dann schien sich seineBrust in einem langen Schluchzen zu zerreißen. Seine Tränen, von denen seine Augenlider anschwollen, flossen reichlich. Er warf sich mit der Stirn auf die Erde, betete lange, durchlief in seinem Geiste sein ganzes vergangenes Leben und fragte sich, welches Verbrechen er, noch so jung, begangen hätte, das eine so grausameBestrafung verdiente. So ging der Tag hin. Kaum aß er einigeBissenBrot und trank ein paar Tropfen Wasser. Bald saß er in Gedanken versunken, bald lief er im Gefängnis umher wie ein wildes Tier, das in einem eisernen Käfig eingeschlossen ist.
Ein Gedankebesonders ließ ihn immer wieder auffahren, daß er nämlich während der Überfahrt zehnmal imstande gewesen wäre, sich ins Meer zu werfen, bei seiner Geschicklichkeit im Schwimmen unter dem Wasser zu verschwinden, seinen Wächtern zu entgehen, die Küste zu erreichen, zu fliehen, sich in irgend einer verlassenenBucht zu verbergen, ein genuesisches oder katalanisches Schiff zu erwarten, Italien oder Spanien zu erreichen und von dort aus Mercedes zu schreiben, sie möge zu ihm kommen. Wegen seines Fortkommensbrauchte er nirgendsbesorgt zu sein; gute Seeleute sind überall gesucht. Er sprach Italienisch wie ein Toskaner, Spanisch wie ein Kind Altkastiliens. Er hätte frei und glücklich mit Mercedes und seinem Vater gelebt, denn sein Vater wäre ihm auch nachgefolgt, während er nun als Gefangener im Kastell If eingeschlossen war und nicht wußte, was aus seinem Vater, was aus Mercedes wurde, und dies alles, weil er an Villeforts Wort geglaubt hatte. Dantes wälzte sich wütend und wie wahnsinnig auf dem frischen Stroh, das ihm der Gefangenwärter gebracht hatte.
Am andern Tage erschien dieser zu derselben Stunde.
Nun, sagte er, sind Sie heute vernünftiger als gestern?
Dantes antwortete nicht.
Auf, sagte der Gefangenwärter, Mut gefaßt! Wünschen Sie etwas, worüber ich zu verfügen habe, so sagen Sie es.
Ich wünsche den Gouverneur zu sprechen.
Ei, erwiderte der Gefangenwärter ungeduldig, ich sage Ihnen, das ist ganz unmöglich. Nach der Vorschrift des Gefängnisses ist eine solcheBitte den Gefangenen nicht gestattet.
Und was ist denn hier erlaubt? fragte Dantes.
Einebessere Kost gegenBezahlung, ein Spaziergang und zuweilenBücher.
Ichbrauche keineBücher, ich habe keine Lust spazieren zu gehen und finde meine Nahrung gut. Ich will also nur eines: den Gouverneur sehen.
Wenn Sie mich dadurch ärgern, daß Siebeständig dasselbe wiederholen, sagte der Gefangenwärter, sobringe ich Ihnen nichts mehr zu essen.
Gut, erwiderte Dantes, wenn du mir nichts mehr zu essenbringst, so sterbe ich Hungers.
Der Ton, in dem Dantes diese Worte sprach, bewies dem Schließer, daß sein Gefangener den Tod herbeisehnte. Da nun jeder Gefangene seinem Wärter täglich ungefähr zehn Sous einträgt, so dachte der Schließer an den Verlust, den für ihn ein solcher Todesfallbedeutete, und er versetzte freundlicher: Hören Sie mich! Was Sie wünschen ist unmöglich, verlangen Sie es also nicht mehr von mir, denn es gibt keinBeispiel, daß der Gouverneur in das Zimmer eines Gefangenen auf dessenBitte gekommen wäre. Seien Sie nur vernünftig, und man wird Ihnen den Spaziergang erlauben, dann ist es möglich, daß der Gouverneur einmal, während Sie spazieren gehen, vorüberkommt. Sie können ihn hierbei anreden, und wenn er antworten will, ist das seine Sache.
Aber, wie lange kann ich warten, bis dieser Zufall eintritt? sagte Dantes.
Bei Gott! einen Monat, drei Monate, sechs Monate, ein Jahr, jenachdem.
Das ist zu lange, erwiderte Dantes, ich will ihn sogleich sehen.
Erschöpfen Sie sich nicht in einem einzigen, unmöglichen Wunsche, sagte der Gefangenwärter, oder Sie sind, ehe vierzehn Tage vergehen, ein Narr.
Ha, du glaubst! rief Dantes.
Ja, ein Narr; so fängt die Narrheit immer an; wir haben hier einBeispiel davon. Der Abbé, der vor Ihnen dieses Zimmerbewohnte, wurde verrückt undbot immer wieder dem Gouverneur eine Million für seine Freilassung an.
Wann hat er dieses Zimmer verlassen? — Vor zwei Jahren. — Hat man ihn in Freiheit gesetzt? — Nein, man hat ihn in einen Kerker gebracht.
Höre, sagte Dantes, ichbin kein Abbé, ichbin kein Narr. Vielleicht werde ich es; zu dieser Stunde aber habe ich leider noch meinen Verstand und will dir einen andern Vorschlag machen: Ich werde dir keine Millionbieten, denn ich könnte sie dir nicht geben; aber ichbiete dir hundert Taler, wenn du das erstemal, wo du nach Marseille gehst, dich zu den Kataloniernbegeben und einem jungen Mädchen, namens Mercedes, nur zwei Zeilen geben willst.
Wenn ich diesen Brief überbrächte, und man entdeckte es, würde ich meine Stelle verlieren, die tausend Livres jährlich einträgt, abgesehen von dem Kostgelde. Sie sehen also, daß ich ein großer Tor wäre, wenn ich tausend Livres wagen wollte, um dreihundert zu gewinnen.
Nun, so höre undbehalte es wohl in deinem Gedächtnis: Wenn du dich weigerst, den Gouverneur davon in Kenntnis zu setzen, daß ich ihn zu sprechen wünsche, wenn du dich weigerst, Mercedes zwei Zeilen zubringen, oder wenigstens sie davon zubenachrichtigen, daß ich hierbin, so erwarte ich dich eines Tages hinter der Tür und zerschmettere dir in dem Augenblicke, wo du eintrittst, den Schädel mit diesem Schemel!
Drohungen! rief der Kerkermeister, einen Schritt zurückweichend und sich in Verteidigungsstand setzend; offenbar ist es in Ihrem Kopfe nicht richtig. Der Abbé hat angefangen wie Sie, und in drei Tagen sind Sie ein Narr, daß man Siebinden muß. Zum Glücke gibt es noch Kerker im Kastell If.
Dantes nahm den Schemel und schwang ihn um seinen Kopf.
Gut, gut, rief der Kerkermeister, gut, da Sie durchaus wollen, so wird man den Gouverneurbenachrichtigen.
Dann ist es recht, sagte Dantes, stellte seinen Schemel auf denBoden und setzte sich darauf, den Kopf senkend mit starren Augen, als ober wirklich wahnsinnig würde.
Der Gefangenwärter entfernte sich und kehrte einen Augenblick nachher mit vier Soldaten und einem Korporal zurück.
AufBefehl des Gouverneurs, sagte er, bringt den Gefangenen ein Stockwerk tiefer, man muß die Narren mit den Narren zusammensperren.
Die vier Soldaten ergriffen Dantes, der in eine Art von Stumpfsinn verfiel und ihnen ohne Widerstand folgte. Man ließ ihn fünfzehn Stufen hinabsteigen und öffnete eine Tür, durch die er eintrat.
Er hat recht, murmelte er, man muß die Narren mit den Narren zusammensperren.
Die Tür schloß sich wieder, und Dantes ging mit ausgestreckten Händen vorwärts, bis er die Mauer fühlte. Dann setzte er sich in eine Ecke undbliebunbeweglich, während seine Augen, sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnend, die Gegenstände zu unterscheiden anfingen. Der Gefangenwärter hatte recht, es fehlte nicht mehr viel, und Dantes wurde ein Narr.
Der Verlobungsabend
Herr von Villefort war nach Dantes' Verhör wieder zu seinem unterbrochenen Verlobungsmahl zurückgekehrt, hatte die zahlreichen Fragen seinerBraut und ihrer Verwandten nur kurz und ausweichendbeantwortet und verabschiedete sich schleunigst von der erstaunten Familie, um sofort mit Extrapost eine — wie er sagte — für seine Zukunft ungemein wichtige Dienstreise nach Paris anzutreten.
Als er eben den Wagenbesteigen wollte, erblickte er aber eine Gestalt, die unbeweglich seiner harrte. Es war die schöne Katalonierin, die, da sie keine Nachricht von Edmond erhielt, bei Einbruch der Nacht sich selbst nach der Ursache der Verhaftung ihres Geliebten erkundigen wollte. Als Villefort sich näherte, entfernte sie sich von der Mauer, an die sie sich gelehnt hatte, und versperrte ihm den Weg. Da der Staatsanwalt Dantes von seinerBraut hatte sprechen hören, brauchte sie sich nicht zu nennen, um von ihm erkannt zu werden. Er war erstaunt über ihre Schönheit und Würde, und als sie ihn fragte, was aus ihrem Geliebten geworden sei, hatte er die Empfindung, als wäre er der Angeklagte und sie der Richter.
Der Mann, von dem Sie sprechen, sagte er, ist ein großer Verbrecher, und ich kann nichts für ihn tun, Fräulein.
Mercedes schluchzte, und als Villefort an ihr vorüberzugehen versuchte, hielt sie ihn zum zweiten Male zurück.
Aber sagen Sie mir wenigstens, wo er ist, fragte sie, ich will mich nur erkundigen, ober lebt oder ober tot ist.
Ich weiß es nicht, er gehört mir nicht mehr an.
Von dem rührendenBlicke und der flehenden Haltungbewegt, schober Mercedes zurück, bestieg den Wagen und schloß eiligst die Tür, als wollte er den Schmerz, den man ihmbrachte, draußen lassen. Doch der Schmerz läßt sich nicht so zurückstoßen, und es entstand im Grunde dieses kranken Herzens der erste Keim zu einem tödlichen Geschwür. Der Unschuldige, den er seinem Ehrgeize opferte, und der für seinen schuldigen Vaterbüßen mußte, erschien ihmbleich und drohend, seiner ebenfallsbleichenBraut die Hand reichend; und mit ihm kamen die Gewissensbisse, nicht die, welche den Kranken wie rasend aufspringen lassen, sondern der dumpfe, schmerzliche Klang, der in gewissen Augenblicken das Herzberührt und es mit der Erinnerung an eine vergangene Handlung peinigt… eine Pein, deren nagende Qualen eine wunde Stelle schaffen, diebis zum Tode immer empfindlicher wird.
Da trat in der Seele dieses Mannes noch einmal ein Augenblick des Zögerns ein. Schon mehrmals hatte er, und zwar mit dem ausschließlichenBewußtsein eines juristischen Kampfes mit dem Angeklagten, den Tod der Angeschuldigten gefordert. Die Hinrichtung dieser Angeschuldigten, die seiner überwältigenden, Richter und Geschworene hinreißendenBeredsamkeit zuzuschreiben war, hatte nicht einmal eine Wolke auf seiner Stirn zurückgelassen, denn diese Angeklagten waren Schuldige, oder Villefort hielt sie wenigstens dafür. Aber diesmal war es etwas ganz anderes; er hatte die lebenslängliche Gefängnisstrafe auf einen Unschuldigen herabgerufen, dem er nicht nur seine Freiheit, sondern auch sein verdientes Glück zerstörte: diesmal war er nicht Richter, sondern Henker.
Wenn in diesem Augenblick Renées sanfte Stimme an sein Ohr geklungen hätte, um Gnade zu erbitten, wenn die schöne Mercedes eingetreten wäre und zu ihm gesagt hätte: Im Namen Gottes, der uns sieht und richtet, geben Sie mir meinenBräutigam wieder! — ja dann würde diese Stirn, die sich schon halbunter dem moralischen Drangebeugte, sich gänzlich gebeugt haben, und er hätte ohne Zweifel mit eisigen Händen, trotz allem, was daraus für ihn entspringen konnte, denBefehl unterzeichnet, Dantes in Freiheit zu setzen. Aber keine Stimme lispelte in der Stille, und der unglückliche Dantesbliebverurteilt.
Die arme Mercedes hatte an der Ecke der Rue de la Loge Fernand wiedergefunden, der ihr gefolgt war. Sie kehrte zu den Kataloniern zurück und warf sich in Verzweiflung auf ihrBett. Vor diesemBett kniete Fernand nieder, und er drückte ihre eisige Hand, ohne daß Mercedes daran dachte, sie zurückzuziehen. Erbedeckte sie mitbrennenden Küssen, die Mercedes nicht einmal fühlte.
Sobrachte sie die Nacht hin. Die Lampe erlosch, als kein Öl mehr darin war. Siebemerkte ebensowenig die Dunkelheit, als sie das Licht wahrgenommen hatte, und der Tag kehrte zurück, ohne daß sie ihn sah. Der Schmerz hatte eineBinde um ihre Augen gelegt, die sie nur Edmond sehen ließ.
Ah! Ihr seid hier, sagte sie endlich, nach Fernand sich wendend.
Seit gestern habe ich Euch nicht verlassen, antwortete Fernand mit einem schmerzlichen Seufzer. –
Herr Morel hielt sich nicht für geschlagen; er erfuhr, daß man Dantes infolge eines Verhörs ins Gefängnis gebracht hatte; da lief er zu allen seinen Freunden, besuchte die Personen in Marseille, die Einfluß haben konnten; aberbereits hatte sich das Gerücht verbreitet, der junge Mann sei alsbonapartistischer Agent verhaftet worden, und da selbst die Verwegensten damals noch jeden Versuch Napoleons, den Thron sofort wiederzubesteigen, als wahnsinnigen Traumbetrachteten, so fand er nur Kälte, Furcht, Weigerung. Er kehrte voll Verzweiflung nach Hause zurück und gestand sich, die Lage der Dinge sei sehr ernst und niemand vermöge etwas zu tun.
Caderousse war äußerst unruhig und von den peinlichsten Gefühlen gequält; statt wie Herr Morel sich zu rühren und etwas zu Dantes' Gunsten zu versuchen, für den er übrigens nichts zu tun imstande war, schloß er sich mit zwei Flaschen Wein ein und trachtete danach, in diesen seine Unruhe zu ersäufen.
Danglars allein fühlte weder Qual noch Unruhe; er empfand sogar Freude, denn er hatte sich an einem Feinde gerächt und seinen Platz anBord des Pharao gesichert, den er zu verlierenbefürchtete; er gehörte zu denberechnenden Menschen, die mit einer Feder hinter dem Ohre und einem Tintenfasse an der Stelle des Herzens geboren werden. Alles war für ihn in dieser Welt Subtraktion oder Multiplikation, und eine Zahl erschien ihm viel kostbarer, als ein Mensch, wenn diese Zahl die Summe seines eigenen Guthabens vermehrte, die dieser Mensch vermindern konnte.
Dantes' Vater starbbeinahe vor Schmerz und Unruhe.
Der korsische Werwolf
Drei Tage nach Villeforts Abreise saß König Ludwig XVIII. in einem Salon der Tuilerien und hörte ungläubig auf die Erzählungen des Herzogs vonBlacas, der ihn vergeblich davon zu überzeugen suchte, daß sich im Süden Frankreichs etwas Geheimnisvolles vorbereite, daß er vermute, ja fast gewiß sei, Napoleon wolle von Elba entfliehen. Alle diese Nachrichten habe er von einemBoten, der soeben erst von Marseille eingetroffen sei. Aber der König wollte von alledem nichts hören und las dem mißtrauischen Höfling einen erst am selben Morgen vom Polizeiminister Dandré eingelaufenenBericht über Napoleons Leben und Treiben auf Elba vor. Darin wurde der Kaiser als krank, melancholisch und vollständig harmlos dargestellt. Endlich gelang es dem Herzog, die Aufmerksamkeit des Königs dadurch zu erregen, daß er sagte, sein Gewährsmann aus Marseille sei Herr von Villefort. Der König, der Villefort als einen ehrgeizigen, durchaus ergebenen Royalisten kannte, gabendlich seine Einwilligung, diesen zu empfangen.
Als Villefort eintrat, redete ihn Ludwig XVIII. gnädig an und fragte, obdenn die Sache wirklich so ernst sei, wie man ihm Vorrede.
Sire, sagte Villefort, sich verbeugend, ich halte die Sache für sehr dringend; aberbei der Eile, die ich angewendet habe, scheint mir das Übel nicht unüberwindlich.
Berichten Sie, bitte, ausführlicher, sagte der König, den selbst die Aufregung zu ergreifenbegann, die Herrn vonBlacas' Gesicht verstört hatte und Villeforts Stimmebeben ließ. Sprechen Sie und holen Sie von Anfang aus; ich liebe in allen Dingen die Ordnung.
Sire, ichbin so rasch als möglich nach Paris gereist, um Eurer Majestät mitzuteilen, daß ich keins von den gewöhnlichen und nichtssagenden Komplotten, wie sie täglich im Volke und in der Armee angezettelt werden, sondern eine wirkliche Verschwörung entdeckt habe, die nichts weniger als den Thron Eurer Majestätbedroht. Sire, der Usurpatorbemannt drei Schiffe. Erbeabsichtigt die Ausführung eines vielleicht wahnsinnigen Planes, der jedoch furchtbar ist, so wahnsinnig er auch sein mag. Zu dieser Stunde muß er die Insel Elba verlassen haben, sicherlich, um eine Landung in Neapel, an der toskanischen Küste oder gar in Frankreich zu versuchen. Eurer Majestät ist es nicht unbekannt, daß der Souverän der Insel Elba Verbindungen mit Italien und Frankreich unterhalten hat.
Ja, ich weiß es, sagte der König sehrbewegt, und noch kürzlich hat man entdeckt, daßbonapartistische Versammlungen in der Rue Saint‑Jaeques stattgefunden haben. Doch fahren Sie fort, ichbitte Sie! Woher wissen Sie diese einzelnen Umstände?
Sire, aus einem Verhöre, dem ich einen Schiffer aus Marseille unterworfen habe; ich überwachte ihn seit langer Zeit und ließ ihn am Tage meiner Abreise verhaften. Dieser Mensch, ein unruhiger, desBonapartismus verdächtiger Seemann, war insgeheim auf der Insel Elba; er hat dort den Großmarschall gesehen, von dem er mit einer mündlichenBotschaft für einenBonapartisten in Parisbeauftragt wurde, dessen Namen zu nennen ich ihn nichtbewegen konnte. DieBotschaftbestand aber darin, derBonapartist solle die Geister auf eine Rückkehr vorbereiten, die unfehlbar demnächst stattfinden werde.
Eine Verschwörung, antwortete Ludwig XVIII. lächelnd, ist jetzt leicht anzuspinnen, aber schwer zum Ziele zu führen; seit zehn Monaten verdoppeln meine Minister ihre Wachsamkeit, um die Ufer des Mittelländischen Meeres vor jeder Gefahr zubewahren. StiegeBonaparte in Neapel ans Land, so wäre der ganzeBund auf denBeinen, ehe er Piombino erreicht hätte. Landete er in Toskana, so würde er den Fuß auf feindliches Gebiet setzen; erreichte er französischenBoden, so geschieht das mit einer Handvoll Menschen, und wir werden leicht mit ihm fertig werden. Beruhigen Sie sich also, mein Herr, rechnen Sie aber darum nicht minder auf meine königliche Dankbarkeit!
Ah! hier ist Herr Dandré, rief der Graf vonBlacas.
In diesem Augenblick erschien wirklich auf der Türschwelle der Polizeiminister, bleich, zitternd, mit irrendenBlicken. Villefort machte einen Schritt, um sich zu entfernen, aber ein Händedruck des Herrn vonBlacas hielt ihn zurück.
Einer übermächtigen Verzweiflung nachgebend, war der Polizeiminister imBegriff, sich Ludwig XVIII. zu Füßen zu werfen, aber dieser wich, die Stirn faltend, zurück und sagte: Werden Sie wohl sprechen?
Oh! Sire, welch ein furchtbares Unglück, nie werde ich mich mehr zu trösten wissen! — Der Usurpator hat am 26. Februar die Insel Elba verlassen und ist am 1. März gelandet.
Wo? In Italien? fragte rasch der König.
In Frankreich, Sire, in einem kleinen Hafenbei Antibes, im Golf Juan.
Der Usurpator ist in Frankreich, 250 Meilen von Paris, am 1. März gelandet, und Sie erfahren dies erst heute, am 3. März?… Ei, mein Herr, was Sie mir da sagen, ist unmöglich; entweder hat man Ihnen einen falschenBericht erstattet, oder Sie sind ein Narr.
Ach! Sire, es ist nur zu wahr!
Ludwig XVIII. machte eine Gebärde des Zorns und Schreckens und richtete sich hoch auf, als obdieser unvorhergesehene Schlag ihn tief ins Herz getroffen hätte. In Frankreich! rief er, der Usurpator in Frankreich! Manbewachte also diesen Menschen nicht? Doch, wer weiß, man war vielleicht mit ihm einverstanden.
Oh! Sire! rief der Herzog vonBlacas, einen Mann, wie Herrn Dandré, kann man eines solchen Verrates nicht anklagen. Sire, wir waren alleblind, und der Polizeiminister hat nur diese allgemeineBlindheit geteilt.
Aber… sprach Villefort, dann plötzlich innehaltend, ah!.. Vergebung… Sire! sagte er, sich verbeugend, mein Eifer reißt mich fort… Eure Majestät wolle mir gnädig verzeihen.
Sprechen Sie, mein Herr, sprechen Sie offen, sagte Ludwig XVIII. Sie allein haben das Übel vorhergesehen. Helfen Sie mir ein Mittel dagegen zu suchen.
Sire, sagte Villefort, der Usurpator ist im Süden verhaßt; man kann leicht die Provence gegen ihn ausbringen.
Ja, allerdings, sagte der Minister, aber wenn er durch Gap und Sisteron vorrückt?…
Er rückt vor! rief Ludwig XVIII., er marschiert also gegen Paris! Der Polizeiministerbeobachtete ein Stillschweigen, das dem vollständigsten Zugeständnisse gleichkam.
Und die Dauphiné, Herr von Villefort, fragte der König, glauben Sie, daß man sie, wie die Provence, zur Schilderhebungbringen kann?
Sire, es tut mir leid. Eurer Majestät eine grausame Wahrheit sagen zu müssen; aber der Geist der Dauphiné istbei weitem nicht so gut und verläßlich wie der der Provence und der Languedoc. DieBergbewohner sindBonapartisten, Sire.
Er war also gut unterrichtet, murmelte Ludwig XVIII. Und wieviel Mann hat erbei sich?
Sire, ich weiß es nicht, sagte der Polizeiminister.
Wie, Sie wissen es nicht? Sie haben vergessen, über diesen Umstand Erkundigungen einzuziehen? Er ist allerdings von geringerBedeutung, fügte er mit niederschmetterndem Lachenbei.
Sire, ich konnte hierüber nichts erfahren. Die Depeschebrachte nur die Nachricht vom Landen des Usurpators und von dem Wege, den er eingeschlagen hat.
Ludwig XVIII. machte einen Schritt vorwärts und kreuzte die Arme, wie es Napoleon getan hatte.
Also, sagte er, vor Zorn erbleichend, also sieben verbündete Heere haben diesen Mann gestürzt, ein Wunder des Himmels hat mich nach 25jähriger Verbannung auf den Thron meiner Väter gesetzt, damit nun, da ich ans Ziel meiner Wünsche gelangtbin, eine Gewalt, die ich in meinen Händen hielt, losbreche und mich niederwerfe! — Was unsere Feinde von uns sagen, ist also wahr: Nichts gelernt und nichts vergessen! Wenn ich noch verraten wäre, wie er, wollte ich mich trösten; aber mitten unter Leuten zu sein, die durch mich zu ihren Würden erhoben worden sind und sorgfältiger über mich wachen sollten, als über sich selbst! Denn mein Glück ist das ihrige; vor mir waren sie nichts, nach mir werden sie nichts sein. Elend umkommen durch Unfähigkeit, durch Albernheit, das ist schauderhaft!
Der Minister stand wie gebeugt unter diesem furchtbaren Anathem. Herr vonBlacas trocknete sich seine mit Schweißbedeckte Stirn. Villefort lächelte in seinem Innern im Gefühl seiner steigendenBedeutung.
Fallen, fuhr Ludwig XVIII. fort, der mit dem erstenBlicke den Abgrund ermessen hatte, an dem die Monarchie stand. Oh, ich wollte lieber auf dasBlutgerüst meinesBruders, Ludwigs XVI., treten, als so die Treppe der Tuilerien hinabsteigen, vertrieben durch die Lächerlichkeit… Kommen Sie her, Herr von Villefort! fuhr der König fort, sich an den jungen Mann wendend, der unbeweglich im Hintergrunde den Gang dieses Gespräches verfolgt hatte. Kommen Sie her und sagen Sie diesen Herrn, daß man zum voraus alles wissen konnte, was er nicht gewußt hat.
Sire, es war unmöglich, die Pläne zu erraten, die dieser Mann vor aller Welt verbarg.
Unmöglich! Das ist ein großes Wort. Leider gibt es große Worte, wie es große Männer gibt; ich hab' es erfahren! Unmöglich für einen Minister, der eine Verwaltung, Büros, Agenten und fünfzehnmal hunderttausend Franken geheime Fonds hat, zu wissen, was sechzig Meilen von Frankreichs Grenzen vorgeht? Hier steht ein Herr, der über keines von diesen Mitteln zu verfügen hatte, ein einfacherBeamter, der mehr wußte, als Sie mit Ihrer ganzen Polizei, der meine Krone gerettet haben würde, hätte er wie Sie einen Telegraphen zur Verfügung gehabt.
DerBlick des Polizeiministers richtete sich mit dem Ausdrucke des tiefsten Ärgers auf Villefort, der das Haupt mit derBescheidenheit des Triumphators neigte.
Ich sage dies nicht mitBezug auf Sie, Blacas, fuhr Ludwig XVIII. fort, denn wenn Sie auch nichts entdeckten, so waren Sie doch wenigstens so gescheit, in Ihrem Argwohn zu verharren; ein anderer als Sie würde vielleicht Villeforts Enthüllung gänzlich mißachtet haben.
Villefort suchte dem Minister zu Hilfe zu kommen. Ein anderer hätte sich durch die Trunkenheit des Lobes hinreißen lassen; aber erbefürchtete, sich den Polizeiminister zum unversöhnlichen Feinde zu machen, wenn er auch fühlte, daß dieser seine Rollebald ausgespielt hatte. Der Minister, der im vollstenBesitze seiner Macht nicht hinter Napoleons Umtriebe gekommen war, konnte doch vielleicht in den Zuckungen seines Todeskampfes Villeforts Geheimnis durchdringen; erbrauchte ja nur Dantes zubefragen. Villefort kam also dem Minister zu Hilfe, statt ihn vollends niederzudrücken, und sagte: Sire, der rasche Gang des Ereignissesbeweist, daß Gott allein es verhindern konnte. Was Eure Majestät als die Wirkung tiefen Scharfsinns meinerseitsbetrachtet, habe ich ganz einfach dem Zufalle zu verdanken; als ergebener Dienerbenutzte ich diesen Zufall und nichts weiter. Bewilligen Sie nur nicht mehr, als ich verdiene, Sire, und geben Sie nicht einem ersten überschwenglichen Gedanken nach.
Der Polizeiminister dankte dem jungen Mann mit einemberedtenBlicke, und Villefortbegriff, daß ihm sein Plan gelungen war, das heißt, daß er, ohne die Dankbarkeit des Königs zu verlieren, sich einen Freund gemacht hatte, auf den er kommendenfalls zählen konnte.
Es ist gut, sagte der König. Und nun, meine Herren, fuhr er, sich an Herrn vonBlacas und den Polizeiminister wendend, fort, ichbedarf Ihrer jetzt nicht mehr; Sie können sich entfernen. Was noch zu tun ist, geht den Kriegsminister an.
Zum Glück, Sire, können wir auf die Armee zählen, sagte Herr vonBlacas. Eure Majestät wissen, wie sehr sie nach allenBerichten der Regierung ergeben ist.
Sprechen Sie mir nicht vonBerichten! Ich weiß nun, welches Vertrauen man ihnen schenken darf. Doch ich halte Sie nicht länger zurück, Herr von Villefort, Sie müssen von der langen Reise müde sein, ruhen Sie aus! Im übrigen seien Sie überzeugt, daß ich Ihre Dienste nicht vergessen werde.
Sire, die Güte, die mir Eure Majestät erweisen, ist eineBelohnung, die alle meine Wünsche in so hohem Grade übersteigt, daß ich nichts mehr zu fordern habe.
Gleichviel, mein Herr, wir werden Sie nicht vergessen, seien Sie unbesorgt. Inzwischen — der König machte das Kreuz der Ehrenlegion los, das er gewöhnlich neben dem St. Ludwigs‑Kreuze trug, und gabes Villefort — nehmen Sie dieses Kreuz!
In Villeforts Augen schwamm eine Träne stolzer Freude. Er nahm das Kreuz und küßte es.
Und nun, sagte er, mit welchenBefehlenbeehrt mich Eure Majestät?
Gönnen Sie sich die Ruhe, die Ihnen notwendig ist, undbedenken Sie, daß Sie, während es Ihnen an Macht gebricht, mir in Paris zu dienen, in Marseille von dem größten Nutzen für mich sein können.
Sire, antwortete Villefort, sich verbeugend, in einer Stunde werde ich Paris verlassen haben.
Gehen Sie, mein Herr, sagte der König, und sollte ich Sie vergessen, so scheuen Sie sich nicht, Ihren Namenbei mir in Erinnerung zubringen! HerrBaron, geben SieBefehl, den Kriegsminister aufzusuchen!
Ah, mein Herr, sagte der Polizeiminister zu Villefort, als sie die Tuilerien verließen. Sie treten durch die weit geöffnete Tür ein, und Ihr Glück ist gemacht.
Auf wie lange? murmelte Villefort, während er sich vor dem Minister, dessen Laufbahn abgeschlossen war, verbeugte. Ein Fiaker kam vorüber, Villefort warf sich in den Wagen und überließ sich seinen ehrgeizigen Träumen. In zehn Minuten hatte er sein Hotel erreicht. Erbestellte Pferde auf zwei Stunden später undbefahl ein Frühstück. Als er sich eben zu Tische setzen wollte, erscholl die Glocke. Der Kammerdiener ging hinaus, um zu öffnen, und Villefort hörte eine Stimme seinen Namen aussprechen. Erstaunt fragte sich der junge Mann, wer wohlbereits seine Anwesenheit wissen könne. Der Kammerdiener kam zurück, und Villefort sagte: Nun, wer verlangt nach mir?
Ein Fremder, der seinen Namen nicht nennen will.
Wie sieht er aus?
Es ist ein Mann von fünfzig Jahren, hat schwarze Haare und Augen und trägt einenblauen Rock mit dem Orden der Ehrenlegion.
Er ist es, murmelte Villefort erbleichend.
Ei, bei Gott! sagte der Mann, dessen Signalement soeben gegeben wurde, auf der Schwelle erscheinend, was für Umstände macht man hier! Ist es in Marseille Gewohnheit, daß die Söhne ihre Väter in den Vorzimmern warten lassen?
Mein Vater! rief Villefort, ich täuschte mich also nicht… ich vermutete, Sie wären es.
Ah, wenn du es vermutetest, erwiderte der Ankommende, während er seinen Stock in eine Ecke stellte und seinen Hut auf einen Stuhl legte, so erlaube mir, dir zubemerken, mein lieber Gérard, daß es nicht liebenswürdig von dir ist, mich so warten zu lassen.
Laß uns allein, Germain! sagte Villefort.
DerBediente entfernte sich mit sichtbaren Zeichen des Erstaunens.
Vater und Sohn
Herr Noirtier folgte demBedienten mit den Augen, bis er die Tür zugemacht hatte; dann, ohne Zweifel fürchtend, er könnte im Vorzimmer horchen, öffnete er noch einmal hinter ihm. Diese Vorsicht war nicht überflüssig, und die Geschwindigkeit, mit der sich Herr Germain zurückzog, bewies, daß er von der Sünde nicht frei war, die unsere Ureltern ins Verderben stürzte. Herr Noirtier unterzog sich hieraus selbst der Mühe, die Tür des Vorzimmers zu schließen, schloß auch die des Schlafzimmers, kam dann zurück und reichte Villefort, der alle seineBewegungen mit großem Erstaunen verfolgt hatte, die Hand.
Ei! weißt du wohl, lieber Gérard, sagte er lächelnd, daß du nicht aussiehst, als seiest du entzückt, mich zu sehen?
Doch, Vater, aber ich gestehe, ich war so weit entfernt, IhrenBesuch zu erwarten, daß er mich einigermaßen überraschte.
Lieber Freund, sagte Noirtier, sich setzend, es scheint mir, ich könnte dir dasselbe sagen. Wie? Du kündigst mir deine Verlobung in Marseille auf den 28. Februar an undbist am 3. März in Paris?
Wenn ich hierbin, Vater, erwiderte Gérard, sich Herrn Noirtier nähernd, sobeklagen Sie sich nicht darüber, denn ichbin Ihretwegen hierher gekommen, und diese Reise rettet Sie vielleicht.
Ah, wirklich? sagte Herr Noirtier, sich nachlässig im Lehnstuhl ausstreckend. Erzählen Sie mir das doch etwas ausführlicher, Herr Staatsbeamter… es muß interessant sein!
Vater, Sie haben von einem gewissenbonapartistischen Klubgehört, der in der Rue Saint‑Jacques zusammenkommt?
Nr. 53? Ja, ichbin Vizepräsident desselben.
Vater, Ihre Kaltblütigkeit läßt mich schaudern.
Was willst du, mein Lieber? Wenn man unter Robespierre geächtet worden ist, wenn man Paris in einem Heuwagen verlassen hat und in den Heiden vonBordeaux von den Spürhunden des Konvents umstellt wurde, gewöhnt man sich an allerlei. Fahre fort! Was ist mit dem Klubin der Rue Saint‑Jacques geschehen?
Es ist geschehen, daß man den General Quesnel kommen ließ, der um neun Uhr abends sein Haus verließ, und zwei Tage nachher in der Seine gefunden wurde.
Gut, ich will dir dafür eine andre Neuigkeit mitteilen.
Ich glaubebereits zu wissen, was Sie mir sagen wollen.
Ah! Du weißt von der Landung Sr. Majestät des Kaisers?
Still, Vater, ichbitte Sie, einmal für Sie und dann für mich. Ja, ich wußte davon und sogar vor Ihnen; denn seit drei Tagen jage ich mit der Post von Marseille nach Paris, voll Wut darüber, daß ich den Gedanken, der mir das Hirn zermartert, nicht zweihundert Meilen vorausschleudern kann.
Seit drei Tagen? Bist du toll? Vor drei Tagen war der Kaiser noch nicht gelandet. Ganz gleich, ich kannte durch einenBrief, der von der Insel Elba an Sie gerichtet war, seinen Plan.
An mich?
Ja, an Sie, ich habe ihn im Portefeuille desBoten erwischt. Wenn derBrief in die Hände eines andern gefallen wäre, würden Sie vielleicht schon erschossen sein.
Herr Noirtierbrach in ein Gelächter aus und erwiderte: Es scheint, die Restauration hat vom Kaiserreiche gelernt, wie man Geschäfte schnell erledigt. Erschossen, mein Lieber? Wie rasch du zu Werke gehst! Und wo ist dieserBrief?
Ich habe ihn verbrannt, damit nichts davon zurückbleibe; denn dieserBriefbedeutete Ihre Verurteilung.
Und den Verlust deiner Zukunft, erwiderte Noirtier kalt; ja, ichbegreife das; aber da du michbeschützest, habe ich nichts zubefürchten.
Ich tue noch mehr als dies, ich rette Sie!
Zum Teufel, das wird immer dramatischer! Erkläre dich deutlicher!
Ich komme auf den Klubin der Rue‑Saint‑Jacques zurück.
Es scheint, dieser Klubliegt der Polizei sehr am Herzen. Warum suchte sie nichtbesser? Sie hätte ihn gefunden.
Sie hat ihn nicht gefunden, ist ihm aber auf der Spur, dafür hat man einen Leichnam gefunden; der General Quesnel ist getötet worden, und in allen Ländern der Welt nennt man das einen Mord.
Einen Mord, sagst du? Nichtsbeweist, daß der General das Opfer eines Mordes geworden ist. Man findet täglich Leute in der Seine, die sich aus Verzweiflung hineingestürzt haben oder ertrunken sind, weil sie nicht schwimmen konnten.
Vater, Sie wissen sehr wohl, daß sich der General nicht aus Verzweiflung ertränkt hat, und daß man sich um diese Jahreszeit nicht in der Seinebadet. Nein, nein, täuschen Sie sich nicht, dieser Tod ist mit Recht als Mordbezeichnet worden. In der Politik, mein Lieber, das weißt du so gut wie ich, gibt es keine Menschen, sondern Ideen, keine Gefühle, sondern Interessen. Man tötet nicht, sondern manbeseitigt einfach ein Hindernis. Willst du wissen, wie sich die Sache verhält? Man glaubte, auf den uns von der Insel Elba aus empfohlenen General Quesnel zählen zu können; einer von uns geht zu ihm und lädt ihn ein, sich in die Rue Saint‑Jacques zu einer Versammlung zubegeben, wo er Freunde finden werde. Er kommt dahin, und man entwickelt ihm den ganzen Plan; die Abreise von Elba, diebeabsichtigte Landung. Nachdem er alles erfahren hat, erklärt er, er sei ein Royalist. Da schauen sich alle an; man läßt ihn einen Eid leisten, er leistet ihn, aber auf eine Weise, als wolle er Gott versuchen. Trotzdem ließ man den General ungehindert weggehen, er ist aber nicht nach Hause zurückgekehrt und wird sich auf dem Wege verirrt haben. Ein Mord? In der Tat, es setzt mich in Erstaunen, Villefort, daß du, der Vertreter des Staatsanwalts, eine Anklage auf so elendeBeweisebauen willst! Ist es mir je eingefallen, wenn du dein Royalistenhandwerk treibst und einem von meinen Freunden den Kopf abschneiden läßt, dir zu sagen: Mein Sohn, du hast einen Mordbegangen? Nein, ich sage dir: Du hast heute gesiegt, morgen kommt die Vergeltung.
Aber, Vater, seien Sie auf Ihrer Hut, die Vergeltung, die wir üben, wird furchtbar sein. — Ich verstehe dich nicht. — Sie zählen auf die Rückkehr des Usurpators? Sie täuschen sich, er wird keine sechs Meilen in Frankreich zurücklegen, ohne verfolgt, umstellt, wie ein wildes Tier eingefangen zu werden. — Lieber Freund, der Kaiserbefindet sich in diesem Augenblick auf dem Wege nach Grenoble; am 10. oder 12. ist er in Lyon, am 20. oder 25. in Paris. — DieBevölkerung wird sich erheben… — Um ihm entgegenzugehen. — Er hat nur ein paar Mannbei sich, und man wird Heere gegen ihn schicken. — Die seine Eskortebei der Rückkehr in die Hauptstadtbilden werden. — Grenoble und Lyon sind getreue Städte und werden ihm eine unübersteigbare Schranke entgegensetzen.
Grenoble wird ihmbegeistert seine Tore öffnen, ganz Lyon wird ihm entgegengehen. Glaube mir, wir sind ebenso gut unterrichtet, wie du, und unsere Polizei ist so viel wert, wie eure. Willst du einenBeweis hierfür? Du wolltest mir deine Reise verbergen, und dennoch habe ich deine Ankunft eine halbe Stunde, nachdem du durch das Tor gefahrenbist, gewußt. Du hast deine Adresse niemand gegeben, als dem Postillon, und ich kenne deine Adresse, denn, du siehst, ich komme in dem Augenblick zu dir, wo du dich zu Tische setzen willst. Läute also undbestelle ein zweites Gedeck, und wir speisen miteinander zu Mittag.
In der Tat, antwortete Villefort und schaute dabei seinen Vater erstaunt an, in der Tat, Sie scheinen mir sehr gut unterrichtet.
Ei, mein Gott, die Sache ist äußerst einfach. Ihr, die ihr die Gewalt in den Händen haltet, habt nur die Mittel, die euch das Geld gibt; wir dagegen, die sie erwarten, haben die, welche die Ergebenheitbietet.
Und Noirtier streckte selbst die Hand nach der Klingelschnur aus, um denBedienten zu rufen. Villefort hielt ihn am Arm zurück.
Warten Sie, Vater, noch ein Wort! So schlecht die royalistische Polizei auch sein mag, so kennt sie doch das Signalement des Mannes, der am Morgen des Tages, an dem General Quesnel verschwunden ist, bei diesem war.
So sie weiß es, die gute Polizei? Und wie ist das Signalement?
Gesichtsfarbebraun, Haare, Backenbart und Augen schwarz, Oberrockblau, bis an das Kinn zugeknöpft, Rosette des Offiziers der Ehrenlegion am Knopfloche, Hut mitbreiter Krempe, Rohrstock.
So, so! Das weiß sie, sagte Noirtier, und warum legte sie nicht Hand an diesen Menschen? Weil sie ihn gestern oder vorgestern an der Ecke der Rue Coq‑Héron aus dem Gesicht verloren hat.
Nun, sagte ich nicht eben, deine Polizei sei nichts wert?
Ja, aber sie kann ihn jeden Augenblick finden.
Ganz richtig, sagte Noirtier, sorglos um sich schauend, wenn dieser Mann nicht davon in Kenntnis gesetzt ist; aber er ist es und, fügte er lachend hinzu, er wird Gesicht und Kleidung verändern. Bei diesen Worten stand er auf, legte Oberrock und Halsbinde ab, ging auf den Tisch zu, auf dem die Toilettengegenstände seines Sohnes lagen, seifte sich das Gesicht ein, nahm ein Rasiermesser und schnitt sich mit vollkommen fester Hand den gefährlichenBart ab. Villefort schaute ihn voll Schrecken undBewunderung an.
Als derBart abgeschnitten war, gabNoirtier seinen Haaren eine andere Form, nahm statt seiner schwarzen Halsbinde eine farbige, die er oben in einem geöffneten Koffer liegen sah, zog statt seinesblauen einen kastanienbraunen Rock von Villefort an, versuchte vor dem Spiegel einen Hut mit aufgestülpter Krempe, schien mit der Art, wie er ihm stand, zufrieden, ließ sein Rohr in der Kaminecke stehen, wohin er es gestellt hatte, und schwang mit seiner nervigen Hand ein kleinesBambusstöckchen.
Nun! sagte er, sich seinem erstaunten Sohne zuwendend, glaubst du, die Polizei werde mich jetzt erkennen?
Nein, Vater, stammelte Villefort, ich hoffe es wenigstens.
Ja, fuhr Noirtier fort, nun glaube ich, daß du recht hast, und daß ich dir vielleicht das Leben zu verdanken habe; aber ich werde dir'sbald mit gleichem vergelten.
Villefort schüttelte den Kopf.
Willst du in den Augen des Königs als Prophet gelten, sagte Noirtier, so gehe und sage ihm folgendes: Sire, man täuscht Sie über die Stimmung in Frankreich, die Meinung der Städte, den Geist des Heeres. Der, den sie in Paris noch den korsischen Werwolf nennen, den man in Nevers noch den Usurpator nennt, heißt in GrenoblebereitsBonaparte und in Lyon der Kaiser. Sie halten ihn für umstellt, verfolgt, auf der Fluchtbegriffen, und er marschiert rasch wie der Adler, den er zurückbringt. Die Soldaten, von denen Sie glaubten, sie würden vor Hunger und Anstrengung desertieren, vermehren sich wie die Schneeflocken um denBall, der vom Gebirge herabstürzt. Sire, fliehen Sie, überlassen Sie Frankreich seinem wahren Herrn, dem, der es nicht erkauft, sondern erobert hat! Fliehen Sie, Sire, nicht als obSie Gefahr liefen, denn Ihr Gegner ist stark genug, um Ihnen Gnade angedeihen zu lassen, sondern weil es demütigend für einen Enkel des heiligen Ludwig wäre, sein Leben dem Helden von Marengo und Austerlitz verdanken zu müssen. — Sage ihm dies, Gérard, oder vielmehr geh und sage ihm nichts! Halte deine Reise geheim, rühme dich dessen nicht, was du tun wolltest und in Paris getan hast! Nimm die Eilpost und fahre, daß die Räder rauchen! Begibdichbei Nacht nach Marseille, betritt deine Wohnung durch die Hinterpforte undbleibe dort demütig und geheim und vor allem ganz harmlos. Denn diesmal, das schwöre ich dir, werden wir als kräftige Männer, als Leute, die ihre Feinde kennen, handeln. Geh, mein Sohn, und wenn du die väterlichenBefehlebefolgst, wird es möglich sein, dich auf deinem Posten zu erhalten. Vielleicht, fügte Noirtier lächelnd hinzu, vielleicht wirst du dann in der Lage sein, mich zum zweitenmale zu retten, wenn der politische Wagbalken euch eines Tages wieder emporhebt und mich hinabsinken läßt. Gottbefohlen, lieber Gérard, bei deiner nächsten Reise steigebei mir ab!
Und Nortier entfernte sich nach diesen Worten mit derselben Ruhe, die ihn nicht einen Augenblick während der Dauer dieser Unterredung verlassen hatte. Bleich und erschüttert lief Villefort ans Fenster und sah ihn ruhig mitten durch einen Schwarm verdächtiger Gestalten gehen, die sich an der nächsten Ecke aufgestellt hatten und vielleichtbeauftragt waren, den Mann mit dem schwarzenBackenbart, demblauen Oberrock und dembreitkrempigen Hute zu verhaften.
Eine halbe Stunde später war Villefort auf dem Wege nach Marseille; unterwegs erfuhr er, daß Napoleon siegreich in Grenoble eingezogen war.
Die hundert Tage
Herr Noirtier war ein guter Prophet, und die Dinge nahmen, wie er vorher gesagt hatte, einen raschen Gang. Seltsam und wunderbar verlief Napoleons Rückkehr von der Insel Elba, und die Geschichte kennt kein zweitesBeispiel dieser Art. — Ludwig XVIII. versuchte es nur schwach, den harten Schlag zu parieren. Das geringe Vertrauen, das er zu den Menschen hatte, ließ ihn auch den Ereignissen mißtrauen. Die Monarchie, eben erst wiederhergestellt, zitterte auf ihrer unsicheren Grundlage, und eine einzige Gebärde des Kaisers ließ das ganze Gebäude, eine gestaltlose Mischung von Vorurteilen und neuen Gedanken, einstürzen.
Die Dankbarkeit seines Königs, die sich Villefort erworben hatte, war also für diesen im Augenblick nicht nur unnütz, sondern sogar gefährlich, und er war so klug, das Offizierkreuz der Ehrenlegion niemand zu zeigen. Napoleon hätte ihn gewiß ohne den Schutz Noirtiers abgesetzt, der am Hofe der hundert Tage sowohl wegen der Gefahren, denen er Trotz geboten, als wegen der Dienste, die er geleistet hatte, allmächtig geworden war. Nur der Erste Staatsanwalt wurde, als politisch verdächtig, abgesetzt.
SobliebVillefort trotz des Sturzes seines Vorgesetzten an seiner Stelle, aber seine Verheiratung wurde auf glücklichere Zeiten verschoben. Behielt der Kaiser den Thron, sobedurfte Gérard einer andern Verbindung, die sein Vater ihm vermitteln sollte; führte eine zweite Restauration Ludwig XVIII. nach Frankreich zurück, so verdoppelte sich der Einfluß des Herrn von Saint‑Meran, wie der seinige, und diebeabsichtigte Verbindung wurde wünschenswerter, als je.
Der Staatsanwalt war also für den Augenblick der erste richterlicheBeamte von Marseille, als eines Morgens seine Tür sich öffnete und man ihm Herrn Morel ankündigte, der durch seine Anhänglichkeit an Napoleon jetzt ein ganz anderes Ansehen als früherbesaß.
Herr Morel erwartete, Villefort niedergeschlagen zu finden; er fand ihn aber ruhig, fest und voll jener kalten Höflichkeit, der unübersteigbarsten aller Schranken, die den erhabenen Staatsdiener vom gewöhnlichen Sterblichen trennen.
Er war zu Villefort in der Überzeugung gekommen, derBeamte würdebei seinem Anblick zittern, und nun war er es, derbang und erregt demBeamten gegenüberstand, der ihn, den Ellbogen auf den Schreibtisch und das Kinn auf die Hand stützend, erwartete.
Erblieban der Tür stehen. Villefort schaute ihn an, als ober Mühe hätte, ihn wiederzuerkennen. Endlich, nach einigen Sekunden des Stillschweigens und der Prüfung, während deren Herr Morel seinen Hut in den Händen hin und her drehte, sagte Villefort: Herr Morel, wenn ich mich nicht täusche?
Ja, mein Herr, antwortete der Reeder.
Treten Sie näher, sagte Villefort mit Gönnermiene, und sagen Sie mir, welchem Umstande ich die Ehre IhresBesuches zu verdanken habe!
Mein Herr, sagte der Reeder, Sie erinnern sich, daß ich einige Tage, ehe man die Landung Sr. Majestät des Kaisers erfuhr, zu Ihnen kam und Sie um Nachsicht für einen unglücklichen jungen Menschen, einen Seemann, Sekond anBord meinerBrigg, bat. Man hat ihn angeklagt, er stehe in Verbindung mit der Insel Elba; eine solche Verbindung, die damals ein Verbrechen war, gewährt jetzt Anspruch aufBelohnung. Sie dienten zu jener Zeit Ludwig XVIII. und haben den jungen Mann nicht geschont; das war Ihre Pflicht. Heute dienen Sie Napoleon, und Sie müssen ihn in Schutz nehmen; das ist abermals Ihre Pflicht. Ich komme also, um Sie zu fragen, was aus ihm geworden ist.
Villefort rang mit aller Macht seineBewegung nieder und erwiderte: Der Name dieses jungen Mannes? Haben Sie die Güte, mir seinen Namen zu sagen.
Edmond Dantes. Villefort hätte offenbar lieber der Pistole eines Duellgegners stand gehalten, als diesen Namen so geradezu aussprachen hören; er verzog jedoch keine Miene. Dantes? Edmond Dantes, sagen Sie? wiederholte er und öffnete ein dickes Register, das in einem nahen Fache lag, ging an einen Tisch, von dem Tische zu einem Haufen Aktenbündeln und sagte, sich zum Reeder wendend, mit äußerst unschuldiger Miene:
Warten Sie, ich habe es. Es ist ein Seemann, nicht wahr, der eine Katalonierin heiratete? Ja, ja; oh, ich erinnere mich jetzt, die Sache war sehr ernster Natur.
Wieso?
Sie wissen, daß er von hier in das Gefängnis des Justizpalastes geführt wurde. Acht Tage daraufbrachte man ihn fort, man wird ihn nach Fenestrelles, nach Pignerol oder auf die Sainte‑Marguerite‑Inseln transportiert haben. Von dort werden Sie ihn eines schönen Tages wiederkehren und das Kommando seines Schiffes übernehmen sehen.
Er mag kommen, wann er will, seine Stellebleibt ihm offen. Doch warum ist er nicht zurückgekehrt?
Von dem durch das Gesetz vorgeschriebenen Wege dürfen wir nicht abweichen, erwiderte Villefort. Der Einkerkerungsbefehl war von oben gekommen, der Freilassungsbefehl muß auch von oben kommen. Napoleon aber ist erst seit vierzehn Tagen zurückgekehrt, und dieBegnadigungsschreiben können kaum ausgefertigt sein.
Gibt es denn kein Mittel, fragte Morel, die Förmlichkeiten zubeschleunigen, jetzt, da wir triumphieren? Ich habe verschiedene Freunde und einigen Einfluß; ich vermag die Aufhebung des Spruches zu erlangen.
Es fand kein Spruch statt.
Aber es muß doch eine Gefangenenliste geben.
Bei politischen Vergehen gibt es keine Gefangenenlisten. Die Regierungen haben oft ein Interesse daran, einen Menschen verschwinden zu lassen, ohne daß eine Spur von seinem Vorhandensein übrigbleibt.
Dies war unter denBourbonen so, doch jetzt…
Das ist zu allen Zeiten so, Herr Morel. Eine Regierung folgt der andern, und eine gleicht der andern. Die unter Ludwig XIV. eingerichtete Strafmaschine ist noch heutigen Tages im Gange fastbis auf dieBastille. Der Kaiser handhabte die Gefängnisvorschriften noch strenger als der große König selbst, und die Zahl der Eingekerkerten, von denen sich in den Registern keine Spur findet, ist unberechenbar.
Morel hegte nicht den geringsten Verdacht mehr und fragte: Was würden Sie mir raten zurBeschleunigung der Rückkehr des armen Dantes zu tun?
Es gibt nur ein Mittel: Richten Sie eineBittschrift an den Justizminister.
Und Sie wollen es übernehmen, dieseBittschrift an ihr Ziel gelangen zu lassen?
Mit größtem Vergnügen. Dantes konnte damals schuldig sein, heute ist er unschuldig, und es ist meine Pflicht, dem die Freiheit wiederzugeben, den ich meiner Pflicht gemäß ins Gefängnis setzen mußte.
Villefort kam auf diese Art der Gefahr einer nicht sehr wahrscheinlichen, aber doch möglichen Untersuchung zuvor, die ihn hätte ins Verderben stürzen müssen.
Setzen Sie sich also hierher, Herr Morel, sagte Villefort, dem Reeder seinen Platz abtretend, ich will Ihnen diktieren. Villefortbebtebei dem Gedanken an den in der Stille und Finsternis ihn verfluchenden Gefangenen; aber er war zu weit gegangen, um zurückweichen zu können. Dantes mußte vom Räderwerke seines Ehrgeizes zermalmt werden.
Villefort diktierte nun eineBittschrift, in der er in anscheinend vortrefflicher Absicht Dantes' Patriotismus und die von ihm derbonapartistischen Sache geleisteten Dienste übertrieb. In dieserBittschrift war Dantes als einer der tätigsten Agenten für die Rückkehr Napoleons dargestellt, und es schien keinem Zweifel zu unterliegen, daß der Minister, der dieses Papier in die Händebekam, dem Armen sofort Gerechtigkeit widerfahren ließ.
Und diese Eingabe wirdbald abgehen? fragte Morel.
Noch heute. — Mit einemBegleitberichte von Ihnen?
DerbesteBericht, den ichbeifügen kann, besteht darin, daß ich alles, was Sie in dieserBittschrift sagen, bestätige.
Villefort setzte sich nun ebenfalls und schriebauf eine Ecke der Eingabe seine Zustimmung.
Was soll ich nun weiter tun? sagte Morel.
Warten, versetzte Villefort, ich stehe für alles.
Diese Versicherung gabMorel die Hoffnung wieder. Er verließ entzückt den Staatsanwalt und kündigte Dantes' altem Vater an, er würde seinen Sohnbald wiedersehen. Villefort aber, statt dieseBotschaft nach Paris zu schicken, behielt sie in seinen Händen und verwahrte sie sorgfältig.
Dantesbliebalso gefangen; in der Tiefe seines Kerkers verloren, hörte er nichts von dem geräuschvollen Einsturz des Thrones Ludwigs XVIII., oder von dem noch lauteren Krachenbeim Zusammenbruch des Kaiserreiches. Villefort aber hatte alles mit wachsamem Auge verfolgt, alles mit aufmerksamem Ohre gehört. Zweimal war während dieser kurzen Kaiserzeit, die man die hundert Tage nannte, Morel, auf Dantes' Freilassung dringend, zu Villefort gekommen, und jedesmal hatte dieser ihn durch Versprechungen und Hoffnungenbeschwichtigt. Endlich kam der Tag von Waterloo, und Napoleon wurde Gefangener auf Sankt Helena. Jetzt zeigte sich Morel nicht mehrbei Villefort. Der Reeder hatte für seinen jungen Freund alles getan, was ein Mensch tun konnte. Neue Versuche unter dieser zweiten Restauration machen, hieß sich nutzlos selbst gefährden.
Ludwig XVIII. bestieg wieder den Thron. Villefort, für den Marseille voll von Erinnerungen war, die ihm zuweilen Gewissensbissebereiteten, erbat sich und erhielt die unbesetzte Stelle des Staatsanwalts in Toulouse. Vierzehn Tage später heiratete er Fräulein von Saint‑Meran, deren Vaterbei dem Hofe höher als je in Gunst stand.
So verharrte Dantes während der hundert Tage und auch nach Waterloo hinter Schloß und Riegel.
Danglars, der vorher triumphiert und das Gelingen seiner Denunziation in heuchlerischer Verblendung eine Fügung der Vorsehung genannt hatte, wurde von Angst ergriffen, als Napoleon wieder in Paris war und seine Stimme abermals gebieterisch erschallte. Er erwartete jeden Augenblick, Dantes drohend und stark wieder erscheinen zu sehen. Er eröffnete deshalbHerrn Morel seinen Wunsch, den Seedienst zu verlassen, und reiste nach Madrid ab. Seitdem hörte man nichts mehr von ihm.
Fernandbegriff nichts von allem. Dantes war nicht da; was aus ihm geworden war, wollte er gar nicht wissen. Während der ganzen Frist, die ihm die Abwesenheit des Nebenbuhlers gewährte, strengte er seine Erfindungskraft an, teils um Mercedes über die Ursachen undBeweggründe dieser Abwesenheit zu täuschen, teils um Auswanderungs- und Entführungspläne auszusinnen. Manchmal, in trüben Stunden, setzte er sich wohl auf die Spitze des Kap Pharao und schaute traurig und unbeweglich wie ein Raubvogel hinaus, ober nicht den jungen Mann mit dem freien Gange und dem hoch erhobenen Kopfe erblickte, der auch für ihn der Künder schwerer Rache sein mußte. Dann stand sein Plan fest. Er wollte Dantes mit einem Flintenschusse den Schädel zerschmettern und sich hernach selbst töten, wie er sich, um seinen Mordplan zubeschönigen, vorredete.
Mittlerweile rief das Kaiserreich einen neuen Heerbann auf, und alles, was sich in Frankreich an waffenfähiger Mannschaft vorfand, eilte auf die mächtige Stimme des Kaisers herbei. Auch Fernand mußte dem Rufe folgen. Er verließ seine Hütte und Mercedes, von dem grausamen Gedanken zermartert, sein Nebenbuhler könnte in der Zwischenzeit kommen und die Geliebte heiraten.
Seine Aufmerksamkeiten für Mercedes, das Mitleid, das er für ihr Unglück zu empfinden schien, die Sorge, mit der er ihren geringsten Wünschen zuvorkam, hatten die Wirkung hervorgebracht, die der Schein der Ergebenheit auf edle Herzen immer hervorbringt. Mercedes hatte stets eine freundschaftliche Zuneigung für Fernand gehegt, und ihre Freundschaft für ihn vermehrte sich durch ein neues Gefühl, durch die Dankbarkeit. MeinBruder, sagte sie, als sie den Tornister auf den Schultern des Kataloniersbefestigte, meinBruder, mein einziger Freund, laßt Euch nicht töten, laßt mich nicht allein in dieser Welt, wo ich weinen muß und völlig vereinsamtbin, sobald Ihr nicht mehr lebt.
Diese im Augenblick der Trennung gesprochenen Worte gewährten Fernand wieder einige Hoffnung. Wenn Dantes nicht zurückkam, konnte Mercedes eines Tages die Seinige werden.
Mercedesblieballein auf dieser kalten Erde, die ihr nie so öde vorgekommen war, allein, mit dem unermeßlichen Meere als Horizont. Ganz in Tränen gebadet sah man siebeständig um das kleine Dorf der Katalonier irren. Bald stand sie unter der glühenden Mittagssonne, unbeweglich, stumm wie eineBildsäule, und schaute nach Marseille; bald saß sie am Rande des Gestades, horchte auf das Stöhnen des Meeres, so ewig wie ihr Schmerz, und fragte sich, obes nichtbesser wäre, sich vorwärts zubeugen, sich dem eigenen Gewichte zu überlassen, den Abgrund zu öffnen und sich darein zu versenken, statt diebeständige Trauer einer hoffnungslosen Erwartung zu ertragen. Es fehlte ihr nicht an Mut, dieses Vorhaben zu verwirklichen, aber die Religion kam ihr zu Hilfe undbewahrte sie vor dem Selbstmord.
Caderousse wurde einberufen wie Fernand; da er jedoch verheiratet und acht Jahre älter war, als der Katalonier, kam er zum dritten Aufgebote und wurde zur Küstenverteidigung verwandt.
Der alte Dantes, den nur die Hoffnung aufrecht erhalten hatte, verlor diesebei dem Sturze des Kaisers. Genau fünf Monate, nachdem er von seinem Sohne getrennt worden war, und fast zur selben Stunde, wo man ihn verhaftet hatte, gaber in Mercedes' Armen den Geist auf. Herr Morel übernahm alle Kosten seinerBeerdigung undbezahlte die geringen Schulden, die der Greis während seiner Krankheit gemacht hatte. Es war mehr als Wohltätigkeit, so zu handeln, es gehörte Mut dazu. Der Süden Frankreichs stand in Flammen, und den Vater eines so gefährlichenBonapartisten, wie Dantes, selbst auf dem Totenbette zu unterstützen, war ein Verbrechen.
Der wütende Gefangene und der verrückte Gefangene
Ungefähr ein Jahr nach der Rückkehr Ludwigs XVIII. unternahm der Generalinspektor der Gefängnisse eine Rundreise. Erbesuchte wirklich hintereinander alle Zellen und Kerker. Mehrere Gefangene des Kastells If wurden ebenfalls vernommen; der Inspektor fragte sie über die Nahrung, die man ihnen verabreichte, und was sie etwa sonst noch zu wünschen hätten. Sie antworteten einstimmig, das Essen sei abscheulich, und sie wünschten, frei zu sein.
Der Inspektor fragte sie, obsie ihm weiter nichts mitzuteilen hätten. Sie schüttelten den Kopf; was konnten Gefangene anderes verlangen, als die Freiheit?
Der Inspektor wandte sich um und sagte zu dem Gouverneur:»Ich weiß nicht, warum man uns diese unnützen Rundreisen machen läßt. Wer ein Gefängnis sieht, sieht hundert; wer einen Gefangenen hört, hört tausend. Es ist stets das gleiche: schlecht genährt und unschuldig. Haben Sie noch andere?
Ja, wir haben gefährliche Gefangene oder Narren, die im Kerkerbewacht werden müssen.
Laßt sie sehen, sagte der Inspektor gelangweilt, ich darf mir nichts sparen.
Warten Sie, sagte der Gouverneur, wir müssen wenigstens zwei Soldaten zum Schutze haben. Die Gefangenenbegehen zuweilen, und wäre es nur aus Lebensüberdruß und um sich zum Tode verurteilen zu lassen, Taten der Verzweiflung, und Sie könnten das Opfer einer solchen Handlung werden.
Man holte wirklich zwei Soldaten und stieg eine feuchte, übelriechende, schimmelige Treppe hinab.
Oho! rief der Inspektor, auf der Hälfte der Treppe stehenbleibend, wer zum Teufel kann hier wohnen?
Einer der gefährlichsten Meuterer, ein Mensch, der uns als zu allem fähig zubesonderer Wachsamkeit empfohlen ist.
Wie lange ist er hier?
Seit ungefähr einem Jahre, nachdem er den Schließer hatte töten wollen, hat man ihn in diesen Kerker gesetzt.
Er ist also toll?
Er ist noch viel schlimmer, sagte der Schließer, er ist ein Teufel.
Wollen Sie, daß ich Klage über ihn führe? fragte der Inspektor den Gouverneur.
Esbedarf dessen nicht, mein Herr, er ist so hinreichendbestraft. Überdies grenzt sein Zustand gegenwärtig an Narrheit, und nach der Erfahrung, die wir gemacht haben, wird er, ehe ein weiteres Jahr vergeht, verrückt sein.
Destobesser für ihn, sagte der Inspektor. Ist er einmal ein völliger Narr, so wird er weniger leiden.
Sie haben recht, sagte der Gouverneur, so haben wir in einem Kerker, der von diesem nur durch etwa zwanzig Fuß Mauerwerk getrennt ist, einen alten Abbé, einen ehemaligen italienischen Parteiführer. Er ist seit 1811 hier, wurde gegen das Ende des Jahres 1813 verrückt, und seit dieser Zeit ist er körperlich nicht mehr zu erkennen; früher weinte er, jetzt lacht er; früher magerte er ab, jetzt wird er fett.
Bei dem Klirren der schweren Schlösser, bei dem Ächzen der verrosteten Angeln, die sich auf ihren Zapfen drehten, erhobDantes sein Haupt. Beim Anblick eines unbekannten Mannes, der von zwei fackeltragenden Schließern und zwei Soldatenbegleitet war, und mit dem der Gouverneur sprach, erriet er, worum es sich handelte, und sprang, da er sah, daß sich ihm endlich eine Gelegenheitbot, einen höherenBeamten anzuflehen, mit gefalteten Händen vorwärts. Die Soldaten kreuzten sogleich dasBajonett, denn sie glaubten, der Gefangene stürze inböser Absicht auf den Inspektor los; auch dieser selbst machte einen Schritt rückwärts.
Als Dantes sah, daß man ihn als einen gefährlichen Menschen hingestellt halte, sammelte er in seinemBlicke alles, was das Herz des Menschen an Sanftheit und Demut zu enthalten vermag, und suchte mit ergreifenden, Gott als Zeugen seiner Unschuld und seines Elends anrufenden Worten, welche die Anwesenden in Erstaunen setzten, die Seele des hohenBesuchers zu rühren.
Der Inspektor hörte Dantes' Redebis zum Ende an.
Er fängt an, fromm zu werden, sagte er hierauf zum Gouverneur mit halber Stimme; schon gibt er sanfteren Gefühlen Raum. Sehen Sie, die Furchtbringt ihre Wirkung auf ihn hervor. Er ist vor denBajonetten zurückgewichen, ein Narr aber weicht vor nichts zurück; ich habe hierüber in der Irrenanstalt in Charenton seltsameBeobachtungen gemacht. Dann sich an den Gefangenen wendend, fragte er: Was verlangen Sie also?
Ich verlange zu wissen, welches Verbrechen ichbegangen habe; ich verlange, daß man mir Richter gibt; ich verlange, daß mein Prozeß eingeleitet wird; ich verlange, daß man mich erschießt, wenn ich schuldigbin, aber auch, daß man mich in Freiheit setzt, wenn ich unschuldigbin.
Bekommen Sie gute Speise? fragte der Inspektor.
Ja, ich glaube; ich weiß es nicht. Doch daran ist wenig gelegen. Aber was nicht allein mich, den armen Gefangenen, sondern auch alle Justizbeamten und sogar den König angeht, das ist, daß ein Unschuldiger nicht das Opfer einer schändlichen Denunziation sein und nicht seine Henker verfluchend eingekerkertbleiben soll.
Sie find heute sehr demütig, sagte der Gouverneur, Sie waren nicht immer so. Sie sprachen ganz anders, mein lieber Freund, an dem Tage, wo Sie Ihren Wärter ermorden wollten.
Das ist wahr, antwortete Dantes, und ichbitte diesen Mann um Verzeihung, denn er ist stets gut gegen mich gewesen; aber was wollen Sie? Ich war verrückt, ich war wütend.
Und Sie sind es nicht mehr?
Nein, Herr; denn die Gefangenschaft hat mich gebeugt, gebrochen, vernichtet… Es ist schon so lange, daß ich hierbin!
So lange… wann sind Sie denn verhaftet worden?
Am 28. Februar 1815 um zwei Uhr nachmittags.
Der Inspektor rechnete: Wir haben den 30. Juli 1816; was wollen Sie? Sie sind erst seit siebzehn Monaten gefangen.
Siebzehn Monate! Oh! Herr, Sie wissen nicht, was siebzehn Monate Gefängnis sind; siebzehn Jahre, siebzehn Jahrhunderte, besonders für einen Menschen, der, wie ich, seinem Glücke so nahe stand; für einen Menschen, der, wie ich, ein geliebtes Wesen heiraten sollte; für einen Menschen, der eine ehrenvolle Laufbahn vor sich offen sah, und dem jetzt alles entrissen ist, der mitten aus dem schönsten Tage in die tiefste Nacht versinkt; der seine Zukunft zerstört sieht; der nicht weiß, obdie, welche er liebte, ihn noch liebt; der nicht weiß, obsein alter Vater gestorben ist oder lebt! Siebzehn Monate Gefängnis für einen Menschen, der an die Luft des Meeres, an die Unabhängigkeit des Seemanns, an den freien Raum, an die Unermeßlichkeit, an die Unendlichkeit gewöhnt ist, Herr! Siebzehn Monate Gefängnis, das ist mehr, als alle Verbrechen verdienen, welche die menschliche Sprache mit den gefährlichsten Namenbezeichnet! Haben Sie daher Mitleid mit mir, und verlangen Sie für mich nicht Nachsicht, sondern Strenge, nicht Gnade, sondern ein Gericht; Richter, Herr, ich verlange nur Richter; man kann einem Angeklagten die Richter nicht verweigern.
Es ist gut, sagte der Inspektor, wir wollen sehen. In der Tat, der arme Teufel dauert mich; wenn wir hinaufkommen, werde ich mir die Gefangenenliste zeigen lassen.
Ganz gewiß! antwortete der Gouverneur; aber Sie werden schwerbelastende Eintragungen finden.
Ich weiß, Herr, fuhr Dantes fort, daß Sie mich nicht durch eigene Entscheidung freilassen können; doch Sie vermögen meineBitte derBehörde zu übergeben, Sie können eine Untersuchung veranlassen, mich vor ein Gericht stellen; ein Gericht, das ist alles, was ich fordere. Ich will wissen, welches Verbrechen ichbegangen habe, und zu welcher Strafe ich verurteiltbin. Denn sehen Sie, die Ungewißheit ist die schlimmste aller Strafen.
Leuchtet mir! sagte der Inspektor.
Herr, rief Dantes, ich entnehme dem Tone Ihrer Stimme, daß Siebewegt sind. Oh, Herr, sagen Sie mir, daß ich hoffen darf.
Ich kann Ihnen das nicht sagen, antwortete der Inspektor, ich verspreche Ihnen nur, daß ich die Siebetreffenden Akten untersuchen werde.
Oh, dannbin ich frei, dannbin ich gerettet!
Wer hat Sie verhaften lassen? fragte der Inspektor.
Herr von Villefort, antwortete Dantes, sprechen Sie mit ihm, fragen Sie ihn!
Herr von Villefort ist seit einem Jahr nicht mehr in Marseille, sondern in Toulouse.
Ah! dann wundere ich mich nicht mehr, murmelte Dantes; mein einzigerBeschützer ist entfernt.
Hatte Herr von Villefort irgend einen Grund des Hasses gegen Sie? fragte der Inspektor.
Keinen, Herr, erbenahm sich sogar sehr wohlwollend gegen mich.
Ich kann mich also auf die Erklärungen verlassen, die er über Sie gemacht hat oder mir geben wird?
Vollkommen, Herr.
Es ist gut. Warten Sie!
Dantes fiel auf die Knie und murmelte ein Gebet, worin er Gott diesen Mann empfahl, der in sein Gefängnis herabgestiegen war, wie der Heiland, um die Seelen aus der Hölle zu erretten. Die Tür schloß sich wieder; aber die Hoffnung, die mit dem Inspektor herabgekommen war, bliebebenfalls im Kerker eingeschlossen.
Beeilen wir uns, dass wir fertig werden, sagte der Inspektor: wer kommt jetzt daran?
Oh, ein drolliger Narr, antwortete der Gouverneur, er hält sich nämlich für denBesitzer eines ungeheuren Schatzes. Im ersten Jahre seiner Gefangenschaft ließ er der Regierung eine Million anbieten, wenn sie ihn in Freiheit setzen wollte, im zweiten Jahre zwei Millionen, im dritten Jahre drei und so fort. Jetzt ist er im fünften Jahre seiner Gefangenschaft; er wird Siebitten, insgeheim mit Ihnen sprechen zu dürfen, und Ihnen fünf Millionen anbieten.
Oh, das ist sonderbar, sagte der Inspektor, und wie heißt dieser Millionär? — Abbé Faria.
Der Schließer öffnete eine Tür, und der Inspektor warf einen neugierigenBlick in den Kerker des närrischen Abbés. Mitten im Zimmer, in einem mit einem Stück Mauerkalk auf der Erde gezogenen Kreise lag ein fast nackter Mensch, so sehr waren seine Kleider in Lumpen zerfallen. Er zeichnete in den Kreis sehr eifrig eine geometrische Linie und schien ebensosehr mit der Lösung seines Problemsbeschäftigt, wie es Archimedes war, als er von einem Soldaten des Marcellus getötet wurde. Er rührte sich nichtbei dem Geräusche, das das Öffnen des Kerkers veranlaßte, und schien erst zu erwachen, als das Licht der Fackeln mit einem ungewohnten Glanze den feuchtenBoden übergoß, auf dem er arbeitete. Dann wandte er sich um und sah mit Erstaunen die zahlreiche Gesellschaft, die in seinen Kerker herabgestiegen war.
Sogleich stand er lebhaft auf, nahm eine Decke, die am Fuße seines elendenBettes lag, und wickelte sich darein, um in den Augen der Fremden in einem schicklicheren Zustande zu erscheinen.
Was sind Ihre Wünsche? sagte der Inspektor, ichbin Vertreter der Regierung und habe den Auftrag, dieBeschwerden undBitten der Gefangenen entgegenzunehmen.
Oh, dann hoffe ich, wir werden uns verständigen, rief der Abbé.
Sehen Sie! sagte leise der Gouverneur. Fängt es nicht an, wie ich gesagt habe?
Mein Herr, fuhr der Gefangene fort, ichbin der Abbé Faria, geboren zu Rom und war zwanzig Jahre Sekretär des Kardinals Rospigliosi; ich wurde, ohne zu wissen warum, Anfang 1811 verhaftet. Ichbin sehr glücklich, Sie zu sehen, obgleich Sie mich in einer sehr wichtigenBerechnung gestört haben, in einerBerechnung, die, wenn sie gelingt, vielleicht Newtons Lehre von der Schwerkraft über den Haufen wirft. Können Sie mir die Gunst einer geheimen Unterredungbewilligen?
Das ist unmöglich.
Wenn es sich jedoch darum handelte, versetzte der Abbé, der Regierung eine ungeheure Summe zuzuwenden, sagen wir fünf Millionen?
Wahrhaftig, sagte der Inspektor zum Gouverneur, Sie haben alles, sogarbis auf die Summe, vorhergesagt.
Mein Lieber, sagte der Gouverneur, leider wissen wir zum voraus und auswendig, was Sie uns sagen wollen; es handelt sich um Ihre Schätze, nicht wahr?
Faria schaute den Spötter mit Augen an, in denen ein vorurteilsloserBeobachter denBlitz der Vernunft und der Wahrheit hätte leuchten sehen; dann sagte er: Allerdings, wovon soll ich sprechen, wenn nicht davon?
Herr Inspektor, fuhr der Gouverneur fort, ich kann Ihnen diese Geschichte ebensogut erzählen, wie der Herr Abbé selbst; denn seit vier oder fünf Jahren muß ich immer und ewig dasselbe hören.
Dasbeweist, sagte der Abbé, daß Sie wie die Menschen sind, von denen die Schrift spricht, welche Augen haben und nicht sehen, welche Ohren haben und nicht hören.
Mein Lieber, die Regierung ist reich undbedarf, Gott sei Dank, Ihres Schatzes nicht. Behalten Sie ihn also für den Tag, wo Sie dieses Gefängnis verlassen werden.
Das Auge des Abbés erweiterte sich; er ergriff die Hand des Inspektors und sagte: Aber wenn ich das Gefängnis nicht verlasse, wenn ich gegen jede Gerechtigkeit in diesem Kerker zurückgehalten werde, wenn ich hier sterbe, ohne mein Geheimnis irgend jemand vermacht zu haben, so ist also der Schatz verloren? Ist es nichtbesser, wenn die Regierung daraus Nutzen zieht und ich ebenfalls? Ich werdebis zu sechs Millionen gehen, mein Herr, ja, ich werde sechs Millionen abtreten und mich mit dem Restebegnügen, wenn man mir die Freiheit schenken will.
Auf mein Wort, sagte der Inspektor halblaut, wüßte man nicht, daß dieser Mensch ein Narr ist, so müßte man glauben, er rede die Wahrheit, in so überzeugendem Tone spricht er.
Ichbin kein Narr, Herr, und sage die Wahrheit, versetzte Faria, der mit der den Gefangenen eigenen Feinheit des Gehörs kein Wort von derBemerkung des Inspektors verloren hatte. Der Schatz, von dem ich spreche, ist wirklich vorhanden, und ich erbiete mich, einen Vertrag mit Ihnen zu unterschreiben, kraft dessen Sie mich an den von mir angegebenen Ort führen. Man soll die Erde unter unsern Augen ausgraben, und wenn ich lüge, wenn man nichts findet, sobin ich ein Narr, wie Sie sagen, und Siebringen mich in diesen Kerker zurück, wo ich ewigbleiben und sterben werde, ohne von irgend jemand mehr etwas zu verlangen.
Der Gouverneurbrach in ein Gelächter aus und sagte: Die Sache ist nicht übel ersonnen. Wenn alle Gefangenen sich den Spaß machen wollten, ihre Wärter hundert Meilen spazieren zu führen, so wäre das ein vortreffliches Mittel für sie, bei Gelegenheit sich aus dem Staube zu machen, und an Gelegenheit würde es dabei nicht fehlen.
Es ist einbekanntes Mittel, sagte der Inspektor, und der Herr hat nicht einmal das Verdienst der Erfindung.
Mein Herr, antwortete Faria, schwören Sie mirbei Christus, mir zur Freiheit zu verhelfen, wenn ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe, und ich nenne Ihnen den Ort, wo mein Schatz vergraben liegt. Sie wagen dabei nichts, und Sie sehen, daß ich mir nicht dadurch eine Gelegenheit verschaffen will, mich zu flüchten, da ich im Gefängnisbleibe, während die Probe gemacht wird.
Sie sind mit Ihrer Kost zufrieden? fragte der Inspektor, um zu Ende zu kommen.
Fort mit Ihnen! rief der Abbé. Seien Sie verflucht wie die andern Wahnsinnigen, die mir nicht glauben wollten! Sie wollen nichts von meinem Golde; ich werde esbehalten. Sie verweigern mir die Freiheit, Gott wird sie mir schicken. Fort, ich habe nichts mehr zu sagen.
Damit warf der Abbé seine Decke zurück, griff wieder nach dem Kalkstück, setzte sich in seinen Kreis und fuhr fort, seine Linien und Zahlen zu zeichnen.
Sie gingen weg, und der Gefangenenwärter schloß die Tür hinter ihnen.
Er muß in der Tat Schätzebesessen haben, sagte der Inspektor, die Treppe hinaufsteigend.
Es hat ihm wohl vomBesitz derselben geträumt, antwortete der Gouverneur, und am andern Morgen ist er als Narr erwacht.
In der Tat, versetzte der Inspektor mitbezeichnender Naivität, wenn er wirklich reich gewesen wäre, so säße er nicht im Gefängnis.
So endigte die Inspektion für den Abbé. ErbliebGefangener, und sein Ruf als lustiger Narr wuchs noch infolge diesesBesuchs.
Was Dantesbetrifft, so hielt der Inspektor sein Wort.
Als er in die Wohnung des Gouverneurs kam, ließ er sich die Gefangenenliste geben.
Die den Gefangenenbetreffende Note lautete:
Edmond Dantes WütenderBonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.
Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aufsicht zu halten.
Diese Note war von einer andern Handschrift und mit einer andern Tinte als das übrige Verzeichnis geschrieben, woraus hervorging, daß man sie während Dantes' Gefangenschaft hinzugefügt hatte.
Die Anklage war zubestimmt, als daß ein Ankämpfen dagegen möglich gewesen wäre. Der Inspektor schriebalso daneben: Nichts zu machen.
DieserBesuch hatte Dantes gleichsam wiederbelebt. Seitdem er ins Gefängnis gekommen war, hatte er die Tage zu zählen vergessen: aber der Inspektor gabihm ein neues Datum, und Dantes vergaß es nicht. Er schrieban die Wand mit einem Stück von der Decke gelösten Kalk den 30. Juli 1816, und von jetzt an machte er jeden Tag eine Kerbe, um fortlaufend das Datumbestimmen zu können.
Die Tage verliefen, dann die Wochen, dann die Monate; Dantes wartete immer. Er hatte damit angefangen, daß er einen Termin von vierzehn Tagenbis zu seinerBefreiung feststellte. Als diese vierzehn Tage abgelaufen waren, sagte er sich, es sei töricht von ihm, zu glauben, der Inspektor würde sich vor seiner Rückkehr nach Paris mit ihmbeschäftigen: seine Rückkehr könnte aber nicht eher stattfinden, alsbis er seine Rundreise vollendet hätte, und diese Rundreise dürfte einenbis zwei Monate dauern. Er verlängerte also die Frist auf drei Monate. Als drei Monate abgelaufen waren, bewilligte er sechs Monate. Als aber diese sechs Monate abgelaufen waren, stellte es sich heraus, daß er zehn und einen halben Monat gewartet hatte. Während dieser zehn Monate hatte sich nichts in seiner Lage geändert; keine tröstliche Nachricht war zu ihm gelangt; der Gefangenwärterbliebbei seinen Fragen stumm wie gewöhnlich. Dantes fing an, an seinen Sinnen zu zweifeln und zu glauben, was er für eine Erinnerung hielt, sei nichts als die tolle Ausgeburt seines Gehirns, und der tröstende Engel, der in seinem Gefängnisse erschienen, sei auf den Flügeln eines Traumes herabgekommen.
Nach Verlauf eines Jahres wurde der Gouverneur versetzt und nahm Dantes' Schließer mit. Ein neuer Gouverneur kam an. Es wäre für ihn zu zeitraubend gewesen, sich die Namen aller Gefangenen sagen zu lassen; er ließ sich nur ihre Nummern vorlegen. Das furchtbare Hotel garni auf Ifbestand aus fünfzig Zimmern; ihreBewohner wurden mit der Nummer des Zimmers, das sie inne hatten, vorgerufen, und der unglückliche junge Mann hörte auf, seinen Vornamen Edmond oder seinen Namen Dantes zu führen; er hieß Nummer 34.
Nummer 34 und Nummer 27
Dantes durchlief alle Stufen des Unglücks, welche den im Kerker der Vergessenheit überantworteten Gefangenenbevorstehen.
Die erste Stufe war der Stolz, eine Folge der Hoffnung und eines unschuldigen Gewissens. Dann fing er an, an seiner Unschuld zu zweifeln, was die Ansichten des Gouverneurs, sein Geist sei zerrüttet, einigermaßen rechtfertigte. Endlich sank er von der Höhe seines Stolzes herab; er flehte noch nicht zu Gott, aber zu den Menschen. Der Unglückliche, der mit dem Herrn anfangen sollte, gelangt erst dazu, auf ihn zu hoffen, wenn er alle andern Hoffnungen erschöpft hat.
Dantes flehte also, man möchte ihn aus seinem Kerker ziehen und ihn in einen andernbringen, und wäre er auch noch finsterer und tiefer. Eine Veränderung, ganz gleich was für eine, war doch immer eine Veränderung und sollte ihm wenigstens für ein paar Tage Zerstreuung verschaffen. Erbat um einen Spaziergang, um Luft, Bücher, Instrumente. Nichts wurde ihm gewährt. Trotzdem fuhr er fort zu flehen. Er hatte sich daran gewöhnt, mit seinem neuen Gefangenenwärter zu sprechen, obgleich dieser womöglich noch stummer war, als der vorhergehende; aber mit einem Menschen zu sprechen, wenn auch mit einem stummen, war für den Armen schon ein Vergnügen; er redete, um den Ton seiner eigenen Stimme zu hören. Er hatte auch versucht, zu sprechen, wenn er allein war, aber dann fürchtete er sich vor sich selbst.
Eines Tages ersuchte er sogar den Kerkermeister, er möge dem Gouverneur seineBitte um einen Gefährten vortragen, und wäre es auch der verrückte Abbé, von dem er hatte sprechen hören; man schlug ihm seineBitte ab.
Nachdem Dantes vergeblich alle menschlichen Hilfsmittel erschöpft hatte, kehrte er, wie es nicht anders sein konnte, zu Gott zurück. Er erinnerte sich der Gebete, die ihn seine Mutter gelehrt hatte, und fand in ihnen einen ihm früher unbekannten Sinn; erbetete aber nicht mit Inbrunst, sondern mit Leidenschaft. Wenn er lautbetete, erschrak er auch nicht mehr über seine Worte, sondern er geriet in Entzückung; er sah Gottbei jedem Worte erscheinen, das er aussprach. Alle Handlungen seinesbescheidenen Lebensbezog er auf den Willen dieses mächtigen Gottes, entnahm sich Lehren daraus und stellte sich Aufgaben, die er erfüllen wollte, und am Ende jedes Gebetes schlich sich der eigennützige Wunsch ein, den die Menschen viel öfter an ihre Mitmenschen, als an Gott zu richten Gelegenheit haben: Und vergibuns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!
Trotz seiner heißen GebetebliebDantes gefangen.
Nun verdüsterte sich sein Geist, und die Wolke vor seinen Augen wurde immer schwerer. Dantes war ein einfacher Mensch ohne Erziehung und ohne größeres Wissen, das ihm in seiner Einsamkeit hätte Trost und Unterhaltungbieten können. Auf seine schwärmerisch‑religiöse Aufregung folgte die Wut. Er schleuderte Gotteslästerungen um sich, vor denen der Kerkermeister vor Abscheu zurückwich. Er raste mit seinem Leibe gegen die Mauern des Gefängnisses, er griff in voller Wut nach allem, was ihn umgab, bei dem geringsten Ärger, den ein Sandkorn, ein Strohhalm, ein Windhauch in ihm erregte. Dann erinnerte er sich des denunzierendenBriefes, den er gesehen, den ihm Villefort gezeigt, den erberührt hatte, und jederBuchstabe kam wie ein züngelndes Feuer aus der Mauer hervor. Er sagte sich, es sei der Haß der Menschen und nicht die Rache Gottes, die ihn in diesen Abgrund gestürzt. Er überlieferte diese unbekannten Menschen allen Strafen, die seine glühende Einbildungskraft zu ersinnen vermochte, und fand, daß die furchtbarsten noch zu leicht undbesonders zu kurz für sie wären; denn nach den Strafen kam der Tod, und der Tod war, wenn nicht die Ruhe, doch wenigstens die Unempfindlichkeit, die ihr gleicht.
Dadurch, daß er sich inBeziehung auf seine Feinde immer wieder sagte, die Ruhe sei im Tode, und der, welcher grausambestrafen wolle, bedürfe anderer Mittel, als des Todes, verfiel er auf Selbstmordgedanken. Wehe dem, der auf dem Abhang des Unglücksbei diesen unseligen Gedanken stille steht! Wird man von ihnen einmal recht gepackt, so ist alles vorbei, und jeder Versuch, den er unternimmt, reißt den Unglücklichen nur noch mehr in die Arme des Todes.
Sobald dieser Gedanke in dem Geiste des jungen Mannes gekeimt hatte, wurde er sanfter, freundlicher, er fügte sichbesser in sein hartesBett und in sein schwarzesBrot, aß weniger, schlief nicht mehr und fand diesen Rest des Daseins, den er ja, wann er wollte, von sich zu werfen vermochte, fast erträglich. Es gabzwei Mittel zu sterben. Das eine war einfach: er durfte nur sein Taschentuch an eine Fensterstangebinden und sich daran hängen; das anderebestand darin, daß er sich stellte, als äße er, und sich doch Hungers sterben ließ. Das erste widerstrebte Dantes. Er war im Abscheu vor den Seeräubern aufgewachsen, vor diesen Menschen, die man an den Raen aufhängt; das Hängen war für ihn eine Art von entehrender Strafe, die er nicht an sich selbst vollziehen wollte. Er wählte also das zweite Mittel undbegann die Ausführung noch an demselben Tage.
Es waren nunbeinahe vier Jahre hingegangen. Am Ende des zweiten hatte Dantes die Tage zu zählen aufgehört und von neuem die Kenntnis der Zeit verloren. Er hatte sich gesagt: Ich will sterben, und die Todesart gewählt; er hatte sich die Tat fest vorgenommen und aus Furcht, er könnte von seinem Entschlusse abgehen, sich selbst einen Eid geleistet, so zu sterben. Wenn man mir mein Frühstück und mein Abendbrotbringt, sagte er sich, so werfe ich die Speisen zum Fenster hinaus, und man wird glauben, ich habe sie verzehrt.
Er tat, wie er es sich gelobt hatte. Zweimal des Tages warf er durch die kleine, vergitterte Öffnung, die ihn nur den Himmel erschauen ließ, die Speisen, anfangs heiter, dann mit Überlegung und endlich mitBedauern. Die Lebensmittel, die ihn einst angewidert hatten, ließ jetzt der scharfzähnige Hunger seinem Auge appetitlich und seiner Nase köstlich erscheinen. Zuweilen hielt er eine Stunde lang die Platte, auf der sie lagen, in der Hand, das Auge starr auf ein Stück faules Fleisch, auf den übelriechenden Fisch und auf das schwarze, schimmeligeBrot richtend. Es waren die letzten Instinkte des Lebens, die noch in ihm kämpften und seinen Entschluß wankend machten. Dann erschien ihm sein Kerker nicht mehr so düster und sein Zustand minder verzweiflungsvoll. Er war noch jung, er mußte erst fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt sein, esblieben ihm noch fünfzig Jahre zu leben übrig, das heißt, zweimal so viel, als erbereits gelebt hatte. Welche Ereignisse konnten während dieses unermeßlichen Zeitraumes die Türen sprengen, die Mauern des Kastells If umstürzen und ihm die Freiheit wiedergeben! Dann näherte er seine Zähne dem Mahle, das er, ein freiwilliger Tantalus, selbst von seinem Munde entfernte. Doch er erinnerte sich seines Schwures, und seine edle Natur schrak zu sehr davor zurück, sich selbst verachten zu müssen, als daß sie diesen Schwur verletzt hätte. Er zerstörte also streng und unbarmherzig das wenige Leben, das ihm noch übrigblieb, und es erschien ein Tag, wo er nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen, um das Abendbrot, das man ihmbrachte, durch das Luftloch zu werfen.
Am andern Tage sah er nichts mehr, und auch sein Gehör war schon merklich schwächer geworden. Der Kerkermeister glaubte an eine ernste Krankheit; Edmond hoffte auf einen nahen Tod. So verlief der Tag. Edmond fühlte, daß eine Art Erstarrung, die ihm ein gewisses Wohlbehagenbereitete, sich seinerbemächtigte. Die Zuckungen seines Magens hatten sich gemildert. Wenn er die Augen schloß, sah er eine Anzahl glänzender Punkte, Irrlichtern gleich, über die Wände tanzen. Es war die Dämmerung des unbekannten Landes, das man den Tod nennt.
Plötzlich vernahm er abends 9 Uhr ein dumpfes Geräusch an der Wand, an der er lag. — Ratten und ähnliche Tiere hatten in seinem Kerker so oft Lärm gemacht, daß Edmond allmählich in seinem Schlaf durch solche Kleinigkeiten nicht mehr gestört wurde. Aber dieser Lärm war so stark und so eigentümlich, daß er sich erhob, umbesser zu hören.
Es war ein Kratzen, das von einer ungeheuren Kralle, einem mächtigen Zahn, oder vom Druck irgend eines Werkzeuges auf die Steine herzurühren schien.
Trotz seines geschwächten Zustandes wurde der junge Mann durch denbeständig den Geist des Gefangenenbeschäftigenden Gedanken an die Freiheit heftigbewegt. Da aber dieses Geräusch gerade in dem Augenblick laut wurde, wo alles Geräusch für ihn aufhören sollte, so schien es ihm, als wollte sich Gott endlichbarmherzig gegen seine Leiden zeigen und ihm durch dieses Geräusch verkündigen, er solle am Rande des Grabes, an dembereits sein Fuß wankte, still stehen. Wer konnte wissen, obnicht einer von seinen Freunden, eines von den geliebten Wesen, an die er so oft gedacht hatte, sich in diesem Augenblicke mit ihmbeschäftigte und die Entfernung, die sie voneinander trennte, aufzuheben suchte?
Aber nein, er täuschte sich ohne Zweifel und wurde von einem Traume verführt, wie sie die Pforte des Todes umschweben.
Jedoch das Geräusch hörte nicht auf; es dauerte ungefähr drei Stunden; dann vernahm Edmond eine Art von Rollen, und nun verstummte das Geräusch, um erst nach einigen Stunden wieder näher und näher zu ertönen. Schon war sein Interesse für diese sonderbaren Töne, die auf ihnBeziehung zu haben schienen, erwacht, da plötzlich trat der Gefangenwärter ein.
Seit den acht Tagen, da er zu sterbenbeschlossen hatte, hatte Edmond mit diesem Menschen kein Wort gesprochen. Er antwortete ihm nicht, wenn er ihn fragte, von welcher Krankheit erbefallen sei, und wandte sich nach der Mauer um, wenn er zu aufmerksambetrachtet wurde. Aber heute fürchtete er, der Wärter könnte das dumpfe Geräusch vernehmen, sich darüberbeunruhigen, ihm ein Endebereiten und so irgend eine Hoffnung zerstören, die schon in der Vorstellung Dantes' letzte Augenblicke verschönerte.
Er erhobsich daher in seinemBette undbegann, seine Stimme möglichst verstärkend, über alle möglichen Gegenstände zu sprechen, über die schlechten Speisen, die man ihmbrachte, über die Kälte, die er in seinem Kerker leiden müsse; er murrte undbrummte und ermüdete die Geduld des Wärters, der gerade an diesem Tage sich für den Gefangenen Fleischbrühe und ein weißesBrot erbeten hatte. Zum Glücke glaubte er, Dantes rede im Fieber; er stellte die Speisen auf den schlechten, wackligen Tisch und entfernte sich.
Nun fing Edmond wieder an, freudig zu horchen. Das Geräusch wurde so deutlich, daß er es jetzt ohne die geringste Anstrengung hören konnte.
Es unterliegt keinem Zweifel mehr, sagte er zu sich selbst, da dieses Geräusch fortdauert, obgleich esbereits Tag ist, so muß es ein unglücklicher Gefangener wie ich sein, der an seinerBefreiung arbeitet. Oh! wenn ichbei ihm wäre, wie wollte ich ihn unterstützen!
Dann schwand plötzlich wieder die Hoffnung in seinem Gehirn, das an das Unglück gewöhnt war und nur schwer an etwas Freudiges glauben konnte. Er kam auf den Gedanken, das Geräusch werde durch Arbeiter verursacht, die der Gouverneur irgend eine Mauerarbeit machen lasse.
Er konnte sich hiervon leicht überzeugen; aber wie sollte er eine Frage wagen? Er konnte allerdings warten, bis sein Kerkermeister wiederkäme, konnte ihn das Geräusch hören lassen und seine Mienebeobachten, wenn er es hörte. Aber hieß das nicht die kostbarsten Interessen für einen kurzen Genuß verraten? Edmond fand nur ein Mittel, scharfe Überlegung und klares Urteil wiederzugewinnen: er wandte seine Augen nach der noch rauchenden Fleischbrühe, die der Gefangenwärter auf den Tisch gestellt hatte, ging wankend hin, setzte die Tasse an den Mund und schlürfte den Trank mit einem unbeschreiblichen Gefühle des Wohlbehagens.
Dannbesaß er den Mut, sich fürs erste hiermit genügen zu lassen; er erinnerte sich, gehört zu haben, daß unglückliche Schiffbrüchige, die man vor Hunger entkräftet gefunden hatte, daran gestorben waren, daß sie zu gierig Speisen verschlangen. Er setzte daher dasBrot, das erbereits zum Munde führte, auf den Tisch und legte sich wieder nieder. Bald fühlte er, daß der Tag in sein Gehirn zurückkehrte; er konnte wieder denken und seine Gedanken ordnen.
Dann sagte er zu sich selbst: Man muß die Probe machen, aber ohne jemand zu gefährden. Ist der, dessen Geräusch ich vernehme, ein gewöhnlicher Arbeiter, sobrauche ich nur an die Mauer zu schlagen, und er wird sogleich seine Tätigkeit einstellen und zu erraten suchen, wer der Schlagende ist, und in welcher Absicht er schlägt. Da aber seine Arbeitbefohlen ist, so wird er siebald wieder fortsetzen. Ist er jedoch ein Gefangener, so wird ihn der Lärm erschrecken. Er wirdbefürchten, entdeckt zu werden, seine Arbeit aufgeben und erst am Abend, wenn er alles schlafend glaubt, von neuembeginnen.
Sogleich erhobsich Edmond zum zweitenmal. Diesmal wankten seineBeine nicht mehr, und seine Augen waren nicht mehr geblendet. Er ging in eine Ecke seines Gefängnisses, machte einen durch die Feuchtigkeit unterhöhlten Stein los und schlug gerade an der Stelle, wo das Geräusch am deutlichsten war, an die Mauer.
Er klopfte dreimal. — Schonbeim ersten Schlage hörte das Geräusch wie durch einen Zauber auf. Edmond horchte mit aller Anstrengung. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, kein neues Geräusch ließ sich vernehmen. Voll Hoffnung aß Edmond einigeBissen von seinemBrot, trank ein paar Schluck Wasser, undbei der vorzüglichen Körperbeschaffenheit, mit der ihn die Naturbegabt halte, befand er sichbeinahe wieder wie zuvor.
Der Tag verging, die Stille dauerte fort. Die Nacht kam, ohne daß das Geräusch wiederbegonnen hatte.
Es ist ein Gefangener, sagte Edmond mit unbeschreiblicher Freude zu sich selbst. Von dieser Zeit an erhellte sich sein Geist, und die Lust zum Leben erwachte mit voller Kraft. Die Nacht ging vorüber, ohne daß sich das geringste vernehmen ließ. Edmond schloß aber in dieser Nacht die Augen nicht.
Der Tag erschien, und der Gefangenwärterbrachte die gewöhnlichen Lebensmittel. Edmond hatte die vorigenbereits verschlungen; er verschlang auch diese, horchte unablässig auf das Geräusch, das nicht wieder kam, fürchtete, es könnte für immer aufgehört haben, legte fünfbis sechs Meilen in seinem Kerker zurück, rüttelte zwei Stunden lang an den eisernen Stangen seines Luftloches und gabseinen Gliedern dadurch die längst entbehrte Geschmeidigkeit und Stärke wieder. In den Zwischenräumen dieser fieberhaften Tätigkeit horchte er, obdas Geräusch nicht wiederkehrte, und er ärgerte sich über die Klugheit des Gefangenen, der nicht vermuten konnte, daß er in seinemBefreiungswerke von einem andern Gefangenen gestört worden sei, der wenigstens ebenso große Eile hatte, frei zu werden, wie er selbst.
Es vergingen drei Tage, zweiundsiebzig tödliche Stunden, Minute um Minute abgezählt.
Endlich, eines Abends, als der Wärter seinen letztenBesuch gemacht hatte, als Dantes zum hundertstenmal sein Ohr an die Wand hielt, schien es ihm, als obeine unmerkliche Erschütterung dumpf in seinem Kopfe, den er an die schweigenden Steine gelegt hatte, wiederklinge.
Er wich zurück, um sein erregtes Gehirn ins Gleichgewicht zubringen. Dann machte er einige Schritte im Zimmer und hielt nun erst wieder sein Ohr an denselben Ort. Es unterlag keinem Zweifel mehr, es ging etwas auf der anderen Seite vor. Der Gefangene hatte die Gefahr erkannt und, um seine Arbeit sicherer fortzusetzen, statt eines Meißels ein Hebeisen genommen.
Durch diese Entdeckung ermutigt, beschloß Edmond, dem unbekannten Arbeiter zu Hilfe zu kommen. Er fing damit an, daß er seinBett wegrückte, hinter dem ihm dasBefreiungswerk ausgeführt zu werden schien; dann suchte er einen Gegenstand, mit dem er die Wand aufritzen, den feuchten Mörtel herausbrechen und einen Stein losmachen könnte. — Nichts zeigte sich seinem Auge. Erbesaß weder ein Messer, noch irgend ein anderes schneidendes Instrument. Eisen war nur an seinen Fensterstangen vorhanden, und er hatte sich oft genug überzeugt, daß sie zu fest eingelötet waren, um sich lösen zu lassen.
Das ganze Gerät seines Zimmersbestand aus einemBett, einem Stuhle, einem Tische, einem Eimer und einem Kruge. An demBett waren wohl eiserneBänder, aber sie waren durch Schrauben am Holzbefestigt. Man hätte einen Schraubenzieher haben müssen, um sie loszumachen. An dem Tische und dem Stuhle war nichts. Am Eimer fehlte der Henkel. Es gabfür Dantes nur noch ein Mittel: seinen Krug zu zerbrechen und mit einem Scherben sich an die Arbeit zu machen. Er ließ seinen Krug auf denBoden fallen, daß er in Stücke zerbrach. Dantes wählte einige spitzige Scherben, verbarg sie in seinem Strohsack und ließ die andern auf der Erde liegen. Das Zerbrechen des Kruges war eine so nahe liegende Möglichkeit, daß es keinen Argwohn erregen konnte.
Edmond hatte die ganze Nacht zum Arbeiten; doch in der Dunkelheit ging es schlecht vorwärts, denn er mußte tastend arbeiten, und er fühltebald, daß sich sein schwaches Werkzeug an dem Sandstein abstumpfte, der härter war, als das Instrument. Er stieß also seinBett wieder zurück und wartete den Tag ab. Mit der Hoffnung war auch die Geduld zurückgekehrt. Die ganze Nacht hindurch hörte und horchte er auf den unbekannten Gräber, der sein unterirdisches Werk fortsetzte.
Der Tag erschien, und der Wärter trat ein. Dantes erzählte ihm, er habe am Abend zuvor aus dem Kruge getrunken; er sei seinen Händen entschlüpft, auf denBoden gefallen und zerbrochen. Der Wärter gingbrummend fort, um einen neuen zu holen, ohne daß er sich nur die Mühe gab, die Stücke des alten zusammenzulesen und mitzunehmen.
Dantes hörte mit unsäglicher Freude das Klirren des Schlosses, dessen Zuschließen ihm früher das Herz zusammenschnürte. Er vernahm, wie die Schritte sich nach und nach entfernten. Sobald das Geräusch völlig erloschen war, sprang er nach seinem Lager, das er von seiner Stelle rückte, undbeim Scheine des schwachen Tageslichts, das in seinen Kerker drang, konnte er sehen, welche nutzlose Arbeit er in der Nacht vorher getan hatte, er hatte nämlich den Stein selbst angegriffen statt den Kalk ringsum. Dieser Kalk war durch die Feuchtigkeit zerreibbar geworden. Dantes sah mit freudigem Herzklopfen, daß er sich inBruchstücken ablöste, und nach Verlauf einer halben Stunde hatte er ungefähr eine Handvoll losgemacht. Ein Mathematiker hätteberechnen können, daß man mittels zweijähriger Arbeit, vorausgesetzt, man stieß auf keinen Felsen, sich auf diese Weise einen Gang von zwei Quadratfuß und von zwanzig Fuß Tiefe zu graben im stande gewesen wäre.
Der Gefangene machte es sich nun zum Vorwurf, daß er die vielen abgelaufenen Stunden, die er in der Hoffnung, im Gebete und in der Verzweiflung verloren, nicht zu dieser Arbeit verwendet hatte. In den sechs Jahren, die er ungefähr in diesem Kerker eingeschlossen war… welche Arbeit hätte er nicht, so langsam sie auch vor sich ging, vollendet! — Dieser Gedanke verlieh ihm neuen Eifer.
In drei Tagen gelang es ihm mit unerhörter Vorsicht, allen Mörtel wegzuschaffen und den Steinbloßzulegen. Die Wand war vonBruchsteinen gemacht, in die man, um ihr mehr Festigkeit zu geben, von Zeit zu Zeit einenbehauenen Stein eingefügt hatte. Er hatte gerade an einem von denbehauenen Steinen gearbeitet, und es handelte sich nun darum, ihn in seiner Lage zu erschüttern. Dantes versuchte es mit seinen Nägeln, aber seine Nägel waren hierfür ungenügend. Die in die Zwischenräume geschobenen Scherben zerbrachen aber, sobald sich Dantes ihrer als Hebelbedienen wollte. Nach einer Stunde fruchtloser Versuche erhober sich mit Angstschweiß auf der Stirn.
Sollte er schon am Anfange seiner Arbeit gehemmt werden, und mußte er träge und unnütz warten, bis sein Nachbar, der ebenfalls müde werden konnte, alles getan hatte?
Der Gefangenwärterbrachte Dantes' Suppe jeden Tag in einerblechernen Kasserolle. Diese Kasserolle enthielt seine Suppe und die eines zweiten Gefangenen, denn Dantes hattebemerkt, daß dieselbe entweder ganz voll oder halbleer war, je nachdem der Schließer die Verteilung der Lebensmittelbei ihm oder seinem Gefährten anfing. Die Kasserolle hatte einen eisernen Stiel. Nach diesem Stiele trachtete Dantes, er hätte ihn, wenn es sein mußte, mit zehn Jahren seines Lebensbezahlt. Der Gefangenwärter goß den Inhalt der Kasserolle auf Dantes' Teller.
Am Abend stellte Dantes seinen Teller halbwegs zwischen Tür und Tisch auf denBoden. Als der Wärter eintrat, setzte er den Fuß auf den Teller und zerbrach ihn in tausend Stücke. Diesmal war nichts gegen Dantes zu sagen. Er hatte unrecht, seinen Teller auf demBoden zu lassen; aber von dem Wärter war es unvorsichtig gewesen, nicht vor seine Füße zu schauen. Der letzterebrummte, dann schaute er sich nach einem Gegenstand um, in den er die Suppe gießen könnte; Dantes' Mobiliarbeschränkte sich auf diesen einzigen Teller, und es gabkeine Wahl.
Lassen Sie die Kasserolle hier, sagte Dantes, Sie können sie wieder mitnehmen, wenn Sie morgen mein Frühstückbringen.
Dieser Rat schmeichelte der Trägheit des Gefangenwärters. Er hatte nicht nötig, hinaufzusteigen, wieder herabzusteigen und abermals hinaufzusteigen. Er ließ die Kasserolle zurück. Dantesbebte vor Freude. Diesmal verschlang er rasch seine Suppe und das Fleisch, das darin lag. Nachdem er eine Stunde gewartet hatte, um sicher zu sein, der Gefangenwärter würde nicht andern Sinnes werden, rückte er seinBett auf die Seite, nahm seine Kasserolle, schobden Stiel zwischen denbloßgelegten Stein und diebenachbartenBruchsteine und fing an, sich desselben als Hebel zubedienen. Nach Verlauf einer Stunde war wirklich der Stein aus der Mauer gezogen, in der er eine Aushöhlung von mehr als anderthalbFuß im Durchmesser ließ.
Dantes sammelte sorgfältig allen Kalk, trug ihn in die Ecken seines Gefängnisses, kratzte die graue Erde mit einem von denBruchstücken seines Kruges auf undbedeckte den Kalk damit.
Da er diese Nachtbenutzen wollte, in der ihm der Zufall, oder vielmehr sein erfinderischer Geist ein so kostbares Werkzeug in die Hände gab, so fuhr er mit aller Anstrengung zu graben fort. Bei Tagesanbruch setzte er den Stein wieder in sein Loch, stieß seinBett an die Wand und legte sich nieder.
Sein Frühstückbestand aus einem StückBrot. Der Gefangenwärter trat ein und legte dasBrot auf den Tisch.
Wie, Siebringen mir keinen andern Teller? sagte Dantes.
Nein, sagte der Schließer, bei Ihnen wird alles zerbrochen, Sie haben den Krug zertrümmert und sind schuld, daß ich Ihren Teller in Stücke trat. Wenn alle Gefangenen so viel Schaden anrichten würden, könnte es die Regierung nicht mehrbezahlen. Siebehalten die Kasserolle hier undbekommen die Suppe hinein; dann werden Sie wohl das Geschirr nicht mehr zerbrechen.
Dantes schlug die Augen zum Himmel auf und faltete seine Hände auf demBette. Dieses ihm überlassene Stück Eisen erzeugte in seinem Herzen ein Gefühl der Dankbarkeit, wie es in seinem früheren Leben die größten Güter, die ihm zugeflossen waren, niemals erzeugt hatten. Nur war es ihm nicht entgangen, daß, seitdem er zu arbeitenbegonnen, der andere Gefangene nicht mehr arbeitete. Ganz gleich, das war kein Grund, von dem Unternehmen abzustehen. Kam sein Nachbar nicht zu ihm, so ging er zum Nachbar. Er arbeitete den ganzen Tag ohne Unterlaß. Am Abend hatte er mit Hilfe seines neuen Werkzeuges mehr als zehn Hände voll Trümmer vonBruchsteinen und Mörtel aus der Mauer gezogen.
Als die Stunde desBesuches kam, richtete er, so gut er konnte, den gebogenen Stiel der Kasserolle wieder gerade und stellte das Gefäß an seinen gewöhnlichen Platz. Der Schließer schüttete die vorgeschriebene Ration hinein; dann entfernte er sich wieder. Diesmal wollte Dantes sich vergewissern, obsein Nachbar wirklich seine Arbeit eingestellt hätte. Er horchte. Allesbliebstill, wie während der drei Tage, wo die Arbeiten unterbrochen worden waren. Dantes seufzte. Sein Nachbar mißtraute ihm offenbar. Er ließ sich jedoch nicht entmutigen und setzte seine Arbeit die ganze Nacht fort; doch nach zweibis drei Stunden stieß er auf ein Hindernis. Das Eisen faßte nicht mehr, sondern glitt aus; Dantesberührte das Hemmnis mit seinen Händen undbemerkte, daß es einBalken war, der das mühsam ausgegrabene Loch gänzlich versperrte, so daß er darüber oder darunter graben mußte. An ein solches Hindernis hatte der unglückliche junge Mann nicht gedacht.
Oh! mein Gott, mein Gott! Ich habe dich doch so sehr gebeten, daß ich hoffte, du würdest mich erhören! Mein Gott, der du mir die Freiheit des Lebens, der du mir die Ruhe des Todes genommen, der du mich zum Dasein zurückgerufen hast, mein Gott! habe Mitleid mit mir und laß mich nicht in Verzweiflung sterben! rief Dantes erregt aus.
Wer spricht zugleich von Gott und von Verzweiflung? ließ sich eine Stimme vernehmen, die unter der Erde hervorzukommen schien und wie ein Grabeston zu dem jungen Mann drang.
Edmond fühlte, wie sich die Haare auf seinem Haupte sträubten, und wich auf den Knien zurück.
Ah! murmelte er, ich höre einen Menschen sprechen.
Seit vier oder fünf Jahren hatte Edmond nur die Stimme seines Kerkermeisters gehört, und für den Gefangenen ist der Kerkermeister kein Mensch. Er ist eine lebende Tür, ein Riegel von Fleisch.
Im Namen des Himmels! rief Dantes, Sie, der Sie gesprochen haben, sprechen Sie weiter, obgleich Ihre Stimme mich erschreckt hat. Wer sind Sie?
Wer sind Sie selbst? fragte die Stimme.
Ein unglücklicher Gefangener, versetzte Dantes.
Ihr Name? — Edmond Dantes. — Wie lange sind Sie hier? — Seit dem 28. Februar 1815. — Ihr Verbrechen? — Ichbin unschuldig. — Wessen klagt man Sie an? — Für die Rückkehr des Kaisers konspiriert zu haben.
Wie? Für die Rückkehr des Kaisers? Der Kaiser ist also nicht mehr auf dem Throne?
Er hat in Fontainebleu im Jahre 1814 entsagt und ist auf die Insel Elba verbannt worden. Aber wie lange sind Sie denn hier, daß Sie dies nicht wissen?
Seit 1811.
Dantesbebte; dieser Mann war vier Jahre länger im Gefängnis, als er.
Es ist gut, graben Sie nicht mehr! versetzte die Stimme schnell sprechend. Sagen Sie mir nur, auf welcher Höhe sich die Aushöhlungbefindet, die Sie gemacht haben.
DemBoden gleich. — Wie ist sie verborgen? — Hinter meinemBette. — Wohin geht Ihr Zimmer? — Nach einem Gange, der nach dem Hofe mündet. — Ach! murmelte die Stimme.
Oh! mein Gott, was gibt es denn? rief Dantes.
Ich habe mich getäuscht, die Unvollkommenheit meiner Zeichnungen hat michbetrogen, der Mangel eines Kompasses hat mich zu Grunde gerichtet; eine Linie des Irrtums auf meinem Planebedeutet fünfzehn Fuß in der Wirklichkeit, und ich hielt die Mauer, die Sie durchhöhlen, für die der Zitadelle.
Aber dann wären Sie an das Meer gekommen!
Das wollte ich, ich warf mich in die See, ich erreichte schwimmend eine von den Inseln, die das Kastell If umgeben, oder auch die Küste, und ich war gerettet.
Hätten Sie so weit schwimmen können?
Gott würde mir die Kraft verliehen haben; doch nun ist alles verloren. — Alles?
Ja. Stopfen Sie Ihr Loch wieder vorsichtig zu, arbeiten Sie nicht mehr, bekümmern Sie sich um nichts mehr, und erwarten Sie Kunde von mir.
Sagen Sie mir doch wenigstens, wer Sie sind. Ichbin… ichbin Nummer 27.
Sie mißtrauen mir also? fragte Dantes.
Edmond glaubte, einbitteres Lachen zu hören. Oh! ichbin ein guter Christ! rief er, denn er fühlte instinktartig, daß der andere ihn verlassen wollte; ich schwöre Ihnen, daß ich mich eher töten lasse, als daß Ihre Henker, die zugleich die meinen sind, durch mich einen Schatten der Wahrheit zu sehenbekommen. Doch im Namen des Himmels, berauben Sie mich nicht Ihrer Gegenwart, berauben Sie mich nicht Ihrer Stimme, oder ich schwöre Ihnen, denn meine Kräfte gehen zu Ende, ich zerschmettere mir den Schädel an der Wand, und Sie haben sich meinen Tod vorzuwerfen.
Wie alt sind Sie? Ihre Stimme scheint die eines jungen Mannes zu sein.
Ich weiß mein Alter nicht, denn ich habe die Zeit, seitdem ich hierbin, nicht messen können. Ich weiß nur, daß ich neunzehn Jahre alt war, als ich am 28. Februar 1815 verhaftet wurde.
Noch nicht ganz fünfundzwanzig Jahre; in diesem Alter ist man noch kein Verräter, murmelte die Stimme.
Oh! nein! Ich schwöre es Ihnen, wiederholte Dantes. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt und wiederhole es, ich lasse mich eher in Stücke zerhauen, als daß ich Sie verrate.
Sie haben wohl daran getan, mit mir zu sprechen, Sie haben wohl daran getan, mich zubitten; denn ich war imBegriff, einen andern Plan zu entwerfen und mich von Ihnen zu entfernen. Aber Ihr Alterberuhigt mich; ich werde wieder zu Ihnen kommen, warten Sie auf mich!
Wann?
Ich muß alles erwägen und werde Ihnen ein Zeichen geben.
Doch Sie verlassen mich nicht? Ich muß nicht alleinbleiben? Sie kommen zu mir, oder Sie erlauben mir, zu Ihnen zu gehen. Wir fliehen miteinander, und wenn wir nicht fliehen können, so sprechen wir, Sie von Menschen, die Sie lieben, und ich von Menschen, die ich liebe. Sie müssen irgend jemand lieben?
Ichbin allein auf der Welt.
Dann lieben Sie mich! Sind Sie jung, so werde ich Ihr Kamerad; sind Sie alt, sobin ich Ihr Sohn. Ich habe einen Vater, der siebzig Jahre alt sein muß, wenn er noch lebt. Ich liebte nur ihn und ein junges Mädchen, namens Mercedes. Mein Vater hat mich nicht vergessen, dessenbin ich sicher; aber sie, Gott weiß, obsie noch an mich denkt. Ich werde Sie lieben, wie ich meinen Vater liebte.
Es ist gut, erwiderte der Gefangene, morgen!
Diese Worte wurden mit einem Tone ausgesprochen, der Dantes überzeugte. Mehr verlangte er nicht; er stand auf, traf dieselben Vorsichtsmaßregeln inBezug auf die Mauertrümmer, wie er sie früher getroffen hatte, und stieß seinBett wieder an die Wand.
Von diesem Augenblick an überließ sich Dantes ganz und gar seinem Glück. Er hoffte sicher, nicht mehr allein zu sein, er hoffte sogar, vielleicht frei zu werden. Im schlimmsten Falle hatte er, wenn er Gefangenerblieb, einen Gefährten. Geteilte Gefangenschaft aber ist nur halbe Gefangenschaft. Den ganzen Tag ging Dantes freudigen Herzens in seinem Kerker auf und ab. Er setzte sich auf seinBett und preßte seineBrust mit der Hand. Bei dem geringsten Geräusch, das er im Gang vernahm, sprang er nach der Tür. Ein paarmal stieg ihm die Furcht zu Kopf, man könnte ihn von diesem Manne trennen, den er nicht kannte und doch schon wie einen Freund liebte. Dann war er entschlossen; in dem Augenblick, wo der Kerkermeister seinBett wegrückte und sichbückte, um die Öffnung zu untersuchen, wollte er ihm mit demBoden seines Kruges den Schädel einschlagen. Man verurteilte ihn dann zum Tode, das wußte er wohl; mußte er aber nicht vor Zorn und Verzweiflung in dem Augenblick sterben, wo ihn dieses wunderbare Geräusch dem Leben zurückgegeben hatte?
Am Abend kam der Wärter. Dantes lag auf seinemBette; es kam ihm vor, alsbewachte er so die unvollendete Öffnungbesser. Ohne Zweifelbetrachtete er den ungelegenenBesuch mit sonderbaren Augen, denn dieser sagte: Wie, sollten Sie wieder ein Narr werden?
Dantes antwortete nicht, er fürchtete, die Aufregung seiner Stimme könnte ihn verraten, und der Mann entfernte sich, den Kopf schüttelnd.
Als die Nacht eingetreten war, glaubte Dantes, sein Nachbar würde die Stille und Dunkelheitbenutzen, um das Gespräch wieder mit ihm anzuknüpfen. Aber er täuschte sich, die Nacht verlief, ohne daß irgend ein Geräusch seiner fieberhaften Erwartung entsprach. Am andern Tage aber, nach dem Morgenbesuche und nachdem er seinBett von der Wand entfernt hatte, hörte er drei Schläge in gleichen Zwischenräumen. Er stürzte auf die Knie.
Sind Sie es? sprach er; ichbin hier.
Ist Ihr Kerkermeister fort? fragte die Stimme.
Ja, antwortete Dantes, und er wird erst am Abend wiederkommen. Wir haben zehn Stunden für uns.
Ich kann also ans Werk gehen? sprach die Stimme.
Oh, ja, ja, ohne Zögern, auf der Stelle, ichbitte Sie!
Sogleich schien der Teil der Erde, auf den Dantes, halbin der Öffnung verborgen, seine Hände stützte, unter ihm zu weichen. Er warf sich zurück, während eine Masse von Erde und abgelösten Steinen in ein Loch stürzte, das sich unter der von ihmbewerkstelligten Öffnung ausgehöhlt hatte. Dann sah er im Hintergrunde dieses finstern Lochs, dessen Tiefe er nicht ermessen konnte, einen Kopf, Schultern und endlich einen ganzen Menschen erscheinen, der ziemlichbehend aus der Höhlung hervorkam.
Ein gelehrter Italiener
Dantes schloß den neuen, so lange und so ungeduldig erwarteten Freund in seine Arme und zog ihn zu seinem Fenster hin, damit ihn das wenige Licht, das in seinen Kerker drang, völligbeleuchte.
Es war ein Mann von mittlerem Wuchse, mit Haaren, mehr durch Leiden, als vom Alter gebleicht, mit durchdringenden Augen unter dichten, grau werdendenBrauen und einem noch schwarzenBarte, der auf seineBrust herabfiel. Die Magerkeit seines von tiefen Runzeln ausgehöhlten Gesichtes, die kühne Linie seiner charakteristischen Züge verkündeten einen Mann, der mehr gewohnt war, seine moralischen Fähigkeiten, als seine körperlichen Kräfte zu üben. Die Stirn des Unbekannten war mit Schweißbedeckt.
Was seine Kleidungbetrifft, so ließ sich ihre ursprüngliche Form nicht unterscheiden, denn sie zerfiel in Lumpen. Er schien wenigstens fünfundsechzig Jahre alt zu sein, obgleich seine kraftvollenBewegungen darauf hindeuteten, daß er weniger Jahre zähle, als sein Äußeres infolge der langen Gefangenschaft vermuten ließ.
Die enthusiastischeBegrüßung des jungen Mannes tat ihm offenbar wohl. Seine vereiste Seele schien sich einen Augenblickbei derBerührung mit dieser glühenden Seele zu erwärmen und zu schmelzen. Er dankte Dantes aufrichtig für seine Herzlichkeit, obgleich seine Enttäuschung groß gewesen war, als er einen zweiten Kerker fand, wo er die Freiheit zu finden gehofft hatte.
Wir wollen zuerst sehen, sagte er, obwir ein Mittel haben, vor den Augen Ihres Wärters die Spuren meines Durchbruches zu verbergen. Unsere ganze zukünftige Ruhe hängt davon ab, daß nichts von dem, was vorgefallen ist, bekannt wird. Dannbückte er sich nach der Öffnung, nahm den Stein, hobihn trotz seines Gewichtes leicht auf und schobihn in das Loch. Dieser Stein wurde sehr nachlässig ausgebrochen, sagte er, den Kopf schüttelnd; Sie haben also keine Werkzeuge?
Haben Sie denn welche? fragte Edmond erstaunt.
Ich habe mir einige gemacht; außer einer Feilebesitze ich alles, was manbraucht, Meißel, Zange, Hebel.
Oh, ich wäre sehrbegierig, diese Erzeugnisse Ihrer Geduld und Ihrer Geschicklichkeit zu sehen, sagte Dantes.
Sehen Sie, hier ist vor allem ein Meißel.
Und er zeigte ihm eine starke, scharfe Klinge mit einem Hefte ausBuchenholz.
Wovon haben Sie das gemacht?
Aus einem von denBändern meinesBettes. Mit diesem Werkzeug habe ich mir den ganzen Weg ausgehöhlt, der michbis hierher führte, ungefähr fünfzig Fuß.
Fünfzig Fuß! rief Dantes erschreckt.
Reden Sie leiser, junger Mann, reden Sie leiser; es kommt oft vor, daß man an den Türen der Gefangenen horcht.
Und Sie sagen, Sie haben fünfzig Fuß durchhöhlt, um hierher zu gelangen?
Ja, dies ist ungefähr die Entfernung, die mein Zimmer von dem Ihrigen trennt; nur habe ich in Ermangelung von geometrischen Instrumenten meine krumme Linie schlechtberechnet; statt vierzig Fuß war sie fünfzig lang. Ich hoffte, wie ich Ihnen gesagt habe, bis zur äußeren Mauer zu gelangen, diese Mauer zu durchhöhlen und mich ins Meer zu werfen. Ich habe längs dem Gang, an den Ihr Zimmer stößt, gearbeitet, statt darunter durchzudringen. Meine ganze Arbeit ist umsonst, denn dieser Gang führt auf einen Hof, der voll von Wachen ist.
Das ist wahr, sagte Dantes, aber der Gang läuft nur an einer Seite meines Zimmers hin, und mein Zimmer hat vier.
Ja, richtig, aber hier ist vor allem eine, deren Mauern der Felsenbildet. Esbedürfte einer zehnjährigen Arbeit von zehn mit allen Werkzeugen versehenen Männern, um durch den Felsen zu kommen. Die andere muß an den Raum unterhalbder Wohnung des Gouverneurs hinführen; wir würden in den Keller geraten, der offenbar abgeschlossen ist, und man würde uns wieder gefangen nehmen. Die dritte Seite, warten Sie, wohin geht die dritte Seite? Diese Seite war die, wo man das Luftloch angebracht hatte, durch welches das Tageslicht eindrang. Dieses Luftloch, das sich immer mehr verengte, bis zu der Stelle, wo es dem Tageslichte Eingang gewährte, und wo ein Kind sich nicht hätte durchzwängen können, war überdies mit drei Reihen eiserner Stangen verwahrt, die auch den argwöhnischsten Kerkermeister keine Entweichungbefürchten ließen.
Der Unbekannte aber zog, während er seine Frage stellte, den Tisch unter das Fenster und sagte zu Dantes: Steigen Sie auf diesen Tisch!
Dantes gehorchte, stieg auf den Tisch, lehnte, die Absicht seines Gefährten erratend, seinen Rücken an die Mauer und hielt ihm seine Hände hin. Der andere stieg nunbehender, als sein Alter annehmen ließ, zuerst auf den Tisch, dann auf Dantes' Hände und von da auf seine Schultern. Halbgebückt, denn das Gewölbe des Kerkers hinderte ihn, sich auszurichten, streckte er den Kopf zwischen die erste Reihe der Stangen und war nun im stande, hinabzuschauen. — Einen Augenblick nachher zog er rasch den Kopf zurück und sprang auf die Erde.
Oh! oh! sagte er, ich hatte es vermutet.
Was hatten Sie vermutet? fragte der junge Mann ängstlich und sprang ebenfalls herab. Der alte Gefangene überlegte, dann sagte er: Diese Seite Ihres Kerkers geht auf die äußere Galerie, auf eine Art Rundgang, über den die Patrouillen kommen und wo Schildwachen stehen. Ich habe den Tschako eines Soldaten gesehen und zog mich nur aus Furcht, er könnte mich wahrnehmen, so schnell zurück; es ist also unmöglich, durch Ihren Kerker zu entfliehen.
Also? frug der junge Mann.
Also geschehe der Wille Gottes!
Und ein Ausdruck tiefer Resignation verbreitete sich über die Gesichtszüge des Greises. Dantes schaute den Mann, der mit so viel Philosophie auf eine seit langer Zeit genährte Hoffnung Verzicht leistete, mit einem mitBewunderung gemischten Erstaunen an.
Wollen Sie mir nun sagen, wer Sie sind? fragte Dantes.
Oh! mein Gott, ja, wenn es Sie noch interessieren kann, jetzt, da ich für Sie zu nichts mehr gutbin.
Sie können mir dazu gut sein, daß Sie mich trösten und aufrecht erhalten, denn Sie scheinen mir ein Starker unter den Starken zu sein.
Der Alte lächelte traurig und sagte: Ichbin der Abbé Faria, seit 1811 Gefangener im Kastell If, war jedoch vorher drei Jahre lang in der Festung Fenestrelle eingesperrt. Im Jahre 1808brachte man mich von Piemont nach Frankreich. Damals erfuhr ich, daß das Schicksal, das ihm zu jener Zeit untertan zu sein schien, Napoleon einen Sohn gegeben hatte, und daß dieser Sohn in der Wiege zum König von Rom ernannt worden sei. Ich war weit entfernt, zu ahnen, was Sie mir vorhin sagten, daß nämlich vier Jahre später der Koloß eingestürzt ist. Wer regiert denn jetzt in Frankreich? Napoleon II.?
Nein, Ludwig XVIII.
Ludwig XVIII., derBruder Ludwigs XVI.! Die Wege des Himmels sind seltsam und geheimnisvoll. Was war die Absicht der Vorsehung, als sie den Mann erniedrigte, den sie erhoben hatte, und den erhob, den sie erniedrigt hatte?
Dantes sah überrascht den Mann an, der sein eigenes Schicksal ganz zu vergessen schien, um sich mit dem Geschicke der Welt zubeschäftigen.
Ja, fuhr er fort, es ist wie in England; nach Karl I. Cromwell, nach Cromwell Karl II. und vielleicht nach JakobII. irgend ein Schwiegersohn, ein Verwandter, ein Prinz von Oranien, ein Staathouder, der sich zum König machen wird, und dann neue Zugeständnisse an das Volk, dann eine Verfassung, dann die Freiheit! Sie werden das erleben, junger Mann, sagte er, zu Dantes gewandt, und schaute ihn mit den glänzenden, tiefen Augen eines Propheten an. Sie sind noch in einem Alter, um es zu erleben, und werden es erleben.
Ja, wenn ich von hier wegkomme.
Ah! das ist richtig, sagte der Abbé Faria, wir sind Gefangene; es gibt Momente, wo ich es vergesse und mich in Freiheit glaube, weil meine Augen die Wände durchdringen, die mich umschließen.
Aber warum sind Sie eingesperrt?
Ich? Weil ich im Jahre 1807 von dem Plane träumte, den Napoleon im Jahre 1811 verwirklichen wollte, weil ich wie Macchiavell mitten unter diesen Fürstlein, die aus Italien ein Satirspiel tyrannischer, schwacher Königreiche machten, ein einziges und großes, fest gefügtes Reich gründen wollte, weil ich meinen CesareBorgia in einem einfältigen, gekrönten Haupte zu finden glaubte, das sich den Anschein gab, als verstünde es mich, um michbesser verraten zu können. Es war der Plan Alexanders VI. und Clemens' VII.; er wird ewig scheitern, da sie ihn vergeblich unternommen haben und Napoleon ihn nicht zu Ende führen konnte; Italien ist offenbar verflucht.
Und der Greis neigte sein Haupt. Dantesbegriff nicht, wie ein Mensch sein Leben für solche Interessen wagen konnte. War ihm Napoleonbekannt, weil er ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte, so kannte er Clemens VII. und Alexander VI. nicht einmal dem Namen nach.
Sind Sie nicht, sagte Dantes, der die allgemeine Meinung im Kastell If über seinen neuenBekannten zu teilen anfing, sind Sie nicht der Priester, den man für… krank hält?
Den man für verrückt hält, wollen Sie sagen, nicht wahr? Ja, ja, fuhr Faria mitbitterm Lachen fort, ja, ich gelte für einen Narren. Ich diene seit geraumer Zeit den Gästen dieses Gefängnisses zum Spott und würde den kleinen Kindern zum Spott dienen, wenn es Kinder an diesem Wohnorte des trostlosen Schmerzes gäbe.
Dantesbliebeinen Augenblick unbeweglich und stumm vor Erstaunen, ehe er fragte: Sie verzichten also auf die Flucht?
Ich sehe, daß die Flucht unmöglich ist. Das versuchen, was nach Gottes Willen nicht geschehen soll, hieße Gott versuchen.
Warum lassen Sie sich entmutigen? Mit dem ersten Schlage siegen zu wollen, wäre zuviel von der Vorsehung verlangt. Können Sie nicht in einer andern Richtung wieder anfangen, was Sie in dieser getan haben?
Wissen Sie, was ich getan habe, daß Sie von Wiederanfangen sprechen? Wissen Sie, daß ich vier Jahrebrauchte, um die Werkzeuge zu verfertigen, welche ichbesitze? Wissen Sie, daß ich seit zwei Jahren eine Erde auskratze und aushöhle, die so hart ist wie Granit? Wissen Sie, daß ich Steine lösen mußte, die ich früher nichtbewegen zu können glaubte, daß ganze Tage mit dieser Titanenarbeit vergingen, und daß ich zuweilen am Abend glücklich war, wenn ich einen Quadratzoll von diesem alten Mörtel weggebrochen hatte, der so hart geworden war wie der Stein selbst? Wissen Sie, daß ich, um alle diese Erde und alle diese Steine unterzubringen, das Gewölbe einer Treppe durchbrechen mußte, unter dem nach und nach alle diese Trümmerbegraben wurden, so daß der früher leere Raum gänzlich voll ist, und daß ich nicht wüßte, wohin ich nur noch eine Handvoll Staublegen sollte? Wissen Sie endlich, daß ich das Ziel aller meiner Anstrengungen zu erreichen glaubte, daß ich gerade nur die Kraft in mir fühlte, dieser Aufgabe zu entsprechen, und daß Gott dieses Ziel nicht nur zurückgerückt, sondern es, ich weiß nicht einmal wohin gesetzt hat? Ah! ich wiederhole Ihnen, ich werde fortan nichts mehr versuchen, um meine Freiheit zu erringen.
Der Abbé Faria ließ sich auf EdmondsBett nieder, Edmond aberbliebstehen. Der junge Mann hatte nie an Flucht gedacht, die ihm sogar in der Vorstellung unmöglich schien. Fünfzig Fuß unter der Erde zu graben, dieser Operation eine Arbeit von drei Jahren zu widmen, um, wenn sie gelingt, an einen senkrecht ins Meer fallenden Absturz zu gelangen, sich fünfzig, sechzig, vielleicht hundert Fuß hinabzuwerfen, um sichbeim Fallen den Schädel auf irgend einem Felsen zu zerschmettern, wenn man nicht schon von der Kugel der Schildwache getötet worden ist, und entgeht man wirklich allen diesen Gefahren, schwimmend eine Meile zurücklegen zu müssen, das war zu viel, um ihm nicht ungeheuerlich, ja unmöglich zu erscheinen.
Jetzt aber, da er einen Greis erblickte, der sich so mächtig an das Leben anklammerte und ihm einBeispiel verzweiflungsvoller Tatkraft gab, fing er an, nachzudenken und seinen Mut zu messen. Ein andrer hatte versucht, was zu tun ihm nicht einmal in den Sinn gekommen war; ein anderer, minder jung, minder stark und gewandt als er, hatte sich durch Geschicklichkeit und Geduld alle Werkzeuge verschafft, deren er für seine unglaubliche Arbeitbedurfte, die nur infolge eines Rechenfehlers mißglückte. Faria hatte fünfzig Fuß durchgraben, er, Edmond Dantes, wollte hundert durchgraben, Faria hatte in einem Alter von fünfzig Jahren drei Jahre zu seinem Werke verwendet, er war nur halbso alt als Faria und konnte sechs dazu verwenden. Faria, ein Abbé, ein Gelehrter, ein Mann der Kirche, hatte sich nicht vor dem Wagnis gefürchtet, schwimmend vom Kastell das Land zu erreichen; er, der Seemann, der kühne Taucher, sollte zögern, eine Meile schwimmend zurückzulegen? War er nicht oft ganze Stunden im Meer geblieben? Nein, nein, erbedurfte nur der Ermutigung durch einBeispiel. Alles, was ein anderer getan hat oder hätte tun können, das vermochte auch Dantes zu tun…
Der junge Mann überlegte einen Augenblick, ehe er zu dem Greise sagte: Ich habe gefunden, was Sie suchten.
Sie? sagte Faria, indem er den Kopf mit einer Miene emporrichtete, die andeutete, daß, wenn Dantes die Wahrheit sprach, die Entmutigung seines Gefährten nicht von langer Dauer sein sollte; lassen Sie hören! Was haben Sie gefunden?
Der Gang, den Sie durchgegraben haben, um von Ihnen aus hierher zu kommen, läuft in derselben Richtung, wie die äußere Galerie, nicht wahr? — Ja.
Er kann also höchstens fünfzehn Schritt davon entfernt sein, und wir graben gegen die Mitte des Ganges einen Weg, der gleichsam den Zweig eines Kreuzesbildet. Dann mündet er an der äußeren Galerie. Wir töten die Wache und entfliehen. Damit dieser Plan gelinge, bedarf es nur des Mutes, und Mut haben Sie; esbedarf nur der Stärke, und daran fehlt es mir nicht. Ich spreche nicht von der Geduld, Sie haben Proben davon abgelegt, und ich werde sie auch ablegen.
Einen Augenblick, antwortete der Abbé, Sie wußten nicht, mein lieber Gefährte, von welcher Art mein Mut ist, und wie ich meine Kraft anzuwenden gedenke. Was die Geduldbetrifft, so glaube ich allerdings geduldig genug gewesen zu sein, indem ich jeden Morgen die Aufgabe der Nacht und jede Nacht die Aufgabe des Tages wieder anfing. Aber hören Sie wohl, junger Mann, ich stellte mir vor, ich diente Gott, indem ich eines von seinen Geschöpfenbefreite, das, da es unschuldig war, nicht verdammt sein konnte.
Nun? fragte Dantes, steht es jetzt nicht noch ebenso, und halten Sie sich für schuldig, seit Sie mich trafen?
Nein, aber ich will es nicht werden. Bis jetzt hatte ich nur mit Dingen zu kämpfen; bei dem, was Sie mir vorschlagen, hätte ich es mit Menschen zu tun. Ich habe eine Mauer durchbohrt und eine Treppe zerstört; aber ich werde keineBrust durchbohren und kein Dasein zerstören.
Dantes konnte eineBewegung des Erstaunens nicht unterdrücken.
Wie, sagte er, da Sie frei werden können, lassen Sie sich durch eine solcheBedenklichkeit zurückhalten?
Warum haben Sie nicht selbst eines Abends Ihren Kerkermeister mit einem Tischbein totgeschlagen und dann seine Kleider angezogen, und sind damit entflohen? entgegnete Faria.
Weil mir dieser Gedanke nicht gekommen ist, sagte Dantes.
Weil Sie einen solchen Abscheu vor einem solchen Verbrechen hatten, daß Sie nicht einmal daran dachten, versetzte der Greis; dennbei einfachen und erlaubten Dingenbelehrt uns unser natürliches Gefühl, daß wir nicht von der Linie unseres Rechtes abgehen. Der Mensch hat einen Widerwillen gegenBlutvergießen. Nicht nur die gesellschaftlichen Gesetze widerstreben dem Morde, sondern auch die natürlichen Gesetze.
Dantesbliebganz verblüfft, es war dies wirklich die Erklärung dessen, was, ohne dass er sich dessenbewußt war, in seinem Geiste oder vielmehr in seinem Gemüte vorgegangen war.
Und dann, fuhr Faria fort, seit den zwölf Jahren, die ich im Gefängnissebin, habe ich in meinem Innern alleberühmt gewordenen Fluchtversuche überdacht, gewaltsame sah ich aber nur selten gelingen. Von Erfolg waren meist nur die sorgfältig überdachten und langsam vorbereiteten Entweichungen. So entkamen der Herzog vonBeaufort aus dem Schlosse Vincennes, der Abbé Dubuquoi aus dem Fort L'Eveque und Latude aus derBastille. Es gibt noch eine andere Art der Flucht, die in der Ausnutzung eines glücklichen Zufallsbesteht, und diese Art ist diebeste. Folgen Sie meinem Rate! Lassen Sie uns auf eine Gelegenheit warten, und wenn sich eine solchebietet, siebenutzen.
Sie konnten warten, sagte Dantes seufzend, diese lange Arbeit gabIhnen jeden AugenblickBeschäftigung, und hatten Sie nicht Ihre Arbeit, um sich zu zerstreuen, so hatten Sie zum Troste Ihre Hoffnung.
Ichbeschäftigte mich nicht allein hiermit.
Was taten Sie sonst? — Ich schrieboder studierte. — Man gabIhnen also Papier, Feder und Tinte? — Nein, sagte der Abbé, aber ich machte mir dies alles.
Dantes schaute den Abbé mitBewunderung an; nur hatte er Mühe, an das zu glauben, was er sagte. Fariabemerkte seinen Zweifel. Wenn Sie zu mir kommen, sagte er, werde ich Ihnen ein vollständiges Werk zeigen, das Resultat von Gedanken, von Nachforschungen undBetrachtungen meines ganzen früheren Lebens, von denen ich freilich nicht ahnen konnte, daß ich sie einst zwischen den Mauern des Kastells If niederschreiben würde. Es ist eine» Abhandlung über die Möglichkeit einer einigen Monarchie in Italien«, die einen Quartband füllen wird.
Und Sie haben diesbereits geschrieben?
Auf zwei Hemden. Ich habe ein Verfahren erfunden, das Weißzeug glatt und eben zu machen wie Pergament.
Sie sind also Chemiker?
Ein wenig. Ich habe Lavoisier kennen gelernt und stand mit Cabanis in Verbindung.
Doch zu einem solchen Werke mußten Sie Studien machen. Siebesaßen alsoBücher?
In Rom hatte ich in meinerBibliothek ungefähr fünftausendBände. Ich fand aber, daß man mit hundertundfünfzig gut ausgewählten Werken, wenn nicht den Gesamtinhalt aller menschlichen Kenntnisse, doch wenigstens dasbesitzt, was einem Menschen zu wissen frommt. Drei Jahre habe ich dazu verwendet, diese hundertundfünfzigBände zu lesen und wieder zu lesen, und wußte sie sobeinahe auswendig, als man mich verhaftete. In meinem Gefängnis erinnerte ich mich derselben mit einer leichten Anstrengung des Gedächtnisses. Ich könnte Ihnen Thucydides, Xenophon, Livius, Tacitus, Strabo, Dante, Montaigne, Shakespeare, Spinoza und Macchiavell auswendig hersagen. Ich nenne Ihnen hier nur die wichtigsten.
Sie verstehen also mehrere Sprachen?
Ich spreche fünf lebende Sprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch und Spanisch.
Immer mehr erstaunt, fing Edmond an, die Fähigkeiten dieses seltsamen Mannesbeinahe für übernatürlich zu halten. Seine Neugierde wurde immer lebhafter, und er fragte: Aber wenn man Ihnen keine Federn gegeben hat, womit konnten Sie eine so umfangreiche Abhandlung schreiben?
Ich habe mir vortreffliche gemacht, und man würde sie den gewöhnlichen Federn vorziehen, wenn man den Stoff kennte. Siebestehen aus den Knorpeln der großen Merlane, die man uns an Fasttagen zu essen gibt. So sehe ich diesen immer mit Vergnügen entgegen, weil ich hoffe, meinen Federvorrat zu vermehren, denn meine geschichtlichen Arbeiten sind meine angenehmsteBeschäftigung. Wenn ich in die Vergangenheit hinabsteige, vergesse ich die Gegenwart; bewege ich mich frei und unabhängig in der Geschichte, so weiß ich nichts mehr davon, daß ich ein Gefangenerbin.
Aber, womit haben Sie die Tinte gemacht?
Früher war ein Kamin in meinem Gefängnisse, sagte Faria. Dieser Kamin wurde ohne Zweifel einige Zeit vor meiner Ankunft verstopft, aber man hatte wohl viele Jahre lang Feuer darin gemacht, und so ist das ganze Innere mit Rußbedeckt. Ich löse diesen Ruß mit einer Portion Wein auf, den man mir jeden Sonntag gibt, und das liefert mir vortreffliche Tinte. Umbesondere Stellen ins Auge fallen zu lassen, steche ich mir in die Finger und schreibe sie mit meinemBlut.
Und wann kann ich dies alles sehen? fragte Dantes.
Wann Sie wollen, antwortete Faria.
Oh, sogleich! rief der junge Mann.
Folgen Sie mir also, sagte der Abbé und kehrte in den unterirdischen Gang zurück, wo er verschwand; Dantes folgte ihm.
Das Zimmer des Abbés
Nachdem Dantes, sichbückend, aber doch ohne großeBeschwerde, den unterirdischen Gang durchschritten hatte, gelangte er an das entgegengesetzte Ende der Aushöhlung, die in das Zimmer des Abbés führte. Hier verengte sich der Gang undbot kaum Raum genug, daß ein Mann kriechend hineinschlüpfen konnte. Das Zimmer war mit Plattenbelegt. Unter einer im dunkelsten Winkel liegenden Platte hatte der Abbé die mühsame Arbeitbegonnen, die ihn schließlich mit Dantes zusammenführen sollte. Sobald der junge Mann drinnen war und sich wieder aufgerichtet hatte, betrachtete er das geheimnisvolle Zimmer mit der größten Aufmerksamkeit. Beim erstenBlickebot sich ihm nichtsBesonderes dar.
Gut, sagte der Abbé, es ist erst ein Viertel auf ein Uhr, und wir haben noch ein paar Stunden vor uns. Dantes schaute umher und suchte nach der Uhr, auf der der Abbé die Stunde hatte so genau lesen können.
Schauen Sie diesen Tagesstrahl an, der durch mein Fenster dringt, und sehen Sie an der Wand die Linien, die ich gezogen habe. Diese Linien geben mir die Stunde genauer an, als wenn ich eine Uhr hätte, denn die Uhr kann in Unordnung geraten, Sonne und Erde aber nicht, sagte der Abbé als Antwort auf Edmonds staunenden und fragendenBlick.
Dantes verstand diese Erklärung nicht. Ichbitte, sagte er, es drängt mich, Ihre Schätze zubetrachten.
Der Abbé ging nach dem Kamine und hobmit dem Meißel, den erbeständig in der Hand hielt, den Stein aus, der einst den Herdbildete und nun eine ziemlich tiefe Aushöhlung verbarg, in der alle Gegenstände eingeschlossen waren, von denen er gesprochen hatte.
Was wollen Sie zuerst sehen? fragte er.
Zeigen Sie mir Ihr großes Werk über Italien.
Faria zog aus dem kostbaren Schranke dreibis vier wie Papyrusblätter umeinander gewundene Leinwandrollen hervor. Es waren ungefähr vier Zollbreite und achtzehn Zoll langeBänder. Sehen Sie, sagte er, hier ist alles. Vor ungefähr acht Tagen habe ich das Wort Ende unten an das hundert und achtundsechzigsteBand geschrieben. Zwei von meinen Hemden und was ich an Taschentüchernbesaß, wurde dazu verwendet, und werde ich je wieder frei und es findet sich in ganz Italien ein Drucker, der mein Werk zu veröffentlichen wagt, so ist mein wissenschaftlicher Ruf für alle Zeitenbegründet.
Ja, antwortete Dantes, ich sehe es wohl. Und nunbitte ich Sie, zeigen Sie mir die Federn, mit denen Sie dieses Werk geschrieben haben!
Faria zeigte dem jungen Mann ein kleines, sechs Zoll langes Stäbchen, etwa so dick wie der Stiel eines Haarpinsels; am Ende desselben war mittels eines Fadens einer von den Knorpeln angebunden, von denen der Abbé gesprochen hatte. Er war schnabelförmig zugeschnitten und wie eine gewöhnliche Feder geschlitzt. Dantes schaute ihn an und suchte mit den Augen nach dem Instrument, mit dem der Abbé den Knorpel so fein geschnitten haben könnte.
Ah, ja, das Federmesser, nicht wahr? Das ist mein Meisterwerk. Ich habe es, sowie das Messer, das Sie hier sehen, aus einem alten eisernen Leuchter gemacht.
Das Federmesser schnitt wie ein Rasiermesser: das Messer hatte den Vorteil, daß es zugleich als Messer und Dolch dienen konnte. Dantes untersuchte diese Gegenstände mit derselben Aufmerksamkeit, mit der er in den Raritätenhandlungen in Marseille die von Wilden verfertigten und von Schiffskapitänen aus der Südsee zurückgebrachten Werkzeuge untersucht hatte.
Was die Tintebetrifft, sagte Faria, so wissen Sie, wie ich dabei zu Werke gehe; ich mache sie nach meinemBedarf.
Nun staune ich nur über eins, sagte Dantes, darüber, daß die Tage Ihnen für diese Arbeit genügten.
Ich hatte die Nächte, antwortete Faria.
Die Nächte? Besitzen Sie die Natur der Katzen und sehen Siebei Nacht?
Nein, aber Gott hat dem Menschen den Verstand gegeben, um die Armut seiner Sinne zu unterstützen. Ich habe mir Licht verschafft. Von dem Fleische, das man mirbringt, trenne ich das Fett; ich lasse es schmelzen und ziehe eine Art von verdicktem Öl daraus. Sehen Sie hier meine Kerze!
Und der Abbé zeigte Dantes eine Art von Lämpchen, denen ähnlich, deren man sichbei öffentlichen Illuminationenbedient.
Aber wie machen Sie Feuer?
Hier sind zwei Kieselsteine und verbrannte Leinwand.
Dantes legte die Gegenstände, die er in der Hand hielt, auf den Tisch und neigte das Haupt, ganz niedergebeugt von der Kraft und Ausdauer diesesbeharrlichen Geistes.
Das ist noch nicht alles, fuhr Faria fort; denn man darf nicht alle seine Schätze in ein Versteck legen; verschließen wir dieses!
Siebrachten die Platte wieder an ihre Stelle; der Abbé streute etwas Staubdarauf, fuhr mit seinem Fuße darüber, ging dann auf seinBett zu und rückte es von der Stelle.
Hinter dem Kopfkissen, unter einem Stein verborgen, der es fast völlig verschloß, war ein Loch und unter diesem Loch eine etwa fünfundzwanzigbis dreißig Fuß lange Strickleiter. Dantes untersuchte sie; sie war von tadelloser Festigkeit.
Wer hat Ihnen die zu diesem vortrefflichen Werke erforderliche Schnur geliefert? fragte Dantes.
Zuerst einige Hemden, die ichbesaß, dann meineBetttücher, die ich während einer dreijährigen Gefangenschaft in Fenestrelle ausfädelte. Als man mich nach dem Kastell Ifbrachte, fand ich Mittel, das ausgefädelte Zeug mitzunehmen. Hier setzte ich meine Arbeit fort.
Ich hatte anfangs den Gedanken, diese Stangen loszumachen und durch dieses Fenster zu entfliehen, das, wie Sie sehen, etwasbreiter ist, als das Ihrige, und von mir im Augenblicke meiner Entweichung noch erweitert worden wäre. Aber ichbemerkte, daß dieses Fenster auf einen innern Hof geht, und leistete auf diesen Fluchtversuch als zu unsicher Verzicht. Die Strickleiter war aber einmal gemacht, und ich hebe sie mir für alle Fälle auf.
Während es schien, als untersuchte Dantes noch länger die Strickleiter, dachte er an etwas ganz anderes. Der Gedanke durchzog seinen Geist, daß dieser so außerordentlich scharfsinnige Mann vielleicht das Dunkel seines eigenen Unglücks zu durchdringen vermöchte.
Woran denken Sie? fragte der Abbé lächelnd. Er hielt Dantes' Versunkenheit für eine auf den höchsten Grad gesteigerteBewunderung.
Ich denke vor allem an die ungeheure Summe von Verstand, die Sie aufwenden mußten, um zu einem solchen Ziele zu gelangen. Was hätten Sie erst getan, wenn Sie frei gewesen wären!
Vielleicht nichts, diese Überfülle meines Gehirns wäre in Kleinlichkeiten verpufft. Esbedarf des Unglücks, um gewisse geheimnisvolle, im menschlichen Verstande verborgene Minen zu graben; esbedarf des Druckes, um das Pulver zum Ausbruch zubringen. Die Gefangenschaft hat alle meine dahin und dorthin flatternden Geisteskräfte in einem einzigen Punkte vereinigt.
Der Abbé verschloß sein Versteck wieder und sagte: Nun erzählen Sie mir Ihre Geschichte!
Dantes erzählte das, was er seine Geschichte nannte, was sich jedoch auf eine Reise nach Indien und auf ein paar Reisen nach der Levantebeschränkte. Endlich gelangte er zu seiner letzten Fahrt, zu dem Tode des Kapitäns Leclère, zu dem von ihm dem Großmarschall übergebenen Paket, zu seiner Zusammenkunft mit dem Großmarschall, zu demBriefe, den ihm dieser gegeben hatte, zu seiner Ankunft in Marseille, zu seiner Zusammenkunft mit seinem Vater, zu seiner Liebschaft mit Mercedes, zu seinem Verlobungsmahle, zu seiner Verhaftung, zu seinem Verhör, zu seiner vorläufigen Gefangenschaft im Justizpalaste und schließlich zu seiner endgültigen Gefangenschaft im Kastell If. Sobald Dantes diesen Punkt erreicht hatte, wußte er nichts mehr genau anzugeben, nicht einmal mehr die Zeit, die er Gefangener geblieben. Als die Erzählung zu Ende war, versank der Abbé in Gedanken.
Es gibt, sagte er nach einem Augenblick des Stillschweigens, einenbewährten und wohlbegründeten Rechtsgrundsatz: Willst du den Schuldigen entdecken, so suche zuerst den, dem dasbegangene Verbrechen nützlich sein kann! Wem konnte Ihr Verbrechen Nutzenbringen?
Mein Gott! Niemand, ich war zu unbedeutend.
Antworten Sie nicht so, denn Ihre Antwort ermangelt zugleich der Logik und der Philosophie; alles istbeziehungsweise, mein lieber Freund, von dem König, der seinem Nachfolger im Wege steht, bis zu dem unterstenBeamten, der dem Anwärter als ein Hindernis erscheint. Stirbt dieserBeamte, so erbt der Anwärter zwölfhundert Franken Gehalt; diese zwölfhundert Franken Gehalt sind seine Zivilliste; sie sind ihm zum Leben ebenso notwendig, wie einem König seine zwölf Millionen. Jeder Mensch, von der niedrigstenbis zur höchsten Stufe der gesellschaftlichen Leiter, gruppiert um sich her eine kleine Welt von Interessen, die ihre Wirbel und ihre hakenförmigen Atome hat, wie Descartes' Welten. Nur werden diese Welten, in je höhere Schichten wir steigen, um so umfangreicher. Es ist eine auf der Spitze stehende Pyramide, die sich durch das Spiel der Kräfte im Gleichgewicht erhält. Kehren wir jedoch zu Ihrer Welt zurück! Sie sollten zum Kapitän des» Pharao «ernannt werden und ein hübsches junges Mädchen heiraten? Hatte jemand ein Interesse daran, daß Sie nicht Kapitän wurden, daß Sie Mercedes nicht heirateten?
Nein; ich war anBord sehrbeliebt. Hätten die Matrosen einen Kapitän wählen können, so würden sie sicherlich mich gewählt haben. Ein einziger Mensch hatte Grund, mir zu grollen; ich geriet einige Zeit vorher mit ihm in Streit und schlug ihm ein Duell vor, das er nicht annahm. Es war Danglars, der Rechnungsführer auf dem Pharao.
Hätten Sie ihn als Kapitän auf seinem Posten erhalten?
Nein, wenn es von mir abgehangen hätte, denn ich glaubte, Ungenauigkeiten in seinen Rechnungen wahrzunehmen.
Gut. Konnte jemand Ihre letzte Unterredung mit dem Kapitän Leclère hören?
Ja, die Türen waren offen und sogar… warten Sie… ja, Danglars ging sogar gerade in dem Augenblick vorüber, wo mir der Kapitän Leclère das für den Großmarschallbestimmte Paket übergab.
Gut, sagte der Abbé, wir sind auf dem Wege. Haben Sie jemand mit ans Land genommen, als Sie an der Insel Elba anhielten? — Niemand. — Man hat Ihnen einenBrief übergeben? — Ja, der Großmarschall. — Was taten Sie mit demBriefe, als Sie den Pharao wiederbestiegen? — Ich hielt ihn in der Hand. — Es konnte also jeder, auch Danglars, sehen, daß Sie einenBrief trugen? — Ja, jeder. — Nun hören Sie wohl, drängen Sie alle Ihre Erinnerungen zusammen: Wissen Sie noch, in welchen Ausdrücken die Denunziation abgefaßt war? — Oh ja; ich habe sie dreimal gelesen, und jedes Wort ist mir im Gedächtnis geblieben. — Wiederholen Sie mir dieselbe!
Dantes sammelte sich einen Augenblick und sagte:
Der Herr Staatsanwalt wird von einem Freunde des Thrones und der Religionbenachrichtigt, daß Edmond Dantes, Sekond des Schiffes Pharao, heute morgen von Smyrna angelangt ist, nachdem er Neapel und Porto Ferrajo auf Elbaberührt hat, von Murat einenBrief für den Usurpator und von dem Usurpator einenBrief für dasbonapartistische Komitee in Paris übernommen hat. DenBeweis für sein Verbrechen wird man erlangen, wenn man ihn verhaftet; denn man findet diesenBrief entwederbei ihm oderbei seinem Vater oder in seiner Kajüte anBord des Pharao.
Das ist klar, wie der Tag, sagte der Abbé und zuckte die Achseln, und Sie müssen ein sehr gutes und reines Herz haben, daß Sie es nicht von Anfang an erraten haben.
Sie glauben? rief Dantes. Ah, das wäre heillos!
Wie war Danglars' gewöhnliche Handschrift?
Eine schöne Kursivschrift.
Wie war die Schrift des anonymenBriefes?
Es war eine verkehrte Schrift. — Der Abbé lächelte, nahm seine Feder und schriebmit der linken Hand auf ein Stück Leinwand zwei oder drei Zeilen der Denunziation.
Dantes schaute den Abbé erschrocken an und rief: Oh! es ist erstaunlich, wie diese Schrift jener gleicht!
Die Anzeige war mit der linken Hand geschrieben. Ich habebeobachtet, fuhr der Abbé fort, daß alle rechtshändigen Schriften voneinander abweichen, alle linkshändigen sich gleichen.
Es ist, als hätten Sie alles gesehen, allesbeobachtet.
Fahren wir fort und gehen wir zur zweiten Frage über: Hatte jemand ein Interesse daran, daß Sie Mercedes nicht heirateten?
Ja, Fernand, ein junger Katalonier, der sie liebte.
Glauben Sie, daß er fähig war, denBrief zu schreiben?
Nein, er hätte mir einen Messerstich gegeben und nichts sonst.
Das liegt in der spanischen Natur; ein Mord, ja; eine Feigheit, nein.
Überdies, fuhr Dantes fort, kannte er die in der Anzeige enthaltenen einzelnen Umstände nicht. Sie haben sie niemand mitgeteilt?
Nicht einmal meinerBraut.
Es ist Danglars.
Oh! nunbin ich davon überzeugt.
Warten Sie, kannte Danglars Fernand?
Zwei Tage vor meiner Hochzeit sah ich sie miteinander an einem Tische unter der Laube des Vaters Pamphile. Danglars war freundschaftlich und spöttisch, Fernandbleich und verstört.
Sie waren allein?
Nein, es war ein dritter, mir wohlbekannter Menschbei ihnen, der sie ohne Zweifel zusammengeführt hatte, ein Schneider, namens Caderousse; aber dieser warbereitsbetrunken. Doch halt… halt… warum erinnerte ich mich dieses Umstandes nicht? Auf dem Tische, wo sie tranken, waren Papier, Tinte und Federn. Oh, dort, dort wird derBrief geschrieben worden sein! Oh, die Schändlichen!
Wollen Sie noch etwas wissen? fragte der Abbé lachend.
Ja, ja, da Sie alles ergründen und in allen Dingen klar sehen. Ich will wissen, warum ich nur einmal verhört wordenbin; warum man mir keinen Richter gegeben hat, und wie man mich ohne Spruch verurteilen konnte.
Oh! was dasbetrifft, erwiderte der Abbé, das ist schwieriger; die Justiz hat finstere, geheimnisvolle Wege, die schwer zu durchdringen sind. Was wirbis jetzt inBeziehung auf Ihre zwei Feinde getan haben, war nur ein Kinderspiel. Sie müssen mir in dieser Hinsicht genauere Andeutungen geben.
Ichbitte, fragen Sie mich; denn Sie sehen in der Tat klarer in meinem Leben, als ich selbst.
Wer hat Sie verhört? Der Staatsanwalt oder der Untersuchungsrichter?
Der Vertreter des Staatsanwalts.
Jung oder alt?
Jung, siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre alt. Gut! noch nicht verdorben, aberbereits ehrgeizig. Wiebenahm er sich gegen Sie?
Mehr sanft als streng.
Haben Sie ihm alles erzählt? — Alles.
Hat sich seinBenehmen im Verlaufe des Verhörs verändert?
Einen Augenblick, als er den mich gefährdendenBrief gelesen hatte, schien er wie niedergeschmettert durch mein Unglück.
Wissen Sie ganz gewiß, daß es Ihr Unglück war, was erbeklagte?
Er hat mir einen großenBeweis von Mitgefühl gegeben; er verbrannte denBrief, das einzige, was mich wirklich gefährden konnte.
Halt, nicht so voreilig! Dieser Mensch könnte ein größerer Verbrecher sein, als Sie glauben.
Bei meiner Ehre, Sie lassen mich zittern, sagte Dantes; die Welt ist also mit Tigern und Krokodilenbevölkert?
Ha, nur sind die zweibeinigen Tiger und Krokodile gefährlicher, als die andern. Also er hat denBrief verbrannt, sagen Sie?
Ja, und er sagte dabei zu mir: Sehen Sie, es ist nur dieserBeweis gegen Sie vorhanden, und ich vernichte ihn.
DiesesBenehmen ist zu edel, um natürlich zu sein. An wen war derBrief adressiert?
An Herrn Noirtier, Rue Coq‑Héron, Nr. 13 in Paris.
Können Sie annehmen, Ihr Staatsanwalt habe ein Interesse an dem Verschwinden dieses Papiers gehabt?
Vielleicht, denn er ließ mich mehrmals, in meinem Interesse, wie er sagte, geloben, mit niemand von diesemBriefe zu sprechen, ja, er ließ mich sogar schwören, nie den auf die Adresse geschriebenen Namen auszusprechen.
Noirtier? erwiderte der Abbé, Noirtier? Ich kannte einen Noirtier am Hofe der ehemaligen Königin von Etrurien, einen Noirtier, der während der Revolution Girondist gewesen war. Wie hieß der Staatsanwalt? Von Villefort.
Der Abbébrach in ein Gelächter aus. Dantes schaute ihn erstaunt an. Was haben Sie? fragte er.
Alles ist mir jetzt klar. Armes Kind, armer junger Mann! Und dieserBeamte ist gut gegen Sie gewesen? Dieser würdige Mann hat denBrief verbrannt, vernichtet? Dieser ehrliche Lieferant des Henkers ließ Sie schwören, nie den Namen Noirtier auszusprechen? Dieser Noirtier, armerBlinder, wissen Sie, wer dieser Noirtier war? Dieser Noirtier… war sein Vater.
Hätte derBlitz zu Dantes' Füßen eingeschlagen und vor ihm einen Abgrund gegraben, in dessen Tiefe sich die Hölle öffnete, es hätte keine raschere, keine niederschmetterndere Wirkung hervorgebracht, als diese unerwarteten Worte. Er stand auf und nahm seinen Kopf zwischenbeide Hände, als wollte er verhindern, daß er zerspringe.
Sein Vater! Sein Vater! rief er.
Ja, sein Vater, der Noirtier von Villefort heißt.
Ein Licht durchzuckte das Gehirn des Gefangenen; was ihmbis dahin dunkel geblieben war, wurde in einem Augenblick klar wie der Tag. Villeforts Worte während des Verhörs, der vernichtendeBrief, die fast flehende Stimme desBeamten, der statt zu drohen, zubitten schien, alles kam ihm ins Gedächtnis. Er stieß einen Schrei aus, wankte einen Augenblick, wie einBetrunkener, und stürzte dann nach der Öffnung, die aus der Zelle des Abbés in die seinige führte. Oh! sagte er, ich muß einen Augenblick allein sein, um alles zu überdenken. Als er wieder in seinem Kerker war, fiel er auf seinBett, wo ihn der Schließer am Abend mit starren Augen und zusammengezogenem Gesicht unbeweglich und stumm wie eineBildsäule sitzend fand. Während dieser Stunden des Nachsinnens, die wie Sekunden verliefen, hatte er einen furchtbaren Entschluß gefaßt und einen schrecklichen Eid geleistet.
DiesemBrüten wurde er durch die Stimme des Abbés entzogen, der zu Dantes kam, um ihn zum Abendbrot einzuladen. Seine Eigenschaft als anerkannter Narr undbesonders alsbelustigender Narr gabdem alten Gefangenen einige Vorrechte; so erhielt er etwas weißeresBrot und Sonntags ein Fläschchen Wein. Es war aber gerade Sonntag, und der Abbé wollte seinen jungen Gefährten einladen, seinBrot und seinen Wein mit ihm zu teilen.
Dantes folgte ihm. Alle Linien seines Gesichtes hatten sich wieder geglättet und die gewöhnlichen Formen angenommen, aber es sprach aus ihnen die Starrheit und Festigkeit eines unwiderruflichen Entschlusses. Der Abbé schaute ihn aufmerksam an. Es tut mir leid, daß ich Sie in Ihren Nachforschungen unterstützt und Ihnen gesagt habe, was ich sagte, sprach er.
Warum? fragte Dantes.
Weil ich in Ihr Herz eine Leidenschaftbrachte, die noch nicht darin war: die der Rache.
Dantes versetzte lächelnd: Sprechen wir von etwas anderem!
Der Abbé schaute ihn einen Augenblick an und schüttelte traurig den Kopf. Dann redete er, wie ihn Dantes gebeten hatte, von anderen Dingen.
Der alte Gefangene war ein Mann, dessen Unterhaltung lehrreich und anziehend und dabei von jeder Selbstsucht frei war, denn der Unglückliche sprach nie von seinen Leiden.
Dantes hörte jedes seiner Worte mitBewunderung; zum Teil standen sie im Zusammenhange mit denBegriffen, die erbereitsbesaß, und mit den Kenntnissen, die er sich als Seemann erworben, zum Teilberührten sie unbekannte Dinge und zeigten, wie der Nordschein, der manchmal den Schiffern in den südlichenBreiten leuchtet, dem jungen Manne mit phantastischem Licht erhellte neue Landschaften und Horizonte. Dantesbegriff das Glück, dessen ein vernunftbegabter Mensch teilhaftig werden müßte, wenn er diesem erhabenen Geiste auf die moralischen, philosophischen und sozialen Höhen folgte, auf denen er sich zu ergehen pflegte.
Sie sollten mich etwas von dem lehren, was Sie wissen, sagte Dantes, und wäre es nur, damit Sie sich nicht mit mir langweilen. Es scheint mir jetzt, Sie müssen die Einsamkeit dem Umgang mit einem Gefährten ohneBildung, wie ich esbin, vorziehen. Willigen Sie in das, was ich mir von Ihnen erbitte, so mache ich mich anheischig, nicht mehr von Flucht zu reden.
Der Abbé erwiderte lächelnd: Ach, mein Kind! Die menschliche Wissenschaft ist sehrbeschränkt, und habe ich Sie die Mathematik, die Physik und die paar lebenden Sprachen gelehrt, die ich spreche, so wissen Sie alles, was ich weiß. Um all dieses Wissen von meinem Geiste in den Ihrigen zu ergießen, werde ich kaum zwei Jahrebrauchen.
Zwei Jahre! sagte Dantes, Sie glauben, ich könnte dies alles in zwei Jahren lernen? Was wollen Sie mich zuerst lehren? Es drängt mich zubeginnen, ich habe einen Durst nach Wissenschaft.
Die Gefangenen entwarfen wirklich noch an demselben Abend einen Lehrplan, dessen Ausführung am andern Tagebegann. Dantesbesaß ein wunderbares Gedächtnis und eine außerordentliche Fassungsgabe. Die mathematische Anlage seines Geistesbefähigte ihn, alles durchBerechnung zubegreifen, während die Poesie des Seemannes da einsetzte, wo die auf die Trockenheit der Zahlen und die Genauigkeit der Linien zurückgeführte undbeschränkte Auseinandersetzung sich zu sehr im Materiellen verlor. Er verstand überdiesbereits Italienisch und etwas Neugriechisch, was erbei seinen Reisen nach dem Orient gelernt hatte. Mittels dieser zwei Sprachenbegriff erbald den Organismus aller andern, und nach Verlauf von sechs Monaten fing er an, Spanisch, Englisch und Deutsch zu sprechen.
Mochte nun die Zerstreuung, die ihm das Studieren gewährte, einigermaßen die Freiheit ersetzen, oder war es gewissenhafteBefolgung des gegebenen Wortes, jedenfalls sprach er, wie er dem Abbé Faria zugesagt, nicht mehr von Flucht, und die Tage vergingen ihm rasch und lehrreich. Nach Verlauf eines Jahres war er ein anderer Mensch. Was den Abbé Fariabetrifft, sobemerkte Dantes, daß er, trotz der Zerstreuung, die ihm seine Gegenwart gebracht hatte, täglich düsterer wurde. Ein unablässiger Gedanke schien seinen Geist zubelasten. Er versank in tiefe Träumerei, seufzte unwillkürlich, stand auf, kreuzte die Arme und ging finster in seinem Zimmer umher.
Eines Tagesblieber mitten in einem von den hundertmal wiederholten Kreisen stehen, die er in seinem Kerkerbeschrieb, und rief: Oh! wenn keine Wache da wäre!
Es wird keine Wache da sein, sobald Sie es nur wollen, sagte Dantes, der seinen Gedanken gefolgt war.
Ich habe Ihnenbereits gesagt, versetzte der Abbé, ein Mord widerstrebt mir.
Und dennoch wird dieser Mord durch den Instinkt unserer Selbsterhaltung, durch dasBewußtsein der Selbstverteidigung gerechtfertigt.
Gleichviel, ich werde es nicht vermögen.
Sie denken noch daran?
Unablässig, unablässig, murmelte der Abbé.
Und Sie haben ein Mittel gefunden, nicht wahr? sagte Dantes lebhaft und wollte ihnbei diesem Gegenstande festhalten, aber der Abbé schüttelte den Kopf und weigerte sich, zu antworten.
Drei Monate verliefen.
Sind Sie stark? fragte eines Tages der Abbé Dantes.
Dantes nahm, ohne ein Wort zu erwidern, den Meißel, bog ihn wie ein Hufeisen undbog ihn wieder zurück.
Würden Sie sich anheischig machen, die Schildwache nur im äußersten Notfalle zu töten?
Ja, bei meiner Ehre.
Dann können wir unsern Plan ausführen, sagte der Abbé. Wie langebrauchen wir dazu?
Wenigstens ein Jahr.
Oh, sehen Sie, wir haben ein Jahr verloren! rief Dantes.
Finden Sie, daß wir es verloren haben? sagte der Abbé.
Ichbitte um Vergebung, rief Edmond errötend.
Still; der Mensch ist immer nur ein Mensch, und Sie sind einer von denbesseren, die ich kennen gelernt habe. Vernehmen Sie meinen Plan!
Der Abbé zeigte nun Dantes eine Zeichnung, die er entworfen hatte; es war der Plan seines Zimmers, des von Dantes und des Ganges, derbeide miteinander verband. Mitten in diesem Gangebrachte er einen Schacht an, denen ähnlich, die man inBergwerken macht. Dieser Schacht führte die Gefangenen unter die Galerie, wo die Schildwache auf- und abging. Hier machten sie einebreite Aushöhlung und lösten eine von den Platten, die denBoden der Galeriebildeten. Im gegebenen Augenblick fiel die Platte unter dem Gewichte des Soldaten ein, und dieser stürzte in die Höhlung. Dantes warf sich in dem Momente auf ihn, wo er, von seinem Fallebetäubt, sich nicht verteidigen konnte, band, knebelte ihn, undbeide drangen durch ein Fenster dieser Galerie, stiegen mit Hilfe der Strickleiter an der äußeren Mauer hinabund flüchteten sich. Dantes schlug in die Hände, und seine Augen funkelten vor Freude; dieser Plan war so einfach, daß er gelingen mußte.
Noch an demselben Tage gingen die Minierer mit um so mehr Eifer ans Werk, als die Arbeit auf eine lange Ruhe folgte, und aller Wahrscheinlichkeit nach nur die Ausführung eines innigen, geheimen Gedankens jedes vonbeidenbildete. Nichts unterbrach sie, als die Stunde, zu der sichbeide zurückziehen mußten, um jeder in seinem Kerker denBesuch des Wärters zu empfangen. Sie hatten sich übrigens daran gewöhnt, an dem fast unmerklichen Geräusch von Tritten den Augenblick wahrzunehmen, wo dieser Mensch herabkam, und nie war einer von ihnen überrascht worden. Die Erde, welche sie aus der neuen Galerie zogen, wurde in kleinen Staubteilchen und mit unerhörterBehutsamkeit durch das eine oder das andere Kerkerfenster von Dantes oder von Faria geworfen. Der Nachtwind trug sie dann in die Ferne, ohne daß Spuren davon übrigblieben.
Mehr als ein Jahr vergingbei dieser Arbeit, die, in Ermangelung aller anderen Werkzeuge, mit einem Meißel, einem Messer und einem hölzernen Hebel ausgeführt wurde, und während dieser Arbeit fuhr Faria fort, Dantes zu unterrichten, wobei erbald in der einen, bald in der andern Sprache sich mit ihm unterhielt und ihn die Geschichte der Nationen und der großen Menschen lehrte. Der Abbé, ein Mann der Welt, und zwar der großen Welt, besaß überdies in seinen Manieren eine gewisse hoheitsvolle Würde, die sich auf den von Natur so empfänglichen Dantes übertrug und ihn die elegante Artigkeit und die aristokratischen Manieren lehrte, die uns sonst nur durch längeren Umgang mit den höheren Klassen oder in der Gesellschaft edler Männer zur Gewohnheit werden.
Nach Verlauf von fünfzehn Monaten war das Loch vollendet und die Höhlung unter der Galerie angebracht. Man hörtebereits die Schildwache hin und her gehen, und diebeiden Arbeiter, die eine dunkle Nacht ohne Mondschein abwarten mußten, um ihre Flucht zu sichern, befürchteten nur eines: es könnte derBoden zu früh von selbst unter den Füßen des Soldaten einstürzen. Manbegegnete diesem Mißgeschick dadurch, daß man einen kleinenBalken, den man imBoden gefunden hatte, als Stütze aufstellte.
Dantes war eben dabei, denBalken festzustellen, als er hörte, wie ihn der Abbé, der in seinem Zimmer geblieben war und sich damitbeschäftigte, einen Pflock zuzuspitzen, der die Strickleiter halten sollte, mit schmerzlichem Tone rief. Dantes kehrte rasch zurück und sah den Abbébleich, mit schweißbedeckter Stirn und krampfhaft zusammengezogenen Händen, mitten im Zimmer stehen.
Oh, mein Gott! rief Dantes, was haben Sie?
Rasch, rasch! sagte der Abbé, hören Sie mich!
Dantes erblickte das leichenbleiche Gesicht Farias, seine von einembläulichen Kreise umzogenen Augen, seine weißen Lippen, seine gesträubten Haare und ließ aus Schrecken den Meißel, den er in der Hand hielt, auf denBoden fallen.
Ichbin verloren, sagte der Abbé; ein furchtbares, vielleicht tödliches Übel erfaßt mich. Der Anfall kommt, ich fühle es. Schon einmal wurde ich davon, ein Jahr vor meiner Einkerkerung, ergriffen. Für dieses Übel gibt es nur ein Mittel, ich will es Ihnen nennen. Heben Sie den Fuß desBettes auf! Der Fuß ist hohl, Sie finden darin ein Kristallfläschchen, mit einer roten Flüssigkeit halbgefüllt.
Dantes verlor den Kopf nicht, obgleich ihm das Unglück, das ihm drohte, unermeßlich schien; er zog das Fläschchen aus demBettfuße und legte dann den an allen Gliedern zitternden Abbé auf dasBett.
Das Übel tritt ein, rief Faria, ich verfalle in Starrsucht; vielleicht werde ich keineBewegung machen, keine Klage ausstoßen; vielleicht werde ich aber auch schäumen, schreien. Suchen Sie zubewirken, daß man mein Geschrei nicht hört; es ist von Wichtigkeit, denn man könnte mir dann ein anderes Zimmer geben und uns für immer trennen. Wenn Sie mich unbeweglich, kalt und gleichsam tot sehen, dann, aber auch dann erst, hören Sie wohl, drücken Sie mir die Zähne mit dem Messer auseinander, flößen mir achtbis zehn Tropfen von diesem Tranke in den Mund, und vielleicht komme ich wieder zu mir.
Vielleicht, rief Dantes schmerzlich.
Zu Hilfe, zu Hilfe! rief der Abbé, ich… ich… Ärm…
Der Anfall kam so rasch und so heftig, daß der unglückliche Gefangene nicht einmal dasbegonnene Wort vollenden konnte. Eine Wolke zog schnell und düster wie die Stürme des Meeres über seine Stirn hin. Die Krise erweiterte seine Augen, verdrehte seinen Mund, färbte seine Wangen purpurrot. Er arbeitete mit Händen und Füßen, schäumte, brüllte; aber Dantes erstickte, wie es ihm Faria selbst empfohlen hatte, das Geschrei unter der Decke. Dies dauerte zwei Stunden. Dann aber fiel der Greis, träger als eine tote Masse, kälter als der Marmor, zurück, erstarrte in einem letzten Krampfanfall und wurde leichenbleich.
Edmond wartete, bis dieser scheinbare Tod den Körper erfaßt undbis zum Herzen vereist hatte. Dann nahm er das Messer, schobdie Klinge zwischen die Zähne, löste mit unsäglicher Mühe die zusammengepreßten Kinnbacken, zählte, einen nach dem andern, zehn Tropfen von dem rötlichen Safte und wartete.
Es verlief eine Stunde, ohne daß der Greis die geringsteBewegung machte. Dantes fürchtete, zu lange gewartet zu haben, undbetrachtete ihn, beide Hände in seinen Haaren haltend. Endlich erschien eine leichte Färbung auf seinen Wangen; seine Augen gewannen ihrenBlick wieder; ein leichter Seufzer entstieg seinem Munde, und er machte eineBewegung.
Gerettet! gerettet! rief Dantes.
Der Kranke konnte noch nicht sprechen, aber er streckte mit sichtbarer Angst die Hand nach der Tür aus. Dantes horchte und vernahm die Tritte des Gefangenwärters! es war nahe an sieben Uhr. Der junge Mann sprang zur Öffnung, drang hinein, legte die Platte wieder über seinen Kopf und kehrte in sein Zimmer zurück. Einen Augenblick nachher öffnete sich seine Tür, und der Kerkermeister fand den Gefangenen wie gewöhnlich auf seinemBette sitzend.
Kaum hatte er ihm den Rücken gewendet, kaum hatte sich das Geräusch der Tritte im Gang verloren, als Dantes, von Ungeduld verzehrt, ohne an das Essen zu denken, in das Zimmer des Abbés zurückkehrte.
Dieser war wieder zumBewußtsein gekommen; aber er lag immer noch träge und kraftlos auf seinemBette ausgestreckt.
Ich dachte, ich würde Sie nicht wiedersehen, sagte er zu Dantes.
Warum? fragte der junge Mann. Glaubten Sie sterben zu müssen?
Nein, aber alles ist zu Ihrer Fluchtbereit, und ich glaubte, Sie würden fliehen.
Die Röte der Entrüstung färbte Dantes' Wangen.
Ohne Sie! rief er. Hielten Sie mich wirklich dessen fähig?
Jetzt sehe ich, daß ich mich getäuscht habe, sagte der Kranke. Oh! ichbin sehr, sehr schwach.
Mut! Ihre Kräfte werden wiederkehren, sagte Dantes, setzte sich neben seinBett und nahm ihnbei den Händen.
Der Abbé schüttelte den Kopf und erwiderte:
Das letztemal dauerte der Anfall eine halbe Stunde, wonach ich Hunger hatte und allein aufstand; heute kann ich weder meinBein, noch meinen rechten Arm rühren, mein Kopf ist eingenommen, was auf einen Erguß im Gehirn hindeutet. Das drittemal werde ich völlig gelähmtbleiben oder auf der Stelle sterben.
Nein, nein, beruhigen Sie sich, Sie werden nicht sterben; der dritte Anfall wird Sie, wenn er wirklich kommt, frei finden; wir werden Sie retten, wie diesmal undbesser als diesmal, denn es steht uns dann jede erforderliche Hilfe zu Gebote.
Mein Freund, sagte der Greis, täuschen Sie sich nicht! Die Krise, die soeben vorübergegangen ist, hat mich zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt; um zu fliehen, muß man gehen können.
Nun, wir warten acht Tage, einen Monat, zwei Monate, wenn es sein muß! Inzwischen erlangen Sie Ihre Kräfte wieder. Alles ist zur Flucht vorbereitet, und wir können nach unsermBelieben die Stunde und den Augenblick dazu wählen. An dem Tage, wo Sie sich kräftig genug fühlen, um zu schwimmen, bringen wir unsern Plan in Ausführung.
Ich werde nie mehr schwimmen, erwiderte Faria, dieser Arm ist gelähmt, nicht für einen Tag, sondern für immer. Heben Sie ihn selbst auf und sehen Sie, wie schwer er ist!
Der junge Mann hobihn auf, und der Arm viel unempfindlich wieder zurück. Er stieß einen Seufzer aus.
Sie sind nun überzeugt, nicht wahr, Edmond? sagte der Abbé; glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage; seit dem ersten Anfall dachte ich unablässig darüber nach. Ich erwartete es, denn es ist eine Familienerbschaft; mein Vater starban der dritten Krise, mein Großvater ebenfalls. Derberühmte Arzt Cabanis, der mir diesen Trankbereitete, weissagte mir dasselbe Schicksal.
Der Arzt täuscht sich, rief Dantes. Ihre Lähmung aber hindert mich nicht, ich nehme Sie auf meine Schultern und schwimme so mit Ihnen.
Kind, entgegnete der Abbé, Sie sind ein Seemann, Sie sind ein Schwimmer und müssen folglich wissen, daß ein Mensch mit einer solchen Last nicht fünfzig Klafter weit kommen würde. Lassen Sie sich nicht länger durch Hirngespinste täuschen, von denen nicht einmal Ihr vortreffliches Herzbetört wird. Ich werde hierbleiben, bis die Stunde meinerBefreiung schlägt, die jetzt nur die des Todes sein kann. Was Siebetrifft… fliehen Sie! Sie sind jung, stark und gewandt; kümmern Sie sich nicht um mich; ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück.
Gut, sagte Dantes, gut, sobleibe ich auch hier.
Dann stand er auf, streckte feierlich eine Hand gegen den Greis aus und rief: Bei demBlute Christi schwöre ich, daß ich Sie nurbei Ihrem Tode verlasse!
Faria schaute den edeln, einfachen und in seiner entsagungsvollen Liebe so erhabenen jungen Mann an und las in seinen von dem Ausdrucke der reinsten Ergebenheitbelebten Zügen die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung und die Redlichkeit seines Schwures.
Gut, sagte der Kranke, ich nehme es an und danke.
Hierauf Edmond die Hand reichend, fuhr er fort: Sie werden vielleicht für diese uneigennützige Ergebenheitbelohnt; zunächst müssen wir unbedingt die Höhlung verstopfen, die wir unter der Galerie gemacht haben; dem Soldaten kann der hohle Klang auffallen, erbringt die Sache zur Anzeige, und wir werden entdeckt und getrennt. Vollbringen Sie diese Aufgabe, wobei ich Sie leider nicht mehr unterstützen kann; verwenden Sie die ganze Nacht dazu, wenn es sein muß, und kommen Sie erst morgen nach demBesuche des Gefangenwärters zurück; ich habe Ihnen, denke ich, etwas Wichtiges zu sagen…
Dantes nahm den Abbébei der Hand; dieserberuhigte ihn durch ein Lächeln, und er entfernte sich mit dem Gehorsam und der Achtung, die er für seinen alten Freund hegte.
Das Brevier
Als Dantes am andern Morgen in das Zimmer seines Leidensgefährten zurückkehrte, fand er Faria mit ruhigem Antlitz unter dem Strahle sitzend, der durch das enge Fenster seiner Zelle glitt. Er hielt in seiner linken Hand ein Stück Papier und zeigte es, ohne etwas zu sagen, seinem jungen Freunde.
Was ist das? fragte dieser.
Schauen Sie es recht an, erwiderte der Abbé lächelnd.
Ich sehe nichts, als ein halbverbranntes Papier, auf dem gotische Zeichen mit einer seltsamen Tinte gezeichnet find.
Dieses Papier, mein Freund, ist mein Schatz, von dem von heute an die Hälfte Ihnen gehört.
Kalter Schweiß lief über Dantes' Stirn. Bis auf diesen Tag hatte er es vermieden, mit Faria über diesen Schatz zu sprechen, von dem sich die Ansicht vom Wahnsinn des armen Abbés herleitete. Voll Zartgefühl, wie er war, zog es Edmond immer vor, diese schmerzlich tönende Saite nicht zuberühren; Faria schwieg ebenfalls, und Dantes hielt das Stillschweigen des Greises für eine Rückkehr zur Vernunft. Heute aber schienen die Worte, die Faria nach einer so peinvollen Krise entschlüpften, einen schweren Rückfall geistigerBewölkung anzukündigen.
Ihr Schatz? stammelte Dantes.
Faria lächelte. Ja, Sie sind in jeder Hinsicht ein edles Herz, Edmond, und ich erkenne aus IhrerBlässe und Ihrem Schauer, was in diesem Augenblick in Ihnen vorgeht. Nein, seien Sie ruhig, ichbin kein Narr; dieser Schatzbesteht, Dantes, und wenn es mir nicht gegeben gewesen ist, ihn zubesitzen, so werden Sie ihn wenigstensbesitzen. Niemand wollte mich hören, niemand wollte mir glauben, weil man mich für verrückt hielt; aber Sie, der Sie wissen, daß ich es nichtbin, Sie werden mirbald glauben.
Ach! er leidet also an einem Rückfall; dieses Unglück fehlte mir noch, murmelte Edmond, nahm das Papier, von dem die Hälfte, die offenbar durch irgend einen Zufall zerstört worden war, fehlte, und las die darauf stehenden Worte.
Nun? sagte Faria, als er zu Ende war.
Ich sehe da nur verstümmelte Zeilen, Worte ohne Zusammenhang, erwiderte Dantes; die Schriftzeichen sind unterbrochen undbleiben unverständlich.
Für Sie, mein Freund, der Sie es zum erstenmal lesen, aber nicht für mich, der ich viele Nächte hindurch darüber gebrütet, der ich jeden Satz wieder ausgebaut, jeden Gedanken vervollständigt habe.
Und Sie glauben den Sinn wiedergefunden zu haben?
Ichbin dessen gewiß; Sie sollen selbst urteilen! Vernehmen Sie aber zuerst die Geschichte dieses Papiers!
Still! rief Dantes; Tritte! — man naht — ich gehe.
Glücklich, der Geschichte und der Erläuterung zu entgehen, die ihm, wie er meinte, unfehlbar das Unglück seines Freundesbestätigen würden, schlüpfte Dantes in den engen Gang, während Faria, sich mit aller Macht aufraffend, mit einem Fuße die Platte zurückstieß, die er mit einer Mattebedeckte.
Es war der Gouverneur, dem der Kerkermeister über Farias Unfallberichtet hatte, und der sich selbst von dem Zustand des Gefangenen überzeugen wollte. Faria empfing ihn sitzend, vermied jede verräterische Gebärde, und so gelang es ihm, vor dem Gouverneur die Lähmung zu verbergen, diebereits die Hälfte seines Körpers ergriffen hatte. Erbefürchtete hauptsächlich, der Gouverneur könnte ihn aus Mitleid in ein gesünderes Gefängnisbringen lassen und dadurch von seinem jungen Gefährten trennen. Seine Furcht war jedoch unbegründet, und der Gouverneur entfernte sich, überzeugt, sein armer Narr, für den er im Grunde seines Herzens eine gewisse Teilnahme hegte, sei nur von einer leichten Unpäßlichkeit heimgesucht.
Mittlerweile suchte Edmond, auf seinemBette sitzend und den Kopf in seinen Händen, seine Gedanken zu sammeln; alles schien an Faria, seitdem er ihn kannte, so vernünftig, so groß und so logisch, daß er gar nicht fassen konnte, wie diese sonst allgemeine Klarheit der Erkenntnis in dem einen Punkte, nämlich in dem Wahn eines Schatzes, völlig versage.
Dantesbliebden ganzen Tag in seinem Kerker, ohne daß er zu seinem Freunde zurückzukehren wagte. Er wollte so den Augenblick verschieben, wo er die für ihn entsetzliche Gewißheit erlangen sollte, daß der Abbé ein Narr sei. Doch gegen Abend, nach der Stunde des gewöhnlichenBesuches, versuchte es Faria, als er den jungen Mann nicht zurückkehren sah, seinerseits den Raum zurückzulegen, der ihn von demselben trennte. Edmond schauderte, als er hörte, welche schmerzlichen Anstrengungen der Greis machte, um sich fortzuschleppen; seinBein war lahm, und er konnte sich nicht mehr mit seinem Arme helfen. Edmond mußte ihn heraufziehen, denn er hätte sonst nie aus der schmalen Öffnung, die in Dantes' Kerker führte, herauskommen können.
Ich verfolge Sie mit unbarmherziger Ausdauer, sagte Faria mit einem von Wohlwollen strahlenden Lächeln; Sie glaubten meiner Freigebigkeit entgehen zu können, aber dem wird nicht so sein. Hören Sie also!
Edmond sah, daß er nicht ausweichen konnte; er ließ den Greis auf seinemBett sitzen und setzte sich zu ihm auf seinen Schemel.
Sie wissen, sagte der Abbé, daß ich der Sekretär, der Vertraute, der Freund des Grafen Spada, des letzten der Fürsten dieses Namens, war. Ich verdanke diesem guten Herrn das Glück, das ich in diesem Leben genossen habe. Er war nicht reich, obgleich der Reichtum seiner Familie sprichwörtlich war, und ich oft sagen hörte: Reich wie ein Spada. Aber er lebte und starbim Rufe des Überflusses. Sein Palast wurde mir zum Paradies. Ich unterrichtete seine Neffen, die starben, und als er allein auf der Welt war, gabich ihm dadurch, daß ich nur für ihn und ganz und gar nach seinem Willen lebte, zurück, was er seit zehn Jahren für mich getan hatte.
Das Haus des Grafen hattebald keine Geheimnisse mehr für mich. Oft sah ich den Gebieter emsig in altenBüchern nachschlagen und Familienhandschriften durchwühlen. Als ich ihm eines Tages wegen der unnützen Nachtwachen Vorwürfe machte, schaute er michbitter lächelnd an und schlug einBuch auf, das die Geschichte der Stadt Rom enthielt. Hier, im 20. Kapitel, das vom Leben des Papstes Alexander VI. handelte, standen folgende Zeilen, die ich nie habe vergessen können:
Die großen Kriege der Romagna warenbeendigt; CäsarBorgiabrauchte nachBeendigung seiner Eroberungskriege Geld, um ganz Italien zu erkaufen; sein Vater, der Papst, hatte ebenfalls Geld nötig, um mit dem König von Frankreich, Ludwig XII., der trotz seiner letzten Unfälle immer noch mächtig war, fertig zu werden. Es handelte sich also darum, durch eine gute Spekulation Mittel zu gewinnen, was in dem armen, erschöpften Italien eine schwierige Sache war.
Seine Heiligkeit hatte einen Gedanken, siebeschloß, zwei Kardinäle zu ernennen. Wählte der heilige Vater zwei vornehme undbesonders zwei reiche Personen Roms, so ergabsich für ihn folgender Gewinn: Zuerst hatte er die wertvollen Stellen und Ämter zu verkaufen, in derenBesitz diebeiden zukünftigen Kardinälebisher waren; sodann konnte er auf einen glänzenden Preis für den Verkauf derbeiden Kardinalshüte rechnen. Der Papst und CäsarBorgia suchten vor allem diebeiden zukünftigen Kardinäle aus; es waren Giovanni Rospigliosi, der für sich allein vier von den höchsten Würden des heiligen Stuhles inne hatte, und Cäsar Spada, einer der edelsten und reichsten Römer. Beide fühlten den Wert einer solchen Gunst des Papstes; sie waren ehrgeizig, und es floßen 800 000 Taler in die Kassen der Spekulanten.
Nachdem der Papst Rospigliosi und Spada mit Schmeicheleien überhäuft und ihnen die Insignien der Kardinalswürde übertragen hatte, lud er sie in Gemeinschaft mit CäsarBorgia zum Mittagsmahle ein. InBezug auf dieses Mahlbestand eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem heiligen Vater und seinem Sohne. Cäsar dachte, man könnte hierbei eines von den Mitteln gebrauchen, die er stets für seine innigsten Freundebereit hielt: nämlich einmal denberüchtigten Schlüssel, mit dem man den Geladenen aufforderte, einen gewissen Schrank zu öffnen. Dieser Schlüssel hatte eine kleine eiserne Spitze — scheinbar infolge der Nachlässigkeit des Verfertigers. Wandte man Gewalt an, um den Schrank zu öffnen, dessen schwieriges Schloß sonst nicht nachgab, so stach man sich mit dieser Spitze und starbam andern Tage. Sodann stand noch der Ring mit dem Löwenkopfe zur Verfügung, den Cäsar an den Finger steckte, wenn er gewisse Händedrücke gab. Der Löwebiß in die Oberhaut dieser des Drucks für würdig erachteten Hände, und derBiß hatte nach vierundzwanzig Stunden den Tod zur Folge. CäsarBorgia schlug nun seinem Vater vor, die Kardinäle entweder den Schrank öffnen zu lassen, oder jedem von ihnen einen herzlichen Händedruck zu geben. Aber Alexander VI. erwiderte ihm: Es soll uns nicht auf ein Mittagsmahl ankommen, wenn es sich um die vortrefflichen Kardinäle Spada und Rospigliosi handelt. Eine innere Stimme sagt mir, daß wir das Geld dafür schon wieder herausschlagen werden. Überdies vergeßt Ihr, Cäsar, daß eine Unverdaulichkeit sogleich wirkt, während ein Stich oder einBiß erst nach einem oder zwei Tagen ihre Folgen haben.
Cäsar fügte sich diesen Gründen, und die Kardinäle wurden zum Mittagsessen eingeladen. Manbereitete die Tafel in einer reizenden Villa, die der Papst unfern von Rombesaß. Ganzbetäubt von seiner neuen Würde, machte Rospigliosi seinen Magenbereit und setzte seinebeste Miene auf; Spada aber, ein kluger Mann, der einzig und allein seinen Neffen, einen jungen Kapitän, liebte, machte sein Testament. Er ließ sodann seinem Neffen sagen, er möge ihn in der Gegend der Villa erwarten; aber es scheint, der Diener fand ihn nicht. Spadabegabsich gegen zwei Uhr nach der Villa. Der Papst erwartete ihn, und das erste Gesicht, das dem neuen Kardinal in die Augen viel, war das seines herrlich geschmückten Neffen, an den CäsarBorgia alle möglichen Artigkeiten verschwendete.
Spada erbleichte, und Cäsar, der ihm einenBlick voll Ironie zuwarf, ließ ihn merken, daß er alles vorhergesehen habe. Man speiste. Spada konnte nur seinen Neffen fragen: Hast du meineBotschaft erhalten? Der Neffe verneinte undbegriff vollkommen das Gewicht dieser Frage. Es war zu spät, denn er hattebereits ein Glas vortrefflichen, von dem Mundschenken des Papstes für ihnbesonders aufgestellten Wein getrunken. Spada sah in demselben Augenblick eine andere Flasche kommen, von der man ihm gastfreundlich anbot. Eine Stunde nachher erklärte ein Arzt, beide seien vom Genuß giftiger Pilze gestorben. Spada starbauf der Schwelle der Villa, der Neffe verschied an seiner Haustür.
Sogleich fielen Cäsar und der Papst, unter dem Vorwande, die Papiere untersuchen zu müssen, über die Erbschaft her. Aber diese Erbschaftbestand nur aus einem Stück Papier, auf das Spada geschrieben hatte: Ich vermache meinem Neffen meine Kisten, meineBücher, darunter mein vergoldetesBrevier, mit dem Wunsche, daß er mich im Andenkenbehalten möge. Die Erben suchten überall, bewunderten dasBrevier, durchsuchten, ja zertrümmerten alle Schränke und Kästen, in denen sie etwas Wertvolles vermuteten, und fanden staunend, daß der reiche Spada in Wirklichkeit der ärmste aller Oheime war; nirgends ein Schatz, außer den in derBibliothek oder in den Laboratorien enthaltenen Schätzen der Wissenschaft. Das war alles. Cäsar und sein Vater suchten, wühlten, spähten; man fand nichts oder nur wenig; für tausend Taler Goldschmiedearbeiten und für ungefähr ebensoviel gemünztes Silber. Der Neffe hatte jedoch, als er auf der Schwelle seines Hauses zusammenbrach, Zeit gehabt, seiner Frau zuzurufen: Suche unter den Papieren meines Oheims, es ist ein wirkliches Testament vorhanden.
Man suchte vielleicht noch emsiger, als es die erhabenen Erben getan hatten, aber es war vergebens. Es waren noch zwei Paläste und eine Villa hinter dem Palatino vorhanden; zu jener Zeit hatten jedoch die unbeweglichen Güter einen geringen Wert, und diebeiden Paläste und die Villa verblieben der Familie als der Raubgier des Papstes und seines Sohnes unwürdig. Monate und Jahre verliefen, Alexander VI. starbvergiftet, man weiß durch welchen Mißgriff; zugleich mit ihm vergiftet, wechselte Cäsar nur die Haut, wie eine Schlange, und nahm eine neue Hülle an, worauf das Gift Flecken, denen ähnlich, die man an einem Tigerfelle sieht, zurückließ. Als er sich endlich gezwungen sah, Rom zu meiden, wurde er, ein fast vergessener Mann, in einem nächtlichen Scharmützel getötet. Nach dem Tode des Papstes und der Verbannung seines Sohnes erwartete man allgemein, die Familie würde wieder in fürstlichem Glanze erscheinen, den sie zur Zeit des Kardinalsbesessen hatte; aber dem war nicht so. Die Spadablieben in einem zweifelhaften Wohlstande, einbeständiges Geheimnis ruhte auf dieser dunkeln Angelegenheit, und es ging das Gerücht, Cäsar, einbesserer Politiker, als sein Vater, habe dem Papst das Vermögen des Kardinals gestohlen.
Scheint Ihnen dies, unterbrach sich Faria lächelnd, sehr unsinnig?
Oh! mein Freund, sagte Dantes, es kommt mir im Gegenteil vor, als läse ich eine interessante Chronik. Fahren Sie fort, ichbitte Sie!
Die Familie gewöhnte sich an diesen Zustand der Dinge. Jahre vergingen. Von den Nachkommen wurden die einen Soldaten, die andern Diplomaten; diese Geistliche, jeneBankiers; die einenbereicherten sich, die andern richteten sich vollends zu Grunde. Ich komme zu dem letzten der Familie, zu dem Grafen Spada, dessen Sekretär ich war. Oft hörte ich ihn über das Mißverhältnis seines Ranges und seines Vermögens sichbeklagen und riet ihm deshalb, das wenige, was ihmblieb, in Leibrenten anzulegen; er folgte diesem Rate und verdoppelte dadurch seine Einkünfte. DasberühmteBrevier war in der Familie geblieben, und der Graf Spadabesaß es damals, da es immer als Reliquie vom Vater auf den Sohn übergegangen war. Es war ein mit den schönsten gotischen Figuren ausgemaltesBuch und so schwer an Gold, daß es an großen Festtagen stets ein Diener vor dem Kardinal hertrug.
Bei dem Anblick von Papieren aller Art, von Verträgen und Pergamenten, die man im Familienarchiv aufbewahrte, und die insgesamt von dem vergifteten Kardinal herrührten, machte ich es mir, wie zwanzig Sekretäre vor mir, zur Aufgabe, diese gewaltigen Stöße nach dem Testament zu durchforschen. Trotz meiner emsigen und gewissenhaften Nachsuchungen fand ich durchaus nichts; alles war vergeblich; ichblieberfolglos und der Graf arm. Mein Patron starb. Er hatte von seiner Leibrente seine Familienpapiere, seine aus fünftausendBändenbestehendeBibliothek und seinberühmtesBrevier ausgenommen; er vermachte mir dies alles nebst tausend römischen Talern, die er inbarem Geldebesaß, unter derBedingung, alljährlich Messen lesen zu lassen und einen Stammbaum, sowie eine Geschichte seines Hauses zu entwerfen, was ich auch gewissenhaft ausführte. Im Jahre 1807, einen Monat vor meiner Verhaftung, am 25. Dezember, las ich zum tausendsten Male die Familienpapiere, die ich in Ordnungbrachte. Da der Palast nunmehr einem Fremden gehörte, war ich imBegriff, von Rom zu scheiden, um mich in Florenz niederzulassen, wohin ich meineBibliothek und meinberühmtesBrevier mitnehmen wollte, als ich, ermüdet durch das anhaltende Lesen und mißgestimmt durch ein unverdauliches Mittagsessen, meinen Kopf inbeide Hände fallen ließ und entschlummerte. Es war drei Uhr nachmittags. Ich erwachte, als die Uhr sechs schlug. Sobald ich den Kopf emporhob, sah ich, daß ich mich in der tiefsten Finsternisbefand. Ich klingelte, damit man mir Lichtbringe, niemand kam. Nunbeschloß ich, mich selbst zubedienen, nahm mit einer Hand die Kerze, diebereit stand, und suchte mit der andern ein Papier, das ich an dem im Herde noch glimmenden Feuer anzuzünden gedachte. Aber aus Furcht, in der Dunkelheit ein kostbares Papier statt eines unnützen zu nehmen, zögerte ich, als mir einfiel, daß ich in demberühmtenBrevier, das auf dem Tische neben mir lag, ein altes vergilbtes Papier gesehen hatte, welches ohne Zweifel alsBuchzeichen gebraucht und Jahrhunderte hindurch aus Ehrfurcht von den Erben an seinem Platze gelassen worden war. Ich suchte tastend nach diesem Papier, fand es, wickelte es zusammen, streckte es nach der Flamme aus und zündete es an; doch unter meinen Fingern sah ich, je mehr das Feuer zunahm, wie durch einen Zauber gelbliche Schriftzeichen auf dem weißen Papier hervorkommen und auf demBlatte erscheinen. Da erfaßte mich der Schrecken; ich drückte mitbeiden Händen das Papier zusammen, erstickte das Feuer und zündete sodann die Kerze unmittelbar am Herd an; mit einer nicht zu schilderndenBewegung öffnete ich das zerknitterte Schreiben und erkannte, daß dieBuchstaben, die erst in der Hitze zum Vorschein kamen, mit einer geheimnisvollen Tinte geschrieben worden waren; etwas über ein Drittel des Papiers hatte die Flamme schon verzehrt. Es ist das Papier, das Sie heute morgen gelesen haben, Dantes; lesen Sie es noch einmal, und ich werde Ihnen dann die abgebrochenen Sätze vervollständigen.
Und triumphierendbot Faria das Papier Dantes, der diesmal gierig die mit einer rötlichen, rostähnlichen Tinte geschriebenen Worte las:
«Heute, den 25. April 1498 zum Alexander VI. undbefürchtend, nicht zu ließ, wolle sie von mir erben undbe undBentivoglio, welche an Gift meinem Universalerben, daß ich vergr mit mirbesucht hat, nämlich in Insel Monte Christo, alles, was ich Diamanten, Juwelen, bes dieses Schatzes, der sich auf zwei Mil alleinbekannt ist, und daß er ihn find zwanzigsten Stein von derBucht öst Zwei Oeffnungen sind in diesen Grott Der Schatz liegt in der entfernt und diesen Schatz vermache ich ihm und trete einzigen Erben.
25. Apr. 1498.
Cä…
Nun lesen Sie das andere Papier, sagte der Abbé und reichte Dantes ein zweitesBlatt mitBruchstücken von Zeilen.
Und nun halten Sie dieBruchstücke aneinander und urteilen Sie selbst, fügte er hinzu, als er sah, daß Dantes zu der letzten Zeile gelangt war.
Dantes gehorchte; aneinander gehalten, gaben diebeidenBruchstücke folgendes:
«Heute, den 25. April 1498, zum… Mittagessen eingeladen von Seiner Heiligkeit Alexander Vl. undbefürchtend, nicht zu… frieden damit, daß sie mich meinen Hutbezahlen ließ, wolle sie von mir erben undbe… reite mir das Schicksal der Kardinäle Caprara undBentivoglio, welche an Gift… starben, erkläre ich meinem Neffen Guido Spada, meinem Universalerben, daß ich vergr… aben habe, an einem Orte, den er kennt, weil er ihn mit mirbesucht hat, nämlich in… den Grotten der kleinen Insel Monte Christo, alles, was ich… an Goldstangen, gemünztem Golde, Edelsteinen, Diamanten, Juwelenbes… aß, daß das Vorhandensein dieses Schatzes, der sich auf zwei Mil… lionen röm. Talerbeläuft, mir alleinbekannt ist, und daß er ihn find… en wird, wenn er den zwanzigsten Stein von derBucht öst… lich angefangen weggehoben hat. Zwei Öffnungen sind in diesen Grotten… angebracht worden. Der Schatz liegt in der entfernt… esten Ecke der zweiten; und diesen Schatz vermache ich ihm und trete… ich ihm in das volle Eigentum ab, als meinem einzigen Erben.
25. Apr. 1498.
Cäsar Spada.«
Nun, begreifen Sie endlich? fragte Faria.
Ja, tausendmal ja. Wer hat es wieder so hergestellt?
Ich, der mit Hilfe des übriggebliebenenBruchstückes den Rest erriet, indem ich die Länge der Zeilen mit denen des Papiers maß und in den verborgenen Sinn mittels des dem Auge Sichtbaren eindrang.
Und was taten Sie, als Sie diese Überzeugung erlangt zu haben glaubten?
Ich wollte abreisen und reiste auch sogleich ab, wobei ich den Anfang meiner großen Arbeit über ein einiges Königreich Italien mit mir nahm; aber die kaiserliche Politik, die damals, im Widerspruch mit der früheren Absicht Napoleons, seitdem ihm ein Sohn geboren ward, die Teilung der Provinzen wollte, hatte seit langer Zeit die Augen auf mich gerichtet. Meine eilige Abreise, deren Ursache man nicht entfernt ahnte, erregte Verdacht, und ich wurde in dem Augenblicke, wo ich mich in Piombino einschiffte, verhaftet. Nun, mein Freund, fuhr Faria fort, indem er Dantes mit einembeinahe väterlichen Ausdrucke anschaute, nun wissen Sie soviel als ich. Wenn wir uns je miteinander flüchten, so gehört die Hälfte meines Schatzes Ihnen; sterbe ich hier und Sie fliehen allein, so gehört er Ihnen ganz.
Aber, fragte Dantes zögernd, ist in der Welt nicht irgend jemand, der mehr rechtlichen Anspruch auf diesen Schatz hätte, als wir?
Nein, nein, beruhigen Sie sich, die Familie ist völlig ausgestorben. Der letzte Graf von Spada hat mich überdies zu seinem Erben eingesetzt. Indem er mir dieses symbolischeBrevier vermachte, vermachte er mir auch, was es enthielt. Nein, nein, seien Sie unbesorgt! Wenn wir von diesem VermögenBesitz ergreifen, können wir es ohne Gewissensbisse genießen.
Und Sie sagen, dieser Schatzbelaufe sich…?
Auf zwei Millionen römische Taler, also ungefähr dreizehn Millionen Franken.
Unmöglich! rief Dantes, erschrocken über diese ungeheure Summe.
Unmöglich! Und warum? versetzte der Greis. Die Familie der Spada war eine der ältesten und mächtigsten Familien des fünfzehnten Jahrhunderts. Überdies sind in Zeiten, denen es gänzlich an Spekulation und Gewerbefleiß gebricht, solche Anhäufungen von Gold und Juwelen nicht selten; noch heutigen Tages gibt es römische Familien, welche fast Hungers sterben und gegen eine Million in Diamanten und Edelsteinenbesitzen, die sich durch Majorat vererbt haben und von ihnen nicht veräußert werden dürfen.
Edmond glaubte zu träumen: er schwebte zwischen Zweifel und Freude.
Ich habe die Sache nur so lange vor Ihnen geheim gehalten, fuhr Faria fort, einmal um Sie zu prüfen und dann um Sie zu überraschen. Wären wir vor meinem Starrsuchtsanfall geflohen, so hätte ich Sie nach Monte Christo geführt; nun aber, fügte er mit einem Seufzer hinzu, werden Sie mich führen. Wie, Dantes, Sie danken mir nicht?
Dieser Schatz gehört Ihnen, mein Freund, sagte Dantes; er gehört Ihnen allein, und ich habe kein Recht darauf; ichbin kein Verwandter von Ihnen.
Sie sind mein Sohn, Dantes, rief der Greis. Sie sind das Kind meiner Gefangenschaft. Mein Stand verurteilt mich zum Zölibat; Gott hat Sie mir geschickt, um zugleich den Mann, der nicht Vater, und den Gefangenen, der nicht frei sein konnte, zu trösten.
Faria streckte den Arm, der ihm noch ungelähmt geblieben war, nach Dantes aus, und dieser fiel ihm weinend um den Hals.
Der dritte Anfall
Nun, da dieser Schatz das zukünftige Glück dessen sichern konnte, den der Abbé wirklich wie seinen Sohn liebte, hatte er in seinen Augen einen doppelten Wert. Jeden Tag redete er davon und setzte Dantes auseinander, was ein Mensch in unseren Zeiten mit einem Vermögen von dreizehnbis vierzehn Millionen seinen Freunden Gutes tun könnte. Dann verfinsterte sich Dantes' Antlitz, denn sein Racheschwur trat vor sein Inneres, und erbedachte, wieviel Schlimmes in unseren Zeiten ein Mensch mit einem Vermögen von dreizehnbis vierzehn Millionen seinen Feinden zuzufügen vermöchte.
Der Abbé kannte die Insel Monte Christo nicht, aber Dantes kannte sie; er war oft an dieser Insel vorübergekommen, die 25 Meilen von Pianosa zwischen Korsika und der Insel Elba liegt, und einmal hatte er daselbst auch angehalten. Die Insel ist völlig öde; sie ist ein fast regelmäßiger Felskegel vulkanischen Ursprungs. Dantes entwarf Faria einen Plan der Insel, und Faria gabDantes Ratschläge über die Mittel, wie er den Schatz am sichersten auffinden könnte.
Aber Dantes warbei weitem nicht so enthusiastisch und vertrauensvoll wie der Greis. Allerdings hatte er sich nun überzeugt, daß Faria kein Verrückter war, und die Art, wie er die Entdeckung gemacht hatte, der zufolge man ihn für einen Wahnwitzigen hielt, vermehrte noch seineBewunderung für ihn. Er konnte jedoch nicht glauben, daß das vergrabene Gut, wenn überhaupt jemals, jetzt noch vorhanden sei.
In dieser Zeit traf diebeiden Unglücklichen ein neues Unglück. Die Galerie am Rande des Meeres, die seit langer Zeit einzustürzen drohte, war wieder aufgebaut worden; man hatte die Schichten wiederhergestellt und mit Felsblöcken das von Dantesbereits halbgefüllte Loch verstopft; ohne diese Vorsichtsmaßregel wäre ihr Unglück noch viel größer gewesen, denn man hätte ihren Entweichungsversuch entdeckt und sie unzweifelhaft getrennt.
Sie sehen, sagte Dantes mit sanfter Traurigkeit, daß mir Gott sogar das Verdienst dessen, was Sie meine Ergebenheit für Sie nennen, nehmen will. Ich habe Ihnen versprochen, ewigbei Ihnen zubleiben, und es steht mir nun nicht mehr frei, mein Versprechen zu halten. Ich werde den Schatz ebensowenig haben, wie Sie, denn weder ich noch Sie sollen von hier wegkommen. Übrigens mein wahrer Schatz, Freund, der mir unter den düsteren Mauern dieses Gefängnisses zu teil ward, ist Ihre Gegenwart, ist unser tägliches fünf‑bis sechsstündigesBeisammensein. Es sind die Verstandesstrahlen, die Sie in mein Gehirn ergossen, es sind die Sprachen, die Sie in meinen Geist gepflanzt haben, damit haben Sie mich reich und glücklich gemacht. Glauben Sie mir und trösten Sie sich; dies ist für mich mehr wert, als Tonnen Goldes und Kisten voll Diamanten. Sie so lange als möglichbei mir zu haben, Ihreberedte Stimme zu hören, meinen Geist zu schmücken, mein Gemüt zu stählen, mich zu Großem fähig zu machen für den Fall, daß ich je frei werde: das ist mein Vermögen, und jedenfalls kein eingebildetes, wie vielleicht Ihr Schatz; ich habe es wirklich von Ihnen erworben, und alle Fürsten der Erde vermöchten es mir nicht zu entreißen.
Die darauffolgenden Tage waren für die Leidensgenossen, wenn nicht gerade glückliche, so doch kurzweilige Tage. Faria, der so lange Zeit das tiefste Stillschweigen über den Schatzbeobachtet hatte, kam, wie gesagt, jetztbei jeder Gelegenheit darauf zu sprechen. Erblieb, wie er es vorhergesehen, am rechten Arme und am linkenBeine gelähmt und verlorbeinahe jede Hoffnung, jemals wieder davon Gebrauch machen zu können: aber er träumtebeständig für seinen jungen Gefährten entweder von einerBefreiung oder einer Entweichung, und er ergötzte sich dann daran für ihn. Aus Furcht, das Papier könnte eines Tages verloren gehen, nötigte er Dantes, die Aufschrift auswendig zu lernen. Zuweilen gingen ganze Stunden damit hin, daß Faria Dantes Lehren gab, die ihm am Tage seiner Freiheit ersprießlich sein konnten.
In einer Nacht erwachte Edmond plötzlich und glaubte seinen Namen gehört zu haben. Er öffnete die Augen und suchte die dichte Finsternis zu durchdringen. Sein Name oder vielmehr eine klagende Stimme, die sich mühte, seinen Namen auszusprechen, drang an seine Ohren. Er erhobsich angstvoll in seinemBette und horchte. Die Klagelaute kamen aus dem Kerker seines Gefährten.
Großer Gott! murmelte Dantes, sollte es…?
Und er rückte seinBett ab, zog den Stein heraus, eilte in den Gang und gelangte zu dem entgegengesetzten Ende; die Platte war aufgehoben. Bei dem Schimmer der flackernden Lampe, von der wir früher gesprochen haben, sah Edmond den Greisbleich, noch stehend und sich an dem Holze seinesBettes anklammernd. Seine Züge waren verstört durch die Dantesbereitsbekannten Symptome, die ihn so sehr erschreckt hatten, als er sie zum erstenmal wahrnahm.
Nun, mein Freund, sagte Faria gelassen, nicht wahr, Siebegreifen, und ichbrauche Ihnen nichts zu erklären?
Edmond stieß einen schmerzlichen Schrei aus, stürzte, völlig den Kopf verlierend, nach der Tür und rief um Hilfe.
Faria hatte noch die Kraft, ihn am Arme zurückzuhalten.
Still! sagte er, oder Sie sind verloren. Wir wollen nur an Sie denken, mein Freund, um Ihre Gefangenschaft erträglich oder Ihre Flucht möglich zu machen. Siebrauchten Jahre, um all das wiederherzustellen, was ich hier gefertigt habe und was auf der Stelle zerstört würde, wenn unsere Wächter von unserem Einverständnis Kenntnis erhielten. Seien Sie übrigens unbesorgt, mein Freund! Das Gefängnis, das ich verlasse, wird nicht lange leerbleiben; ein anderer Unglücklicher wird meinen Platz einnehmen. Diesem andern werden Sie wie ein rettender Engel erscheinen. Vielleicht ist er jung, stark und geduldig wie Sie und kann Sie in Ihrer Flucht unterstützen, während ich Sie hinderte. Sie werden nicht mehr einen halben Leichnam an sich gefesselt haben, der alle IhreBewegungen lähmte. Gott tut offenbar endlich etwas für Sie; er gibt Ihnen mehr, als er Ihnen nimmt, und es ist Zeit, daß ich sterbe.
Edmond vermochte nur die Hände zu falten und auszurufen: Oh! mein Freund, mein Freund, schweigen Sie!
Dann raffte er seinen gesunkenen Mut wieder zusammen und sagte: Oh! ich habe Siebereits einmal gerettet und werde Sie gewiß zum zweitenmale retten.
Er hobden Fuß desBettes auf und zog die von dem roten Saft noch halbvolle Flasche hervor.
Sehen Sie, es ist noch von dem rettenden Tranke übrig. Geschwind, sagen Sie mir, was habe ich zu tun?
Es ist keine Hoffnung mehr vorhanden, erwiderte Faria, den Kopf schüttelnd, doch gleichviel, Gott will, daß der Mensch, den er geschaffen hat und in dessen Herzen er die Liebe zum Leben so tiefe Wurzeln schlagen ließ, alles tue, was er vermag, um dieses zuweilen so peinliche, stets aber so teure Dasein zu erhalten.
Oh! ja! ja! rief Dantes, und ich werde Sie retten.
Wohl! versuchen Sie es, die Kälte übermannt mich, ich fühle, wie dasBlut meinem Gehirn zuströmt; der furchtbare Schauder, der meine Zähne klappern läßt und meine Knochen auseinanderzureißen scheint, beginnt an meinem Körper zu rütteln. In fünf Minuten wird das Übel ausbrechen, in einer Viertelstundebin ich eine Leiche.
Oh! rief Dantes, das Herz von Schmerzen zerrissen.
Sie machen es wie das erstemal, nur warten Sie nicht so lange! Alle Federn des Lebens sind schon mächtig abgenutzt, und der Tod, fuhr er, auf seine gelähmten Glieder deutend, fort, wird nur noch die halbe Arbeit haben. Sehen Sie, nachdem Sie mir zwölf Tropfen statt zehn eingeflößt, daß ich nicht zu mir komme, so flößen Sie mir den Rest ein. Nun tragen Sie mich auf meinBett, denn ich vermag nicht mehr zu stehen!
Edmond nahm den Greis in seine Arme und legte ihn auf seinBett.
Mein Freund, sagte Faria, einziger Trost meines elenden Lebens, den mir der Himmel ein wenig spät gegeben, aber dennoch gegeben, als ein unschätzbares Geschenk, wofür ich ihm danke! In dem Augenblick, wo wir uns für immer trennen, wünsche ich Ihnen alles Glück, alles Wohlergehen, das Sie verdienen. Mein Sohn, ich segne Sie.
Der junge Mann warf sich auf die Knie und stützte den Kopf an dasBett des Greises.
Hören Sie wohl, was ich Ihnen in diesem Augenblicke sage. Der Schatz der Spada ist vorhanden; Gott läßt vor meinen Augen alle Hindernisse schwinden. Ich sehe ihn im Hintergrund der zweiten Grotte, meine Augen durchdringen die Tiefen der Erde und sind geblendet von so vielen Reichtümern… Wenn Ihnen die Flucht gelingt, so erinnern Sie sich, daß der alte Abbé, den die ganze Welt für verrückt hielt, es nicht war. Eilen Sie nach Monte Christo, benutzen Sie unser Vermögen, Sie haben genug gelitten.
Eine heftige Erschütterung unterbrach den Greis. Dantes richtete den Kopf auf und sah, wie seine Augen rot unterliefen; es war, als stiege eineBlutwoge aus seinerBrust nach seiner Stirn auf.
Gottbefohlen, murmelte der Greis, indem er krampfhaft nach der Hand des jungen Mannes griff; Gottbefohlen!
Oh! noch nicht, noch nicht, rief Dantes. Oh, mein Gott, verlaß uns nicht, steh ihmbei…
Und mit einer letzten Anstrengung, wobei er alle seine Kräfte zusammenraffte, sich erhebend, stieß der Abbé seine letzten Worte hervor: Monte Christo! Vergessen Sie Monte Christo nicht!
Danach fiel er auf seinBett zurück.
Die Krise war furchtbar. Als Dantes glaubte, es sei Zeit, drückte er die Zähne auseinander, die weniger Widerstandboten, als das erstemal, zählte zwölf Tropfen und wartete; die Phiole enthielt ungefähr noch das Doppelte von dem, was er eingeflößt hatte. Er wartete zehn Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, nichts rührte sich. Zitternd, mit starrem Haar und von kaltem Schweißbedeckter Stirn zählte er die Sekunden an den Schlägen seines Herzens.
Er dachte, nun sei der Augenblick gekommen, um den letzten Versuch zu machen, und flößte ihm den ganzen Trank ein. Das Mittelbrachte eine galvanische Wirkung hervor, ein heftiges Zittern schüttelte die Glieder des Greises, seine Augen öffneten sich, er stieß einen Seufzer aus, der einem Schrei glich; dann kehrte derbebende Körper allmählich zur Unbeweglichkeit zurück; die Augen alleinblieben offen. Eine halbe Stunde, eine Stunde, anderthalbStunden vergingen. Während dieserbangen Zeit fühlte Edmond, wie nach und nach das immer dumpfere und schwächere Schlagen dieses Herzens erlosch. Endlich lebte nichts mehr, das letzteBeben des Herzens hörte auf, das Gesicht wurdebleifarbig, die Augenblieben offen, aber derBlick verglaste sich.
Es war sechs Uhr morgens, der Tag fing an zu grauen, und sein matter Strahl ließ das sterbende Licht der Lampe erbleichen. Seltsame Lichter zogen über das Antlitz des Leichnams hin und gaben ihm von Zeit zu Zeit einen Anschein von Leben. Solange dieser Streit zwischen Tag und Nacht währte, konnte Dantes noch zweifeln; aber sobald der Tag gesiegt hatte, begriff er, daß er mit einer Leiche allein war. Dabemächtigte sich seiner ein heftiger, unüberwindlicher Schrecken; er löschte die Lampe aus, verbarg sie sorgfältig und entfloh, indem er die Platte so gut als möglich wieder über seinem Haupte einzufügen suchte. Es war übrigens Zeit, denn der Kerkermeister kam unmittelbar nach ihm.
Dantes erfaßte nun eine unsägliche Ungeduld, zu erfahren, was in dem Kerker seines Freundes vorgehe. Er kehrte in den Gang zurück und kam zu rechter Zeit, um die Stimme des Schließers zu hören, der nach Hilfe rief. Bald traten die andern Schließer ein; dann vernahm man den schweren Tritt der Soldaten. Hinter den Soldaten kam der Gouverneur. Edmond hörte das Geräusch desBettes, auf dem man den Leichnam hin und herbewegte; er hörte, wie der GouverneurBefehl gab, ihm Wasser ins Gesicht zu spritzen, und als er sah, daß der Gefangenebei derBenetzung nicht zu sich kam, den Arzt holen ließ. Der Gouverneur entfernte sich, und einige Worte des Mitleids, mit spöttischem Lachen vermischt, drangen zu dem Ohre des Lauschers.
Seht ihr, sagte der eine, der Narr hat sich zu seinen Schätzenbegeben; glückliche Reise!
Mit allen seinen Millionen wird er nicht einmal ein Leintuchbezahlen können, sagte der andere.
Oh! versetzte ein dritter, die Leintücher vom Kastell If kosten nicht viel.
Vielleicht wird man einigen Aufwand für ihn machen, sagte der, welcher zuerst gesprochen hatte. Es wird ihm vielleicht die Ehre des Sackes zuteil werden.
Bald erloschen die Stimmen, und es kam Edmond vor, als obdie Leute die Zelle verließen. Er wagte es jedoch nicht, hineinzugehen, denn man konnte einen Schließer zurBewachung des Toten zurückgelassen haben. Nach Verlauf einer Stundebelebte sich die Stille durch ein Geräusch, dasbald zunahm. Es war der Gouverneur, der, vom Arzte und mehreren Offizierenbegleitet, zurückkehrte. Es wurde wieder einen Augenblick still; der Arzt näherte sich offenbar demBette und untersuchte den Leichnam. Baldbegannen die Fragen. Der Arzt schilderte das Leiden, dem der Kranke unterlegen war, und erklärte ihn für tot. Fragen und Antworten wurden mit einer Gleichgültigkeit gemacht, die Dantes empörte. Es schien ihm, als müßte die ganze Welt für den armen Abbé einen Teil der Zuneigung fühlen, die er für ihn hegte.
Was Sie da sagen, tut mir leid, sagte der Gouverneur in Erwiderung auf die Todeserklärung. Er war ein sanfter, harmloser und durch seine Narrheitbelustigender Gefangener. Nicht wahr, Sie haben sich nie über ihn zubeklagen gehabt? fragte er den Schließer, der dem Abbé die Lebensmittel zubringenbeauftragt gewesen war.
Nie, Herr Gouverneur, antwortete dieser, nie, gar nie; ich habe ihm immer gern zugehört, wenn er mir früher Geschichten erzählte; als meine Frau krank war, hat er mir sogar ein Rezept gegeben, das sie heilte.
Ah! ah! rief der Arzt, ich wußte nicht, daß ich es mit einem Kollegen zu tun hatte. Ich hoffe, Herr Gouverneur, fügte er lachend hinzu, Sie werden ihn standesgemäßbestatten.
Ja, ja, seien Sie unbesorgt; er soll anständig in dem neuesten Sack, den man finden kann, begraben werden.
Neues Kommen und Gehen ließ sich vernehmen; einen Augenblick nachher drang ein Geräusch wie von Leinwand, die aneinander gerieben wird, an Dantes' Ohr, dasBett krachte auf seinen Federn, ein schwerer Tritt, wie der eines Mannes, der eine Last aufhebt, drückte auf die Platte, dann krachte dasBett abermals unter der Last, die man ihm zurückgab.
Heute abend, sagte der Gouverneur, als man damit zu Ende war.
Soll manbei dem Toten wachen? fragte der Schließer.
Warum? Man schließt den Kerker, als ober lebte.
Hierauf entfernten sich die Tritte, die Stimmen wurden schwächer, das Geräusch der Tür mit ihrem knarrenden Schlosse und ihren ächzenden Riegeln ließ sich vernehmen. Ein Stillschweigen, düsterer als das der Einsamkeit, ergriff alles, selbst die erstarrte Seele des jungen Mannes. Dann hober sacht die Platte mit seinem Kopfe auf und warf einen forschendenBlick in die Zelle; sie war leer.
Der Friedhof des Kastells If
Auf demBett sah man einen Sack von grober Leinwand, unter dessen verworrenen Falten sich eine lange, steife Gestalt hervorhob. Somit war alles vorbei; Dantes konnte diese Augen nicht mehr sehen, die offen geblieben waren, als wollten sie über den Tod hinaus schauen; er konnte diese fleißige Hand nicht mehr drücken, die für ihn den Schleier verborgener Dinge gelüftet hatte. Faria, der gute, der hilfreiche Gefährte, an den er sich so innig angeschlossen hatte, war nur noch in seiner Erinnerung vorhanden. Da setzte er sich an den Kopf desBettes und versank in düstere, bittere Schwermut.
Allein! Er war wieder allein! Nicht einmal mehr der Anblick, nicht einmal mehr die Stimme des einzigen menschlichen Wesens, durch das er noch mit der Erde zusammenhing, war ihm, als einziger Trost, geblieben!
Wenn ich sterben könnte, sagte er, so ginge ich, wohin er geht, und würde ihn sicherlich finden. Aber wie sterben? Das ist sehr leicht, fuhr er spöttisch lachend fort. Ichbleibe hier, werfe mich auf den ersten, der eintritt, erdrossele ihn, und man guillotiniert mich.
Aber dabei den großen Schmerzen, wiebei den schweren Stürmen, der Abgrund sich zwischen zwei Wellengipfeln findet, schrak Dantes vor dem Gedanken an diesen entehrenden Tod zurück und ging plötzlich von seiner Verzweiflung zu einem glühenden Durst nach Leben und Freiheit über.
Sterben! Oh nein! Es lohnt sich nicht der Mühe, so viel gelebt, so viel gelitten zu haben, um jetzt zu sterben. Sterben, das war gut, als ich den Entschluß dazu faßte, früher, vor Jahren; doch nun hieße es wahrlich, mein elendes Geschick noch elender machen. Nein, ich will leben, ich willbis zum Ende kämpfen; ich will das Glück, das man mir gestohlen hat, wieder erringen. Ich vergaß, daß ich, ehe ich sterbe, meine Henker zubestrafen und, wer weiß, vielleicht auch einige Freunde zubelohnen habe; aber nun vergißt man mich hier, und ich werde meinen Kerker nur wie Faria verlassen.
Bei diesem WortebliebDantes unbeweglich, die Augen starr, wie ein Mensch, der von einem Gedanken erfaßt wird. Plötzlich stand er auf, fuhr mit der Hand nach der Stirn, als ober den Schwindel hätte, ging einigemal in der Zelle auf und abundbliebdann wieder vor demBette stehen. Als wollte er seinem Geiste keine Zeit lassen, den verzweifelten Gedanken, der ihn gepackt hatte, zu zerstören, neigte er sich über den häßlichen Sack, öffnete ihn mit dem Messer, das Faria gemacht hatte, zog den Leichnam heraus, trug ihn in seine Zelle, legte ihn auf seinBett, umwickelte den Kopf mit dem linnenen Fetzen, dessen er sich gewöhnlichbediente, bedeckte ihn mit seiner Decke, küßte zum letztenmale die eisige Stirn und drehte den Kopf gegen die Wand, damit der Schließer, wenn er das Abendbrotbrächte, glaube, er sei schlafen gegangen, wie er es oft getan hatte. Dann kehrte er in den Gang zurück, zog dasBett an die Wand, ging in das andere Zimmer, holte aus dem Schranke Nadel und Faden, warf seine Lumpen ab, damit man unter der Leinwand das nackte Fleisch fühle, schlüpfte in den ausgeleerten Sack, brachte sich in die Lage, die der Leichnam gehabt hatte, und schloß die Naht wieder von innen. Wäre jemand unglücklicherweise in diesem Augenblick eingetreten, so hätte er sein Herz schlagen hören können.
Dantes würde vielleichtbis nach dem Abendbesuche gewartet haben, aber er fürchtete, der Gouverneur möchtebis dahin seinen Entschluß ändern, und man könnte den Leichnam wegnehmen. Dann war seine letzte Hoffnung verloren. In jedem Falle war sein Plan nun festgestellt: Erkannten die Totengräber unterwegs, daß sie einen Lebendigen statt eines Toten trugen, so ließ ihnen Dantes keine Zeit, sich zubesinnen; mit einem kräftigen Messerschnitte öffnete er den Sack von obenbis unten, benutzte ihren Schrecken und entfloh; wollten sie ihn festnehmen, so wehrte er sich mit seinem Messer. Brachten sie ihnbis auf den Friedhof und legten ihn in ein Grab, so ließ er sich mit Erdebedecken; sobald hernach die Totengräber den Rücken gewendet hatten, machte er sich durch die weiche Erde Raum und entfloh. Er hoffte, das Gewicht der Erde würde nicht so groß sein, daß er sie nicht aufheben könnte. Täuschte er sich, war die Erde zu schwer und wurde er dadurch erstickt: destobesser, so war alles vorbei.
Dantes hatte seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen; am Morgen hatte er nicht an den Hunger gedacht, und er dachte auch jetzt noch nicht daran. Die erste große Gefahr, die ihm jedoch drohte, war, daß der Schließer, wenn er um sieben Uhr sein Abendbrotbrachte, die Verwechslung wahrnahm. Zum Glück hatte Dantes aus menschenfeindlicher Laune oder aus Müdigkeit sehr oft imBette gelegen, wenn der Schließer kam, und dann setzte dieser gewöhnlich dasBrot und die Suppe auf den Tisch und entfernte sich, ohne mit ihm zu sprechen. Aber diesmal konnte der Schließer gegen seine Gewohnheit mit Dantes sprechen wollen, und wenn er sah, daß dieser ihm nicht antwortete, sich demBette nähern und alles entdecken.
Als sieben Uhr abends herannahte, packte ihn wirklich die Angst. An das Herz gedrückt, suchte die eine Hand dessen Schläge zurückzudrängen, während die andre den Schweiß abwischte, der an den Schläfen herabrieselte; zuweilen durchlief ein Schauer seinen ganzen Körper und preßte ihm das Herz wie in einem eisernen Schraubstock zusammen. Dann glaubte er, er müsse sterben. Aber die Stunden verrannen, ohne eineBewegung im Kastell herbeizuführen, und Dantes erkannte, daß er dieser ersten Gefahr entgangen war. Das galt ihm als gutes Vorzeichen. Zu der vom Gouverneurbestimmten Stunde ließen sich endlich Tritte auf der Treppe hören. Edmond sah, daß der Augenblick gekommen war, raffte seinen ganzen Mut zusammen und hielt den Atem an sich… und wünschte nur, zugleich auch die hastigen Pulsschläge seiner Arterien zurückhalten zu können.
An der Tür machte der doppelte Tritt Halt, und Dantes sagte sich, daß es diebeiden Totengräber waren, die ihn holen sollten. Diese Mutmaßung verwandelte sich in Gewißheit, als er das Geräusch hörte, das siebeim Niederstellen der Tragbahre machten. Die Tür öffnete sich, ein verschleiertes Licht drang zu Dantes' Augen; durch die Leinwand, die ihnbedeckte, sah er, wie sich zwei Schatten seinemBette näherten. Ein dritterblieb, eine Stocklaterne in der Hand haltend, an der Tür. Jeder von denbeiden Männern, die sich demBett genähert hatten, faßte den Sack an einem Ende.
Der ist schwer genug für einen so magern Alten, sagte der eine, indem er ihnbeim Kopfe aufhob.
Man sagt, jedes Jahr werden die Knochen ein halbPfund schwerer, sagte der andre und faßte ihnbei den Füßen.
Hast du deinen Knoten gemacht? fragte der erste.
Es wäre dumm, wenn wir uns eine unnütze Last aufladen wollten, erwiderte der zweite, ich werde ihn unten machen.
Du hast recht, vorwärts!
Warum einen Knoten? fragte sich Dantes.
Man legte den vermeintlichen Toten vomBett auf die Tragbahre; Edmond machte sich steif, um die Rolle des Hingeschiedenenbesser zu spielen, undbeleuchtet von dem Manne mit der Stocklaterne, der vorausging, marschierte der Zug die Treppe hinab. Plötzlich überströmte Edmond die frische, scharfe Nachtluft, an der er den herrschenden Mistral (Nordwestwind im Mittelländischen Meere) erkannte. Die Träger machten ungefähr zwanzig Schritte, dannblieben sie still stehen und setzten die Tragbahre auf die Erde. Einer von ihnen entfernte sich, und Dantes hörte seine Schuhe auf den Platten dröhnen.
Wobin ich denn? fragte er sich.
Weißt du, daß er gar nicht leicht ist? sagte der, welcherbei Dantes geblieben war, und setzte sich auf den Rand der Tragbahre.
Dantes' erster Gedanke war, sich freizumachen; zum Glück hielt er an sich.
Leuchte mir doch, sagte der eine Träger, oder ich kann's nicht finden.
Der Mann mit der Stocklaterne gehorchte diesemBefehle.
Was sucht er denn? fragte sich Dantes. Vermutlich einen Spaten.
Ein Ausruf der Zufriedenheit deutete an, daß der Totengräber gefunden hatte, was er suchte.
Endlich, sagte der andre, das kostete Mühe.
Ja, aber er wirdbeim Warten nichts verloren haben.
Bei diesen Worten näherte er sich Edmond, der einen schweren schallenden Körper neben sich niederlegen hörte; zu gleicher Zeit umgabein Strick mit schmerzhaftem Drucke seine Füße.
Nun, ist der Knoten gemacht?
Und zwar gut gemacht, dafür steh' ich dir.
Und die Tragbahre wurde wieder aufgehoben und fortgeschleppt. Man machte ungefähr fünfzig Schritte, bliebabermals stehen, um eine Tür zu öffnen, und setzte sich dann wieder in Marsch; das Tosen der Wellen, die sich an den Felsenbrachen, woraus das Kastell gebaut ist, schlug immer deutlicher an Dantes' Ohr, je mehr man vorrückte.
Schlimmes Wetter! sagte einer von den Trägern, es wird heute nacht nicht gut in der See sein.
Ja, der Abbé läuft große Gefahr, naß zu werden, sagte der andre, und siebrachen in ein schallendes Gelächter aus.
Dantes verstand den Scherz nicht, aber seine Haare sträubten sich.
Gut! wir sind an Ort und Stelle, sagte der erste.
Weiter, weiter, rief der andere; du weißt noch, daß der letzte unterwegs an den Felsen zerschellt ist, und daß uns der Gouverneur am andern Tage gelaust hat.
Es ging noch fünfbis sechs Schrittebergan; dann fühlte Dantes, daß man ihnbeim Kopfe undbei den Füßen nahm und schaukelte.
Eins! sprachen die Totengräber, zwei! drei!
Zu gleicher Zeit fühlte sich Dantes wirklich in den ungeheuren leeren Raum geschleudert; er durchschnitt die Luft wie ein verwundeter Vogel und fiel immer tiefer mit einem Schrecken, der ihm das Herz starr machte. Obgleich sein rascher Flug noch durch irgend eine ziehende Gewaltbeschleunigt wurde, kam es ihm doch vor, als währte sein Sturz ein Jahrhundert. Endlich schoß er mit einem furchtbaren Getöse wie ein Pfeil in das kalte Wasser, das ihm einen, in demselben Augenblick durch die über ihm zusammenschlagenden Wellen unterdrückten Schrei auspreßte.
Dantes war ins Meer geschleudert worden, in dessen Tiefe ihn eine an seine Füße gebundene Kugel von 36 Pfund hinabzog, denn das Meer ist der Friedhof des Kastells If.
Die Insel Tiboulen
Betäubt, fast erstickt, hatte Dantes noch die Geistesgegenwart, seinen Atem zurückzuhalten, und da seine rechte Hand, für alle Fällebereit, sein Messer geöffnet hielt, so schlitzte er rasch den Sack auf und streckte zuerst den Arm und dann den Kopf heraus. Nun aber fühlte er sich, trotz seinerBemühungen, die Kugel aufzuheben, fortwährend hinabgezogen. Dabückte er sich, suchte den Strick, der seineBeine zusammenhielt und durchschnitt diesen mit äußerster Anstrengung gerade in dem Augenblick, wo er zu ersticken drohte. Hierauf stieg er mittels eines kräftigen Fußstoßes auf die Oberfläche des Meeres, während die Kugel in unbekannte Tiefen das grobe Gewebe hinabzog, das ihm zum Leichentuche hatte dienen sollen. Dantes nahm sich nur Zeit, Atem zu holen, und tauchte zum zweiten Male unter, denn es mußte seine erste Vorsichtsmaßregel sein, spähendenBlicken zu entgehen.
Als er zum zweiten Male erschien, war erbereits wenigstens fünfzig Schritte von dem Orte seines Sturzes entfernt; er sah über seinem Haupte einen schwarzen stürmischen Himmel, an dessen Oberfläche der Wind eilige Wolken hinpeitschte, während zuweilen ein sternbesätes Stück Himmel sichtbar wurde. Vor ihm dehnte sich die düstere, tosende Fläche aus, deren Wogen wiebeim Herannahen eines Sturmes zubrodeln anfingen, während hinter ihm, einem drohenden Gespenste ähnlich, der Granitriese sich erhob, dessen Spitze wie ein Arm anzuschauen war, der sich ausstreckte, seineBeute wiederzufassen. Auf dem höchsten Felsen erblickte er eine Stocklaterne, die zwei Schattenbeleuchtete. Es kam ihm vor, als neigten sich diese Schatten unruhig zum Meere herab. Die Totengräber mußten wirklich den Schrei gehört haben, den er ausgestoßen hatte. Er tauchte abermals unter und legte eine ziemlich lange Strecke unterm Wasser zurück.
Als er wieder auf die Oberfläche kam, war die Laterne verschwunden. Er mußte sich orientieren. Von den Inseln, die das Schloß If umgeben, liegen Ratonneau und Pomègue am nächsten; aber sie sindbewohnt. Die sichersten Inseln waren daher die unbewohnten, Tiboulen oder Lemaire, die jedoch eine starke Stunde vom Kastell If entfernt sind. Dantesbeschloß nichtsdestoweniger, eine von diesenbeiden Inseln zu erreichen. Aber wie sie mitten in der Nacht finden? In diesem Augenblick erblickte er das Feuer des Leuchtturms von Planir. Wenn er gerade auf diesen Leuchtturm zuhielt, ließ er die Insel Tiboulen etwas links; er mußte also die Insel auf seinem Wege finden. Freilichbetrug die Entfernung mindestens eine Meile, aber Dantes fand zu seiner Freude, daß ihm seine gezwungene Untätigkeit nichts von seiner Kraft undBehendigkeit genommen, und er fühlte, daß er noch Herr des Elementes war, in dem er sich schon als kleines Kind getummelt hatte. Die Furcht verdoppelte überdies seine Kräfte. So oft er sich auf der Spitze einer Woge erhob, umfaßte sein rascherBlick den sichtbaren Horizont und suchte in die dichte Finsternis zu tauchen. Es verging eine Stunde, während deren Dantes, vom Gefühl der Freiheitbegeistert, die Wellen in der gewählten Richtung zu durchschneiden fortfuhr.
Nun schwimme ichbald eine Stunde, sagte er zu sich selbst; doch da mir der Wind entgegenbläst, muß ich eine Viertelstunde zugeben. Ich kann indessen, wenn ich mich nicht in der Richtung getäuscht habe, jetzt nicht mehr fern von der Insel Tiboulen sein. Wenn ich mich aber getäuscht hätte?
Ein Schauer durchlief den Körper des Schwimmers. Er suchte sich einen Augenblick auf den Rücken zu legen, um auszuruhen, aber das Meer wurde immer heftiger, und er sah, daß dieses Erleichterungsmittel, auf das er gerechnet hatte, unmöglich war.
Nun gut! sagte er, ich werdebis ans Ende aushalten, bis meine Arme nachlassen und meineBeine erstarren; dann sinke ich auf den Grund.
Und er schwamm wieder mit der Kraft und dem Antriebe der Verzweiflung. Plötzlich kam es ihm vor, als obderbereits dunkle Himmel sich noch mehr verdüsterte, und als obeine dichte, schwere, gedrängte Wolke sich auf ihn herabsenkte. Zu gleicher Zeit fühlte er einen heftigen Schmerz am Knie, er streckte die Hand aus undberührte die Erde. Nun sah er, was der Gegenstand war, den er für eine Wolke gehalten hatte. Zwanzig Schritte vor ihm stieg eine Felsenmasse empor, es war die Insel Tiboulen.
Dantes fühlte Land unter seinen Füßen, er machte ein paar Schritte vorwärts und streckte sich mit unsäglichem Dank gegen Gott auf den Granitkanten aus, die ihm zu dieser Stunde weicher schienen, als ihm je das weichsteBett vorgekommen war. Dann entschlummerte er, trotz des Windes, trotz des Sturmes, trotz desbeginnenden Regens, völlig erschöpft durch die Anstrengung, und versank in den köstlichen Schlaf eines Menschen, dessen Körper erstarrt, dessen Seele aber imBewußtsein eines unerwarteten Glückes fortglüht. Nach einer Stunde erwachte Edmond wieder unter dem ungeheuren Krachen des Donners; der Sturm war entfesselt und peitschte die Luft mit seinem geräuschvollen Flügelschlage. Dantes hatte sich mit seinem Seemannsblicke nicht getäuscht; er war wirklich auf der Insel Tiboulen gelandet; er wußte aber auch, daß sie kahl und öde war und nicht den geringsten Zufluchtsortbot. NachBeendigung des Sturmes wollte er sich daher wieder in die See werfen und nach der zwar ebenfalls unfruchtbaren, aber viel größeren und deshalbgastlicheren Insel Lemaire schwimmen. Ein überhängender Felsbot ihm augenblicklichen Schutz: er flüchtete sich darunter, undbeinahe gleichzeitigbrach der Sturm in seiner ganzen Wut los. Edmond fühlte, wie der Fels zitterte, der ihnbeschirmte; am Fuße der riesigen Pyramide sichbrechend, sprangen die Wellenbis zu ihm herauf. Obgleich in Sicherheit, wurde erbei dem furchtbaren Tosen und denblendendenBlitzen von einer Art Schwindel ergriffen; nun erinnerte er sich auch, daß er seit 24 Stunden nichts gegessen, er hatte Hunger, er hatte Durst. Er streckte daher die Hände und den Kopf aus und trank das Wasser des Sturmes aus der Höhlung des Felsen.
Als er sich erhob, beleuchtete einBlitz den weiten Raum. Bei dessen Schimmer sah Dantes zwischen der Insel Lemaire und dem Cap Croiselle, eine Viertelstunde entfernt, ein kleines Fischerfahrzeug erscheinen, das zugleich vom Sturme und der Woge fortgerissen wurde. Eine Sekunde nachher erschien das Schiff, mit furchtbarer Geschwindigkeit sich nähernd, auf dem Gipfel einer zweiten Welle. Gleichzeitig vernahm er ein furchtbares Krachen, und Todesgeschrei erreichte sein Ohr. Dann versank alles in Nacht. Nach und nach legte sich der Wind, der Himmel wälzte gegen Westen große graue Wolken; die dunkle Himmelsbläue erschien wieder mit Sternen, die heller funkelten als je; bald zeigte gegen Osten ein langer rötlicher Streifen am Horizont das Nahen des Morgens.
Dantesbliebunbeweglich und stumm vor diesem großen Schauspiel, als erblickte er es zum ersten Male — er hatte es in der Tat seit der Zeit, daß er im Kastell If war, nicht wieder gesehen. Es mochte ungefähr fünf Uhr sein, und das Meerberuhigte sich immer mehr. In zweibis drei Stunden, sagte Edmond zu sich selbst, wird der Schließer in mein Zimmer kommen, den Leichnam meines armen Freundes finden, ihn erkennen, mich vergebens suchen und Lärm machen. Dann wird man das Loch in der Wand finden; man wird die Menschenbefragen, die mich ins Meer schleuderten und die den Schrei, den ich ausstieß, hören mußten. Sobald dieBarken mitbewaffneten Soldaten gefüllt sind, werden sie dem unglücklichen Flüchtling nachsetzen, da man wohl weiß, daß er nicht fern sein kann. Die Kanone wird der ganzen Küste Nachricht geben, daß man einem Menschen, der nackt und ausgehungert umherirrt, keine Zufluchtsstätte geben soll. Was soll dann aus mir werden? Ich hungere, ich friere, ich habe alles, selbst das rettende Messer, das mir im Schwimmen hinderlich war, weggeworfen; ichbin der Gnade des nächstenBauern preisgegeben, der durch meine Auslieferung zwanzig Franken verdienen möchte; ichbesitze weder Kraft, noch einen Gedanken, noch Entschlossenheit mehr.
In dem Augenblick, wo Edmond in völliger geistiger wie körperlicher Erschöpfung seinenBlick angstvoll dem Schlosse If zuwendete, sah er an der Spitze der Insel Pomègue ein lateinisches Segel vom Horizont sich abheben und ein kleines Fahrzeug erscheinen, in dem nur das Auge eines Seemanns eine genuesische Tartane auf der noch dunkeln Linie des Meeres zu erkennen vermochte. Sie kam aus dem Marseiller Hafen und gewann das offene Meer.
Oh! rief Edmond, wenn ichbedenke, daß ich in einer halben Stunde dieses Schiff erreichen könnte, befürchtete ich nicht, als Flüchtling erkannt und nach Marseille zurückgeführt zu werden! Was soll ich tun? Was soll ich sagen? Welche Fabel soll ich erfinden, mit der ich Glauben fände? Meist sind das Schleichhändler, halbe Piraten. Unter dem Vorwande der Küstenschiffahrt treiben sie Seeräuberei; sie werden mich lieber verkaufen als eine für sie nutzlose, wenn auch gute Handlung ausführen. Ich will warten… Doch das Warten ist etwas Unmögliches; ich sterbe vor Hunger, in ein paar Stunden wird das Wenige, was mir von Kraft übrig geblieben ist, vollends verschwunden sein. Überdies naht die Stunde desBesuchs, man hat noch nicht Lärm gemacht. Vielleicht haben die Leute keinen Argwohn; ich kann mich für einen von den Matrosen des kleinen Schiffes ausgeben, das in der Nacht gescheitert ist. Das klingt nicht unwahrscheinlich; keiner wird zurückkehren, um mir zu widersprechen, denn das Meer hat sie alle verschlungen.
Während Dantes diese Worte sprach, wandte er die Augen nach der Stelle, wo das kleine Schiff zerschellt war, und erbebte. Am Rande eines Felsens war die phrygische Mütze eines der schiffbrüchigen Matrosen hängen geblieben, und nahe dabei schwammen einige Trümmer des Kiels, trägeBalken, die das Meer an den Fuß der Insel warf. Dantes' Entschluß war auf der Stelle gefaßt, erbedeckte sich den Kopf mit der Mütze, warf sich in die See, ergriff einen von denBalken und wandte sich, um in die Fahrtlinie des Schiffes zu gelangen.
Nunbin ich gerettet, murmelte er.
Indessen näherten sich Schiff und Schwimmer einander unmerklich. Da erhobsich Dantes aus den Wellen undbewegte seine Mütze als Notzeichen, aber niemandbemerkte ihn auf dem Schiffe. Er wollte rufen, erkannte jedoch, als er mit dem Auge die Entfernung maß, daß seine Stimme nichtbis zum Schiffe gelangen konnte. Er wünschte sich nun Glück, daß er so vorsichtig gewesen war, sich auf einemBalken auszustrecken. Geschwächt, wie er war, hätte er sich vielleicht nicht auf dem Meere halten können, bis er die Tartane erreicht hatte; und fuhr die Tartane vorüber, ohne ihn zu sehen, so wäre er nicht im stande gewesen, die Küste zu gewinnen. Obgleich des Wegesbeinahe gewiß, den das Schiff verfolgte, begleitete es Dantes doch angstvoll mit seinen Augenbis zu der Minute, wo es nur noch einige hundert Meter entfernt war. Sogleich erhober sich nun mit äußerster Anstrengung, daß erbeinahe auf dem Wasser stand, bewegte seine Mütze in der Luft und schrie laut um Hilfe.
Diesmal hörte und sah man ihn. Die Tartane unterbrach ihren Lauf und drehte nach seiner Seite; zu gleicher Zeitbemerkte er, daß man eine Schaluppe ins Meer ließ. Einen Augenblick nachher steuerte die Schaluppe, mit zwei Matrosenbemannt, auf ihn zu. Dantes ließ nun denBalken los, dessen er nicht mehr zubedürfen glaubte, und schwamm kräftig, um denen, die ihm entgegenkamen, den halben Weg zu ersparen. Der Schwimmer hatte indessen seinen Kräften zuviel zugemutet, seine Arme fingen an, steif zu werden, seineBeine hatten ihreBiegsamkeit verloren, seineBewegungen wurden hart, seineBrust keuchte. Er stieß einen zweiten Schrei aus, die Ruderer verdoppelten ihre Tätigkeit, und einer von ihnen rief ihm italienisch» Mut!«zu. Das Wort drang in dem Augenblick zu ihm, als eine Woge, die er zu überwältigen nicht mehr Kraft hatte, über seinen Kopf hinging und ihn mit Schaumbedeckte.
Er erschien wieder, stieß einen dritten Schrei aus und fühlte, wie er untersank, als hätte er noch die tödliche Kugel am Fuße. Das Wasser ging über seinen Kopf, und durch die Wellen sah er denbleifarbigen Himmel mit schwarzen Flecken. Ein gewaltiger Ruckbrachte ihn auf die Oberfläche zurück. Es kam ihm vor, als obman ihnbei den Haaren faßte, dann sah und hörte er nichts mehr; er war ohnmächtig. Als er die Augen wieder öffnete, lag er auf dem Verdeck der Tartane Amalie, die ihren Weg fortsetzte. Er achtete vor allem auf die Richtung, die sie verfolgte; man entfernte sich immer mehr vom Schlosse If.
Dantes war so erschöpft, daß der Ausruf der Freude, den er von sich gab, für einen Schmerzensseufzer gehalten wurde; ein Matrose riebihm die Glieder mit einer wollenen Decke; ein anderer schobihm die Mündung einer Kürbisflasche durch die Lippen; ein dritter, ein alter Seemann, der zugleich der Patron war, schaute ihn mitleidig an. Einige Tropfen Rum aus der Flaschebelebten den geschwächten Magen des jungen Mannes, während die Reibungen, die der vor ihm knieende Matrose mit der Wolldecke an seinem Körper fortsetzte, seinen Gliedern wieder Geschmeidigkeit verliehen.
Wer seid Ihr? fragte in schlechtem Französisch der Patron.
Ichbin ein maltesischer Matrose, antwortete Dantes in schlechtem Italienisch; wir kommen von Syrakus und hatten Wein geladen. Der Sturm heute nacht überfiel unsbei Kap Morgiou, und wir scheiterten an den Felsen, die ihr dort seht; ich klammerte mich glücklicherweise daran an, während sich unser armer Kapitän den Kopf zerschellte. Ichbin, glaube ich, allein am Leben geblieben; ich sah euer Schiff, befürchtete, zu lange auf der einsamen Insel warten zu müssen, und suchte auf einem Trümmerstück unseres Fahrzeuges zu euch zu gelangen. Ich denke, daß ihr mir das Leben gerettet habt; ich wäre verloren gewesen, wenn mich nicht einer von euchbei den Haaren gefaßt hätte.
Das war ich, sagte ein Matrose mit treuherzigem, von einem langen schwarzenBarte umrahmten Gesichte, und es war Zeit, denn Ihr sankt unter.
Ja, sagte Dantes, ihm die Hand reichend, ja, mein Freund, und ich danke Euch zum zweitenmale.
Meiner Treu! versetzte der Matrose, ich zögerte fast; mit Eurem sechs Zoll langenBarte und Euren fußlangen Haaren sahet Ihr eher aus wie ein Räuber, als wie ein ehrlicher Mann.
Dantes erinnerte sich nunmehr, daß er sich seit seinem Aufenthalt im Schlosse If weder die Haare geschnitten noch rasiert hatte.
Ja, sagte er, ich habe in einem Augenblick der Gefahr der heiligen Jungfrau ein Gelübde getan, mir zehn Jahre lang weder die Haare noch denBart zu schneiden.
Was sollen wir nun mit Euch machen? fragte der Patron.
Ach! was Ihr wollt. Die Feluke, zu der ich gehörte, ist verloren, der Kapitän ist tot. Ichbin demselben Schicksale entgangen, aber wie Ihr seht, völlig nackt. Zum Glück versteh' ich das Schifferhandwerk. Setzt mich im nächstenbesten Hafen ab, wo Ihr vor Anker geht, und ich werde auf einem HandelsschiffeBeschäftigung finden.
Ihr kennt das mittelländische Meer?
Ich fahre darauf seit meiner Kindheit.
Ihr wißt, wo gute Ankerplätze zu finden sind?
Es gibt wenige Häfen, selbst unter den schwierigsten, wo ich nicht mit geschlossenen Augen aus- und einfahren könnte.
Sagt, Patron, sagte der Matrose, der Dantes Mut zugerufen hatte, warum soll der Kamerad nichtbei unsbleiben, wenn er die Wahrheit spricht?
Ja, wenn er die Wahrheit spricht, erwiderte der Patron mit einer Miene des Zweifels; aber in dem Zustande, in dem sich der arme Teufelbefindet, verspricht man viel und hält dann eben gerade, was man kann.
Ich werde mehr halten, als ich versprochen habe.
Oh! oh! rief der Patron lachend, wir werden sehen.
Wann Ihr wollt, sagte Dantes aufstehend. Wohin fahrt Ihr?
Nach Livorno.
Warum preßt Ihr nicht, statt Schläge zu tun, wobei Ihr eine kostbare Zeit verliert, ganz einfach den Wind so fest als möglich?
Weil wir gerade auf die Insel Rion zulaufen würden.
Ihr kommt auf mehr als zwanzig Faden daran vorbei.
So nehmt das Steuerruder, sagte der Patron, und wir werdenbald sehen, was Ihr versteht.
Der junge Mann setzte sich an das Steuerruder, überzeugte sich durch einen leichten Druck, daß das Schiff gehorsam war, und rief: An dieBrassen undBoleinen.
Die vier Matrosen, welche die Mannschaftbildeten, liefen an ihre Posten, während ihnen der Patron zuschaute.
Holt an! fuhr Dantes fort.
DieserBefehl wurde ausgeführt, und statt mit Schlägen fortzulaufen, rückte das kleine Schiff gegen die Insel Rion vor, an der es, wie Dantes vorhergesagt hatte, vorüberkam, indem es dieselbe zwanzig Faden vom Steuerbord ließ.
Bravo! riefen der Kapitän und die Matrosen.
Und alle schauten verwundert diesen Mann an, dessenBlick wieder eine Energie und dessen Körper wieder eine Kraft erfüllte, die keiner in ihnen vermutet hatte.
Ihr seht, sagte Dantes, das Steuerruder loslassend, daß ich Euch auf der Fahrt wenigstens zu etwas nütze sein könnte; wollt Ihr mich in Livorno nichtbehalten, nun, so laßt Ihr mich dort, und von meinen ersten Monaten Sold entschädige ich Euch für meine Kostbis dahin und für die Kleider, die Ihr mir leiht.
Gut! gut! versetzte der Patron. Die Sache läßt sich machen, wenn Ihr nicht zu viel verlangt; doch nun, Jacopo, gebt dem Manne Kleider!
Der Matrose, der Dantes das Leben gerettet hatte, schlüpfte durch die Luke hinabund kam in einem Augenblick mit Hemd und Hose zurück, die Dantes mit unbeschreiblicher Freude anzog.
Braucht Ihr noch etwas? fragte der Patron.
Ein StückBrot und noch einen Schluck von dem vortrefflichen Rum, den ich gekostet, denn ich habe lange nichts zu mir genommen.
Manbrachte Dantes ein StückBrot, und Jacopo reichte ihm die Flasche.
Halt, fragte der Patron, was ist im Kastell If los?
Eine kleine weiße Wolke war soeben an der südlichenBastei des Kastells sichtbar geworden, und eine Sekunde nachher erstarbder Lärm eines entfernten Knalles anBord der Tartane. Die Matrosen schauten einander an.
Es wird ein Gefangener in dieser Nacht entwichen sein, und man feuert die Lärmkanone ab, sagte Dantes.
Der Patron warf dem jungen Mann, der die Kürbisflasche an den Mund gesetzt hatte, einen prüfendenBlick zu; aber er sah ihn den Trank mit solcher Ruhe schlürfen, daß er keinen Verdacht hegte.
Euer Rum ist teufelmäßig stark, sagte Dantes, mit dem Hemdärmel seine von Schweiß triefende Stirn abtrocknend.
Ist er es, murmelte der Kapitän, ihn anschauend, destobesser, ich habe in jedem Fall einen tüchtigen Mannbekommen.
Unter dem Vorwande der Müdigkeitbat Dantes, sich ans Steuerruder setzen zu dürfen. Sehr erfreut, seiner Funktionen überhoben zu sein, fragte der Ruderführer den Patron mit dem Auge, und dieserbedeutete ihm durch ein Zeichen, er könne den Helmstock seinem neuen Gefährten übergeben.
Den wievielten haben wir? fragte Dantes Jacopo, der sich zu ihm gesetzt hatte.
Den 28. Februar, antwortete dieser.
Und welches Jahr? fragte Dantes.
Welches Jahr? Ihr fragt, welches Jahr wir haben?
Was wollt Ihr, sagte Dantes, ich habe diese Nacht eine solche Angst ausgestanden, daß mein Gedächtnis noch völlig gestört ist.
Das Jahr 1829, sagte Jacopo.
Es waren auf den Tag vierzehn Jahre, daß man Dantes verhaftet hatte. Mit neunzehn Jahren war er in das Kastell If gekommen, und er verließ es mit dreiunddreißig Jahren. Ein schmerzliches Lächeln zog über seine Lippen hin; er fragte sich, was aus Mercedes während dieser Zeit, wo sie ihn hatte für tot halten müssen, geworden sei. Dann entzündete sich einBlitz des Hasses in seinen Augen, indem er an die drei Menschen dachte, denen er eine so lange und grausame Gefangenschaft zu verdanken hatte, und er erneuerte gegen Danglars, Fernand und Villefort den Schwur unversöhnlicher Rache, den er im Gefängnis geleistet hatte; und sein Schwur war jetzt keine leere Drohung mehr, denn zu dieser Stunde hätte derbeste Schnellsegler im Mittelländischen Meer sicherlich die kleine Tartane nicht mehr einholen können, die mit voller Kraft nach Livorno fuhr.
Die Schmuggler
Dantes war noch keinen Tag anBord, als erbereits wußte, mit wem er es zu tun hatte, erbefand sich anBord eines Schmugglerschiffes. Der Patron hatte ihn auch anfangs mit einem gewissen Mißtrauen aufgenommen; er war allen Zollbeamten der Küste sehr wohlbekannt, und da zwischen diesen Herren und ihm selbst einbeständiger Wettkampf in Listen stattfand, so meinte er zuerst, Dantes sei nichts als ein Zollspion. Die glänzende Art und Weise jedoch, wie Dantes aus der Prüfung hervorgegangen war, hatte ihn völlig von dessen Vertrauenswürdigkeit überzeugt. Als er sodann den leichten Rauch über derBastei des Kastells If schweben sah, dachte er einen Augenblick, er hätte einen von denen anBord genommen, denen man, wie den Königenbei ihren Ein- und Auszügen, bei ihrem Ausrücken die Ehre des Kanonierens zuteil werden ließ. Diesbeunruhigte ihn schon weniger, als wenn der Ankömmling ein Zöllner gewesen wäre; doch die zweite Mutmaßung verschwandbald wie die erste angesichts der vollkommenen Ruhe seines Rekruten.
Edmond hatte also den Vorteil, zu wissen, was sein Patron war, ohne daß sein Patron wissen konnte, was er war. Von welcher Seite ihn auch der alte Seemann und seine Kameraden angriffen, er gabnicht nach und machte kein Geständnis, sondern erzählte nur viel von Neapel und Malta, das er so gut wie Marseille kannte, und er hielt seine erste Angabe mit einer Festigkeit aufrecht, die seinem Gedächtnis Ehre machte. Es ließ sich also der Genueser trotz seiner Pfiffigkeit von Dantesbetören, zu dessen Gunsten überdies seinbescheidenes Auftreten und seine nautische Erfahrenheit sprachen. So gelangte man nach Livorno.
Hier mußte Edmond eine erste Probe machen; er mußte sehen, ober sich nach den vierzehn Jahren, die er sich nicht gesehen, selbst wiedererkannte. Er hatte eine ziemlich genaue Erinnerung von dembewahrt, was er als Jüngling gewesen war, und es drängte ihn, zu wissen, wie er als Mann aussah. Er trat daherbei einemBarbier ein, um sich denBart und die Haare schneiden zu lassen. DerBarbier schaute erstaunt den Mann mit den langen Haaren, dem dichten schwarzenBarte und dem schönen Tiziankopfe an und ging an die Arbeit. Als er fertig war, ließ sich Dantes einen Spiegel geben undbeschaute sich. Als er vor vierzehn Jahren das Kastell Ifbetreten hatte, besaß er das runde, lachende, blühende Gesicht des glücklichen Jünglings, dem die ersten Schritte im Leben leicht gewesen sind, und der auf die Zukunft vertraut. Das hatte sich völlig geändert. Sein ovales Gesicht war länglich geworden, sein lachender Mund hatte die festen Formen angenommen, die Entschlossenheit andeuten, seineBrauen waren unter einer einzigen nachdenklichen Falte gebogen, seine Augen umschwebte der Ausdruck tiefer Traurigkeit, aus dem zuweilen düstere, von Menschenscheu und Haß zeugendeBlitze hervorbrachen. Seine des Lichtes und der Sonnenstrahlen so lange entbehrende Gesichtshaut hatte die matte Farbe angenommen, diebei den Aristokraten des Nordens für schön gilt. Das tiefe Wissen, das er erlangt, hatte dabei über sein ganzes Antlitz den Wiederschein geistiger Hoheit verbreitet. Edmond lächelte, als er sich sah; seinbester Freund, wenn ihm noch ein Freund übrigblieb, konnte ihn unmöglich erkennen; er erkannte sich selbst nicht mehr.
Als er denBarbier verließ, kaufte er sich einen vollständigen Matrosenanzug und erschien in diesem Gewande anBord der Amalie. Der Patron wollte in dem stattlichen Matrosen den Mann mit dem dichtenBarte und Haaren voll Seegras nicht wiedererkennen, den er nackt und sterbend auf dem Verdeck seines Schiffes aufgenommen hatte. Seine schöne Erscheinung und der Gedanke an die guten Dienste, die er ihm leisten konnte, bewogen ihn jedoch, Dantes vorteilhafte Anerbietungen mit Anteil am Gewinn zu machen, wenn er dauerndbei ihmbleiben wolle; aber Dantes hatte seine eigenen Pläne und verpflichtete sich nur auf drei Monate. Übrigens entwickelte die Mannschaft der Amalie eine emsige und fruchtbare Tätigkeit. Kaum war sie acht Tage in Livorno, als diebauchigen Räume des Schiffes von Musselinen, von verbotenenBaumwollenwaren und Tabak voll waren, auf welche die Zollbehörde ihren Stempel zu setzen vergessen hatte. Es handelte sich darum, diese Waren ungefährdet fortzubringen und auf Korsika auszuschiffen, wo andere es übernahmen, die Ladung nach Frankreich zu schaffen. Das Schiff stach in See, und Edmond durchschnitt abermals das azurblaue Meer, das schon der Traum und der Horizont seiner Jugendzeit gewesen war. Als der Patron am andern Morgen auf das Verdeck stieg, was er immer frühzeitig tat, fand er Dantes, der an die Schiffswand gelehnt mit seltsamem Ausdruck einen Haufen von Granitfelsenbetrachtete, welche die ausgehende Sonne mit rosigem Lichte übergoß: es war die Insel Monte Christo. Die Amalie ließ sie auf ungefähr drei Viertelstunden von ihrem Steuerbord und setzte ihren Weg nach Korsika fort.
Als Dantes an dieser Insel mit dem für ihn sobedeutungsvoll klingenden Namen hinfuhr, dachte er, erbrauche nur in das Meer zu springen, und in einer halben Stunde sei er auf dem gelobten Lande. Aber was sollte er dort tun, ohne Werkzeuge, um seinen Schatz zu entdecken, ohne Waffen, um ihn zu verteidigen? Was würden überdies die Matrosen sagen, was würde der Patron denken? Er mußte warten. Glücklicherweise verstand Dantes zu warten; er hatte vierzehn Jahre auf seine Freiheit gewartet und konnte nun, da er frei war, auch sechs Monate oder ein Jahr auf seinen Reichtum warten. Hätte er nicht auch mit Entzücken die Freiheit ohne Reichtum angenommen, wenn man sie ihm geboten hätte? War dieser Reichtum überhaupt etwas Wirkliches? War er nicht, im kranken Gehirn des Abbés Faria geboren, mit diesem gestorben? Allerdings, derBries des Kardinals Spada war seltsam genug. Und Dantes wiederholte in seinem Gedächtnis denBrief, von dem er kein Wort vergessen hatte. Am andern Morgen erwachte man auf der Höhe von Aleria. Man lavierte den ganzen Tag; am Abend entzündeten sich Feuer auf der Küste, man näherte sich dem Ufer auf Schußweite und schiffte ohne weitere Fährlichkeiten die Ladung aus. Doch die Expedition war noch nicht zu Ende; man legte sich gegen Sardinien. Es handelte sich darum, das Schiff, das man gelöscht hatte, wieder zu laden. Die zweite Operation verlief so günstig wie die erste. Die für das Großherzogtum Luccabestimmte Ladungbestand fast ausschließlich aus Xeres- und Malagaweinen. Hier geriet man in Streit mit Zollbeamten; ein Zollwächterbliebauf dem Platze, und zwei Matrosen wurden verwundet. Dantes war einer von diesenbeiden; eine Kugel hatte ihm eine Fleischwunde an der linken Schulter verursacht.
Dantes war mit diesem Verlauf der Dinge durchaus zufrieden; mit Freuden hatte erbemerkt, wie wenig ihm Gefahr und Leiden anhaben konnten. Er hatte die Gefahr lachend angeschaut, und als er den Schuß erhielt, sagte er wie der griechische Philosoph: Schmerz, dubist kein Übel. Er war auf dem Wege, den er durchlaufen wollte, und ging unentwegt dem Ziele zu, das er zu erreichen gedachte. Sein Herz war imBegriff, sich in seinerBrust zu versteinern. Jacopo, der Dantes, als er ihn fallen sah, für tot hielt, stürzte auf ihn zu, hobihn auf und pflegte ihn auch nachher als trefflicher Kamerad.
Die Welt war also nicht so schlecht, wie sie Dantes nach seiner Gefangenschaft ansah, da dieser Mensch, der von seinem Gefährten nichts zu erwarten hatte, als daß er seinen Prisenanteil erben konnte, so lebhaftbekümmert war, weil er ihn sterben sehen sollte. Glücklicherweise war Edmond nur leicht verwundet. Edmond wollte Jacopo prüfen; erbot ihm für die Pflege, die er von ihm empfangen hatte, seinen Prisenanteil; aber Jacopo schlug das Anerbieten mit Entrüstung aus.
Die Folge der sympathischen Ergebenheit, die Jacopo Edmond vom ersten Augenblick an, wo er ihn sah, widmete, war, daß auch Edmond seinerseits dem Kameraden einige Zuneigung schenkte. Mehr verlangte Jacopo nicht; er hattebei Edmond die Überlegenheit herausgefühlt, die dieser vor den andern zu verbergen wußte, und derbrave Seemann war mit dem wenigen, was ihm Edmond zugestand, zufrieden. Während der langen Fahrtage unterrichtete Edmond, eine Seekarte in der Hand, Jacopo, wie der arme Abbé Faria sein Lehrer gewesen war. Er prägte ihm die Lage der Küsten ein und erklärte ihm den Gebrauch des Kompasses. Wenn Jacopo, der aus Korsika stammte, ihn fragte: Wozu soll ein armer Matrose wie ich all dies lernen? so antwortete Edmond: Wer weiß, du wirst vielleicht eines Tags Schiffskapitän, dein LandsmannBonaparte ist Kaiser geworden.
Man hattebereits dritthalbMonate mit diesen Fahrten hingebracht. Edmond war ein ebenso geschickter Küstenfahrer geworden, als er zuvor ein kühner Seefahrer gewesen war; er hatte mit allen Schmugglern des GestadesBekanntschaft gemacht und war zwanzigmal an seiner kleinen Insel Monte Christo hin und her gefahren, hatte aber nie Gelegenheit gefunden, dort zu landen. Er faßte daher den Entschluß, sobald sein Vertrag mit dem Patron der Amalie zu Ende wäre, eine kleineBarke auf eigene Rechnung zu mieten und sich unter irgend einem Vorwande nach der Insel Monte Christo zubegeben. Dort wollte er endlich seine Nachforschungen nach dem Schatze der Spada anstellen.
Edmond war im Gefängnis klug geworden. Er hätte es daher gern unterlassen, mit anderen die Insel aufzusuchen und diese so möglicherweise zu Zeugen seines Glückes zu machen. Aber er fand kein anderes Mittel, auf die so sehr ersehnte Insel zu gelangen, als das, sich dahin führen zu lassen. Noch erwog er zögernd seinen Plan, als der Patron, der ein großes Vertrauen in ihn setzte und ihn in seinem Dienste zubehalten wünschte, ihn eines Abendsbeim Arme nahm und ihn in eine Taverne der Via del Oglio führte, wo sich der Rahm der Livorner Schmugglerwelt zu versammeln pflegte. Es handelte sich diesmal um ein größeres Unternehmen: man mußte für ein mit türkischen Teppichen und Stoffenbeladenes Schiff ein neutrales Gebiet finden, wo der Austausch statthaben konnte, und dann die Gegenstände auf die französische Küste zu werfen suchen. Der Patron der Amalie schlug als Ausschiffungsort die gänzlich verlassene Insel Monte Christo vor. Bei dem Namen Monte Christobebte Dantes vor Freude; er stand auf, um seineBewegung zu verbergen, und machte einen Gang durch die rauchige Taverne. Als man ihn um Rat fragte, meinte er, die Inselbiete alle mögliche Sicherheit, übrigens müßten große Unternehmungen, wenn sie gelingen sollten, schnell ausgeführt werden. Es wurde alsobeschlossen, bei Monte Christo vor Anker zu gehen und schon am folgenden Abend die Fahrt anzutreten.
Die Insel Monte Christo
Infolge eines unerwarteten Glücksfalles sollte also Dantes sein Ziel auf die einfachste und natürlichste Weise erreichen und den Fuß auf die Insel setzen, ohne irgend jemand Verdacht einzuflößen. Nur eine Nacht trennte ihn noch von der so sehr ersehnten Abreise. Diese Nacht war eine der fieberhaftesten, die Dantes je zugebracht hatte. Alle guten und schlimmen Möglichkeiten stellten sich abwechselnd vor seinen Geist. Wenn er die Augen schloß, sah er denBrief des Kardinals Spada in flammendenBuchstaben an die Mauer geschrieben; entschlummerte er einen Augenblick, so wirbelten die unsinnigsten Träume in seinem Gehirn umher: er stieg in Grotten, die mit Smaragden gepflastert waren, mit Wänden von Rubinen und Säulen von Diamanten; die kostbarsten Perlen fielen Tropfen auf Tropfen wie sickerndes Wasser herab. Entzückt, geblendet, füllte Edmond seine Taschen mit Edelsteinen; dann kehrte er an das Tageslicht zurück, und die Edelsteine hatten sich in einfache Kiesel verwandelt. Bald versuchte er es, abermals in diese nur halbdurchforschten Höhlen einzudringen, doch der Weg krümmte sich in endlosen Schneckenlinien, und der Eingang war wieder unsichtbar geworden. Vergeblich suchte er in seinem Gedächtnis das magische, geheimnisvolle Wort, das dem arabischen Fischer die glänzenden Höhlen von Ali‑Baba öffnete. Alles war fruchtlos; der verschwundene Schatz war wieder das Eigentum der Erdgeister geworden, denen er ihn zu entreißen gehofft hatte.
Der Tag kambeinahe ebenso fieberhaft, wie es die Nacht gewesen war; aber er führte allmählich die geistige Klarheit herbei, und Dantes vermochte einen ihmbis jetzt unbestimmt vorschwebenden Plan festzustellen. Es kam der Abend, und mit dem Abend wurden Vorkehrungen zur Abreise getroffen. Diese Vorkehrungen waren für Dantes ein Mittel, seine Aufregung zu verbergen. Im Verlauf der Zeit hatte erbei seinen Gefährten ein solches Ansehen gewonnen, dass erbefehlen konnte, als ober der Herr des Schiffes wäre; und da seineBefehle stets klar, pünktlich und leicht ausführbar waren, so gehorchten ihm seine Gefährten mit Eilfertigkeit und Vergnügen. Der alte Seemann ließ ihn gewähren; er hatte ebenfalls Dantes' Überlegenheit über die andern Matrosen und über ihn selbst erkannt und sah in dem jungen Manne seinen natürlichen Nachfolger.
Um sieben Uhr abends verließ man den Hafen, und sie segelten gerade in dem Augenblicke um den Leuchtturm, als seine Feuer entzündet wurden; das Meer war ruhig. Dantes erklärte, es könne sich jeder schlafen legen, er würde das Steuer übernehmen. Aus der Einsamkeit wieder in die Welt geworfen, fühlte er von Zeit zu Zeit das gebieterischeBedürfnis nach der Einsamkeit. Diesmal wurde die Einsamkeit von seinen Gedankenbevölkert, die Nacht von seinen Illusionen erleuchtet und die Stille von seinen Gelöbnissen erfüllt.
Als der Patron erwachte, ging das Schiff unter allen seinen Segeln; es war kein Fetzen Leinwand darauf, der nicht vom Winde aufgeblasen wurde. Man machte mehr als dritthalbMeilen in einer Stunde. Die Insel Monte Christo wuchs am Horizont. Edmond übergabdas Schiff seinem Herrn und streckte sich ebenfalls in seiner Hängematte aus; aber trotz der schlaflosen Nacht vermochte er die Augen nicht eine Minute zu schließen. Zwei Stunden später stieg er wieder auf das Verdeck. Das Schiff umsegelte eben die Insel Elba. Manbefand sich auf der Höhe von Mareciano oberhalbder flachen grünen Insel Pianosa und sah am Azur des Himmels die von den glutvollen Strahlen der Sonne aufflammende höchsteBergspitze von Monte Christo sich erheben. Dantes hieß den Mann am Steuer das Ruder anBackbord legen, damit Pianosa rechtsbleibe; er hatteberechnet, daß auf diese Weise der Weg um zweibis drei Knoten abgekürzt werde. Gegen fünf Uhr abends hatte man die Insel vollkommen im Angesicht. Man unterschied vermöge der atmosphärischen Durchsichtigkeit, die der von den Strahlen der untergehenden Sonne durchfluteten Luft eigentümlich ist, bereits alle einzelnen Gegenstände aus Monte Christo in scharfen Umrissen.
Edmond verschlang hoffend undbange mit den Augen diese Felsenmasse, die in allen Farben der Abenddämmerung schimmerte. Um zehn Uhr landete man. Trotz seiner gewöhnlichen Selbstbeherrschung war Dantes nicht im stande, ansichzuhalten; er sprang zuerst ans Ufer.
Die Mannschaft der Amalie war mit der Insel vertraut; sie gehörte zu ihren gewöhnlichen Stationen. Dantes hatte sie zwarbei jeder seiner Reisen nach der Levante gesehen, war aber nie ans Land gestiegen. Er fragte Jacopo: Wo werden wir die Nacht zubringen?
AnBord der Tartane, antwortete der Matrose. Wären wir nichtbesser in den Grotten untergebracht? Ich kenne hier keine Grotten, sagte Jacopo.
Kalter Schweiß floß über Dantes' Stirn. Es gibt keine Grotten auf Monte Christo? fragte er.
Nein.
Dantesbliebeinen Augenblick ganzbetäubt; dann dachte er, die Grotten könnten seit kurzer Zeit durch irgend einen Zufall ausgefüllt, vielleicht gar aus Vorsicht vor dem Kardinal Spada verstopft worden sein. Es hing in diesem Falle alles davon ab, daß man die verlorene Öffnung wiederfand; sie in der Nacht zu suchen, war unnütz, und Dantes verschobdaher die Nachforschung auf den andern Tag. Ein Signal, das auf eine halbe Stunde in der See gegeben wurde, und das die Amalie sogleich erwiderte, deutete überdies an, daß der Augenblick, das Geschäft zubeginnen, gekommen war. Bald erschien das zweite Schiff, weiß und schweigsam, wie ein Gespenst, und ankerte eine Kabellänge vom Ufer. Sogleichbegann das Überladen.
Während der Arbeit stellte sich Dantes vor, welches freudige Hurra er seinenBegleitern mit einem einzigen Wort entlocken könnte, wenn er dem Gedanken lauten Ausdruck gäbe, derbeständig leise in seinem Ohre und in seinem Herzen widerhallte. Statt aber sein Geheimnis zu enthüllen, fürchtete er im Gegenteil nur das eine, er habe schon zuviel gesagt und durch sein Hin- und Hergehen, durch seine ängstlichenBeobachtungen und durch seine Unruhe Verdacht erregt. Unter diesen Umständen und für seinen Zweck war es noch ein Glück, daß die jahrelangen schmerzlichen Erlebnisse im Kastell If seinem Antlitz den unvertilgbaren Ausdruck tiefer Schwermut ausgeprägt hatten und die Strahlen von Heiterkeit, die zuweilen unter dieser Wolke hervorbrachen, glichen in der Tat nurBlitzen, welche die vorhergehende und nachfolgende Düsterkeit um so schärfer hervortreten ließen.
Kein einziger von seinen Genossen ahnte auch nur das geringste von Dantes Vorhaben, und als er am andern Tage, ein Gewehr, Pulver undBlei nehmend, das Verlangen äußerte, eine von den zahlreichen wilden Ziegen zu schießen, die man von Fels zu Fels springen sah, schriebman seinen Ausflug nur der Liebe zur Jagd zu. Jacopo alleinbat dringend, ihm folgen zu dürfen. Dantes wollte sich nicht widersetzen, aus Furcht, durch sein Widerstreben gegen dieBegleitung Verdacht zu erregen. Aber kaum war er eine Viertelstunde gegangen und hatte Gelegenheit gefunden, eine junge Ziege zu erlegen, so schickte er Jacopo mit ihr zu seinen Gefährten zurück, wobei er den Auftrag gab, siebraten zu lassen und ihm, wenn sie fertig wäre, durch einen Flintenschuß ein Zeichen zu geben. Einige getrocknete Früchte und eine Flasche Wein von Montepulciano sollten das Mahl vervollständigen. Dantes setzte seinen Weg, sich von Zeit zu Zeit umwendend, fort. Auf der Spitze eines Felsens angelangt, sah er tausend Fuß unter sich seine Gefährten, mit denen Jacopo wieder zusammengetroffen war, bereits emsig mit der Zubereitung eines Frühstücksbeschäftigt, das Edmonds Geschicklichkeit seinen leckersten Teil verdanken sollte.
Edmondbetrachtete sie einen Augenblick mit dem sanften, traurigen Lächeln des überlegenen Mannes und sagte: In zwei Stunden werden diese Leute, fünfzig Piaster reicher, wieder abfahren und ihr Leben an den Versuch setzen, weitere fünfzig Piaster zu verdienen; dann werden sie mit sechshundert Livres in derBörse zurückkehren und diesen Schatz mit dem Stolze eines Sultans und demBewußtsein eines Nabobs verschleudern. Meine Hoffnung läßt mich heute ihren Reichtum verachten, der mir das tiefste Elend zu sein scheint; morgen wird mich die getäuschte Hoffnung vielleicht nötigen, dieses tiefe Elend als das höchste Glück zubetrachten… Oh, nein! rief Edmond, das wird nicht der Fall sein, der unfehlbare Faria wird sich nicht in dieser einzigen Sache getäuscht haben. Überdies wäre esbesser zu sterben, als dieses erbärmliche Leben zu führen. So genügte Dantes, der drei Monate zuvor nur nach der Freiheit schmachtete, diese Freiheit schon nicht mehr, und seine ganze Sehnsucht war auf den Reichtum gerichtet.
Einem zwischen zwei Felsmauern verlorenen, wahrscheinlich durch Sturzbäche ausgehöhlten Wege folgend, den ohne Zweifel noch kein menschlicher Fußbetreten hatte, näherte sich Dantes immer mehr dem Orte, wo seiner Vermutung nach die Grottenbestanden haben mußten. Während er am Meeresstrande fortwanderte und alles mit peinlichster Aufmerksamkeit prüfte, glaubte er an einzelnen Felsen von der Hand des Menschen herrührende Einkerbungen zubemerken.
Die Zeit schien diese Zeichen verschont zu haben, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit und ohne Zweifel in der Absicht, eine Spur anzudeuten, gemacht waren. Von Zeit zu Zeit verschwanden jedoch die Zeichen unter Myrtensträuchern, die sich in großen, mitBlütenbedecktenBüschen ausbreiteten, oder unter Schmarotzerpflanzen. Dann mußte Edmond die Zweige auf die Seite schieben oder die Moose aufheben, um die Merkmale zu finden, die ihn in diesem Labyrinthe leiteten. Diese Zeichen hatten übrigens Edmond frohe Hoffnung verliehen. Warum sollte sie nicht der Kardinal gemacht haben, damit sie im Falle einer Katastrophe, die er nicht hatte voraussehen können, seinem Neffen als Führer dienten? Der einsame Ort mußte wohl einem Manne zusagen, der einen Schatz vergraben wollte. Doch hatten die ungetreuen Zeichen nicht auch andere Augen angezogen, als die, für welche siebestimmt waren, oder hatte die Insel mit den düsteren Wundern ihr herrliches Geheimnis treubewahrt?
Ungefähr sechzig Schritte vom Hafen kam es indessen Edmond, der durch die Gestalt desBodens seinen Gefährten stets verborgen war, vor, als obdie Wegzeichen aufhörten, ohne daß sie jedoch in eine Grotte mündeten. Ein großer, runder, auf fester Grundlage ruhender Fels war das einzige Ziel, nach dem sie zu führen schienen. Edmond dachte, statt das Ziel erreicht zu haben, sei er vielleicht erst am Anfang; er kehrte daher wieder auf seinen Spuren zurück. Während dieser Zeitbereiteten seine Gefährten das Frühstück, schöpften Wasser an der Quelle, brachtenBrot und Früchte ans Land und ließen die junge Ziegebraten. Gerade als sie diese von dem selbstgeschnitztenBratspieß zogen, gewahrten sie Edmond, der, leicht und verwegen wie eine Gemse, von Fels zu Fels sprang; sie feuerten eine Flinte ab, um ihm das Signal zu geben. Der Jäger veränderte sogleich die Richtung undbeeilte sich, zu ihnen zurückzulaufen. Aber in der Sekunde, wo alle mit den Augen seinem Laufe folgten, wobei ihnen seine Gewandtheit als Verwegenheit erschien, glitt Edmond aus, als hätte er es darauf abgesehen, ihreBefürchtungen zu rechtfertigen; er strauchelte, stieß einen Schrei aus und verschwand.
Alle sprangen gleichzeitig auf, denn alle liebten Edmond; Jacopo kam zuerst an Ort und Stelle. Er fand den Gesuchtenblutend und fastbewußtlos daliegend; der Arme war von einer Höhe von fünfzehn Fuß herabgerollt. Nachdem man ihm einige Tropfen Rum eingeflößt hatte, schlug er die Augen wieder auf undbeklagte sich über heftigen Schmerz am Knie, über große Schwere des Kopfes und über unerträgliche Stiche in den Lenden. Man wollte ihn ans Gestadebringen; als man ihn aberberührte, erklärte er seufzend, er fühle sich nicht kräftig genug, den Transport zu ertragen. Erbehauptete, erbrauche für sich nur ein wenig Ruhe, und forderte seine Kameraden auf, zu ihrem Frühstück zurückzukehren. Die Matrosen ließen sich nicht zu sehrbitten, sie hatten Hunger, der Geruch der jungen Ziege drangbis zu ihnen, und unter Seebären ist man nicht sehr förmlich.
Nach einer Stunde kamen sie zurück. Edmond hatte sich inzwischen nur durch einen Raum von etwa zehn Schritten schleppen können und sich dort an einen moosigen Felsen gelehnt. Die Schmerzen hatten noch an Heftigkeit zugenommen. Da er seine Ladung am Morgen zwischen Piemont und Frankreich, zwischen Nizza und Frejus niederlegen mußte, forderte der alte Patron Dantes dringend auf, er möge sich zu erheben versuchen. Dantes machte übermenschliche Anstrengungen, um dieser Aufforderung zu entsprechen; dochbei jedem Versuche fiel er klagend und erbleichend zurück.
Er hat die Lenden gebrochen, sagte ganz leise der Patron; gleichviel, er ist ein guter Kamerad, und wir dürfen ihn nicht verlassen; versuchen wir es, ihn auf die Tartane zu schaffen!
Aber Dantes erklärte, daß er lieber auf der Stelle sterben wolle, als die grausamen Schmerzen ertragen, die ihm jede, auch die geringsteBewegung mache.
Gut, sagte der Patron, komme, was da will! Man soll nicht sagen, daß wir einenbraven Kameraden, wie Ihr seid, ohne Hilfe gelassen haben. Wirbrechen erst heute abend auf.
Dieser Entschluß setzte die Matrosen sehr in Erstaunen, aber keiner von ihnenbekämpfte ihn, im Gegenteil. Der Patron war ein so strenger Mann, daß man ihnbei dieser Veranlassung zum erstenmale auf ein Unternehmen Verzicht leisten, oder dessen Ausführung verzögern sah. Dantes wollte auch nicht leiden, daß man um seinetwillen die anBord herrschende strenge Disziplin durchbreche.
Nein, sagte er zu dem Patron, ich war ungeschickt, und es istbillig, daß ich die Strafe für meine Ungeschicklichkeit erdulde. Laßt mir ein wenig Vorrat an Zwieback, eine Flinte, Pulver undBlei, um Ziegen zu erlegen oder um mich zu verteidigen, und eine Hacke, um mir, wenn Ihr mich zu lange hier laßt, eine Art Obdach herzurichten.
Aber du wirst Hungers sterben, erwiderte der Patron.
Lieber dies, sagte Edmond, als die unerhörten Schmerzen ertragen, die mir die geringsteBewegung verursacht.
Der Patron kehrte sich nach dem Schiffe um, das sich, bereit in die See zu gehen, in dem kleinen Hafen schaukelte.
Was sollen wir denn tun, Malteser? sagte er. Wir können dich nicht so verlassen und können doch auch nicht hierbleiben.
Geht! geht! rief Dantes.
Wir sind wenigstens acht Tage abwesend, entgegnete der Patron, und wir müssen auch von unserm Wege abgehen, um dich zu holen.
Hört, sagte Dantes, wenn Ihr in zweibis drei Tagen von jetzt an irgend ein Fischerboot oder ein anderes Fahrzeug trefft, das in diese Gegend kommt, so empfehlt ihm an, mich zu holen; ichbezahle fünfundzwanzig Piaster für die Rückfahrt nach Livorno. Findet Ihr keins, so kommt selbst.
Der Patron schüttelte den Kopf.
Hört, PatronBaldi, es gibt ein Mittel, alles ins reine zubringen, sagte Jacopo; geht Ihr, und ichbleibebei dem Verwundeten, um ihn zu pflegen.
Und du leistest auf deinen Anteil am Gewinn Verzicht, umbei mir zubleiben? sprach Edmond.
Ja, sehr gern.
Dubist einbraverBursche, Jacopo, rief Edmond, und Gott wird dich für deinen guten Willenbelohnen; aber ichbrauche niemand und danke dir; ein oder zwei Tage Ruhe werden mich wieder herstellen, und ich hoffe, an diesen Felsen Kräuter zu finden, die für Quetschungen vortrefflich sind.
Ein seltsames Lächeln zog über Dantes' Lippen; er drückte Jacopo freundschaftlich die Hand, war aber unerschütterlich in seinem Entschlusse, allein zubleiben. Die Schmuggler ließen Edmond Proviant und was er sonst verlangt hatte, zurück und entfernten sich sodann, wobei sie sich wiederholt umwandten und ihm freundschaftliche Zeichen machten, die Edmond nur mit der Hand erwiderte, da er den übrigen Körper nichtbewegen konnte. Als sie verschwunden waren, murmelte er lachend: Es ist sonderbar, daß man unter solchen MenschenBeweise von Freundschaft und Handlungen treuer Ergebenheit findet.
Dann schleppte er sich vorsichtigbis auf die Spitze eines Felsens, der ihm den Anblick des Meeres gewährte, und sah von hier aus die Tartane ihre Zurüstung vollenden, die Anker lichten, sich anmutig wiegen wie eine Möve, die sich soeben zum Fluge anschickt, und abfahren. Nach Verlauf einer Stunde war sie völlig verschwunden; wenigstens wurde es auf der Stelle, wo der Verwundete weilte, unmöglich, sie zu sehen.
Dann erhobsich Dantes, geschmeidiger und leichter als eine junge Ziege, unter den Myrten und Mastixstauden auf dem wilden Gestein, nahm seine Flinte in eine Hand, seine Hacke in die andere und eilte nach dem Felsen, auf den die Kerben hinführten, die er zuvor wahrgenommen hatte.
Und nun, rief er, indem er sich der Geschichte des arabischen Fischers erinnerte, die ihm Faria erzählt hatte, nun öffne dich, Sesam!
ZweiterBand
Der Schatz
Die Sonne hatte ungefähr ein Drittel ihres Tageslaufes zurückgelegt, und ihre Strahlen fielen warm undbelebend auf die Felsen. Tausende von Grillen ließen im Heidekraut ihr eintöniges, unablässiges Zirpen vernehmen, und in der Ferne sah man auf den Felsen wilde Ziegen springen, die zuweilen einen Jäger auf die Insel locken; mit einem Worte, das Eiland war voll Leben. Dennoch fühlte sich Edmond allein in Gottes Hand, und es erfaßte ihn etwas wie Furcht. Dieses Gefühl war so stark, daß er, als er zur Arbeit schreiten wollte, innehielt, seine Hacke niederlegte, die Flinte wieder aufnahm, zum letztenmal den höchsten Felsen der Insel erstieg und einen weitenBlick über seine Umgebung warf. Alles, was er sah, beruhigte ihn; dieBrigantine, diebei Tagesanbruch die Anker gelichtet hatte, war am Horizont verschwunden, die Tartane fuhr in entgegengesetzter Richtung an Korsika hin. Er faßte nun seine nähere Umgebung ins Auge. Kein Mensch war auf der Insel sichtbar, keineBarke an ihrem Gestade, nichts als das azurblaue Meer, das den Strand peitschte. Dann stieg er mit raschen Schritten, aber vorsichtig hinab; er hütete sich ängstlich vor einem Unfall, wie er ihn so geschickt und erfolgreich seinen Gefährten vorgetäuscht hatte.
Dantes war, wie gesagt, den Spuren der in den Felsen gehauenen Zeichen rückwärts gefolgt und hatte gesehen, daß sie zu einer kleinen, verborgenenBucht führten, die tief genug war, daß ein kleines Fahrzeug darin ankern konnte. Er sagte sich, der Kardinal Spada sei, in der Absicht, nichtbemerkt zu werden, in dieserBucht gelandet, habe sein kleines Fahrzeug darin versteckt, die gezeichnete Linie verfolgt und an ihrem Ende seinen Schatz vergraben. In dieser Annahme war Dantes wieder zu dem runden Felsen gelangt. Nur einsbeunruhigte ihn und machte ihn wankend in seiner Vermutung. Wie hatte man ohne gewaltige Kraftanstrengung diesen Felsen, der etwa fünfzig Zentner schwer war, auf die Stelle hinaufbringen können, auf der er jetzt ruhte?
Plötzlich kam Dantes ein Gedanke. Konnte man den Felsen nicht auch von oben heruntergebracht haben? Und er eilte hinaus, um die Stelle des ersten Standortes zu suchen. Er erkannte in der Tatbald, daß der Fels herabgeglitten war und an der Stelle Halt gemacht hatte, wo ihm ein anderer Fels als Untersatz diente. Steine und Kiesel waren sorgfältig wieder so gelegt worden, daß man die vorgenommene Änderung nicht merkte. Pflanzenerde war darauf gedeckt worden. Gras war gewachsen, und Moos hatte sich ausgebreitet. Dantes nahm vorsichtig die Erde weg und erkannte, wie sinnreich die Sache angelegt war. Dann fing er an, mit der Hacke die im Laufe der Zeit dicht gewordene Zwischenmauer anzugreifen.
Nach einer Arbeit von zehn Minuten gabdie Mauer nach, und es entstand ein Loch, durch das man den Arm schieben konnte. Dantes fällte nun einen starken Olivenbaum, steckte ihn in das Loch und machte so einen Hebel daraus; aber der Fels war zu schwer und zu fest durch den unteren Felsen unterlegt, als daß eine menschliche Kraft ihn hätte erschüttern können. Da wurde ihm klar, daß er diese Unterlage selbst angreifen müsse, aber durch welches Mittel? Er schaute spähend umher, und seinBlick fiel auf sein Pulverhorn, das ihm sein Freund Jacopo zurückgelassen hatte; er lächelte: des Pulvers Kraft sollte das Werk verrichten.
Mit Hilfe seiner Hacke grubDantes zwischen dem oberen und unteren Felsen einen Minengang, dann stopfte er ihn mit Pulver voll, fädelte sein Taschentuch aus, rollte es in Salpeter und machte eine Lunte daraus. Sobald die Luntebrannte, entfernte er sich. Die Explosion ließ nicht auf sich warten; der obere Fels wurde einen Augenblick durch die gewaltige Kraft aufgehoben, der untere zersprang in Stücke.
Dantes näherte sich. Nunmehr ohne Stütze, neigte sich der obere Fels gegen den Abgrund. Der unermüdliche Sucher ging um ihn herum, wählte eine von den schwankendsten Stellen, stützte seinen Hebel an eine der Ecken und stemmte sich mit ganzer Kraft gegen den Felsen. Schon wankte dieser, und als Dantes seine Anstrengung verdoppelte, gaber endlich nach, rollte, stürzte nieder und verschwand, im Meer versinkend. Er ließ einen kreisförmigen Platz entblößt undbrachte einen eisernen Ring an den Tag, der mitten in eine Platte von viereckiger Form gelötet war.
Dantes stießbei diesem glänzenden Erfolge einen Schrei der Freude und des Erstaunens aus. Dann steckte er seinen Hebel in den Ring und hobihn kräftig empor. Die Platte öffnete sich, und eine Art von Treppe wurde sichtbar, die sich im Schatten einer immer dunkler werdenden Grotte verlor.
Dantesbliebeine Minute unbeweglich. Dann aber stieg er hinab, ein Lächeln auf den Lippen, und murmelte das letzte Wort der menschlichen Weisheit: Vielleicht…
Aber statt der Finsternis, die er zu finden erwartet hatte, statt einer undurchsichtigen, schlechten Atmosphäre, sah er nur einen Schimmer sanften, bläulichen Tageslichtes. Luft und Licht drangen nicht nur durch die Öffnung, die er gemacht hatte, sondern auch durch Felsspalten des oberenBodens, durch die man das Azur des Himmels erblickte, auf dem die zitternden Zweige der grünen Eichen und die dornigenBrombeerstauden spielten. Nach einem Aufenthalte von ein paar Sekunden, vermochte sein an die Finsternis gewöhnterBlick die entferntesten Winkel der aus glitzerndem Granitbestehenden Höhle zu erforschen. Dantes erinnerte sich des Testaments, das er auswendig wußte: In der entferntesten Ecke der zweiten Öffnung.
Er war aber nur in die erste Grotte gedrungen und mußte nun den Eingang in die zweite suchen. Diese mußte natürlich in das Innere der Insel verlaufen. Er untersuchte die Steinlagen und schlug an eine Wand, von der erbestimmt glaubte, daß sich hinter ihr die zweite Höhlebefinde. Die Hacke entlockte dem Felsen einen matten Ton. Endlich kam es dembeharrlichen Gräber vor, als obein Teil der Granitmauer ein dumpferes, tieferes Echo gebe. Er näherte seinen glühendenBlick der Wand und erkannte mit den scharfen Augen des Gefangenen, daß hier eine Öffnung sein mußte. Um sich jedoch keine unnötige Arbeit zu machen, untersuchte er auch die anderen Wände mit seiner Hacke, prüfte denBoden mit dem Schafte seiner Flinte, durchwühlte den Sand an verdächtigen Stellen und kehrte, als er nichts fand, nichts erkannte, zu dem Teile der Wand zurück, der den tröstlichen Ton von sich gab. Hier mußte er wühlen und ging kräftig an die Arbeit. Nach einigen Schlägenbemerkte er, daß die Steine nicht festgemauert, sondern nur übereinander gelegt und mit einem Anwurfbedeckt waren. Edmond steckte das Eisen der Hacke in eine Spalte, drückte auf den Stiel und sah zu seiner großen Freude den Stein wie auf Angeln rollen und zu seinen Füßen fallen. Nun hatte er nur noch jeden Stein mit dem eisernen Zahn der Hacke an sich zu ziehen, und einer nach dem andern rollte zu dem ersten.
Die zweite Grotte war niedriger, düsterer und sah furchtbarer aus als die erste. Die Luft, die nur durch die soeben gemachte Öffnung eindrang, erfüllte schwefliger Geruch, den Dantes zu seinem Erstaunen in der ersten nicht gefunden hatte. Er ließ der äußeren Luft Zeit, diese tote Atmosphäre wieder zubeleben, und trat dann ein. Links von der Öffnung war eine tiefe, finstere Ecke, die jedoch für Dantes' scharfe Augen nicht undurchdringlich war. Er untersuchte die zweite Grotte, aber auch sie war leer wie die erste. Der Schatz mußte also, wenn überhaupt vorhanden, in der düstern Ecke vergraben sein.
Nun ergriff ihn aber die Angst derBangigkeit; er hatte nur noch zwei Fuß Erde zu durchwühlen, und der Erfolg mußte ihm entweder die höchste Freude oder die höchste Verzweiflungbereiten. Unverzüglich griff er zur Hacke und schlug auf denBoden. Beim fünften oder sechsten Hiebe erklang Eisen. Daneben fand er denselben Widerstand, aber nicht denselben Ton. Es ist eine hölzerne Kiste mit eisernen Reifen, sagte er.
In diesem Augenblick zog ein rascher Schatten vorüber. Dantes ließ seine Hacke fallen, ergriff seine Flinte, schlüpfte durch die Öffnung und stürzte hinaus. Eine wilde Ziege warbeim Eingang zur ersten Grotte vorüber gesprungen und weidete einige Schritte davon. Dantes schnitt einen harzigenBaum ab, entzündete ihn an dem noch rauchenden Feuer, an dem die Schmuggler ihr Frühstückbereitet hatten, und kehrte mit dieser Fackel zurück. Er näherte die Fackel der Ecke und erkannte, daß er sich nicht getäuscht hatte. Seine Streiche hatten abwechselnd das Eisen und das Holz getroffen. Er steckte nun seine Fackel in die Erde und ging wieder ans Werk. In einem Augenblicke war eine drei Fuß lange und etwa zwei Fußbreite Stelle frei, und Dantes vermochte eine Kiste zu erkennen, die mit Reifen von ziseliertem Eisen umlegt war. In der Mitte des Deckels glänzte auf silberner Platte das Wappen der Familie Spada, ein pfahlartig auf ovalem Wappenschild ruhendes Schwert und darüber ein Kardinalshut.
Im Augenblick war die ganze Umgebung der Kiste abgeräumt, und Dantes sah nach und nach das mittlere Schloß, das zwischen zwei Vorlegschlössern angebracht war, und diebeiden Griffe an der Seite erscheinen. Er faßte die Kiste an den Griffen und suchte sie aufzuheben; es war unmöglich. Er wollte sie öffnen, aber die Schlösser waren geschlossen und schienen als getreue Wächter ihren Schatz nicht herausgeben zu wollen. Er schobdie schneidende Seite seiner Hacke zwischen die Kiste und den Deckel, drückte auf den Stiel, und der Deckel krachte und zersprang.
Ein schwindelartiges Fieber ergriff Dantes, er nahm seine Flinte und stellte sie mit gespanntem Hahn neben sich. Anfangs schloß er die Augen, wie es Kinder tun, um in der funkelnden Nacht ihrer Einbildungskraft mehr Sterne zu sehen, als sie am gestirnten Himmel zählen können, dann öffnete er sie wieder undbliebgeblendet.
Drei Abteilungen enthielt die Kiste; in der ersten glänzten die Goldtaler mit ihren rötlichgelben Reflexen, in der zweitenbefanden sich in guter Ordnung aufgereihte, aber schlecht geglättete Goldstangen, aus der dritten endlich, die halbvoll war, zog Dantes handvollweise Diamanten, Perlen, Rubine heraus. Nachdem erberührt, betastet, seinebebenden Hände in Gold und Edelsteinen gebadet hatte, erhober sich wieder und lief durch die Höhlen, vor Erregung zitternd, wie ein Mensch, der dem Wahnsinne nahe ist. Er sprang auf einen Felsen, von wo er das Meer überschauen konnte, und sah nichts; er war allein, ganz allein mit diesen unberechenbaren, unerhörten, fabelhaften Reichtümern, die ihm gehörten. Er war ungewiß, ober wache oder träume. War es ein flüchtiger Traum, oder umfaßte er die Wirklichkeit?
Er mußte sein Gold wiedersehen, und dennoch fühlte er, daß er in dieser Minute nicht die Kraft hatte, seinen Anblick zu ertragen. Er drückte einen Augenblickbeide Hände an den Kopf, als wollte er die Vernunft nicht entfliehen lassen; dann stürzte er durch die Insel, ohne einerbestimmten Richtung zu folgen, scheuchte die wilden Ziegen auf und erschreckte die Seevögel durch sein Geschrei und seine heftigen Gebärden. Endlich kehrte er noch zweifelnd auf einem Umwege zurück, eilte von der ersten Grotte in die zweite undbefand sich wieder im Angesichte der ungeheuren Gold- und Diamantenmine. Diesmal fiel er auf die Knie, preßte seine Hände krampfhaft an sein springendes Herz und murmelte ein für Gott allein verständliches Gebet. Bald fühlte er sich ruhiger und folglich auch glücklicher, denn jetzt erst fing er an, an sein Glück zu glauben.
Erbegann, sein Vermögen zu zählen; er fand tausend Goldstangen, jede von zweibis drei Pfund; dann häufte er fünfundzwanzigtausend Goldtaler auf, je im Werte von etwa achtzig Franken und alle mit demBildnis Papst Alexanders VI. und seiner Vorgänger, und erbemerkte, daß das Fach nur halbleer war; endlich maß er zweimal die Weite seinerbeiden Hände in Perlen, in Edelsteinen, in Diamanten, von denen viele, von denbesten Goldschmieden ihrer Zeit gefaßt, abgesehen von ihrem Preise an sich, einenbesonderen Wert durch die Arbeitbesaßen.
Dantes sah den Tag sich neigen und allmählich erlöschen. Erbefürchtete, überrascht zu werden, wenn er in der Höhlebliebe, und ging, seine Flinte in der Hand, hinaus. Ein Stück Zwieback und einige Schluck Wein waren sein Abendbrot. Dann setzte er den Stein wieder an seine Stelle, legte sich darauf und schlief, mit seinem Leibe den Eingang der Höhlebedeckend, nur wenige Stunden.
Der Unbekannte
Der Tag, den Dantes längst mit offenen Augen erwartet hatte, erschien endlich. Bei seinen ersten Strahlen erhober sich und stieg, wie am Tage vorher, auf den höchsten Felsen der Insel, um die Gegend zu erforschen. Es war alles öde, wie am Tage vorher.
Edmond stieg wieder hinab, hobden Stein auf, füllte seine Taschen mit Edelsteinen, brachte, so gut er konnte, dieBretter undBeschläge der Kiste wieder an ihre Stelle, bedeckte sie mit Erde, stampfte diese Erde ein, warf Sand darauf, um die frisch umgewühlte Stelle dem übrigenBoden gleichzumachen. Dann trat er aus der Grotte hervor, legte die Platte wieder auf, häufte auf die Platte Steine von verschiedener Größe, stopfte Erde in die Zwischenräume, pflanzte in diese Myrten und Heidekraut, bedeckte die neuen Pflanzungen, damit sie wie alte aussähen, mit Staub, verwischte die Spuren seiner ringsum sichtbaren Tritte und erwartete mit Ungeduld die Rückkehr seiner Gefährten. Denn jetzt galt es nicht mehr, seine Zeit mitBeschauung dieses Goldes und dieser Diamanten hinzubringen und, wie ein unnütze Schätze hütender Drache, auf der Insel Monte Christo zu verweilen; er mußte ins Leben, unter die Menschen zurückkehren und in der Gesellschaft den Rang, den Einfluß, die Gewalt erlangen, die in der Welt der Reichtum verleiht, die erste und größte der Kräfte, worüber der Mensch zu verfügen hat.
Am sechsten Tage kehrten die Schmuggler zurück; Dantes schleppte sich zum Hafen wie der verwundete Philoktet, und als seine Gefährten landeten, sagte er ihnen, immer noch klagend, es sei eine merklicheBesserung in seinem Zustande eingetreten; dann hörte er seinerseits die Erzählung der Abenteurer an. Die Fahrt war im ganzen nicht schlecht gewesen, und alle, besonders Jacopo, beklagten, daß Dantes nicht mitgemacht habe, und darum seines auf fünfzig Piaster sichbelaufenden Anteils am Nutzen verlustig gehe. Edmond verriet sich durch keine Miene, er lächelte nicht einmalbei der Aufzählung der Vorteile, die ihm zugeflossen wären, wenn er die Insel hätte verlassen können. Da die Amalie nur nach Monte Christo gekommen war, um ihn abzuholen, so schiffte er sich ein und folgte dem Patron nach Livorno, wo er sich, da seine Dienstzeit abgelaufen war, von dem alten Seemann verabschiedete. In Livorno ging er zu einem Juden und verkaufte für hunderttausend Franken vier von seinen kleinsten Diamanten. Der Jude hätte sich erkundigen können, wie ein Fischer zu solchen Wertgegenständen komme, aber er hütete sich wohl, denn er gewann an jedem Stein mehrere tausend Franken. Am andern Tage kaufte er eine ganz neueBarke und schenkte sie Jacopo, dem er außerdem noch hundert Piaster gab, damit er sich Leute anwerben könne, alles unter derBedingung, daß Jacopo nach Marseille ginge und dort über einen Greis, namens Louis Dantes, der in den Allées de Meillan wohnte, und über ein Mädchen in dem Dorfe der Katalonier, namens Mercedes, Erkundigungen einzöge.
Jacopo glaubte zu träumen. Edmond erzählte ihm, er sei aus Eigensinn, und weil ihm seine Freunde das Geld zu seinem Unterhalt verweigerten, Seemann geworden, aberbei seiner Ankunft in Livorno habe er die Erbschaft eines Oheims empfangen, der ihn zu seinem alleinigen Erben eingesetzt. Dantes' überlegeneBildung verlieh der Erzählung solche Wahrscheinlichkeit, daß Jacopo seine Angabe keinen Augenblick in Zweifel zog.
Am andern Morgen ging Jacopo nach Marseille unter Segel; er sollte Edmond auf Monte Christo wiederfinden. An demselben Tage reiste Dantes, ohne zu sagen, wohin, nach Genua ab.
In dem Augenblick, wo er hier ankam, machte man eine Probefahrt mit einer kleinen Jacht, die ein Engländerbestellt hatte. Der Erbauer hatte dafür vierzigtausend Franken gefordert; Dantesbot ihm sechzigtausend unter derBedingung, daß ihm das Schiff noch am selben Tage übergeben würde. Man wurde einig, und der Schiffsbauer erbot sich, Dantes auch eine Mannschaft anzuwerben; aber Dantes dankte und erwiderte, er pflege allein zu schiffen; er wünschte nur, daß man in der Kajüte, oben amBette, einen Geheimschrank anbringe, in dem sich drei geheime Fächer fänden; dieser Auftrag wurde auch nach den von ihm gegebenen Maßen am andern Tage ausgeführt.
Zwei Stunden nachher verließ Dantes den Hafen, von denBlicken einer Menge von Neugierigenbegleitet, die den spanischen Herrn sehen wollten, der allein zu schiffen pflegte. Dantes machte seine Sache vortrefflich; mit Hilfe des Steuerruders ließ er sein Schiff alleBewegungen ausführen, die er wollte, und er gestand, daß die Genueser ihren Ruf als die ersten Schiffsbauer der Welt verdienten. Niemand wußte, wohin der fremde Schiffer fahren würde. Sein Reiseziel war jedoch Monte Christo, wo er gegen das Ende des zweiten Tages ankam. Das Schiff war ein vortrefflicher Segler und hatte die Entfernung in 35 Stunden durchlaufen. Dantes hatte sich die Lage der Küste sehr gut gemerkt, und statt in dem gewöhnlichen Hafen zu landen, warf er in der kleinenBucht Anker. Die Insel war öde, niemand schien seit Dantes' Abreise gelandet zu sein. Erbesuchte seinen Schatz; alles war in dem Zustand, wie er es verlassen hatte. Am andern Abend war das ungeheure Vermögen anBord der Jacht gebracht und in den drei Fächern des Geheimschrankes eingeschlossen. Dantes wartete noch acht Tage. Während dieser Zeit ließ er seine Jacht um die Insel manövrieren und studierte sie, wie der Stallmeister ein edles Pferd. Am achten Tage sah er ein kleines Schiff, das mit vollen Segeln auf die Insel zusteuerte; er erkannte JacoposBarke, machte ein Signal, das dieser erwiderte, und zwei Stunden nachher lag dieBarke neben der Jacht. Auf diebeiden Fragen erhielt Edmond eine traurige Antwort; der alte Dantes war tot, Mercedes war verschwunden.
Edmond vernahm diese Nachrichten mit ruhiger Miene; aber er stieg an das Land, wohin ihm keiner folgen durfte. Nach zwei Stunden kam er zurück und nahm nun zwei Mann von JacoposBarke auf seine Jacht über, die ihmbeim Manövrieren helfen sollten. Sodann gaberBefehl, nach Marseille zu segeln. Den Tod seines Vaters hatte er vorhergesehen; aber was war aus Mercedes geworden?
Ohne sein Geheimnisbekannt werden zu lassen, konnte Dantes einem Agenten keine genügenden Instruktionen geben; überdies wollte er noch andere Erkundigungen einziehen, wobei er sich nur auf sich selbst verließ. Sein Spiegel hatte ihn in Livornobelehrt, daß er keine Gefahr lief, erkannt zu werden; auch standen ihm alle Mittel, sich zu verkleiden, zu Gebote. Eines Morgens lief also die Jacht, nebst der kleinenBarke, kühn in den Hafen von Marseille ein und legte sich gerade vor der Stelle vor Anker, wo man Dantes an jenem Abend unseligen Andenkens nach dem Kastell If eingeschifft hatte.
Nicht ohne ein gewissesBeben sah Dantes in dem Sanitätskahne einen Gendarmen auf sich zukommen. Doch mit der vollkommenen Sicherheit, die er erlangt hatte, reichte er ihm einen in Livorno erkauften englischen Paß, und mittels dieses fremden Ausweises, der in Frankreich viel mehr geachtet wird als der französische, stieg er ohne Schwierigkeit ans Land. Das erste, was er erblickte, als er den Fuß auf die Cannebière setzte, war einer von den ehemaligen Matrosen des Pharao. Er schritt gerade auf ihn zu und richtete mehrere Fragen an ihn, die der Matrosebeantwortete, ohne nur entfernt durch seine Worte oder sein Gesicht vermuten zu lassen, daß er sich erinnerte, den Fremden je gesehen zu haben.
Dantes setzte seinen Weg fort; jeder Schritt, den er tat, brachte eine neue Erschütterung in seinem Herzen hervor; alle Erinnerungen aus seiner Kindheit, unvertilgbare Erinnerungen, erhoben sich auf jedem Platze, an jeder Straßenecke. Als er an das Ende der Rue de Noailles gelangte und die Allées de Meillan erblickte, fühlte er, wie ihm die Knie versagten, und er wärebald unter die Räder eines Wagens gefallen. Er kam zu dem Hause, das sein Vaterbewohnt hatte. Hier lehnte er sich an einenBaum und schaute einen Augenblick nachdenkend den obersten Stock des armseligen Häuschens an; endlich ging er auf die Tür zu, überschritt die Schwelle, fragte, obkeine Wohnung frei sei, und drang, obgleich das Hausbesetzt war, so lange in den Hausverwalter, bis dieser hinaufstieg und die Personen, die den obersten Stockbewohnten, im Namen eines Fremden um die Erlaubnisbat, ihre zwei Zimmer sehen zu dürfen.
Die Personen, die den kleinen Raumbewohnten, waren ein junger Mann und eine junge Frau, die sich erst acht Tage vorher geheiratet hatten. Als Dantes diese jungen Leute sah, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Nichts erinnerte ihn indessen an die Wohnung seines Vaters. Nur die Wände waren dieselben. Dantes kehrte sich nach demBette um; es stand an derselben Stelle wie das des früheren Mieters; Dantes' Augenbefeuchteten sich unwillkürlich mit Tränen; auf diesem Platze mußte der Greis gestorben sein. Die zwei jungen Leute schauten voll Erstaunen den Mann mit der ernsten Stirn an, über dessen Wangen zwei große Tränen flossen, ohne daß sich sein Gesicht nur im geringsten veränderte. Aber da jeder Schmerz etwas Heiliges an sich hat, so richteten die jungen Leute keine Frage an den Unbekannten; sie zogen sich nur etwas zurück, um ihn ungestört weinen zu lassen, und da er sich entfernte, begleiteten sie ihn und sagten ihm, er könne wiederkommen, wann er wolle, und ihr armes Haus würde ihn jederzeit gastfreundlich aufnehmen. Als er am untern Stocke vorbeikam, blieber vor einer Tür stehen und fragte, obder Schneider Caderousse immer noch hier wohne; der Hausverwalter antwortete ihm jedoch, der Mann, von dem er spreche, habe schlechte Geschäfte gemacht und führe gegenwärtig die Gastwirtschaft zum Pont du Gard zwischenBellegarde undBeaucaire.
Dantes ging hinab, fragte nach der Adresse des Eigentümers des Hauses der Allées de Meillan, begabsich zu ihm, ließ sich als Lord Wilmore melden (auf diesen Namen lautete sein Paß) und kaufte ihm das Häuschen für die Summe von 25 000 Franken ab, was wenigstens 10 000 Franken mehr war, als es wert sein mochte. Aber Dantes würde eine halbe Millionbezahlt haben, wenn man so viel dafür gefordert hätte.
An demselben Tage wurden die jungen Leute des fünften Stockes durch den Notar, der den Vertrag gemacht hatte, benachrichtigt, daß ihnen der neue Eigentümer eine Wohnung im ganzen Hause nach ihrer Wahl überlasse, ohne ihren Mietzins zu erhöhen, unter derBedingung, daß sie ihm die zwei Zimmer, die siebewohnten, abträten. Dieses seltsame Ereignisbeschäftigte acht Tage lang alleBewohner der Allées de Meillan und gabzu tausend Vermutungen Anlaß, von denen keine der Wahrheit entsprach. Noch mehr Aufregung und Unruhe erregte es aber, daß man den Lord Wilmore im Dorfe der Katalonier umhergehen und in ein armseliges Fischerhäuschen eintreten sah, wo er mehr als eine Stundeblieb, um Erkundigungen über verschiedene Personen einzuziehen, die tot oder seit fünfzehnbis sechzehn Jahren verschwunden waren.
Am andern Tage erhielten die Leute, bei denen er eingetreten war, eine ganz neue katalonischeBarke zum Geschenk, die mit Schleppnetzen und allem, was man sonstbedarf, ausgerüstet war. Gern hätten diebraven Leute dem großmütigen Geber gedankt, doch hatte man ihn, als er sie verließ, einem MatrosenBefehle geben, zu Pferd steigen und aus Marseille wegreiten sehen.
Das Wirtshaus zum Pont du Gard
An der Straße zwischenBeaucaire undBellegarde liegt mit der Rückseite nach der Rhone zu ein altes, verwahrlostes Gasthaus. Seit etwa acht Jahren wurde diese kleine Wirtschaft von einem Manne und einer Frau geführt, deren einzige Dienerschaft ein Stubenmädchen, genannt Toinette, und ein Hausknecht, namens Pacaud, bildeten, die indessen für dieBedürfnisse des Dienstes genügten, seitdem ein vonBeaucaire nach Aigues‑Mortes gegrabener Kanal der Landstraße den Frachtverkehr entzogen hatte.
Der Mann, der diese kleine Wirtschaft führte, war ungefähr vierzig Jahre alt, groß, mager und nervig, der wahre südliche Typus, mit seinen tiefliegenden, glänzenden Augen, seiner adlerförmigen Nase und seinen Zähnen, so weiß wie die eines fleischfressenden Tieres. Seine Haare waren, wie sein dichter, krauserBart, kaum mit etwas Grau vermischt, sein von Naturbräunlicher Teint hatte sich noch tiefer gebräunt, weil sich der arme Teufel vom Morgenbis zum Abend auf seiner Türschwelle aufzuhalten pflegte, um zu sehen, obihm nicht zu Fuß oder zu Wagen ein Kunde zukäme, eine Erwartung, in der er fast immer getäuscht wurde, indes er sich vor der sengenden Sonnenhitze nach der Weise der spanischen Maultiertreiber nur durch ein um den Kopf gewickeltes rotes Taschentuch zu schützen suchte. Dieser Mann war unser alterBekannter Gaspard Caderousse. Seine Frau sah im Gegenteilbleich und kränklich aus. In der Gegend von Arles geboren, war ihr Gesicht, obwohl die ursprünglichen Spuren derbekannten Schönheit ihrer Landsleutebewahrend, langsam unter dem Einfluß eines fastbeständigen Sumpffiebers verfallen. Sie hielt sich, fast immer vor Kälte zitternd, in ihrem im ersten Stocke liegenden Zimmer auf, entweder in einem Lehnstuhle ausgestreckt, oder an ihremBette lehnend, während ihr Mann an der Tür seine gewöhnliche Wachebezog, die sich um so länger ausdehnte, als ihn seine magere Ehehälfte, so oft er sich wieder mit ihr zusammenfand, mit ihren ewigen Klagen gegen das Schicksal verfolgte, die er gewöhnlich nur mit den philosophischen Worten erwiderte: Schweig, Carconte, Gott will es so!
Trotz dieser anscheinenden Fügsamkeit in dieBeschlüsse der Vorsehung darf man indessen nicht glauben, daß unser Wirt den armseligen Zustand nicht erkannte, in den ihn der elende Kanal vonBeaucaire versetzt hatte, und daß er unverwundbar gegen die ewigen Klagenblieb, mit denen ihn seine Frau verfolgte. Er war, wie alle Südländer, ein mäßiger Mensch und ohne großeBedürfnisse, aber eitel in äußeren Dingen. So ließ er in den Zeiten seines Wohlstandes nie eine Prozession vorübergehen, ohne sich dabei mit der Carconte zu zeigen, er in der malerischen Tracht des Südfranzosen, die die Mitte zwischen der des Andalusiers und des Kataloniers hält, sie in dem reizenden Gewande der Frauen von Arles, das Griechenland und Arabien entlehnt zu sein scheint. Allmählich aber waren Uhrketten, Halsbänder, tausendfarbige Gürtel, gestickte Leibchen, Samtwesten, Strümpfe mit zierlichen Zwickeln, bunte Gamaschen, Schuhe mit silbernen Schnallen verschwunden, und Caderousse, der sich nicht mehr in seinem ehemaligen Glanze zeigen konnte, hatte für sich und seine Frau Verzicht geleistet auf alles weltliche Gepränge, dessen freudiges Geräuschbis in sein armseliges Wirtshaus drang, das ihm mehr als Schirmdach, denn als Einnahmequelle diente.
Caderousse hatte sich seiner Gewohnheit gemäß am Morgen vor der Tür aufgehalten und seinen schwermütigenBlick von einem Stückchen kahlen Rasens, woraus ein paar Hühner kauerten, nach den Enden der öden Landstraße spazieren lassen, die einerseits nach Süden und anderseits nach Norden lief, als ihn plötzlich die spitzige Stimme seiner Frau seinen Posten zu verlassen nötigte. Er gingbrummend hinein und stieg in den ersten Stock hinauf, ließ aber nichtsdestoweniger seine Tür weit offen stehen, als wollte er die Reisenden einladen, ihn im Vorbeigehen nicht zu vergessen.
In dem Augenblick, wo Caderousse hineinging, näherte sich vonBellegarde her ein Reiter. Es war ein Priester mit schwarzem Rock und dreieckigem Hute, der vor der Tür anhielt. Der Reiter stieg ab, zog das Pferd am Zügel nach undband es an; dann schritt er, seine von Schweiß triefende Stirn mit einem roten Tuche abwischend, auf die Tür zu und tat mit dem eisernen Ende seines Stockes drei Schläge auf die Schwelle.
Sogleich erhobsich ein großer schwarzer Hund, bellend und seine weißen, scharfen Zähne zeigend. Alsdann erschütterte ein schwerer Tritt die hölzerne Treppe.
Hierbin ich! sagte Caderousse ganz erstaunt, hierbin ich. Willst du schweigen, Margotin. Fürchten Sie sich nicht, Herr, erbellt, aber erbeißt nicht. Was wünschen Sie, was verlangen Sie, Herr Abbé? Ich stehe zuBefehl.
Der Priester schaute den Mann ein paar Sekunden lang mit seltsamer Aufmerksamkeit an, er schien sogar seinerseits die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich lenken zu wollen; als er aber sah, daß die Züge des letzteren kein anderes Gefühl ausdrückten, als ein Erstaunen darüber, daß er keine Antwort erhielt, sagte er mit stark italienischem Ton: Sind Sie nicht Monsou Caderousse?
Ja, Herr, antwortete der Wirt noch mehr erstaunt, ichbin es in der Tat, Gaspard Caderousse, Ihnen zu dienen.
Gaspard Caderousse?… Ja… ich glaube, das ist der Vorname, nicht wahr, Sie wohnten einst in der Allée de Meillan, im vierten Stocke? — Ja.
Und Sie trieben dort das Gewerbe eines Schneiders?
Ja, aber die Sache nahm eine schlimme Wendung. Es ist so heiß in dem spitzbübischen Marseille, daß man sich dort am Ende gar nicht mehr kleiden wird. Doch was die Hitzebetrifft, wollen Sie sich nicht erfrischen, Herr Abbé?
Allerdings! geben Sie mir eine Flasche von Ihrembesten Wein, und wir nehmen dann, wenn's Ihnenbeliebt, das Gespräch wieder auf, wo wir es verlassen.
Um die Gelegenheit nicht zu versäumen, eine von den letzten Flaschen Cahors‑Wein, die ihmblieben, anzubringen, beeilte sich Caderousse, seinem Gast eine solche vorzusetzen. Als er nach Verlauf von fünf Minuten zurückkehrte, fand er den Abbé auf einem Schemel sitzend, den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, während Margotin, der Frieden mit ihm gemacht zu haben schien, seinen fleischlosen Hals und seinen Kopf mit dem schmachtendem Auge auf dem Schenkel des Priesters ausstreckte.
Sie sind allein? fragte der Abbé seinen Wirt, während dieser die Flasche und ein Glas vor ihn stellte.
Oh! mein Gott, ja, allein oderbeinahe so, denn ich habe eine Frau, die mich in nichts unterstützen kann, weil sie immer krank ist, die arme Carconte.
Ah! Sie sind verheiratet? sagte der Priester mit einer gewissen Teilnahme und warf einenBlick umher auf das elende Mobiliar des armseligen Haushalts.
Sie finden, daß ich nicht reichbin, nicht wahr? sagte Caderousse seufzend; aber was wollen Sie, um in dieser Welt zu gedeihen, genügt es nicht, ein ehrlicher Mann zu sein!
Der Abbé heftete einen durchdringendenBlick auf ihn.
Ja, ein ehrlicher Mann, dessen kann ich mich rühmen, sagte der Wirt, der denBlick des Abbés aushielt, und in unseren Zeiten kann das nicht jeder von sich sagen.
Destobesser, wenn Sie wahr reden, versetzte der Abbé; denn ich habe die Überzeugung, daß früher oder später der ehrliche Mannbelohnt und der schlechtebestraft wird.
Sie, als Priester, sagen dies wohl, Herr Abbé! versetzte Caderousse mitbitterem Ausdruck. Doch es steht jedem frei, nicht zu glauben, was Sie sagen.
Sie haben unrecht, daß Sie so sprechen, mein Herr; denn vielleicht werde ich selbst für Sie derBeweis dessen sein, was ichbehaupte.
Wie soll ich das verstehen? fragte Caderousse mit erstaunter Miene.
Ich muß mich vor allem versichern, daß Sie wirklich der sind, den ich suche.
WelcheBeweise soll ich Ihnen geben?
Haben Sie im Jahre 1814 oder 1815 einen Seefahrer namens Dantes gekannt?
Dantes! Obich ihn gekannt habe, den armen Edmond! Ich glaube wohl; er war sogar einer meinerbesten Freunde! rief Caderousse, dessen Gesicht Purpurröte überströmte, während sich das klare, sichere Auge des Abbés zu erweitern schien.
Ja, ich glaube, er hieß wirklich Edmond.
Was ist aus dem armen Edmond geworden, mein Herr? fuhr der Wirt fort; haben Sie ihn vielleicht gekannt? Lebt er noch, ist er frei? Ist er glücklich?
Er ist im Gefängnis gestorben, elender und verzweiflungsvoller, als die Galeerensklaven, die ihre Kugel in demBagno von Toulon schleppen.
Eine Totenblässe überflog Caderousses Antlitz. Er wandte sich um, und der Abbé sah, wie er eine Träne mit einer Ecke seines roten Tuches trocknete.
Armer Kleiner, murmelte Caderousse. Das ist abermals einBeweis von dem, was ich Ihnen sagte, Herr Abbé, daß nämlich der gute Gott nur für die Schlechten gut sei. Oh, diese Welt wird immer schlechter.
Sie scheinen diesen Jungen von ganzem Herzen liebgehabt zu haben? fragte der Abbé.
Oh! ich liebte ihn ungemein, obgleich ich mir vorzuwerfen habe, daß ich ihn einen Augenblick um sein Glückbeneidete. Aber seitdem, das schwöre ich Ihnen, so wahr ich Caderousse heiße, habe ich sein unseliges Geschick sehrbeklagt.
Es trat ein augenblickliches Stillschweigen ein, während dessen der festeBlick des Abbés nicht eine Sekunde diebewegliche Physiognomie des Wirtes zu erforschen aufhörte. Und Sie haben ihn also gekannt, den armen Kleinen? fuhr Caderousse fort.
Ich wurde an sein Sterbebett gerufen, um ihm die letzten Tröstungen der Religion zubieten.
Und woran starber? fragte Caderousse mit halberstickter Stimme.
Woran stirbt man im Gefängnis im Alter von dreißig Jahren, wenn nicht am Gefängnis selbst?
Caderousse trocknete den Schweiß ab, der von seiner Stirn floß.
Das Seltsamstebei alledem ist, fuhr der Abbé fort, daß mir Dantes auf seinem Sterbebettebei dem Christus, dessen Füße er küßte, wiederholt schwur, er wisse die wahre Ursache seiner Gefangenschaft gar nicht.
Das ist richtig, murmelte Caderousse, er konnte sie nicht wissen; nein, Herr Abbé, der Kleine log nicht.
Darumbeauftragte er mich, sein Unglück aufzuklären, was er nie selbst zu tun imstande gewesen war, und sein Andenken zu reinigen, wenn ein Flecken darauf ruhte.
Und derBlick des Abbés wurde immer starrer und verschlang fast den düstern Ausdruck, der auf Caderousses Antlitz hervortrat.
Ein reicher Engländer, fuhr der Abbé fort, sein Unglücksgefährte, der das Gefängnisbei der zweiten Restauration verließ, warBesitzer eines Diamanten von großem Werte. Als er von Dantes, der ihn während einer Krankheit, die er ausgestanden, wie einBruder gepflegt hatte, Abschied nahm, wollte er ihm einenBeweis seiner Dankbarkeit zurücklassen und gabihm diesen Diamanten. Statt sich desselben zubedienen, um die Gefängniswärter zubestechen, die den Edelstein ja nehmen und ihn hernach verraten konnten, bewahrte er ihn stets als ein kostbares Kleinod, falls er aus dem Gefängnis käme, denn wenn ihm dies gelang, so war sein Glück durch den Verkauf dieses Diamanten allein gesichert.
Es war also, wie Sie sagen, ein Diamant von großem Werte? fragte Caderousse mit glühenden Augen.
Allesbeziehungsweise, erwiderte der Abbé; er war für Edmond von großem Werte; man hat den Stein auf fünfzigtausend Franken geschätzt.
Fünfzigtausend Franken! rief Caderousse; er war also so groß wie eine Nuß?
Nein, nicht ganz; doch Sie mögen selbst urteilen, ich habe ihnbei mir. Und der Abbé zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral von schwarzem Saffianleder, öffnete es und ließ vor Caderousses geblendeten Augen den herrlichen Stein funkeln, der in einen Ring vonbewunderungswürdiger Arbeit gefaßt war.
Und das ist fünfzigtausend Franken wert? fragte Caderousse gierig.
Ohne die Fassung, die auch ihren Preis hat, sagte der Abbé, machte das Futteral zu und steckte den Diamanten, der in Caderousses Phantasie fortfunkelte, in seine Tasche.
Aber woherbesitzen Sie diesen Diamanten, Herr Abbé? fragte Caderousse; haben Sie ihn von Edmond?
Ja, als sein Testamentsvollstrecker. Ich hatte drei gute Freunde und eineBraut, sagte er zu mir; alle vier, ichbin überzeugt, beklagen michbitterlich; der eine dieser Freunde hieß Caderousse.
Caderoussebebte.
Der andere, fuhr der Abbé fort, ohne daß er Caderousses Erregung wahrzunehmen schien, hieß Danglars; der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls…
Ein teuflisches Lächeln entstellte Caderousses Züge, und er machte eineBewegung, um den Abbé zu unterbrechen.
Warten Sie, sagte der Abbé, lassen Sie mich vollenden, und wenn Sie etwas zubemerken haben, so können Sie es dann sogleich tun. Der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls und hieß Fernand; der Name meinerBraut war… Ich erinnere mich des Namens derBraut nicht mehr, sagte der Abbé.
Mercedes.
Ah! ja, versetzte der Abbé mit unterdrücktem Seufzen. DieBraut hieß Mercedes; ja, so ist es. Sie gehen nach Marseille… Verstehen Sie? So sprach Dantes.
Ich verstehe.
Sie verkaufen diesen Diamanten, Sie machen fünf Teile und geben sie diesen guten Freunden, den einzigen Wesen, die mich auf Erden geliebt haben.
Wie, fünf Teile? fragte Caderousse; Sie haben mir nur vier Personen genannt!
Weil die fünfte tot ist, wie ich erfuhr… Die fünfte war Dantes' Vater.
Ach! ja, sagte Caderousse, erschüttert durch die Leidenschaften, die sich in seinem Innern durchkreuzten; ach! ja, der arme Mann ist tot.
Ich habe das in Marseille erkundet, erwiderte der Abbé, der Mühe hatte, gleichgültig zu erscheinen; aber der Tod ist schon so lange erfolgt, daß ich über die näheren Umstände nichts erfahren konnte… Wissen Sie vielleicht etwas von dem Ende des Greises?
Ei! erwiderte Caderousse, wer kann dasbesser wissen, als ich?… Ich wohnte Tür an Tür mit dem guten Mann.
… Ei! mein Gott; ja, ein Jahr nach dem Verschwinden seines Sohnes starbder arme Greis!
Woran starber?
Die Ärzte nannten die Krankheit; er starb, glaube ich, an einer Art Magendarmentzündung; seineBekannten sagten, er sei vor Schmerz gestorben;… ich aber, der ich ihnbeinahe verscheiden sah, sage, er starb…
Woran? versetzte der Priester voll Angst.
Hungers!
Hungers? rief der Abbé, von seinem Schemel aufspringend; Hungers! Die schlechtesten Tiere sterben nicht Hungers; die Hunde, die in den Straßen umherirren, finden eine mitleidige Hand, die ihnen ein StückBrot zuwirft, und ein Mensch, ein Christ ist vor Hunger gestorben, mitten unter andern Menschen, die sich Christen nannten, wie er? Unmöglich! oh! das ist unmöglich!
Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, sagte Caderousse.
Und du hast unrecht gehabt, rief eine Stimme auf der Treppe; worein mischst du dich?
Die Männer wandten sich um und erblickten durch das Treppengeländer Carcontes fiebrigen Kopf; sie hatte sichbis hierher geschleppt undbelauschte, auf der letzten Stufe sitzend und den Kopf auf ihre Knie stützend, das Gespräch.
Worein mischst du dich, Frau? entgegnete Caderousse. Der Herr verlangt Auskunft, die Höflichkeit will, daß ich ihm entspreche.
Ja, aber die Klugheit will, daß du ihm die Auskunft weigerst. Wer sagt dir, in welcher Absicht man dich zum Sprechen veranlaßt, Dummkopf?
In einer vortrefflichen, Madame, dafür stehe ich Ihnen, versetzte der Abbé. Ihr Gatte hat nichts zubefürchten, falls er offenherzig antwortet!
Nichts zubefürchten… ja, man fängt mit schönen Versprechungen an, hernachbeschränkt man sich darauf, zu sagen, man habe nichts zubefürchten; dann geht man und hält nichts von dem, was man versprochen hat, und eines Morgensbricht das Unglück über die armen Leute herein, ohne daß man weiß, woher es kommt.
Seien Sie unbesorgt, gute Frau, erwiderte der Abbé, das Unglück wird von meiner Seite nicht über Sie kommen, dafür stehe ich.
Die Carcontebrummte ein paar Worte, die man nicht verstehen konnte, ließ ihren Kopf wieder auf die Knie sinken, zitterte, fortwährend vom Fieber geschüttelt, und stellte es ihrem Manne frei, das Gespräch fortzusetzen, jedoch nur so, daß sie kein Wort davon verlor.
Mittlerweile hatte der Abbé einige Schluck Wasser getrunken und sich etwas gesammelt.
Dieser unglückliche Greis, fuhr er fort, war also dergestalt von aller Welt verlassen, daß er eines solchen Todes starb?
Oh! Herr, antwortete Caderousse, nicht als hätten ihn Mercedes, die Katalonierin, oder Herr Morel verlassen, aber der unglückliche Greis hatte einen solchen Widerwillen gegen Fernand gefaßt, gerade gegen den, fügte Caderousse mit einem ironischen Lächelnbei, den Dantes Ihnen als einen seiner Freundebezeichnete.
Er war es also nicht? fragte der Abbé.
Kann man der Freund eines Menschen sein, dessen Frau manbegehrt? Dantes, der ein Goldherz war, nannte alle diese Leute seine Freunde. Armer Edmond!.. Es istbesser, daß er nichts erfahren hat;… es hätte ihn zu sehr gequält, ihnen im Augenblick des Todes verzeihen zu sollen. Und was man auch sagen mag, fuhr Caderousse in seinerbilderreichen Sprache fort, mir graut noch mehr vor dem Fluche der Toten, als vor dem Hasse der Lebendigen.
Schwachkopf, sagte die Carconte.
Sie wissen also, was dieser vermeintliche Freund gegen Dantes getan hat? fragte der Abbé.
Obich es weiß! Ich glaube wohl!
Gaspard, tu, was du willst, 's ist deine Sache, rief die Frau oben von der Treppe herab, doch wenn du mir Gehör schenktest, sagtest du nichts.
Diesmal glaube ich, daß du recht hast, Frau.
Sie wollen also nichts sagen? versetzte der Abbé.
Wozu soll es nützen? sagte Caderousse. Wenn der Kleine noch am Leben wäre und zu mir käme, um einmal alle seine Freunde und Feinde kennen zu lernen, dann wohl; aber er liegt unter der Erde, wie Sie mir sagen, er kann keinen Haß mehr haben, er kann sich nicht mehr rächen, folglich ausgelöscht die ganze Geschichte!
Ich soll also diesen Leuten, die Sie für unwürdige und falsche Freunde erklären, eine für die TreuebestimmteBelohnung geben?
Es ist wahr, Sie haben recht, erwiderte Caderousse. Was wäre überdies für sie jetzt das Legat des armen Edmond? Ein in das Meer fallender Tropfen Wasser.
Abgesehen davon, daß dich diese Leute mit einer Gebärde vernichten können, sagte die Fran.
Wieso? Diese Menschen sind also reich und mächtig geworden?
Sie kennen Ihre Geschichte nicht?
Nein; erzählen Sie!
Caderousse schien einen Augenblick nachzudenken und sprach sodann: Nein, es wäre in der Tat zu lang.
Sie mögen nach IhremBelieben schweigen, mein Freund, versetzte der Abbé mit dem Tone der größten Gleichgültigkeit, und ich ehre IhreBedenklichkeiten; sprechen wir nicht mehr davon! Womit wurde ichbeauftragt? Mit einer einfachen Förmlichkeit. Ich werde also diesen Diamanten verkaufen.
Und er zog den Edelstein aus der Tasche, öffnete das Futteral und ließ ihn abermals vor Caderousses geblendeten Augen glänzen.
Sieh doch, Fran, sagte dieser mit heiserer Stimme.
Ein Diamant? sagte die Carconte, aufstehend und mit ziemlich festem Schritte die Treppe herabsteigend. Was ist's mit diesem Diamanten?
Hast du denn nicht gehört, Frau? Es ist ein Diamant, den uns der Kleine vermacht hat, zuerst seinem Vater, sodann Fernand, Danglars, mir und Mercedes, seinerBraut. Dieser Diamant ist fünfzigtausend Franken wert.
Oh, der schöne Juwel! rief sie.
Also gehört der fünfte Teil dieser Summe uns? fragte Caderousse.
Ja, antwortete der Abbé, nebst dem Teile des Vaters von Dantes, den ich unter euch vier zu verteilen michberechtigt glaube.
Und warum unter uns vier? fragte Caderousse.
Weil ihr Edmonds vier Freunde seid.
Verräter sind keine Freunde, murmelte dumpf die Frau.
Ja, ja, sagte Caderousse, das sagte ich auch. Es ist eine Entheiligung, ein Frevel, den Verrat, vielleicht das Verbrechen zubelohnen.
Sie wollen es so haben, erwiderte der Abbé und steckte ruhig den Diamanten in die Tasche seiner Soutane. Nun geben Sie mir die Adresse von Edmonds Freunden, damit ich seinen letzten Willen vollstrecken kann.
Der Schweiß floß in schweren Tropfen über Caderousses Stirn; er sah den Abbé aufstehen, sich nach der Tür wenden, als wollte er seinem Pferde einenBlick zuwerfen, und zurückkommen. Caderousse und seine Frau schauten sich mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an.
Der Diamant wäre ganz unser! sagte Caderousse.
Glaubst du? erwiderte seine Frau.
Ein Geistlicher wird uns gewiß nicht täuschen wollen.
Tu, was du willst. Ich wenigstens mische mich nicht drein.
Und sie ging fieberschauernd wieder die Treppe hinauf. Ihre Zähne klapperten trotz der Glühhitze. Auf der letzten Stufebliebsie einen Augenblick stehen und rief: Bedenke wohl, Gaspard.
Ichbin entschlossen, antwortete Caderousse.
Die Carconte ging, einen Seufzer ausstoßend, in ihre Stube zurück; man hörte die Decke unter ihren Tritten krachen, bis sie ihren Lehnstuhl wieder erreicht hatte, in dem sie sich schwerfällig niederließ.
Ich glaube in der Tat, es ist dasbeste, was Sie tun können, mir alles zu sagen, sagte der Priester; nicht als obmir viel daran gelegen wäre, die Dinge zu erfahren, die Sie mir verbergen wollen; aber es wirdbesser sein, wenn Sie mich in den Stand setzen, das Vermächtnis nach dem Willen des Erblassers zu verteilen.
Ich hoffe dies, antwortete Caderousse mit von Hoffnung und Gier geröteten Wangen. Er ging an die Tür seines Wirtshauses, verschloß sie und schobzu größerer Sicherheit den Nachtriegel vor. Mittlerweile hatte der Abbé seinen Platz gewählt, um mitBequemlichkeit zu hören; er saß so in einer Ecke, daß er im Schattenblieb, während das volle Licht auf Caderousses Gesicht fiel. Das Haupt geneigt, die Hände zusammengelegt oder vielmehr krampfhaft zusammengepreßt, schickte er sich an, mit der größten Aufmerksamkeit auf jedes Wort zu lauschen. Caderousse rückte einen Schemel vor und setzte sich ihm gegenüber.
Vergiß nicht, daß du's gegen meinen Willen tust, sagte die zitternde Stimme der Carconte, als hätte sie durch denBoden die Szene unten sehen können.
Gut, gut! rief Caderousse; genug, ich nehme alles auf mich.
Und er fing an.
Die Erzählung
Vor allem, Herr, sagte Caderousse, vor allem muß ich Siebitten, mir zu versprechen, daß Sie, wenn Sie von den Umständen Gebrauch machen, die ich Ihnen mitteilen werde, nie sagen, von wem diese Mitteilung herrührt; denn die Leute, von denen ich zu sprechen habe, sind reich und mächtig, und wenn sie mich nur mit dem Fingerberührten, würden sie mich wie Glas zerbrechen.
Seien Sie unbesorgt, mein Freund, ichbin Priester, und dieBekenntnisse sterben in meinerBrust. Erinnern Sie sich, daß wir keinen andern Zweck haben als den, den letzten Willen unseres Freundes würdig zu erfüllen. Sprechen Sie also ohne Schonung, wie ohne Haß, sagen Sie die volle Wahrheit! Ich kenne die Personen nicht, von denen die Rede sein wird, und werde sie wohl nie kennen lernen; überdiesbin ich Italiener und nicht Franzose; ich gehöre Gott und nicht den Menschen und kehre in mein Kloster zurück, das ich nur verlassen habe, um den letzten Willen eines Sterbenden zu vollziehen.
Diesesbestimmte Versprechen schien Caderousse einige Sicherheit zu verleihen. In diesem Falle, versetzte er, will und muß ich Ihnen die Täuschung über diejenigenbenehmen, die der arme Edmond für treu und redlich hielt.
Fangen Sie mit seinem Vater an, bitte. Edmond hat mit mir viel von dem Greise gesprochen, für den er eine tiefe Liebe hegte.
Diese Geschichte ist traurig, mein Herr, erwiderte Caderousse seufzend. Sie kennen wahrscheinlich den Anfang?
Ja, versetzte der Abbé, Edmond hat mir die Sachebis zu dem Augenblick erzählt, wo er in einer kleinen Schenke in der Nahe von Marseille verhaftet wurde, und nie hat er eine von den fünf Personen wiedergesehen, die ich Ihnen nannte, nie hat er von ihnen sprechen hören.
Nun wohl, als Dantes einmal verhaftet war, lief Herr Morel weg, um Erkundigungen einzuziehen; sie fielen sehr traurig aus. Der Greis kehrte allein nach Hause zurück, legte weinend seinen Hochzeitsrock zusammen, schritt den ganzen Tag in seinem Zimmer auf und abund ging abends nicht schlafen; denn ich wohnte unter ihm und hörte ihn die ganze Nacht umhergehen; ich muß sagen, ich schlief selbst auch nicht. Der Schmerz dieses armen Vaters tat mir sehr wehe, und jeder seiner Tritte zermalmte mir das Herz. Am andern Tage kam Mercedes nach Marseille, in der Absicht, den Staatsanwalt um seinen Schutz anzuflehen; sie erreichte nichts; siebesuchte zugleich auch den Greis. Als sie sah, daß er so düster und niedergeschlagen war, daß er die Nacht, ohne sich zuBette zu legen, zugebracht und seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen hatte, wollte sie ihn mit sich nehmen, um ihn zu pflegen; aber der Greis willigte nicht ein. Nein, sagte er, ich werde das Haus nicht verlassen, denn mich liebt mein armer Sohn vor allen andern, und wenn er aus dem Gefängnis kommt, wird er zuerst zu mir laufen. Was würde er sagen, wenn ich ihn nicht hier erwartete? Ichbelauschte dies alles durch die Wand, denn es wäre mir liebgewesen, Mercedes hätte ihnbestimmt, ihr zu folgen; der Tag und Nacht über mir erschallende Tritt ließ mir keinen Augenblick Ruhe.
Aber gingen Sie denn nicht selbst zu dem Greise hinaus, um ihn zu trösten? fragte der Priester.
Ah! Herr, erwiderte Caderousse, man tröstet nur die, welche getröstet sein wollen, er aber wollte dies nicht. Überdies kam es mir vor, als hätte er einen Widerwillen gegen meinen Anblick. In einer Nacht jedoch, da ich sein Schluchzen hörte, konnte ich nicht widerstehen und ging hinaus; als ich jedoch an die Tür kam, schluchzte er nicht mehr, erbetete. Ich kann Ihnen nicht wiederholen, welcheberedten Worte, welche erbarmenswertenBitten er fand; es war mehr als Frömmigkeit, es war mehr als Schmerz; ich, der ich kein Heuchlerbin und die Jesuiten nicht liebe, sagte mir auch an diesem Tage: Es ist ein Glück, daß ich alleinbin, und daß der liebe Gott mir keine Kinder geschenkt hat, denn wenn ich Vater wäre und empfände einen Schmerz, wie der arme Greis, und könnte weder in meinem Geiste, noch in meinem Herzen finden, was er dem guten Gotte sagt, so stürzte ich mich geradenwegs ins Meer, um nicht länger zu leiden.
Armer Vater! murmelte der Priester.
Von Tag zu Tag lebte er einsamer und abgeschiedener; Herr Morel und Mercedes kamen oft, ihn zubesuchen, aber seine Tür war verschlossen, und er antwortete nicht, obgleich ichbestimmt wußte, daß er zu Hause war. Als er eines Tages, gegen seine Gewohnheit, Mercedes einließ und das arme Kind, selbst in Verzweiflung, ihn zu trösten suchte, sagte er: Glaube mir, meine Tochter, er ist tot… und statt daß wir ihn erwarten, erwartet er uns. Ichbin sehr glücklich, denn ichbin älter und werde ihn folglich zuerst wiedersehen.
Bei aller Gutmütigkeit hört man am Ende doch auf, die Menschen zubesuchen, die einen traurig machen; sobliebder alte Dantes zuletzt ganz allein. Ich sah nur noch von Zeit zu Zeit unbekannte Leute zu ihm hinaufgehen, die mit irgend einem schlecht verborgenen Päckchen zurückkamen; ichbegriff, welcheBewandtnis es mit diesen Päckchen hatte; er verkaufte nach und nach, was erbesaß, um zu leben. Endlich nahm esbei dem guten Mann ein Ende mit seiner armseligen Habe… Er war drei Mietzinse schuldig, man drohte ihm mit Hinauswerfen. Erbat um acht Tage Geduld, die man ihmbewilligte. Ich erfuhr diesen Umstand, weil der Hauseigentümer mich gleich daraufbesuchte. Während der drei ersten Tage hörte ich ihn wie gewöhnlich auf und abgehen; am vierten… vernahm ich nichts mehr… Ich ging hinauf, die Tür war verschlossen; durch das Schlüsselloch sah ich den Greis jedoch sobleich und entstellt, daß ich ihn für sehr krank hielt, Herrn Morelbenachrichtigen ließ und zu Mercedes lief. Beide eilten herbei; Herr Morelbrachte einen Arzt; der Arzt erkannte eine Magendarmentzündung und verordnete Diät. Ich war dabei, Herr, und werde nie das Lächeln des Greisesbei dieser Verordnung vergessen. Von nun an öffnete er seine Tür, er hatte eine Entschuldigung, daß er nicht mehr aß; der Arzt hatte Diät verordnet.
Der Abbé stieß einen Seufzer aus.
Mercedes kam wieder; sie fand ihn so verändert, daß sie ihn wie das erste Mal in ihr Hausbringen lassen wollte. Es war dies auch Herrn Morels Ansicht, der ihn mit Gewalt dorthin schaffen wollte; doch der Greis schrie dergestalt, daß sie Angstbekamen. Mercedesblieban seinemBett. Herr Morel entfernte sich, nachdem er Mercedes durch ein Zeichenbedeutet hatte, er lasse eineBörse auf dem Kamine. Aber auf Grund der Verordnung des Arztes wollte der Greis nichts zu sich nehmen. Endlich, nach nenn Tagen der Verzweiflung und Enthaltsamkeit, verschied er mit Flüchen für die Urheber seines Unglücks. Zu Mercedes aber sagte er noch: Wenn du meinen Edmond wiedersiehst, so sage ihm, ich sei, ihn segnend, gestorben.
Der Abbé stand auf und ging zweimal im Zimmer auf und ab, wobei er seine zitternde Hand an seine trockene Kehle legte.
Und Sie glauben, er starb…
Hungers, mein Herr, Hungers, dafür stehe ich, so wahr wir hier zwei Christen sind, antwortete Caderousse.
Der Abbé ergriff mit krampfhafter Hand noch das halbvolle Glas, leerte es auf einen Zug und setzte sich nieder, die Augen gerötet und die Wangenbleich.
Gestehen Sie, daß dies ein großes Unglück ist, sagte er mit heiserer Stimme.
Um so größer, mein Herr, als es nicht Gott herbeigeführt hat, sondern die Menschen allein schuld daran sind.
Wenden wir uns also diesen Menschen zu, doch vergessen Sie nicht, rief der Abbé mitbeinahe drohender Miene, Sie haben mir alles zu sagen versprochen; wer sind die, denen es zuzumessen ist, daß der Sohn vor Verzweiflung und der Vater vor Hunger starb?
Zwei Menschen, die auf ihn eifersüchtig waren, der eine aus Liebe, der andere aus Ehrgeiz, Fernand und Danglars.
Was haben sie aus Eifersucht getan?
Sie denunzierten Edmond alsbonapartistischen Agenten.
Welcher vonbeiden tat es? Welcher vonbeiden ist der wahre Schuldige?
Beide, Herr; Danglars schriebdie Anzeige mit der linken Hand, um seine Schrift zu verstellen, und Fernand schickte sie ab.
Ja, so ist es, murmelte der Abbé… Oh! Faria! Faria! wie gut kanntest du die Menschen! Waren Sie auch dabei?
Ich? versetzte Caderousse erstaunt, wer hat Ihnen gesagt, daß ich dabei war?
Der Abbé sah, daß er zu weit gegangen war, und erwiderte: Niemand; doch um alle diese Einzelheiten so genau zu kennen, müssen Sie notwendig Zeuge gewesen sein.
Das ist wahr, sagte Caderousse mit erstickter Stimme, ich war dabei.
Und Sie haben sich dieser Schändlichkeit nicht widersetzt? Folglich sind Sie ein Mitschuldiger!
Herr, sie hatten mich so trunken gemacht, daß ichbeinahe die Vernunft verlor. Ich sah nur noch durch eine Wolke. Alles, was ein Mensch in einem solchen Zustande sagen kann, sagte ich, aberbeide erwiderten, sie hätten nur einen Scherz machen wollen, und dieser Scherz hätte keine Folgen.
Doch am andern Tage sahen Sie, daß er Folgen hatte; Sie sagten aber nichts und waren dabei, als man ihn verhaftete.
Ja, Herr, ich war dabei und wollte alles sagen, Danglars hielt mich jedoch zurück. Wenn er etwa schuldig ist, sagte er zu mir, wenn er wirklich an der Insel Elba angehalten, wirklich einenBrief für dasbonapartistische Komitee in Paris mitgenommen hat, wenn dieserBriefbei ihm gesunden wird, so werden die, welche ihn unterstützt haben, als seine Mitschuldigenbetrachtet werden. Ich fürchtete mich und schwieg; ich gestehe, es war Feigheit, aber kein Verbrechen.
Ichbegreife, Sie ließen die Sache eben gehen.
Ja, Herr, und das plagt mein Gewissenbei Tag undbei Nacht. Ich schwöre Ihnen, ichbitte Gott sehr oft um Verzeihung, und zwar um so mehr, als diese Handlung, die einzige, die ich mir in meinem ganzen Leben vorzuwerfen habe, ohne Zweifel die Ursache meines Unglücks ist. Ichbüße einen Augenblick der Selbstsucht und sage auch immer zu Carconte, wenn sie sichbeklagt: Schweig, Frau, Gott will es so.
Und Caderousse neigte das Haupt mit allen Zeichen wahrer Reue.
Gut, sagte der Abbé, Sie haben offenherzig gesprochen; sich so anklagen heißt Verzeihung verdienen.
Leider ist Edmond tot und hat mir nicht verziehen.
Er wußte es nicht.
Aber nun weiß er es vielleicht, sagte Caderousse. Man sagt, die Toten wissen alles.
Es trat ein kurzes Stillschweigen ein; der Abbé war aufgestanden und ging nachdenklich auf und ab; dann kehrte er zu seinem Platze zurück und setzte sich wieder.
Sie haben mir schon zwei- oder dreimal einen gewissen Herrn Morel genannt, sagte er. Wer war dieser Mann?
Der Reeder des Pharao, Dantes' Patron.
Und welche Rolle spielte er in dieser traurigen Geschichte?
Die Rolle eines redlichen, mutigen, liebevollen Mannes. Zwanzigmal verwendete er sich für Edmond; als der Kaiser zurückkehrte, schrieber, bat er, drohte er dermaßen, daß erbei der zweiten Restauration alsBonapartist hart verfolgt wurde. Zwanzigmal kam er, wie ich Ihnen sagte, zu Dantes' Vater, um ihn in sein Haus zu nehmen, und einen oder zwei Tage vor seinem Tode ließ er, wie ich ebenfalls erwähnte, eineBörse auf dem Kamine, womit man die Schulden des guten Mannesbezahlte und seineBeerdigungbesorgte, so daß der arme Greis wenigstens sterben konnte, wie er gelebt hatte, ohne jemand unrecht zu tun. Ich habe dieBörse noch, eine großeBörse von roter Seide.
Und dieser Herr Morel lebt noch? — Ja.
Dann muß er ein vom Himmel gesegneter Mann, er muß reich, er muß glücklich sein.
Caderousse lächeltebitter und erwiderte: Ja, wie ich.
Wie, Herr Morel wäre unglücklich? rief der Abbé.
Er ist der Armut nahe, mehr noch, er steht an der Grenze der Schande. Ja, nach 25 jähriger Arbeit, nachdem er die ehrenvollste Stellung in der Marseiller Handelswelt erlangt hatte, ist Herr Morel völlig zu Grunde gerichtet. Er hat in zwei Jahren fünf Schiffe verloren, dreiBankerotte erlitten, und seine einzige Hoffnung steht nun auf eben diesem Pharao, den der arme Dantes kommandierte; dieses Schiff soll mit einer Ladung Cochenille und Indigo aus Indien zurückkommen; bleibt es auch aus, wie die andern, so ist er verloren.
Hat der Unglückliche Frau und Kinder? fragte der Abbé.
Ja, er hat eine Frau, die sich wie eine Heiligebenimmt; er hat eine Tochter, die einen Mann heiraten sollte, den sie liebt, den aber seine Familie ein zu Grunde gerichtetes Mädchen nicht heiraten lassen will; er hat endlich einen Sohn, der Leutnant ist. Doch Siebegreifen: alles dies verdoppelt den Schmerz des Armen, statt ihn zu mildern. Wäre er allein, so würde er sich einfach die Hirnschale zerschmettern.
Das ist furchtbar! murmelte der Abbé.
Sobelohnt Gott die Tugend! sagte Caderousse. Ich, der, abgesehen von dem, was ich Ihnen erzählte, nie eine schlechte Handlungbegangen hat, bin im Elend. Wenn ich meine arme Frau am Fieber habe hinscheiden sehen, ohne etwas für sie tun zu können, werde ich Hungers sterben, wie der alte Dantes, während Fernand und Danglars sich auf dem Golde wälzen.
Wieso?
Weil sichbei ihnen alles zum Guten gewendet hat, wie sichbei ehrlichen Leuten alles zum Schlimmen wendet.
Was ist aus Danglars, dem Schuldigsten, dem Anstifter, geworden?
Er hat Marseille verlassen und ist auf Herrn Morels Empfehlung, der nichts von seinem Verbrechen wußte, bei einem spanischenBankier als Commis eingetreten. Zur Zeit des spanischen Kriegesbeteiligte er sich an den Lieferungen für das französische Heer und hatte Glück; mit diesem ersten Gelde spielte er in Papieren und verdreifachte, vervielfachte sein Vermögen. Witwer von der Tochter desBankiers, heiratete er sodann eine Witwe, Frau von Nargonne, Tochter des Herrn von Servieux, der Kammerherr des gegenwärtigen Königs ist und sich der höchsten Gunst erfreut. Er hatte sich zum Millionär gemacht, erhielt dann den Grafentitel und hat nun einen Palast in der Rue du MontBlanc, zehn Pferde in seinen Ställen, sechs Lakaien in seinem Vorzimmer, und ich weiß nicht wieviel Millionen in seinen Kassen.
Ah! rief der Abbé mit einem seltsamen Ausdrucke, und er ist glücklich?
Glücklich… wer kann das sagen? Macht ein großes Vermögen das Glück aus, so ist Danglars glücklich.
Und Fernand?
Fernand war noch glücklicher, er hat zugleich Vermögen und Stellung; er wurdebald nach Dantes' Verhaftung zum Heere ausgehoben; ich ebenfalls, und da ich älter als Fernand und verheiratet war, so verwandte man michbeim Dienst an der Küste. Fernand wurde den aktiven Truppen eingereiht, kam mit seinem Regiment an die Grenze und wohnte der Schlachtbei Lignybei. In der Nacht, die auf das Treffen folgte, stand er Schildwache vor der Tür eines Generals, der in geheimer Verbindung mit dem Feinde stand. In derselben Nacht sollte der General mit den Engländern eine Zusammenkunft haben; er schlug Fernand vor, ihn zubegleiten. Dieser willigte ein, verließ seinen Posten und folgte dem General. Was Fernand vor ein Kriegsgericht gebracht hätte, wenn Napoleon auf dem Throne geblieben wäre, diente ihmbei denBourbonen zur Empfehlung. Er kehrte nach Frankreich als Unterleutnant zurück, und durch die Gunst des sehr angesehenen Generals wurde er 1823 Kapitän. Fernand war Spanier; er wurde deshalbin diplomatischen Diensten nach Madrid geschickt. Hier leistete er seinem Vaterlande so gute Dienste undbewährte sich in dem folgenden spanischen Feldzug so, daß er nach der Einnahme von Trocadero zum Obersten ernannt wurde und das Offizierskreuz der Ehrenlegion mit demBaronentitel erhielt.
Verhängnis! Verhängnis! murmelte der Abbé.
Ja, doch hören Sie, das ist noch nicht alles. Als der Kriegbeendigt war, fand Fernand, daß erbei dem langen Frieden, der in Westeuropa nun vorauszusehen war, wenig Aussicht aufBeförderung habe. Er erbat demnach von der Regierung die Erlaubnis, in den Reihen der griechischen Freiheitskämpfer gegen die Türkei zu dienen, während er doch in der französischen Armeeliste fortgeführt wurde. Einige Zeit nachher erfuhr man, daß derBaron von Morcerf, dies war der Name, den er führte, in die Dienste Ali Paschas mit dem Grade eines Generalinstruktors eingetreten war. Ali Pascha wurde getötet; aber ehe er starb, belohnte er Fernands Dienste, indem er ihm einebeträchtliche Summe zustellen ließ, mit der er nach Frankreich zurückkehrte, wo ihm sein Grad als Generalleutnantbestätigt wurde.
Und heute? fragte der Abbé.
Heute ist er Graf, Deputierter undbesitzt ein prachtvolles Haus in Paris, Rue du Helder Nr. 27.
Der Abbé öffnete den Mund, zögerte einen Augenblick und sagte dann, sich selbstbezwingend: Und Mercedes? Man hat mir versichert, sie sei verschwunden.
Verschwunden, wie die Sonne verschwindet, um am andern Tage glänzender aufzugehen.
Sie hat also ebenfalls ihr Glück gemacht? fragte der Abbé mit ironischem Lächeln.
Mercedes ist in diesem Augenblicke eine der vornehmsten Damen von Paris, antwortete Caderousse.
Fahren Sie fort, sagte der Abbé; es ist mir, als hörte ich die Erzählung eines Traumes. Aber ich habe selbst so außerordentliche Dinge erlebt, daß mich die, welche Sie mir mitteilen, weniger in Erstaunen setzen.
Mercedes war anfangs in Verzweiflung über den Schlag, der ihr Edmond raubte. Ich sprachbereits von ihrenBittenbei dem Staatsanwalt und von ihrer Ergebenheit für Dantes' Vater. Mitten in ihrer Verzweiflung traf sie ein neuer Schmerz, das Scheiden Fernands, den sie, mit seinem Verbrechen nichtbekannt, als ihrenBruderbetrachtete. Fernand reiste als Konskribierter zum Heer, Mercedesblieballein.
Drei Monate verliefen für sie in Tränen; keine Kunde von Edmond, keine Nachricht von Fernand, nichts vor Augen, als einen Greis, der in seiner Verzweiflung hinstarb. Weder Geliebter, noch Freund war ihr geblieben. Plötzlich kam es ihr vor, als hörte sie einenbekannten Tritt; sie wandte sich ängstlich um, die Tür ging auf, und Fernand erschien in seiner Unterleutnants‑Uniform. Es war nicht die Hälfte dessen, was siebeweinte, aber es war doch ein Teil ihres vergangenen Lebens, was zu ihr zurückkehrte. Sie faßte Fernands Hände mit einem Entzücken, das dieser für Liebe hielt, während es nur die Freude war, nicht mehr allein auf der Welt zu sein und endlich nach langen Stunden einsamer Trauer einen Freund wiederzusehen. Auch muß ich sagen, Fernand war ihr nie verhaßt gewesen, nur hatte sie ihn nie geliebt. Ein andererbesaß ihr ganzes Herz; dieser andere aber war abwesend, verschwunden, vielleicht tot. Bei diesem letzten Gedankenbrach Mercedes in Schluchzen aus und rang die Hände vor Schmerz; aber der Gedanke, den sie verwarf, wenn er ihr von einem andern zugeflüstert wurde, kehrte jetzt von selbst in ihrembetrübten Geiste ein. Überdies sagte der alte Dantes unablässig zu ihr: Unser Edmond ist tot, denn wenn er nicht tot wäre, käme er zu uns zurück.
Der Greis starb, wie gesagt; hätte er gelebt, so würde Mercedes vielleicht nie die Frau eines andern geworden sein; denn er wäre da gewesen, um ihr ihre Untreue vorzuwerfen. Fernand sah dies ein. Als er daher den Tod des Greises erfuhr, kehrte er zurück. Diesmal war er Leutnant. Bei seiner ersten Reise hatte er Mercedes kein Wort von Liebe gesprochen, bei der zweiten erinnerte er sie an seine heiße Zuneigung. Ein Jahr war inzwischen vergangen; sie forderte noch sechs Monate, um Edmond zu erwarten und zubeweinen.
Das macht im ganzen achtzehn Monate, sagte der Abbé mitbitterem Lächeln. Was kann der angebetetste Geliebte mehr fordern? Dann murmelte er die Worte des englischen Dichters: Schwachheit, dein Name ist Weib.
Sechs Monate nachher, fuhr Caderousse fort, fand die Hochzeit in der Kirche des Accoules statt.
Es war dieselbe Kirche, in der sie Edmond heiraten sollte, murmelte der Abbé, nur war's ein andererBräutigam.
Mercedes heiratete also, sagte Caderousse; doch obgleich sie allen Augen ruhig erschien, wurde sie doch ohnmächtig, als sie vor der Reserve vorbeikam, wo achtzehn Monate vorher ihre Verlobung mit dem gefeiert worden war, den sie noch liebte, wenn sie in den Grund ihres Herzens zu sehen wagte. Glücklicher, aber nicht ruhiger, — denn ich sah ihn in jener Zeit, und er fürchtetebeständig die Rückkehr Edmonds, — war Fernand sogleich daraufbedacht, seine Frau aus der Gegend zu entfernen und sich selbst zu verbannen; er hatte zugleich zu viele Gefahren zubefürchten und zu viele Erinnerungen zubekämpfen, wenn erbei den Kataloniernblieb. Acht Tage nach der Hochzeit reisten sie ab.
Sahen Sie Mercedes wieder? fragte der Priester.
Ja, zur Zeit des spanischen Krieges, in Perpignan, wo Fernand sie zurückgelassen hatte; siebeschäftigte sich damals mit der Erziehung ihres Sohnes.
Der Abbébebte. Ihres Sohnes? sagte er.
Ja, antwortete Caderousse, des kleinen Albert.
Aber um den Sohn zu erziehen, sagte der Abbé, muß sie wohl selbst erst noch eine Ausbildung erhalten haben? Es ist mir, als hätte ich von Edmond gehört, sie sei die Tochter eines einfachen Fischers, schön, aber ungebildet gewesen?
Oh, kannte er denn seineBraut so schlecht? versetzte Caderousse. Mercedes hätte Königin werden können, wenn die Krone nur auf den schönsten und gescheitesten Köpfen getragen werden sollte. Als ihre Verhältnissebesser wurden, lernte sie wohl auch zeichnen, Musik und was weiß ich alles, aber ich glaube, unter uns gesagt, daß sie dies alles nur tat, um sich zu zerstreuen, um zu vergessen, und daß sie nur so viele Dinge in ihren Kopfbrachte, um das zubetäuben, was ihr Herz erfüllte. Nun scheint es jetzt, Vermögen und Ehre haben sie ohne Zweifel getröstet. Sie ist reich, sie ist Gräfin, und dennoch… — Caderousse schwieg.
Was dennoch?
Dennochbin ich überzeugt, daß sie nicht glücklich ist.
Warum glauben Sie das?
Als ich selbst gar sehr im Elend war, dachte ich, meine ehemaligen Freunde würden mich unterstützen. Ichbegabmich zu Danglars, der mich nicht einmal empfing. Ich ging zu Fernand, und dieser ließ mir hundert Franken durch seinen Kammerdiener zustellen.
Also sahen Sie weder den einen noch den andern?
Nein, aber Frau von Morcerf hat mich gesehen. — Während ich hinausging, fiel eineBörse zu meinen Füßen! Sie enthielt fünfundzwanzig Louisd'or. Ich schaute rasch empor und erblickte Mercedes, die den Laden wieder schloß.
Und der Staatsanwalt, Herr von Villefort? fragte der Abbé.
Oh! er war nicht mein Freund gewesen, ich kannte ihn nicht und hatte nichts von ihm zu fordern.
Doch wissen Sie nicht, was aus ihm geworden ist, und welchen Teil er an Edmonds Unglück gehabt hat?
Nein, ich weiß nur, daß er einige Zeit, nachdem er Edmond hatte verhaften lassen, Fräulein von Saint‑Meran heiratete undbald darauf Marseille verließ. Ohne Zweifel hat ihm das Glück gelächelt, wie den anderen, ohne Zweifel ist er reich wie Danglars, geachtet wie Fernand; ich alleinbin, wie Sie sehen, arm, elend und von Gott vergessen geblieben. Sie täuschen sich, mein Freund, sagte der Abbé, Gott kann zuweilen scheinbar vergessen, wenn seine Gerechtigkeit ruht, aber es kommt immer ein Augenblick, wo er sich erinnert, und hier ist derBeweis davon.
Bei diesen Worten zog der Abbé den Diamanten aus der Tasche, reichte ihn Caderousse und sagte: Nehmen Sie diesen Diamanten, er gehört Ihnen.
Wie, mir allein? rief Caderousse; oh! Herr, Sie scherzen?
Dieser Diamant sollte unter Edmonds Freunde verteilt werden! Edmond hatte nur einen Freund, die Verteilung wird also unnötig. Nehmen Sie den Stein und verkaufen sie ihn; ich wiederhole, er ist fünfzigtausend Franken wert, und diese Summe wird hoffentlich genügen, um Sie der Armut zu entziehen.
Oh! Herr, sagte Caderousse schüchtern, eine Hand ausstreckend und mit der andern den Schweiß abwischend, der auf seiner Stirn perlte, oh! Herr, treiben Sie nicht Spott mit dem Glück und der Verzweiflung eines Menschen.
Ich weiß, was Glück und was Verzweiflung ist, und werde nie damit Kurzweil treiben. Nehmen Sie; dagegen…
Caderousse, derbereits den Diamantenberührte, zog seine Hand zurück.
Dagegen, fuhr der Abbé lächelnd fort, geben Sie mir die rote seideneBörse, die Herr Morel auf dem Kamin des alten Dantes zurückließ.
Immer mehr erstaunt, ging Caderousse an einen großen Schrank von Eichenholz, öffnete ihn und reichte dem Abbé eine langeBörse von erbleichter roter Seide; der Abbé nahm sie und gabdafür Caderousse den Diamanten.
Oh! Sie sind ein Mann Gottes, rief Caderousse, denn es wußte in der Tat niemand, daß Edmond Ihnen den Diamanten übergeben hatte, und Sie konnten ihnbehalten.
Gut, sagte der Abbé zu sich selbst, du hättest es getan, wie mir scheint.
Der Abbé stand auf, nahm seinen Hut und seine Handschuhe und sagte: Ist alles, was Sie gesagt haben, wahr, und kann ich Ihnen in allen Punkten glauben?
Sehen Sie, Herr Abbé, antwortete Caderousse, dort in jener Ecke ist ein Christus von geweihtem Holze, hier auf dieser Kiste liegt das Evangelienbuch meiner Frau, öffnen Sie diesesBuch, und ich will Ihnen darauf schwören, ich schwöre Ihnenbei dem Heile meiner Seele, bei meinem christlichen Glauben, daß ich Ihnen alles so gesagt habe, wie es vorgefallen ist.
Es ist gut, sagte der Abbé, überzeugt, daß Caderousse die Wahrheit gesagt habe, es ist gut; möge Ihnen dieses Geld Nutzenbringen! Leben Sie wohl, ich kehre zurück, um fern von den Menschen zu leben, die so vielBöses tun.
Und sich mit Mühe denbegeisterten Ergüssen Caderousses entziehend, verließ der Abbé das Zimmer, stieg zu Pferde, grüßte zum letztenmal den Wirt, der sich in geräuschvollen Abschiedsworten sozusagen verwickelte, und entfernte sich in der Richtung, in der er gekommen war.
Als sich Caderousse umwandte, sah er hinter sich die Carconte, bleicher und zitternder als je.
Ist es wahr, was ich gehört habe? sagte sie.
Was? Daß er uns den Diamanten für uns ganz allein gegeben hat? entgegnete Caderoussebeinahe närrisch vor Freude.
Und wenn er falsch wäre? sagte sie.
Falsch, murmelte er, falsch… Und warum sollte mir dieser Mann einen falschen Diamanten gegeben haben?
Um dein Geheimnis zubesitzen, ohne es zubezahlen, Schwachkopf!
Caderoussebliebeinen Augenblick wiebetäubt von dem Gewichte dieser Mutmaßung, bald aber nahm er seinen Hut, setzte ihn auf das rote um seinen Kopf gewickelte Taschentuch und rief: Oh! das werden wir wohl erfahren.
Auf welche Art?
Es ist Messe inBeaucaire, es sind Pariser Juweliere dort, ich will ihnen den Stein zeigen. Hüte das Haus, Frau, in zwei Stundenbin ich zurück.
Und er stürzte aus dem Hause und lief auf der Straße fort. Fünfzigtausend Franken, murmelte die Carconte, als sie allein war, das ist Geld… aber es ist kein Vermögen.
Die Gefängnisregister
Einen Tag, nachdem die Szene auf der Straße vonBellegarde nachBeaucaire vorgefallen war, erschien ein Mann von dreißig Jahren inblauem Frack, Nankingbeinkleidern und weißer Weste, mit der Haltung und der Aussprache eines Engländers, bei dem Maire von Marseille und sagte: Mein Herr, ichbin der erste Kommis des Hauses Thomson und French in Rom; wir stehen seit zehn Jahren in Verbindung mit dem Hause Morel und Sohn in Marseille, sein Kontobeläuft sichbei uns auf etwa l00 000 Franken, und wir sind einigermaßen in Unruhe, da manbehauptet, dieses Haus sei dem Ruin nahe. Ich komme daher ausdrücklich von Rom, um mir von Ihnen Auskunft über Morel und Sohn zu erbitten.
Mein Herr, antwortete der Maire, ich weißbestimmt, daß seit vierbis fünf Jahren das Unglück Herrn Morel zu verfolgen scheint; er hat hintereinander vier Schiffe verloren und durch dreiBankerotte Verluste erlitten; aber obgleich ich selbst mit einigen tausend Franken Gläubiger des Hausesbin, geziemt es mir doch nicht, irgend eine Auskunft über den Zustand seines Vermögens zu geben. Fragen Sie mich als Maire, was ich von Herrn Morel denke, so antworte ich Ihnen, er ist ein streng rechtlicher Mann und hatbis jetzt alle seine Verbindlichkeiten äußerst pünktlich erfüllt. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Wollen Sie mehr wissen, so wenden Sie sich an Herrn vonBoville, Inspektor der Gefängnisse, Rue Noailles Nr. 15; er hat, soviel ich weiß, 200 000 Frankenbeim Hause Morel angelegt, und wenn wirklich etwas zu fürchten wäre, so würden Sie ihn, da diese Summebeträchtlicher ist, als mein Guthaben, wahrscheinlich über diesen Punktbesser unterrichtet finden, als ich esbin.
Der Engländer schien diese Rücksicht zu würdigen, grüßte, verließ den Maire und wanderte mit dem den Söhnen Großbritanniens eigentümlichen Gange nach derbezeichneten Straße. Herr vonBoville war in seinem Kabinett; als ihn der Engländer erblickte, machte er eineBewegung des Erstaunens, die anzudeuten schien, daß er nicht zum erstenmal diesem Manne gegenüber stand. Herr vonBoville aber war so verzweiflungsvoll, gleichsam verschlungen von dem Gedanken, der ihn in diesem Augenblickbeschäftigte, daß er nichts für alte Erinnerungen übrig hatte. Der Engländer legte ihm mit dem seiner Nation eigenen Phlegma fast in denselben Ausdrücken dieselbe Frage vor wie dem Maire.
Oh! Herr, rief Herr vonBoville, IhreBefürchtungen sind leider nur zu sehrbegründet, und Sie sehen einen verzweifelnden Mann vor sich. Ich hatte 200 000 Frankenbei dem Hause Morel angelegt. — Es war dies die Mitgift meiner Tochter, die ich in vierzehn Tagen zu verheiraten gedachte. Ich hatte Herrn Morel von meinem Wunsche, das Geldbis zum 15. nächsten Monats zu erheben, benachrichtigt, und nun ist er vor einer halben Stunde zu mir gekommen, um mir zu sagen, wenn sein Schiff Pharaobis zum 15. nicht einlaufe, sei er außer stande, seine Verbindlichkeit zu erfüllen.
Da handelt sich's doch wohl nur um Fristverlängerung, sagte der Engländer.
Es handelt sich um einenBankerott, rief Herr vonBoville.
Der Engländer schien einen Augenblick nachzudenken und sagte sodann: Diese Schuldforderung scheint Ihnen also gefährdet?
Das heißt, ichbetrachte sie als verloren.
Gut, ich kaufe sie Ihnen ab.
Sie? Ja, ich.
Aber sicher nur mit ungeheurem Rabatt?
Nein, um 200 000 Franken; unser Haus, fügte der Engländer lachendbei, macht keine solchen Geschäfte.
Und Siebezahlenbar?
Der Engländer zog, ohne ein Wort zu sagen, ein PäckchenBanknoten aus seiner Tasche, die das Doppelte der Summebetragen mochten, die Herr vonBoville zu verlieren fürchtete. EinBlitz der Freude zog über das Gesicht des Herrn vonBoville; doch suchte er sich zubemeistern und sagte: Mein Herr, ich muß Ihnenbemerken, daß Sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht sechs Prozent von dieser Summe zurückerhalten.
Das geht mich nichts an, erwiderte der Engländer, das geht das Haus Thomson und French an, in dessen Namen ich handle. Es liegt vielleicht in seinem Interesse, einen Nebenbuhler zu Grunde zu richten. Ich weiß nur, daß ich Ihnen diese Summe gegen Übertragung zubezahlen habe, wobei ich mir indessen einen Maklerlohn erbitten werde.
Das ist nicht mehr alsbillig! rief Herr vonBoville. Die Kommissionbeträgt gewöhnlich anderthalb; wollen Sie zwei? Wollen Sie drei? Wollen Sie fünf, wollen Sie noch mehr? Sprechen Sie!
Mein Herr, antwortete der Engländer lachend, ichbin wie mein Haus, ich mache keine solchen Geschäfte; mein Maklerlohn ist ganz anderer Natur. Sie sind Inspektor der Gefängnisse?
Seit vierzehn Jahren.
Führen Sie Eintritts- und Abgangsverzeichnisse, die Noten inBezug auf die Gefangenen enthalten.
Jeder Gefangene hat sein Aktenheft.
Nun wohl, ichbin in Rom von einem armen Teufel von Abbé erzogen worden, der plötzlich von dort verschwunden ist. Seitdem habe ich erfahren, daß man ihn im Kastell If gefangen gehalten hat, und ich möchte gern etwas Näheres über seinen Tod wissen; er hieß Abbé Faria.
Oh! ich erinnere mich seiner ganz genau, rief Herr vonBoville, er war ein Narr.
Es ist möglich. Welcher Art war seine Narrheit?
Erbehauptete, Kenntnis von einem unermeßlichen Schatze zu haben, undbot der Regierung tolle Summen, wenn man ihn in Freiheit setzen wollte.
Armer Teufel! Und er ist tot?
Ja, er starbungefähr vor fünf oder sechs Monaten, im vergangenen Februar. Ich erinnere mich dieser Geschichte deshalbso genau, weil der Tod des armen Teufels von einem seltsamen Ereignisbegleitet war.
Was war denn das für ein Ereignis? fragte der Engländer mit dem Ausdruck großer Neugierde.
Das Gefängnis des Abbés war ungefähr fünfzig Fuß vom dem eines ehemaligenbonapartistischen Agenten entfernt, eines sehr entschlossenen und gefährlichen Menschen aus der Zahl derer, die am meisten zur Rückkehr des Usurpators im Jahre 1815beigetragen haben.
Wirklich? sagte der Engländer.
Ja, ich hatte selbst Gelegenheit, diesen Menschen im Jahre 1816 oder 1817 zu sehen; man stieg in seinen Kerker stets nur mit einer Wache hinab; er machte einen tiefen Eindruck auf mich, und ich werde sein Gesicht nie vergessen.
Der Engländer lächelte unmerklich. Und Sie sagen, versetzte er, diebeiden Kerker…
Waren etwa fünfzig Fuß voneinander, aber es scheint, dieser Edmond Dantes…, so hieß nämlich der gefährliche Mensch, hatte sich Werkzeuge verschafft oder verfertigt, denn man fand einen Gang, durch den die Gefangenen miteinander verkehrten.
Dieser Gang war ohne Zweifel für einen Fluchtversuch gemacht worden?
Allerdings; aber zum Unglück für die Gefangenen wurde der Abbé von der Starrsuchtbefallen und starb.
Ichbegreife; das mußte die Fluchtpläne ein für allemal vereiteln.
Für den Toten, ja, antwortete Herr vonBoville, für den Lebenden nicht; dieser Dantes sah im Gegenteil darin ein Mittel, seine Flucht zubeschleunigen. Er dachte ohne Zweifel, die im Kastell If gestorbenen Gefangenen würden auf einem gewöhnlichen Friedhofebegraben, trug den Hingeschiedenen in seine Zelle, nahm dessen Platz in dem Sacke ein, in den man ihn genäht hatte, und erwartete den Augenblick desBegräbnisses.
Das war ein gewagtes Mittel, woraus sich auf einigen Mut schließen läßt, bemerkte der Engländer.
Ich habe Ihnenbereits gesagt, daß es ein sehr gefährlicher Mensch war; zum Glückbefreite er die Regierung selbst von der Furcht, die sie seinetwegen hegte.
Wieso?
Das Kastell If hat keinen Friedhof; man wirft die Toten ganz einfach ins Meer, nachdem man ihnen eine Eisenkugel von 36 Pfund an die Füße gebunden hat. Sie können sich denken, wie groß das Erstaunen des Flüchtlings gewesen sein muß, als er fühlte, daß man ihn vom Felsen herabstürzte. Ich hätte sein Gesicht in diesem Augenblick sehen mögen.
Das wäre schwierig gewesen.
Gleichviel, sagte Herr vonBoville, den die Gewißheit, seine 200 000 Franken wieder zu erhalten, in gute Laune versetzte; gleichviel, ich stelle es mir vor.
Der Flüchtling ist also ertrunken? fragte der Engländer, und somit wurde der Gouverneur des Kastells zugleich von dem Wütenden und von dem Narrenbefreit?
Gewiß.
Es mußte doch eine Art von Protokoll über dieses Ereignis aufgenommen werden? fragte der Engländer.
Ja, ja, ein Sterbeprotokoll. Siebegreifen, für die Verwandten des Dantes, wenn er welche hat, konnte es von Interesse sein, sich zu versichern, ober gestorben sei oder noch lebe. Folglich können sie nun ruhig sein, wenn sie von ihm erben. Er ist wohl tot, sehr tot.
Oh! mein Gott, ja. Man wird Ihnen einen Schein ausstellen, wenn sie einen haben wollen.
Selbstverständlich, sagte der Engländer. Doch um auf die Listen zurückzukommen…
Richtig… Diese Geschichte hat uns abgeführt. Verzeihen Sie.
Was soll ich verzeihen? Die Geschichte? Keineswegs; sie war mir sehr interessant.
Sie ist es in der Tat… Sie wünschen also alles zu sehen, was sich auf den armen Abbébezieht, der die Sanftmut selbst war, so? Kommen Sie in mein Amtszimmer, ich will es Ihnen zeigen.
Beide gingen in das Zimmer des Herrn vonBoville.
Alles war hier in vollkommener Ordnung; jedes Registerbei seiner Nummer, jedes Aktenheft in seinem Fach. Der Inspektor nötigte den Engländer in seinen Lehnstuhl, legte ihm das Register und die Akten vor und ließ ihm volle Muße, darin zublättern, während er selbst, in einem Winkel sitzend, seine Zeitung las.
Der Engländer fand ohne Mühe die Akten, die sich auf den Abbé Fariabezogen; doch es scheint, die Geschichte, die ihm Herr vonBoville erzählt, hatte ihn lebhaft interessiert, denn nachdem er die ersten Stücke eingesehen, blätterte er weiter, bis er zu Edmond Dantes' Akten gekommen war. Hier fand er schönbeisammen: Denunziation, Verhör, Bittschrift des Herrn Morel, Randglosse des Herrn von Villefort. Er faltete unbemerkt die Denunziation zusammen, steckte sie in seine Tasche, las das Verhör und sah, daß der Name Noirtier unterdrückt war, durchlief dann auch noch das Gesuch vom 10. Februar 18l5, worin Herr Morel, nach Villeforts Rat, in guter Absicht, weil Napoleon noch regierte, die Dienste übertrieb, die Dantes der kaiserlichen Sache geleistet hatte. Nunbegriff er alles. Das von Villefort aufbewahrte Gesuch war nach Napoleons zweiter Entthronung eine furchtbare Waffe in den Händen des Staatsanwalts geworden. Er wunderte sich daher nicht mehr über folgende Note, die er neben seinem Namen fand:
Edmond Dantes
WütenderBonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.
Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aussicht zu halten.
Unter diesen Zeilen stand von einer andern Handschrift: InBetracht obiger Note nichts zu machen.
Die Handschrift der Randbemerkung mit der der Erklärung vergleichend, die der Staatsanwalt unter Morels Gesuch gesetzt hatte, bekam der Engländer die Gewißheit, daß Randglosse und Erklärung von einer Hand, nämlich Villeforts, herrührten.
Was die letzte Notebetrifft, so sagte er sich, daß sie von irgend einem Inspektor herrührte, der vorübergehendes Interesse an Dantes' Lage genommen, durch die erwähnteBemerkung sich aber in die Unmöglichkeit versetzt gesehen hatte, seiner Teilnahme Folge zu geben.
Aus Diskretion hatte sich der Inspektor entfernt und las im Staatsanzeiger. Er sah also nicht, wie der Engländer die von Danglars in der Sommerlaube der Reserve geschriebene Denunziation zusammenlegte und einsteckte. Hätte er es aber auch gesehen, so würde er sicher zu wenig Gewicht auf dieses Papier und zu viel auf seine 200 000 Franken gelegt haben, um einzugreifen.
Ich danke, sagte der Engländer, indem er das Register geräuschvoll schloß. Ich weiß, was ich wissen wollte, und nun ist es an mir, mein Versprechen zu halten; erklären Sie schriftlich, daß Sie mir Ihre Schuldforderung für die Summe von 200 000 Franken abtreten, und ichbezahle Ihnen die Summe.
Und während Herr vonBoville eiligst die Erklärung aufsetzte, zählte der Engländer auf einem Tischchen dieBanknoten auf.
Das Haus Morel
Wer ein paar Jahre früher Marseille verlassen hätte und zu der Zeit, in der Dantes seine Vaterstadt wiedersah, zurückgekehrt wäre, hätte die Verhältnisse des Hauses Morel sehr verändert gefunden.
Statt desBehagens und Glückes, das von einem im Gedeihenbegriffenen Hause ausgeht, wäre ihm auf den erstenBlick eine gewisse Trauer und Stille aufgefallen. In denBüros, die früher von zahlreichen Kommis wimmelten, waren nur noch zwei zurückgeblieben. Der eine war ein junger Mann, namens Emanuel Raymond, der die Tochter des Herrn Morel liebte, der andere der alte einäugige Cocles, der den Posten eines Kassendienersbekleidete. In der Stellung des letzteren war eine sonderbare Veränderung eingetreten; er war zugleich zum Range eines Kassierers avanciert und zum Range eines Dienstboten heruntergerückt. Es war aber immer der nämliche Cocles, geduldig, treu und ein Rechner, wie man nicht leicht einen zweiten wiederfinden konnte.
Inmitten der allgemeinen Schwermut, die über dem Hause Morel lagerte, war Cocles übrigens der einzige, der unempfindlich geblieben zu sein schien. Diese Gelassenheit entsprang nicht einem Gefühlsmangel, sondern im Gegenteil einer unerschütterlichen Überzeugung. Als die andern Kommis und Angestellten des Hauses dieBüros verlassen hatten, hatte Cocles sie gehen sehen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Er hatte seinen letzten Monatsabschluß fertig gemacht und darin eine Differenz von siebzig Centimes zu Gunsten der Kasse entdeckt, die er am gleichen Tage seinem Prinzipal überbrachte. Der Prinzipal nahm sie mit wehmütigem Lächeln, ließ sie in einebeinahe leere Schublade fallen und sagte zum Kassierer: Gut, Cocles, Sie sind die Perle aller Kassierer.
Cocles entfernte sich äußerst zufrieden; denn ein Lobvon Herrn Morel schmeichelte ihm mehr als ein Geschenk von fünfzig Talern. Aber seit diesem so glücklich durchgeführten Monatsschluß hatte Herr Morel grausame Stunden durchgemacht; um diesen Monatsschluß herbeizuführen, hatte er alle seine Mittel zusammengerafft und sogar einige Juwelen und einen Teil seines Silberzeugs verkauft. Infolge dieser Opfer war diesmal noch alles zur größten Ehre des Hauses Morel vorübergegangen. Die Kasse aberbliebvöllig leer. Erschreckt durch umlaufende Gerüchte, zog sich der Kredit mit seiner gewöhnlichen Selbstsucht zurück, und um gegen die 200 000, die in wenigen Wochen zurückzuzahlen waren, aufzukommen, hatte Herr Morel in Wirklichkeit nichts mehr, als die Hoffnung auf die Rückkehr des Pharao, von dessen Abfahrt ein Schiff, das mit ihm die Anker gelichtet, Kunde gegeben hatte. Dieses Schiff, das wie der Pharao von Kalkutta kam, war aberbereits seit vierzehn Tagen im Hafen eingelaufen, während man vom Pharao keine Nachricht hatte.
So standen die Dinge, als der Vertreter des Hauses Thomson und French in Rom am Tage, nachdem er den von uns mitgeteiltenBesuchbei Herrn vonBoville gemacht hatte, sichbei Herrn Morel einfand. Emanuel empfing ihn. Der erschreckte junge Mann, der in jedem neuenBesucher einen Gläubiger vermutete, wollte seinem Herrn den Ärger ersparen und ihn selbst abfertigen. Der Geschäftsreisende erklärte ihm aber, er müsse durchaus mit Herrn Morel persönlich sprechen.
Emanuel rief seufzend Cocles undbefahl ihm, den Fremden zu Herrn Morel zu führen. Cocles ging voraus, und der Fremde folgte. Auf der Treppebegegneten sie einem hübschen jungen Mädchen, das den Fremden voll Unruhe anschaute. Coclesbemerkte diesen Gesichtsausdruck nicht, der jedoch dem Fremden keineswegs entgangen war.
«Herr Morel ist in seinem Kabinett, nicht wahr, Fräulein Julie?«fragte der Kassierer.
«Ja, ich glaube wenigstens«, antwortete das Mädchen zögernd,»sehen Sie nach, Cocles, und wenn mein Vater dort ist, melden Sie den Herrn!«
«Es wäre unnütz, mich zu melden, «erwiderte der Engländer,»Herr Morel kennt meinen Namen nicht. Dieserbrave Mann mag ihm nur sagen, ich sei der erste Kommis der Herren Thomson und French in Rom, mit denen das Haus Ihres Herrn Vaters in Verbindung steht.«
Das Mädchen erbleichte und schritt weiter die Treppe hinab, während der Fremde vollends hinaufging. Julie, wie sie der Kassierer genannt hatte, trat in dasBüro, wo sich Emanuel aufhielt, und Cocles öffnete mit Hilfe eines Schlüssels eine Tür im zweiten Stock und ließ den Fremden eintreten. Der Fremde fand Herrn Morel erschöpft undbleich an seinem Schreibtische sitzend. Als er den Fremden erblickte, stand er auf und schobeinen Stuhl hin; woraufbeide Platz nahmen.
Vierzehn Jahre hatten eine gewaltige Veränderungbei dem würdigen Handelsherrn hervorgebracht, der, am Anfang dieser Geschichte sechsunddreißig Jahre alt, nun das fünfzigste erreicht hatte. Seine Haare waren gebleicht, seine Stirn von sorgenvollen Runzeln durchzogen; sein einst so fester, bestimmterBlick war unbestimmt, unentschlossen geworden. Der Engländer schaute ihn aufmerksam und scheinbar teilnahmsvoll an.
Mein Herr, sagte Morel, dessen Unbehaglichkeit dieses Anschauen zu verdoppeln schien, Sie wünschten mich im Namen des Hauses Thomson und French zu sprechen?
Ja, mein Herr. Das Haus Thomson und French soll im Laufe des nächsten Monats in Frankreich 3bis 400.000 Frankenbezahlen, und hat im Vertrauen auf Ihre Zuverlässigkeit alle Papiere angekauft, die es mit Ihrer Unterschrift finden konnte, wobei mir der Auftrag geworden ist, nach Maßgabe des Verfalls die Gelderbei Ihnen zu erheben und sodann zu verwenden.
Morel stieß einen schweren Seufzer aus, fuhr mit der Hand über seine schweißbedeckte Stirn und erwiderte: Sie haben also von mir unterzeichnete Tratten?
Ja, Herr, für einebeträchtliche Summe.
Für welche Summe? fragte Herr Morel mit einer Stimme, der er Sicherheit zu verleihen strebte.
Einmal, sagte der Engländer, ein Päckchen aus der Tasche ziehend, einmal habe ich hier eine Abtretung von 200.000 Franken seitens des Herrn vonBoville an unser Haus. Erkennen Sie diese Schuld an?
Ja, mein Herr, das Geld wurde zu 4½ Prozent vorbald fünf Jahrenbei mir angelegt.
Und Sie haben denBetrag zurückzuzahlen?
Ja, am 15. des nächsten Monats.
So ist es; dann habe ich hier 32.500 auf Ende dieses; es sind von Ihnen unterzeichnete Wechsel.
Ich erkenne sie an, sagte Herr Morel, dembei dem Gedanken, daß er zum erstenmal in seinem Leben vielleicht seiner Unterschrift nicht entsprechen könnte, die Schamröte ins Gesicht stieg. Ist das alles?
Ich habe noch auf Ende nächsten Monats diese Papiere, die das Haus Pascale und das Haus Wild und Turner in Marseille an uns verkauften, etwa 55000 Franken, im ganzen 287500 Franken.
Es läßt sich nichtbeschreiben, was der unglückliche Morel während dieser Aufzählung litt.
287500 Franken, wiederholte er mechanisch.
Ja, sagte der Engländer. Ich kann Ihnen nun nicht verbergen, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, daß, so sehr man auch Ihrebis jetzt vorwurfsfreie Redlichkeit schätzt, in Marseille doch das Gerücht geht, Sie seien nicht imstande, Ihren Verpflichtungen nachzukommen.
Bei dieser rücksichtslosen Offenheit erbleichte Herr Morel furchtbar.
Mein Herr, sagte er, bis jetzt, und es sind mehr als zwanzig Jahre, seitdem ich das Haus aus den Händen meines Vaters übernommen habe, der es selbst fünfunddreißig Jahre führte, bis jetzt ist kein von Morel und Sohn unterzeichnetes Papier an der Kasse präsentiert worden, ohne daß wir Zahlung dafür geleistet hätten.
Ja, ich weiß dies; doch sprechen Sie offenherzig, wie ein Ehrenmann zum andern! Werden Sie diese Papiere mit derselben Pünktlichkeitbezahlen?
Morelbebte und schaute den Engländer ängstlich an.
Auf eine so offenherzig gestellte Frage, antwortete er, muß ich auch offenherzig Antwort geben. Ja, mein Herr, ichbezahle, wenn mein Schiff, wie ich hoffe, glücklich im Hafen einläuft, denn seine Ankunft wird mir den Kredit wiedergeben, den mir schnell aufeinander folgende Unglücksfälle geraubt haben; bliebe aber der Pharao, die letzte Quelle, auf die ich zähle, aus…
Die Tränen traten dem armen Reeder in die Augen.
Nun? fragte der Engländer, bliebe diese letzte Quelle aus?
Es ist grausam zu sagen… doch, bereits an das Unglück gewöhnt, muß ich mich auch an die Schmach gewöhnen… ich glaube, ich wäre dann genötigt, meine Zahlungen einzustellen.
Haben Sie keine Freunde, die Sie unter diesen Umständen unterstützen könnten? fragte der Engländer.
Herr Morel lächelte traurig und erwiderte: Im Geschäftsleben hat man keine Freunde, wie Sie wissen, sondern nur Korrespondenten.
Das ist wahr, murmelte der Engländer. Sie haben also keine Hoffnung mehr?
Eine einzige; die letzte.
Und wenn diese Hoffnung sich nicht verwirklicht?
Bin ich völlig zu Grunde gerichtet.
Als ich zu Ihnen kam, lief ein Schiff im Hafen ein.
Ich weiß, doch ist es nicht das meine, sondern einbordolesisches Schiff, die Gironde; es kommt ebenfalls von Indien.
Vielleichtbringt es Ihnen vom Pharao Kunde.
Soll ich es Ihnen sagen, mein Herr, ich fürchtebeinahe ebensosehr, Nachricht von meinem Dreimaster zu erhalten, als in Ungewißheit zubleiben. Die Ungewißheit ist noch Hoffnung. Dann fügte Herr Morel mit dumpfem Tonebei: Dieses Zögern ist nicht natürlich; der Pharao ist am 5. Februar in Kalkutta abgegangen und ist seit mehr als einem Monat hier fällig.
In diesem Augenblicke hörte man Lärm auf der Treppe; verschiedene Personen näherten sich, sogar ein Schmerzensruf ließ sich vernehmen. Morel stand auf, um die Tür zu öffnen, doch es gebrach ihm an Kraft, und er fiel in seinen Stuhl zurück. Während diebeiden Männer einander gegenüber saßen, Morel an allen Gliedern zitternd, der Engländer ihn mit einem Ausdrucke tiefen Mitleids anschauend, öffnete sich die Tür, und man sah das Mädchen, in Tränen gebadet, erscheinen. Morel stand zitternd auf und stützte sich, um nicht zu fallen, auf den Arm seines Lehnstuhls.
Oh! Vater! sagte das Mädchen, die Hände faltend, verzeihen Sie Ihrem Kinde, daß es Ihnen schlimmeBotschaftbringt.
Morel wurde furchtbarbleich; Julie warf sich in seine Arme.
Oh, Vater! Vater! rief sie, Mut gefaßt!
Der Pharao ist also zu Grunde gegangen? fragte Morel mit zusammengeschnürter Stimme.
Das Mädchen antwortete nicht, sondern machte nur einbejahendes Zeichen mit seinem an dieBrust des Vaters gelehnten Haupte.
Und die Mannschaft? fragte Morel.
Gerettet, antwortete das Mädchen, gerettet durch dasbordolesische Schiff, das soeben in den Hafen eingelaufen ist.
Morel hobseine Hände mit einem Ausdruck voll Ergebenheit und erhabener Dankbarkeit zum Himmel empor und sagte: Ich danke, mein Gott, ich danke; wenigstens schlägst du nur mich allein.
So phlegmatisch der Engländer war, sobefeuchtete doch eine Träne sein Augenlid.
Tretet ein, sagte Herr Morel, denn ich vermute, ihr seid alle vor der Türe.
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Frau Morel schluchzend eintrat; Emanuel folgte ihr; im Vorzimmer sah man die rauhen Gesichter von siebenbis acht halbnackten Matrosen. Beim Anblick dieser Menschenbebte der Engländer; er machte einen Schritt, als wollte er auf sie zugehen, aber erbezwang sich und drückte sich im Gegenteil in den dunkelsten Winkel des Zimmers. Frau Morel setzte sich in den Lehnstuhl und nahm die Hand ihres Gatten, während Julie, an dieBrust ihres Vaters gelehnt, stehenblieb.
Wie ist es zugegangen? fragte Herr Morel. Tretet näher, Penelon, und erzählt! Wo ist der Kapitän?
Was den Kapitänbetrifft, Herr Morel, so ist er krank in Palma geblieben; doch wird es wohl nichts weiter sein, und Sie werden ihn in einigen Tagen wohl und gesund ankommen sehen.
Gut… nun sprecht, Penelon.
Penelon erzählte, wie der Pharaobei KapBlanc von einem heftigen Sturm überfallen wurde und trotz heldenmütigem Widerstande untergegangen sei, nachdem sich die Mannschaft und der Kapitän in einBoot gerettet hatten.
Als der Alte geendet hatte, sagte Herr Morel: Gut, mein Freund, ihr seidbrave Leute, und ich wußte zum voraus, daßbei dem Unglück, das mirbegegnet ist, nichts anders schuld war als mein Verhängnis. Es ist der Wille Gottes und nicht der Fehler der Menschen. Nun sagt, wieviel Soldbin ich euch schuldig?
Ah! bah… sprechen wir nicht davon, Herr Morel.
Im Gegenteil sprechen wir davon, erwiderte der Reeder mit traurigem Lächeln. Cocles, bezahlen Sie jedem von diesenbraven Leuten zweihundert Franken. Zu andrer Zeit hätte ich gesagt: Geben Sie jedem zweihundert Franken über seinen Lohn, aber die Zeiten sind ungünstig, meine Freunde, und das wenige Geld, das mir übrigbleibt, ist nicht mehr mein Eigentum; entschuldigt mich also und liebt mich darum nicht minder!
Penelon zeigte eine gerührte Miene, er wandte sich gegen seine Gefährten um, sprach einige Worte mit ihnen, kam dann zurück und sagte: Was dasbetriffst, Herr Morel, was dasbetrifft…
Nun?
Nun, Herr Morel, die Kameraden meinen, sie hätten für den Augenblick mit fünfzig Franken jeder genug, und sie könnten mit dem Reste warten.
Ich danke, meine Freunde, rief Herr Morel, tief erschüttert, ihr seidbrave Leute; aber nehmt nur, nehmt, und wenn ihr einen guten Dienst findet, tretet ein, ihr seid frei.
Diese letzten Wortebrachten eine wunderbare Wirkung auf die Matrosen hervor; sie schauten einander mitbestürzter Miene an. Penelon, dem es an Atem fehlte, hättebeinahe seinen Kautabak verschluckt; zum Glück fuhr er zu rechter Zeit mit der Hand an seine Zunge.
Wie, Herr Morel! sagte er mit zusammengepreßter Stimme, wie? Sie schicken uns weg, Sie sind also unzufrieden mit uns?
Nein, Kinder, erwiderte der Reeder, nein, ichbin nicht unzufrieden mit euch, im Gegenteil; nein, ich schicke euch nicht weg. Aber was wollt ihr, ich habe kein Schiff mehr, undbedarf folglich auch keiner Matrosen.
Wie? Sie haben keine Schiffe mehr? rief Penelon; wohl, Sie lassen anderebauen, und wir warten.
Ich habe kein Geld mehr, um Schiffebauen zu lassen, Penelon, entgegnete Herr Morel traurig lächelnd; ich kann also euer Anerbieten nicht annehmen, so freundlich es auch ist.
Wohl, wenn Sie kein Geld haben, so dürfen Sie uns nichtbezahlen, wir machen es, wie es der arme Pharao gemacht hat, wir laufen aufs Trockene.
Genug, genug, meine Freunde, erwiderte Herr Morel, dem vor Rührungbeinahe die Sprache versagte. Wir werden uns inbesseren Zeiten wiederfinden. Emanuel, begleiten Sie diesebraven Leute, und seien Sie dafürbesorgt, daß meine Wünsche erfüllt werden.
Also wenigstens auf Wiedersehen, nicht wahr, Herr Morel? versetzte Penelon.
Ja, meine Freunde, ich hoffe wenigstens; geht!
Auf ein Zeichen seiner Hand marschierte Cocles voran. Die Matrosen folgten dem Kassierer, und Emanuel folgte den Matrosen.
Nun laßt mich einen Augenblick allein, sagte der Reeder zu seiner Frau und zu seiner Tochter, ich habe mit diesem Herrn zu sprechen.
Und seine Augen richteten sich auf den Vertreter des Hauses Thomson und French, der während desbeschriebenen Auftritts unbeweglich in seiner Ecke stehen geblieben war. Die Frauen schauten den Fremden an, den sie völlig vergessen hatten, und entfernten sich sodann; nur die Tochter warf im Weggehen dem Engländer einen inständigbittendenBlick zu, den er mit einem Lächeln erwiderte. Die Männerblieben wieder allein.
«Nun«, sagte Morel,»Sie haben alles gesehen und gehört, und ich habe Ihnen nichts mehr mitzuteilen«.
«Ich habe gesehen, mein Herr«, erwiderte der Engländer,» daß Ihnen ein neues Unglück, so unverdient als die anderen, widerfahren ist, und das hat mich in meinem Wunsche, Ihnen angenehm zu sein, bestärkt«.
«Oh! mein Herr…«
«Ichbin einer von Ihren Hauptgläubigern, nicht wahr«?
«Sie sind wenigstens der, welcher die Wechsel kürzester Sicht von mir in Händen hat. Eine Fristverlängerung könnte mir die Ehre und folglich das Leben retten«.
«Wieviel verlangen Sie«?
«Zwei Monate«, sagte Morel zögernd.
«Gut«, sagte der Fremde,»ich gebe Ihnen drei«.
«Doch glauben Sie, daß das Haus Thomson und French… «?
«Seien Sie unbesorgt, ich nehme alles auf mich… Wir haben heute den 5. Juni. — Schreiben Sie also alle diese Papiere auf den 5. September um, und an diesem Tage um elf Uhr morgens werde ich michbei Ihnen einfinden«.
«Ich werde Sie erwarten, mein Herr, und Sie sollenBezahlung erhalten, oder ichbin tot«.
Diese letzten Worte sprach Morel so leise, daß sie der Fremde nicht hören konnte. Die Papiere wurden umgeschrieben, die alten zerrissen, und der arme Reeder hatte wenigstens drei Monate vor sich, um seine letzten Mittel aufzubieten. Der Engländer empfing seinen Dank mit dem seiner Nation eigentümlichen Phlegma und nahm von Morel Abschied, der ihn unter Segnungenbis an die Tür zurückführte. Auf der Treppe traf er Julie; das Mädchen tat, als obes hinabginge, aber es wartete auf ihn.
«Oh! Herr…«rief Julie die Hände faltend.
«Mein Fräulein«, sagte der Fremde,»Sie werden eines Tages einenBrief, unterzeichnet… Simbad der Seefahrer…, erhalten. Tun Sie Punkt für Punkt, was derBrief sagt, so seltsam Ihnen auch die Aufforderung erscheinen mag.«
«Gut, mein Herr«, erwiderte Julie.
«Versprechen Sie es mir?«
«Ich schwöre es Ihnen.«
«Leben Sie wohl, mein Fräulein; bleiben Sie stets ein gutes, frommes Mädchen, und ich hoffe, Gott wird Sie dadurchbelohnen, daß er Ihnen Herrn Emanuel zum Gatten gibt.«
Julie stieß einen leichten Schrei aus, wurde rot wie eine Kirsche und hielt sich am Geländer, um nicht zu fallen. Der Engländer entfernte sich mit einer Verneigung. Im Hofebegegnete er Penelon; dieser hatte eine Rolle von hundert Franken in der Hand und schien sich nicht entschließen zu können, das Geld fortzutragen.
«Kommt, Freund«, sagte der Engländer zu ihm,»ich habe mit Euch zu sprechen«.
Der fünfte September
Die von dem Mandatar des Hauses Thomson und French in dem Augenblick, wo es Morel am wenigsten erwartete, bewilligte Frist glaubte der arme Reeder als eine von jenen Wendungen des Geschickesbetrachten zu dürfen, die dem Menschen ankündigen, das Schicksal sei endlich müde geworden, ihn zu verfolgen. An demselben Tage erzählte er, was ihmbegegnet war, seiner Tochter, seiner Frau und Emanuel, und es kehrte ein wenig Hoffnung und Ruhe in die Familie zurück. Leider aber hatte es Morel nicht allein mit dem Hanse Thomson und French zu tun, das sich so nachsichtig gegen ihn zeigte.
Zum Unglück hatten, sei es aus Haß, sei es aus Verblendung, nicht alle Korrespondenten dieselbe Nachsicht. Die von Morel unterzeichneten Tratten wurden daher mit ängstlicher Strenge an der Kasse präsentiert, aber infolge der von dem Engländerbewilligten Frist ohne Verzugbezahlt von Cocles, der unverändert in seiner prophetischen Ruhe verharrte.
Der ganze Marseiller Handelsstand war der Meinung, nach den Unglücksfällen, die Herrn Morel hintereinander getroffen, könnte dieser sich nicht halten. Man staunte daher nicht wenig, als man sah, daß sein Monatsschluß sich mit der gewöhnlichen Pünktlichkeit abwickelte. Doch das Vertrauen kehrte darum nicht zurück, und man verschobeinstimmig auf das Ende des nächsten Monats die Insolvenzerklärung des unglücklichen Reeders.
Der ganze Monat verging in unerhörten Anstrengungen Morels, alle Mittel aufzubieten. Früher wurden seine Wechsel, auf welches Datum sie auch ausgestellt sein mochten, mit Vertrauen angenommen und sogar gesucht. Jetzt fand er alleBanken geschlossen, als er Papiere mit dreimonatiger Frist unterbringen wollte. Zum Glück hatte er jetzt einige Zahlungen zu erwarten, auf die er rechnen konnte, und die erwarteten Gelder gingen auch wirklich ein; Morel fand sich dadurch abermals in den Stand gesetzt, seinen Verbindlichkeiten zu entsprechen, als das Ende des Juli erschien.
Den Vertreter des Hauses Thomson und French hatte man übrigens nicht mehr in Marseille gesehen. Er war verschwunden, und da er in Marseille nur mit dem Maire, dem Gefängnisinspektor und Herrn Morel verkehrt hatte, so ließ seine Anwesenheit keine andere Spur zurück, als die verschiedenen Erinnerungen, die diese drei Personen von ihmbewahrten. Die Matrosen des Pharao hatten, wie es schien, irgend ein Unterkommen gefunden, denn sie waren ebenfalls verschwunden.
Von der Unpäßlichkeit, die ihn in Palma zurückgehalten hatte, wieder genesen, kehrte der Kapitän des Pharao, Herr Gaumard, bald nach Marseille zurück. Er zögerte, sichbei Morel zu zeigen, aber dieser erfuhr seine Ankunft und suchte ihn selbst auf. Der würdige Reeder hatte schon durch Penelons Erzählung von dem mutigenBenehmen des Kapitäns während des unglücklichen Ereignisses erfahren, und er suchte nun seinerseits den Seemann zu trösten. Erbrachte ihm denBetrag seines Soldes, den der Kapitän sonst nicht zu erheben gewagt hätte.
Der August verlief inbeständig erneuerten Versuchen Morels, seinen alten Kredit wiederzuheben und sich einen neuen zu eröffnen, ohne daß ihm dies gelang. Als aber der 31. kam, öffnete sich gegen alle Voraussicht die Kasse wie gewöhnlich. Cocles erschien hinter dem Gitter, ruhig, wie ein Gerechter, untersuchte mit gewohnter Gewissenhaftigkeit das Papier, das man ihm präsentierte, undbezahlte die Tratten von der erstenbis zur letzten mit gleicher Pünktlichkeit. Manbegriff dies durchaus nicht und verschobmit der den Unglückspropheten eigentümlichen Hartnäckigkeit denBankrott auf das Ende des September.
Morel war einige Tage in Paris gewesen und hatte versucht, bei seinem ehemaligen Rechnungsführer Danglars ein Anlehen aufzunehmen, doch auch dieses letzte Mittel, zu dem er sich nur schwer entschlossen hatte, schlug fehl. Schwer gedemütigt durch eine abschlägige Antwort, kam er zurück.
Er stießbei seiner Ankunft keine Klage aus, brachte keine Anschuldigung vor, umarmte nur weinend seine Frau und seine Tochter, reichte Emanuel freundschaftlich die Hand, ließ Cocles kommen und schloß sich mit diesem in sein Kabinett im zweiten Stock ein.
«Diesmal sind wir verloren«, sagten die Frauen zu Emanuel, und in einer kurzenBeratung, die sie unter sich pflogen, wurdebeschlossen, daß Julie an ihrenBruder, der in Nimes in Garnison lag, schreiben und ihn auffordern sollte, sogleich zu kommen. Die armen Frauen fühlten, daß sie aller ihrer Kräftebedurften, um den Schlag zu ertragen, der siebedrohte. Überdies übte Maximilian Morel, obgleich erst zweiundzwanzig Jahre alt, dochbereits einen großen Einfluß auf seinen Vater aus.
Er war ein energischer, rechtschaffner junger Mann, der die militärische Laufbahn erwählt hatte. Vorzüglich vorbereitet, trat er in die polytechnische Schule ein, die er, zum Unterleutnant im 53sten Linien‑Regiment ernannt, wieder verließ. Im Regiment galt Maximilian Morel als strenger, pflichtgetreuer Soldat; man nannte ihn nur den Stoiker.
Diebeiden Frauen täuschten sich nicht über das Mißliche ihrer Lage, denn einen Augenblick nachher, nachdem Herr Morel mit Cocles in sein Kabinett gegangen war, sah Julie den letzterenbleich, zitternd und mit völlig verstörtem Gesichte wieder herauskommen. Sie wollte ihn fragen, als er an ihr vorüberging, doch derbrave Mann lief mit einerbei ihm ungewöhnlichen Eile unaufhaltsam die Treppe hinabund rief ihr nur, die Hand zum Himmel erhebend, zu: Oh, mein Fräulein! Welch ein furchtbares Unglück, wer hätte das je gedacht!
Eine Minute nachher sah ihn Julie, mit ein paar dicken Handlungsbüchern, einem Portefeuille und einem Sacke Geld wieder hinaufgehen. Morel prüfte dieBücher, öffnete das Portefeuille und zählte das Geld. Allebaren Mittelbeliefen sich auf 7bis 8000 Franken, die Einnahmenbis zum 5. auf 4bis 5000, was also im höchsten Fall einen Aktivstand von 17 000 Frankenbildete, womit einer Tratte von 287 500 Franken entsprochen werden sollte. Eine solche Abschlagszahlung anzubieten, war nicht möglich.
Als jedoch Herr Morel zum Mittagsessen kam, schien er ziemlich ruhig. Diese Ruhe erschreckte die Frauen mehr, als es die tiefste Niedergeschlagenheit hätte tun können. Cocles schien ganz stumpfsinnig; er hielt sich einen Teil des Tages, auf einem Steine sitzend und mitbloßem Kopfebei dreißig Grad Wärme, im Hofe auf. Emanuel suchte die Frauen zu trösten; aber es mangelte ihm anBeredsamkeit. Der junge Mann war zu sehr in die Angelegenheiten des Hauses eingeweiht, um nicht zu fühlen, daß eine große Katastrophebevorstand. Es kam die Nacht; die Frauen wachten, in der Hoffnung, Morel würde, von seinem Kabinett herabkommend, bei ihnen eintreten, doch sie hörten, wie er, ohne Zweifel aus Furcht, man könnte ihn rufen, mit leisen Tritten an ihrer Tür vorüberschlich. Sie horchten; er kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Tür von innen.
Frau Morel hieß ihre Tochter schlafen gehen; eine halbe Stunde nach dem sich Julie entfernt hatte, stand sie auf, zog ihre Schuhe aus und schlüpfte in den Gang, um zu sehen, was ihr Gatte machte. Im Gang erblickte sie einen Schatten, der sich zurückzog. Sie erkannte Julie, die, selbst unruhig, ihrer Mutter zuvorgekommen war. Julie ging auf ihre Mutter zu und sagte: Er schreibt.
Frau Morel neigte sich zum Schlüsselloch herab. Morel schriebwirklich; aber was ihre Tochter nichtbemerkt hatte, dasbemerkte Frau Morel; ihr Gatte schriebauf gestempeltes Papier. Es kam ihr der furchtbare Gedanke, er mache sein Testament; siebebte an allen Gliedern und hatte dennoch die Kraft, nichts zu sagen.
Am andern Tage erschien Herr Morel ganz ruhig, er hielt sich wie gewöhnlich in seinemBüro auf, kam wie gewöhnlich zum Frühstück herab; nur ließ er nach dem Mittagsessen seine Tochter neben sich sitzen, nahm den Kopf des Kindes in seinen Arm und hielt ihn lange an seineBrust. Am Abend sagte Julie zu ihrer Mutter, sie habe, obgleich ihr Vater scheinbar ruhig gewesen, doch sein Herz heftig schlagen gefühlt. Die zwei nächsten Tage gingen ungefähr auf dieselbe Weise hin.
Die ganze Nacht vom 4. auf den 5. horchte Frau Morel, ihr Ohr fester an das Täfelwerk haltend; bis 3 Uhr morgens hörte sie ihren Gatten in großer Aufregung im Zimmer umhergehen; erst nach drei Uhr warf er sich auf seinBett. Die Frauenbrachten die Nachtbeisammen zu. Seit dem vorhergehenden Abend erwarteten sie Maximilian. Um acht Uhr trat Herr Morel in ihr Zimmer; er war ruhig, aber die Aufregung der Nacht zeigte sich auf seinembleichen, verstörten Gesichte. Die Frauen wagten es nicht, ihn zu fragen, ober gut geschlafen habe. Morel war freundlicher gegen seine Frau und väterlicher gegen seine Tochter, als er es je gewesen; er konnte nicht satt werden, das arme Kind anzuschauen und zu küssen.
Julie wollte ihrem Vater folgen, als er sich entfernte; er stieß sie jedoch sanft zurück und sagte:»Bleibbei deiner Mutter.
Julie drang in ihn, doch er sprach: Ich will es.
Siebliebstumm und unbeweglich auf ihrem Platze stehen.
Eine Minute nachher öffnete sich die Tür, und sie fühlte zwei Arme, die sie umschlangen, und einen Mund, der sich auf ihre Stirn preßte. Sie schlug die Augen auf und stieß einen Freudenschrei aus.
Maximilian! MeinBruder! rief sie.
Bei diesem Rufe lief Frau Morel herbei und warf sich in die Arme ihres Sohnes.
Mutter! sprach der junge Mann und schaute dabei abwechselnd Frau Morel und ihre Tochter an, was gibt es denn? Was geht denn vor? EuerBrief hat mich erschreckt, und ich eile herbei!
Julie, sagte Frau Morel, ihrem Sohne ein Zeichen machend, benachrichtige deinen Vater, daß Maximilian angekommen ist.
Julie eilte hinaus, aber auf der ersten Stufe der Treppebegegnete sie einem Manne, der einenBrief in der Hand hielt.
Sind Sie nicht Fräulein Julie Morel? fragte dieser Mann mit stark italienischerBetonung.
Ja, Herr, stammelte Julie; doch was wollen Sie? Ich kenne Sie nicht.
Lesen Sie diesenBrief, antwortete der Mann und reichte ihr dasBillett. Julie zögerte.
Es handelt sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters.
Das Mädchen entriß dasBillett seinen Händen, öffnete es rasch und las:
«Begeben Sie sich sogleich in die Allées de Meillan; treten Sie in das Haus Nr. 15; verlangen Sie von dem Hausverwalter den Schüssel des Zimmers im fünften Stocke; gehen Sie in dieses Zimmer; nehmen Sie von der Ecke des Kamins eine rote seideneBörse, undbringen Sie dieseBörse Ihrem Vater. Es ist von großemBelang, daß er sie vor elf Uhr erhält. Sie haben mirblinden Gehorsam versprochen; ich erinnere Sie an dieses Versprechen.
Simbad der Seefahrer.
Julie stieß einen Freudenschrei aus, schlug die Augen auf und suchte den Mann, der ihr dasBillett zugestellt hatte, um ihn zubefragen, aber er war verschwunden. Sie schaute dann wieder auf dasBillett, um es zum zweiten Male zu lesen, undbemerkte, daß es eine Nachschrift hatte. Julie las:
«Es ist wichtig, daß Sie diese Sendung in Person und allein erfüllen; kämen Sie inBegleitung, oder erschiene eine andere Person an Ihrer Stelle, so würde der Hausverwalter antworten, er wisse nicht, was man wolle.«
Diese Nachricht mäßigte Julies Freudebedeutend. Hatte sie nichts zubefürchten? War es nicht eine Falle, die man ihr stellte? Julie zögerte; siebeschloß, um Rat zu fragen, nahm aber seltsamerweise ihre Zuflucht weder zu ihrer Mutter noch zu ihremBruder, sondern zu Emanuel. Sie ging hinab, erzählte ihm, was ihr vor drei Monatenbegegnet sei, und welches Versprechen sie dem Engländer gegeben habe, und zeigte denBrief.
Sie müssen den Gang machen, Fräulein, sagte Emanuel.
Ich muß ihn machen?
Ja, ichbegleite Sie.
Haben Sie denn nicht gelesen, daß ich allein sein soll?
Sie werden auch allein sein; ich erwarte Sie an der Ecke der Rue du Musée, und wenn Sie so lange ausbleiben, daß es mir Unruhebereitet, so suche ich Sie auf, und ich stehe Ihnen dafür, wehe denen, von denen Sie mir sagen werden, Sie haben sich über sie zubeklagen! Also, Emanuel, versetzte zögernd das junge Mädchen, es ist Ihre Ansicht, daß ich dieser Aufforderung Folge leisten soll?
Ja. Sagte Ihnen derBote nicht, es handle sich um die Wohlfahrt Ihres Vaters?
Aber, Emanuel, welche Gefahr läuft er denn? fragte Julie.
Emanuel zögerte einen Augenblick, doch das Verlangen, sie mit einem einzigen Schlage und ohne Verzug zubestimmen, gewann die Oberhand, und er sagte: Hören Sie! Nicht wahr, um elf Uhr soll Ihr Vater gegen 300 000 Frankenbezahlen? Nun, er hat keine 15 000 in der Kasse. Wenn also Ihr Vaterbis heute vor elf Uhr nicht jemand gefunden hat, der ihm zu Hilfe kommt, so ist er um Mittag genötigt, sich zahlungsunfähig zu erklären.
Ah! kommen Sie, rief Julie und zog den jungen Mann mit sich fort.
Mittlerweile hatte Frau Morel ihrem Sohne alles auseinandergesetzt. Der junge Mann wußte wohl, daß wiederholte Unglücksfälle dem Wohlstand des Hauses schwere Wunden geschlagen hatten, hatte aber keine Vorstellung von dem vollen Umfang der Gefahr. Erbliebwie vernichtet; dann eilte er plötzlich aus dem Zimmer und stieg rasch die Treppe hinauf, denn er glaubte, sein Vater sei in seinem Kabinett, aber er klopfte vergebens. Als er vor der Tür des Kabinetts stand, hörte er die untere Wohnung sich öffnen; er wandte sich um und sah seinen Vater. Dieser stieß einen Schrei der Überraschung aus, als er Maximilian erblickte: erbliebunbeweglich auf der Stelle und preßte mit dem linken Arme einen Gegenstand, den er unter seinem Oberrock verborgen hielt. Maximilian stieg rasch die Treppe hinabund warf sich seinem Vater um den Hals; aber plötzlich wich er zurück und ließ nur seine linke Hand auf MorelsBrust ruhen.
Vater, sagte er, bleich wie der Tod, warum haben Sie ein paar Pistolen unter Ihrem Oberrock?
Oh! dasbefürchtete ich, versetzte Morel. Vater! Vater! Im Namen des Himmels, rief der junge Mann, wozu diese Waffen?
Maximilian, antwortete Morel, seinen Sohn starr anschauend, dubist ein Mann, dubist ein Ehrenmann; komm, und ich werde es dir sagen!
Und mit sicherem Schritte stieg Morel in sein Kabinett hinauf, während ihm sein Sohn wankend folgte. Morel öffnete die Tür und schloß sie wieder hinter seinem Sohne; dann durchschritt er das Vorzimmer, näherte sich demBüro, legte seine Pistolen auf die Ecke des Tisches undbezeichnete Maximilian mit der Fingerspitze ein offenesBuch. In diesemBuche war der Stand der Dinge genau eingetragen. Morel hatte in einer halben Stunde 287 500 Franken zubezahlen undbesaß im ganzen nur 15 227 Franken. Der junge Mann las und war einen Augenblick völlig niedergeschmettert. Morel sprach kein Wort; was hätte er zu dem unerbittlichen Urteile der Zahlen noch hinzufügen können?
Und Sie haben alles getan, um diesem Unglück zubegegnen, mein Vater? fragte der junge Mann. — Ja.
Sie haben alle Ihre Quellen erschöpft? — Alle.
Und in einer halben Stunde ist unser Name entehrt? fügte der Sohn mit düsterem Tone hinzu.
Blut wäscht die Schande ab, sprach Morel.
Sie haben recht, Vater, ich verstehe Sie. Dann seine Hand nach den Pistolen ausstreckend, fuhr Maximilian fort: Eine für Sie, eine für mich.
Morel hielt seine Hand zurück.
Und deine Mutter… deine Schwester… wer wird sie ernähren?
Ein Schauder durchlief den Leibdes jungen Mannes.
Vater, sagte er, bedenken Sie, daß Sie mich leben heißen?
Ja, ich sage es dir, denn es ist deine Pflicht; du hast einen starken, ruhigen Geist, Maximilian… Maximilian, dubist kein gewöhnlicher Mensch; ichbefehle dir nichts, ich schreibe dir nichts vor, ich sage dir nur: Untersuche die Lage der Dinge, als obdu ein Fremder wärst, und urteile dann selbst!
Der junge Mann dachte einen Augenblick nach, dann trat ein Ausdruck erhabener Resignation auf seinem Antlitz hervor; nur zuckte er mit einer langsamen, traurigenBewegung die Schulter.
Wohl, sagte er, Morel die Hand reichend, sterben Sie in Frieden, ich werde leben, mein Vater.
Morel warf sich seinem Sohne an dieBrust, Maximilian zog ihn an sich, und die zwei edlen Herzen schlugen einen Augenblick fest aneinander gepreßt.
Du weißt, daß es nicht meine Schuld ist, sagte Morel.
Maximilian lächelte.
Ich weiß, mein Vater, daß Sie der ehrlichste Mann sind den ich kennen gelernt habe.
Wohl, alles ist abgemacht; kehre nun zu deiner Mutter und zu deiner Schwester zurück!
Vater, sagte der junge Mann, die Kniebeugend, segnen Sie mich!
Morel nahm den Kopf seines Sohnes zwischen seine Hände und drückte wiederholt seine Lippen darauf.
Ja, ja, rief er, ich segne dich in meinem Namen und im Namen dreier Generationen vorwurfsfreier Menschen. Höre, was sie dir durch meine Stimme sagen: Das Gebäude, das das Unglück zerstört hat, kann die Vorsehung wieder aufbauen. Wenn sie mich einen solchen Tod sterben sehen, werden die Unerbittlichsten Mitleid mit mir haben; dir wird man vielleicht die Zeit gönnen, die man mir verweigert hat. Dann strebe vor allem danach, daß das Wort ehrlos nicht ausgesprochen werde; schreite zum Werke, arbeite, junger Mann, kämpfe heiß und mutig! Lebet, du, deine Mutter und deine Schwester, vom Notwendigsten, damit Tag für Tag das Gut derer, denen ich schuldigbin, wachse und unter deinen Händen Früchte trage! Bedenke, daß es ein schöner Tag, ein großer Tag, ein feierlicher Tag sein wird, der Tag, wo du in diesem Zimmer sagen wirst: Mein Vater ist gestorben, weil er nicht tun konnte, was ich heute tue, doch er ist ruhig und getrost gestorben, weil er wußte, ich würde es tun!
Oh! Vater, Vater, wenn Sie dennoch leben könnten!
Wenn ich lebe, ist alles verloren, wenn ich lebe, verwandelt sich die Teilnahme in Zweifel, das Mitleid in Erbitterung; wenn ich lebe, bin ich nur ein Mensch, der sein Wort gebrochen hat, der seiner Verbindlichkeit nicht nachgekommen ist; ichbin nichts anderes, als einBankerottierer. Sterbe ich dagegen, bedenke wohl, Maximilian, so ist mein Leichnam der eines unglücklichen, aber ehrlichen Mannes. Bleibe ich am Leben, so werden meinebesten Freunde mein Haus meiden. Bin ich tot, so folgt mir ganz Marseille weinend zu meiner letzten Ruhestätte. Lebe ich, so mußt du dich meines Namens schämen; sterbe ich, so erhebe stolz das Haupt und sprich: Ichbin der Sohn des Mannes, der sich getötet hat, weil er zum erstenmal im Leben sein Wort nicht halten konnte.
Der junge Mann stieß einen Seufzer aus, doch er schien sich zu fügen. Zum zweiten Male erfüllte die Überzeugung nicht sein Herz, aber seinen Geist.
Und nun laß mich allein, sagte Morel, und suche die Frauen zu entfernen!
Wollen Sie nicht meine Schwester noch einmal sehen? fragte Maximilian, indem er eine letzte, schwache Hoffnung auf diese Zusammenkunft setzte.
Herr Morel schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich habe sie heute morgen gesehen und ihr Lebewohl gesagt.
Haben Sie mir keinenbesonderen Auftrag zu erteilen, mein Vater? fragte Maximilian mitbebender Stimme.
Allerdings, mein Sohn, einen heiligen Auftrag.
Sprechen Sie, Vater!
Das Haus Thomson und French ist das einzige, das aus Menschlichkeit, vielleicht aus Selbstsucht — es kommt mir nicht zu, in den Herzen der Menschen zu lesen, — Mitleid mit mir gehabt hat. Sein Vertreter, der in zehn Minuten erscheinen wird, um denBetrag von 287 500 Franken in Empfang zu nehmen, hat mir drei Monate nichtbewilligt, sondern angeboten. — Dieses Haus werde zuerstbefriedigt, mein Sohn, dieser Mann sei dir heilig.
Ja, Vater.
Und nun noch einmal Lebewohl, mein Sohn; geh, geh, ich muß allein sein. Du findest mein Testament in dem Schreibpult in meinem Schlafzimmer.
Höre, Maximilian, sprach der Vater, als er sah, daß der Sohn immer noch zauderte, denke dir, ich sei Soldat, wie du, ich habe denBefehl erhalten, eine Schanze zu nehmen, und du wissest, ich müssebeim Erstürmen fallen, würdest du mir nicht sagen: Gehen Sie, Vater, denn Sie entehren sich, wenn Siebleiben, undbesser der Tod, als die Schande!
Ja, ja, sagte der junge Mann, Morel krampfhaft in seine Arme schließend; ja, gehen Sie!
Und er stürzte aus dem Kabinett.
Morelbliebein paar Sekunden, die Augen starr auf die Tür heftend, stehen; dann läutete er. Alsbald erschien Cocles, der seinem früheren Selbst nicht mehr glich; die drei letzten Tage hatten ihn gelähmt. Der Gedanke: das Hans Morel ist imBegriff, seine Zahlungen einzustellen, beugte ihn mehr nieder, als es zwanzig Jahre getan hätten.
Mein guter Cocles, sagte Morel mit einem Tone, dessen Ausdruck sich nichtbeschreiben läßt, du wirst im Vorzimmerbleiben. Wenn der Herr, derbereits vor drei Monaten hier gewesen ist, der Vertreter von Thomson und French, kommt, meldest du ihn. Cocles antwortete nicht; er machte ein Zeichen mit dem Kopfe, setzte sich in das Vorzimmer und wartete. Morel fiel in seinen Lehnstuhl zurück; seine Augen wandten sich nach der Pendeluhr; esblieben ihm nur noch sieben Minuten; der Zeiger rückte mit unglaublicher Geschwindigkeit vor; es schien ihm, er sehe ihn fortschreiten. Was nun in dem Geiste dieses Mannes vorging, der, noch jung, sich von allem, was er auf der Welt liebte, trennen und das Leben verlassen wollte, vermag keine Feder zu schildern; man hätte, um einenBegriff zubekommen, seine mit Schweißbedeckte und dennoch ruhige Stirn, seine von Tränenbefeuchteten und dennoch zum Himmel aufgeschlagenen Augen sehen müssen.
Der Zeiger rückte immer weiter vor, die Pistolen waren geladen; er streckte die Hand aus, ergriff eine und murmelte den Namen seiner Tochter; dann legte er die tödliche Waffe wieder nieder, nahm eine Feder und schriebein paar Worte. Es kam ihm vor, als hätte er seinem geliebten Kinde nicht genug Lebewohl gesagt; dann wandte er sich wieder nach der Pendeluhr… er zählte nicht mehr nach Minuten, sondern nach Sekunden. Er faßte abermals die Waffe, den Mund halbgeöffnet und die Augen starr auf den Zeiger geheftet; und erbebtebei dem Geräusch, das er selbst, den Hahn spannend, machte. Der Schweiß lief ihm immer kälter über die Stirn, immer tödlicher schnürte ihm die Angst das Herz zusammen; er hörte, wie die Tür der Treppe auf ihren Angeln knarrte und sich sodann die seines Kabinetts öffnete; die Pendeluhr war auf dem Punkte, die elfte Stunde zu schlagen.
Morel wandte sich nicht um, er erwartete von Cocles die Worte zu hören: Der Vertreter des Hauses Thomson und French! und näherte die Waffe seinem Munde. Plötzlich hörte er einen Schrei… es war die Stimme seiner Tochter.
Er kehrte sich um und erblickte Julie; die Pistole entglitt seinen Händen.
«Vater!«rief das Mädchen atemlos undbeinahe sterbend vor Freunde,»gerettet! Sie sind gerettet!«
Und sie warf sich, mit der Hand eine rote seideneBörse emporhaltend, in seine Arme.
«Gerettet, mein Kind?«sagte Morel,»was willst du damit sagen?«
«Ja, gerettet! Sehen Sie, sehen Sie!«
Morel ergriff dieBörse undbebte, denn eine dunkle Erinnerung sagte ihm, daß sie einst ihm gehört habe. Auf der einen Seite fand er die Tratte von 287 00O Franken; die Tratte war quittiert. Auf der andern gewahrte er einen Diamanten von der Größe einer Haselnuß, mit den auf ein Stück Pergament geschriebenen drei Worten: Mitgift für Julie.
Morel fuhr mit der Hand über seine Stirn; er glaubte zu träumen. In diesem Augenblick schlug die Pendeluhr die elfte Stunde. Der Klang durchbebte ihn, als objeder Schlag des stählernen Hammers an seinem eigenen Herzen widertönte.
Sprich, Kind, sagte Morel, erkläre dich! Wo hast du dieseBörse gefunden?
In einem Hause der Allées de Meillan, Nr. 15, auf der Ecke des Kamins eines armseligen Zimmers im fünften Stocke.
DieseBörse gehört aber nicht dir! rief Morel.
Julie reichte dem Vater denBrief, den sie am Morgen empfangen hatte.
Und dubist allein in jenem Hause gewesen? sagte er, nachdem er gelesen hatte.
Emanuelbegleitete mich, Vater; er sollte an der Ecke der Rue du Musée auf mich warten, war aber seltsamerweisebei meiner Rückkehr nicht dort.
Herr Morel!.. rief man auf der Treppe, Herr Morel!
Zu gleicher Zeit trat Emanuel, das Gesicht vor Freude und Aufregung ganz verstört, ein.
Der Pharao! rief er, der Pharao!
Was, der Pharao? Sind Sie verrückt, Emanuel? Sie wissen, daß er zu Grunde gegangen ist!
Der Pharao! Herr, man signalisiert den Pharao! Der Pharao läuft in den Hafen ein!
Morel fiel in seinen Stuhl zurück; die Kräfte verließen ihn; sein Verstand weigerte sich, diese Folge unglaublicher, unerhörter, fabelhafter Ereignisse zu fassen. Aber Maximilian trat ebenfalls ein und rief: Vater, was sagten Sie denn, der Pharao sei zu Grunde gegangen? Die Wache hat ihn signalisiert, und er läuft, wie ich höre, in den Hafen ein.
Meine Freunde, sagte Morel, wenn dies der Fall wäre, so müßte man an ein Wunder des Himmels glauben. Unmöglich! Unmöglich!
Was aber wirklich war und nicht minder unglaublich erschien, das war dieBörse, die er in der Hand hielt, das war der quittierte Wechsel, das war der prachtvolle Diamant.
Oh, Herr, sagte Cocles, was soll dasbedeuten, der Pharao?
Auf, Kinder, sagte Morel sich erhebend, wir wollen sehen, und Gott sei unsbarmherzig, wenn es eine falsche Nachricht ist.
Sie gingen hinab; mitten auf der Treppe wartete Frau Morel; die arme Frau hatte es nicht gewagt, hinaufzugehen. In einem Augenblickbefanden sie sich auf der Cannebière. Es war eine Menge von Menschen versammelt. Alles Volk gabRaum für Morel.
Der Pharao! Der Pharao! riefen alle Stimmen.
Wunderbar, unerhört! Ein Schiff, an dessen Vorderteil in weißenBuchstaben die Worte: Der Pharao, Morel und Sohn in Marseille, geschrieben waren, und das ganz die Gestalt des Pharao hatte und wie dieser mit Indigo und Cochenillebeladen war, ging in der Tat vor dem Saint‑Jean‑Turme vor Anker. Aus dem Verdecke gabder Kapitän Gaumard seineBefehle, und Meister Penelon machte Herrn Morel Zeichen. Es ließ sich nicht mehr zweifeln, die Sinnebezeugten, und zehntausend Menschenbestätigten es. Als Morel und sein Sohn auf dem Hafendamm unter demBeifallsgeschrei der ganzen diesem Schauspielbeiwohnenden Stadt sich umarmten, murmelte ein Mann, dessen Kopf halbvon einem schwarzenBartebedeckt war, indem er, hinter einem Schilderhäuschen verborgen, voll Rührung diese Szenebetrachtete, die Worte: Sei glücklich, edles Herz; sei gesegnet für alles Gute, was du getan hast und noch tun wirst, und meine Dankbarkeitbleibe im Dunkeln, wie deine Wohltat. Und mit einem Lächeln, in dem sich Freude und Glück ausprägten, verließ er den Ort, an dem er sich verborgen gehalten hatte, stieg, ohne daß jemand darauf achtete, eine von den kleinen Treppen hinab, die zum Landenbenutzt werden, und rief dreimal: Jacopo!
Eine Schaluppe kam auf ihn zu, nahm ihn anBord und führte ihn zu einer reich ausgerüsteten Jacht, auf deren Verdeck er mit der Gelenkigkeit eines Seemanns sprang; von hier ausbetrachtete er noch einmal Morel, der vor Freude weinend herzliche Händedrücke an alle Welt austeilte und mit suchendemBlicke dem unsichtbaren Wohltäter dankte, den er im Himmel zu vermuten schien.
Und nun, sagte der Unbekannte, fahret wohl, Güte, Menschlichkeit, Dankbarkeit… fahret wohl alle Gefühle, die das Herz schwellen lassen!.. Ich habe die Stelle der Vorsehung eingenommen, um die Guten zubelohnen… jetzt trete mir der rächende Gott seinen Platz ab, um dieBösen zubestrafen!
Nach diesen Worten machte er ein Signal, und die Jacht ging, als hätte sie nur auf dieses Signal gewartet, sogleich in See.
Simbad der Seefahrer
Am Anfang des Jahres 1838befanden sich in Florenz zwei junge Leute, die der elegantesten Gesellschaft von Paris angehörten. Der eine war der Vicomte Albert von Morcerf, der andere derBaron Franz d'Epinay. Sie hatten verabredet, den Karneval dieses Jahres in Rom zuzubringen, wo Franz, der seitbeinahe vier Jahren in Italien lebte, Albert als Cicerone dienen sollte. Albert wollte die Zeit, die er noch vor sich hatte, benutzen und reiste nach Neapel ab. Franzbliebin Florenz. Als er einige Zeit das Leben, das die Stadt der Medicibietet, genossen hatte, kam es ihm in den Kopf, da er Korsika, Bonapartes Wiege, bereitsbesucht hatte, auch Elba, dieseberühmte napoleonische Station, zu sehen.
Eines Abends machte er daher eineBarchetta von dem eisernen Ringe los, an dem sie im Hafen von Livornobefestigt war, legte sich, in seinen Mantel gehüllt, darin nieder und sagte zu den Schiffern nur die Worte: Nach Elba! DieBarke verließ den Hafen, wie der Meervogel sein Nest verläßt, und landete am andern Tage in Porto Ferrajo. Nachdem Franz allen Spuren gefolgt war, die der Tritt des korsischen Riesen auf der Insel zurückgelassen hatte, schiffte er sich in Marciana wieder ein. Zwei Stunden später stieg er in Pianosa, wo seiner, wie man ihm versicherte, zahllose Schwärme von Rothühnern warteten, abermals ans Land. Die Jagd war schlecht, Franz schoß nur ein paar magere Hühner und kehrte übler Laune in seineBarke zurück.
Oh! wenn Euere Exzellenz wollte, sagte der Patron zu ihm, könnte sie eine schöne Jagd machen.
Wo denn?
Sehen Sie jene Insel? sagte der Patron, den Finger nach Süden ausstreckend und auf eine kegelförmige Masse deutend, die in den schönsten Farben mitten aus dem Meere aufstieg.
Was für eine Insel ist denn das? fragte Franz.
Die Insel Monte Christo, antwortete der Livornese.
Was für Wildpret werde ich dort finden?
Tausende von wilden Ziegen.
Die davon leben, daß sie an den Steinen lecken? versetzte Franz mit ungläubigem Lächeln.
Nein, davon, daß sie Heidekraut, Myrten undBrombeerstauden abweiden.
Aber wo soll ich schlafen?
Auf der Erde, in den Grotten, oder anBord in Ihrem Mantel. Auch können wir, wenn es Eure Exzellenz so haben will, unmittelbar nach der Jagd wieder absegeln? sie weiß, daß wirbei Nacht wiebei Tag fahren können und neben den Segeln auch Ruder haben.
Da Franz noch Zeit genugblieb, um wieder zu seinem Gefährten zurückzukehren, nahm er den Vorschlag an und rief dem Patron zu: Also vorwärts nach Monte Christo!
Der Kapitän gabdie geeignetenBefehle; man legte sich gegen die Insel und näherte sich ihr rasch. Je näher man kam, desto mehr trat das Eiland wachsend aus dem Schoße des Meeres hervor, und durch die klare Atmosphäre der letzten Strahlen des Tages unterschied man die Masse der aufeinander gehäuften Felsen, in deren Zwischenräumen das rötliche Heidekraut und die grünendenBäume sichtbar wurden. Sie waren noch ungefähr fünfzehn Meilen von Monte Christo entfernt, als die Sonne hinter Korsika, dessenBerge rechts zum Vorschein kamen, unterzugehen anfing. Eine halbe Stunde nachher herrschte völlige Finsternis. Zum Glückbefanden sich die Schiffer in einer Gegend des toskanischen Archipels, die sie aufs genaueste kannten, denn inmitten der Dunkelheit, welche dieBarke umhüllte, wäre Franz sonst etwasbeunruhigt gewesen.
Es war ungefähr eine Stunde seit Sonnenuntergang vorüber, als Franz auf eine Viertelmeile links eine dunkle Masse zu erblicken glaubte; doch es ließ sich durchaus nicht unterscheiden, was es war, und er schwieg, weil er dachte, es seien vielleicht nur schwebende Wolken, und die Matrosen würden ihn auslachen. Nun wurde aber ein Heller Schimmer sichtbar, und Franz rief:
Wasbedeutet jenes Licht?
Still! sagte der Patron, es ist ein Feuer.
Ich glaubte doch, die Insel sei unbewohnt?
Sie hat keine festeBevölkerung, doch dient sie manchmal als Aufenthaltsort für Schmuggler und für Seeräuber, fuhr Gaetano fort; deshalbhabe ichBefehl gegeben, daran vorbeizufahren, denn das Feuer ist, wie Sie sehen, nunmehr hinter uns.
Mir scheint, dieses Feuer muß uns eher Sicherheit gewähren, als Unruhe verursachen; Leute, die gesehen zu werdenbefürchten, zünden kein Feuer an.
Oh! das will nichts sagen, entgegnete Gaetano; wenn Ihnen die Lage der Insel genaubekannt wäre, würden Sie wissen, daß dieses Feuer weder von Korsika noch von Pianosa, sondern nur von der offenen See ausbemerkt werden kann.
Ihr fürchtet also, das Feuer kündige uns schlimme Gesellschaft an?
Darüber muß man sich Gewißheit verschaffen, erwiderte Gaetano, die Augenbeständig darauf heftend.
Hieraufberatschlagte Gaetano mit seinen Gefährten, und nach einer kurzen Unterredung wendete man stillschweigend das Schiff; nun war das Feuer nicht mehr sichtbar. Dann gabder Lotse dem kleinen Fahrzeug, dasbald nur noch fünfzig Schritte von der Insel entfernt war, eine neue Richtung. Gaetano zog das Segel ein, und dieBarkebliebstehen.
Dies alles war mit der größten Stille vor sich gegangen, und man hatte seit Änderung der Richtung keine Silbe anBord gesprochen. Gaetano, der die Expedition vorgeschlagen, hatte auch die ganze Verantwortlichkeit übernommen. Die drei andern Matrosen wandten kein Auge von ihm, während sie die Ruder richteten und sich offenbarbereit hielten, die Flucht zu ergreifen, wasbei der großen Dunkelheit nicht schwer sein konnte. Franz untersuchte seine Gewehre, zwei Doppelflinten und eineBüchse, mit seiner gewöhnlichen Kaltblütigkeit; dann wartete er, auf alles gefaßt.
Inzwischen zog der Patron seine Kleiderbis auf die Hosen aus und legte einen Finger auf die Lippen, um den andern Stillschweigen anzuempfehlen, ließ sich in das Meer hinabgleiten und schwamm mit solcher Vorsicht nach dem Ufer, daß es nicht möglich war, auch nur das geringste Geräusch zu hören. Man konnte seine Spur nur an der leuchtenden Furche verfolgen, die seineBewegungen verursachten. Bald verschwand auch diese Furche; Gaetano hatte offenbar das Land erreicht.
Eine halbe Stunde langblieben alle auf dem Schiffe unbeweglich; nach Verlauf dieser Zeit sah man dieselbe leuchtende Furche wiedererscheinen und sich derBarke nähern. Mit einigen Stößen war Gaetano wiederbei derBarke.
Nun? fragten gleichzeitig Franz und die drei Matrosen.
Es sind drei spanische Schmuggler, die zwei korsischeBanditenbei sich haben.
Gut, so viel sind wir auch gerade; unsere Kräfte sind, falls die Herren schlimme Absichten haben sollten, gleich. Also, auf nach Monte Christo!
Ja, Exzellenz; doch Sie werden mir ohne Zweifel erlauben, daß ich einige Vorsichtsmaßregeln nehme?
Freilich, mein Teurer. Seid weise wie Nestor und klug wie Ulysses! Ich erlaube es Euch nicht nur, sondern ich ermahne Euch dazu.
Still also! sagte Gaetano. Alle schwiegen.
Für einen Mann wie Franz, der alles vom richtigen Gesichtspunkte ausbetrachtete, ermangelte die Lage der Dinge, ohne gefährlich zu sein, doch nicht eines gewissen Ernstes. Erbefand sich in der tiefsten Finsternis mitten auf dem Meere mit Schiffern, die ihn nicht kannten und keinen Grund hatten, ihm ergeben zu sein, die wußten, daß in seinem Gürtel tausend Franken waren, und wenigstens zehnmal, wenn nicht mit Lüsternheit, doch mit Neugierde seine wirklich schönen Gewehre untersucht hatten. Sodann sollte er ohne anderes Geleit, als diese Menschen, auf einer Insel landen, auf der Schmuggler undBanditen ihr Wesen trieben. Zwischen diese doppelte, vielleicht eingebildete, vielleicht wirkliche Gefahr gestellt, ließ er seine Leute nicht aus den Augen, seine Flinte nicht aus der Hand.
Die Matrosen hatten indessen ihre Segel wieder gehißt, und dieBarke fuhr das Ufer entlang; bald erblickte man das Feuer deutlicher und fünf daran sitzende Personen. Der Wiederschein der Glut erstreckte sich auf etwa hundert Schritt ins Meer hinaus. Gaetano fuhr längs dem Feuer hin, wobei er jedoch dieBarke in dem nichtbeleuchteten Teile hielt; als er sich endlich gerade vor dem Feuerbefand, richtete er das Vorderteil seines Fahrzeugs auf dieses zu und fuhr mutig in denbeleuchteten Kreis, wobei er ein Fischerlied anstimmte, dessen Refrain seine Gefährten im Chor wiederholten.
Bei dem ersten Worte des Liedes erhoben sich die um das Feuer sitzenden Männer und näherten sich dem Strand, ihre Augen auf dieBarke heftend, derenBesatzung zu erkennen und deren Absicht zu erraten sie sich sichtbar anstrengten. Sobald sie sich genügend überzeugt hatten, setzten sie sich, einen Mann ausgenommen, der am Ufer stehenblieb, wieder um das Feuer, an dem man eine junge Ziegebriet.
Als das Schiffbis auf zwanzig Schritte zum Land gelangt war, rief der Mann am Ufer in sardinischer Mundart: Wer da?
Franz spannte kaltblütig seine Doppelflinte.
Gaetano wechselte mit dem Manne am Ufer ein paar Worte, von denen der Reisende nichts verstand, die aber offenbar seine Personbetrafen.
Will Eure Exzellenz sich nennen oder ihr Inkognitobeibehalten? fragte der Patron.
Mein Name muß diesen Leuten völlig unbekanntbleiben, antwortete Franz; sagt ihnen ganz einfach, ich sei ein Franzose, der zu seinem Vergnügen reise.
Als Gaetano diese Worte wiederholt hatte, gabdie Schildwache einem von den am Feuer sitzenden Männern einenBefehl; dieser stand sogleich auf und verschwand in den Felsen. Es herrschte tiefe Stille. Jeder schien mit seinen Angelegenheitenbeschäftigt, Franz mit dem Ausschiffen, die Matrosen mit ihren Segeln, die Schmuggler mit ihrer jungen Ziege. Dochbei aller scheinbaren Sorglosigkeitbeobachtete man sich gegenseitig scharf.
Der Mann, der sich durch die Felsen entfernt hatte, erschien plötzlich wieder von der entgegengesetzten Seite; er machte der Schildwache mit dem Kopfe ein Zeichen, diese wandte sich um und sprach nur die Worte: s'accommodi.
Das italienische s'accommodi läßt sich nicht übersetzen. Esbedeutet zugleich: Kommt, tretet ein, seid willkommen. tut, als obIhr zu Hause wäret, Ihr habt zu gebieten. Die Matrosen ließen sich das nicht zweimal sagen; mit vier Ruderschlägenberührte dieBarke das Land. Gaetano sprang ans Ufer, wechselte leise noch ein paar Worte mit der Schildwache, seine Gefährten stiegen ebenfalls nacheinander aus, und die Reihe kam an Franz.
Er trug selbst eine von seinen Flinten, Gaetano hatte die andere, einer von den Matrosen hielt seineBüchse. Seine Tracht hielt die Mitte zwischen der eines Künstlers und der eines Stutzers, was den Leuten auf der Insel keinen Verdacht und folglich keine Unruhe einflößte. Manband dieBarke am Ufer an und ging einige Schritte vorwärts, um einbequemesBiwak zu suchen; aber ohne Zweifel paßte die Stelle, wo man suchte, dem Schmuggler, der Wache stand, nicht, denn er rief Gaetano zu: Nein, nicht dort!
Gaetano stammelte eine Entschuldigung und schritt ohne Widerspruch in entgegengesetzter Richtung fort, während zwei Matrosen, um den Weg zubeleuchten, Fackeln am Feuer anzündeten. Man machte ungefähr dreißig Schritte und hielt auf einem freien Platze an, der ganz von Felsen umgeben war.
Sobald Franz einmal den Fuß auf die Erde gesetzt und die, wenn nicht gerade freundschaftliche, doch wenigstens gleichgültige Stimmung seiner Wirte wahrgenommen hatte, verschwandbei ihm jede Unruhe, und der Geruch der an dem nahenBiwakbratenden Ziege verwandelte seine Unruhe sogar in Appetit.
Er erwähnte dies gegen Gaetano, der ihm erwiderte, es gebe nichts Einfacheres, als ein Abendbrot, wenn man, wie sie, in derBarkeBrot, Wein, sechs Feldhühner und ein gutes Feuer zumBratenbesäße.
Überdies, fügte erbei, wenn Eure Exzellenz den Geruch der Ziege so verführerisch findet, so kann ich hingehen und unsern Nachbarn zwei von unsern Vögeln für eine Schnitte von ihrem Vierfüßigenbieten.
Tut das, Gaetano, antwortete Franz. Während dieser Zeit hatten die Matrosen Arme voll Heidekraut ausgerissen undBündel von Myrten und grünen Eichen gemacht, woran sie Feuer legten, wasbald einen sehr ansehnlichenBrand gab. Franz erwartete, beständig den Geruch der jungen Ziege einatmend, die Rückkehr des Patrons. Dieser erschien und ging mit sehr unruhiger Miene auf ihn zu.
Nun, fragte Franz, was Neues? Man weist unser Anerbieten zurück?
Im Gegenteil, erwiderte Gaetano, der Anführer, dem man gesagt hat, Sie seien ein junger französischer Edelmann, lädt Sie zum Abendbrot zu sich ein.
Gut! Tiefer Anführer ist ein sehr höflicher Mann, und ich weiß nicht, warum ich seiner Einladung nicht entsprechen sollte, um so mehr, als ich meinen Teil zum Abendbrot mitbringe.
Oh, das ist es nicht, denn es findet sich dort genug zum Abendbrot; aber er stellt eine sonderbareBedingung, unter der er Siebei sich empfangen will.
Bei sich! versetzte der junge Mann; er hat sich also ein Hausbauen lassen?
Nein, erbesitzt aber darum nichtsdestoweniger ein sehrbehagliches Heim, wenigstens wie man mir versichert hat.
Ihr kennt also diesen Anführer?
Ich habe von ihm sprechen hören.
Und wie heißt dieBedingung, die er mir stellt?
Sie sollen sich die Augen verbinden lassen und dieBinde nicht eher abnehmen, alsbis er Sie selbst dazu auffordert.
Franz schaute forschend in Gaetanos Augen, um zu erfahren, was hinter diesem Vorschlage verborgen sein könnte.
Ah! bei Gott! sagte dieser, auf FranzensBlick antwortend, ich weiß wohl, die Sache verdient Überlegung.
Was würdet Ihr an meiner Stelle tun? fragte der junge Mann.
Ich, der nichts zu verlieren hat, ginge hin, und wär's nur aus Neugierde. Es ist also etwas Merkwürdigesbei diesem Anführer zu sehen?
Hören Sie, sagte Gaetano, die Stimme dämpfend, ich weiß nicht, obdas, was man sagt, wahr ist. Er schwieg und schaute umher, obkein Fremder ihnbehorchte. Man sagt, dieser Anführerbesitze einen unterirdischen Palast, im Vergleich zu dem der Palast Pitti gar nichts sei.
Welche Phantasie! rief Franz.
Oh, es ist keine Phantasie, es ist Wahrheit. Cama, der Lotse des Ferdinando, ist einmal darin gewesen; er kam voll Verwunderung zurück und sagte, dergleichen Schätze finden sich nur in Feenmärchen.
Franz dachte einen Augenblick nach, erbegriff, daß ein so reicher Mann gegen ihn, der nur ein paar tausend Frankenbei sich hatte, nichts im Schilde führen konnte; und da ihm im Augenblick vor allem an einem vortrefflichen Abendbrot lag, so willigte er ein. Gaetano überbrachte seine Antwort.
Franz war indessen, wie gesagt, klug; er wollte soviel als möglich über seinen seltsamen, geheimnisvollen Wirt in Erfahrungbringen, wandte sich deshalbgegen den Matrosen um, derbeständig mit dem Ernste eines auf sein Amt stolzen Mannes die Feldhühner gerupft hatte, und fragte ihn, wie diese Leute hätten landen können, da kein Schiff sichtbar sei.
Dasbeunruhigt mich nicht, antwortete der Matrose, ich kenne das Schiff, worauf sie fahren.
Ist es ein hübsches Schiff?
Ich wünsche Eurer Exzellenz ein ähnliches, um damit die Reise um die Welt zu machen.
Wie groß?
Etwa hundert Tonnen. Es ist eine Jacht, aber so gebaut, daß sie sichbei jedem Wetter auf der See halten kann.
Wo ist sie gebaut worden?
Ich weiß es nicht, doch ich glaube in Genua.
Und wie kann es ein Anführer von Schmugglern wagen, eine für sein Gewerbebestimmte Jacht in Genuabauen zu lassen?
Ich sagte gar nicht, der Eigentümer dieser Jacht sei ein Schmugglerführer.
Nein, aber Gaetano hat es gesagt, meine ich.
Gaetano hat das Schiffsvolk von fern gesehen, aber noch mit niemand gesprochen.
Doch was ist denn dieser Mensch, wenn er kein Schmuggler ist?
Ein reicher Herr, der zu seinem Vergnügen reist.
Bei so widersprechenden Aussagen wird diese Person immer geheimnisvoller, dachte Franz. Und wie heißt er?
Wenn man fragt, so sagt er, er heiße Simbad der Seefahrer; doch ich zweifle, daß dies sein wahrer Name ist.
Und wo wohnt dieser Herr? — Auf dem Meere. — Aus welchem Lande ist er? — Ich weiß es nicht. — Habt Ihr ihn gesehen? — Einige Male. — Was für ein Mann ist es? — Eure Exzellenz wird ihn selbst sehen. — Und wo wird er mich empfangen? — Ohne Zweifel in seinem unterirdischen Palaste.
Und wenn Ihr hier anhieltet und die Insel verlassen fandet, triebEuch die Neugierde nie an, in diesen Zauberpalast zu dringen?
Oh! doch wohl, Exzellenz, erwiderte der Matrose, und zwar mehr als einmal, aber unsere Nachforschungen waren stets vergeblich; wir umwühlten die Grotte von allen Seiten, fanden aber nirgends einen Eingang. Übrigens sagt man, die Tür öffne sich nicht mit einem Schlüssel, sondern mittels eines magischen Wortes.
Ichbin offenbar in ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht versetzt, murmelte Franz.
Seine Exzellenz erwartet Sie, sprach hinter ihm eine Stimme, in welcher er die der Schildwache erkannte.
Der Vortretende war von zwei Personen von der Mannschaft der Jachtbegleitet. Statt jeder Antwort zog Franz sein Taschentuch und reichte es dem, welcher ihn angeredet hatte. Ohne ein Wort zu sprechen, verband man ihm die Augen mit einer Sorgfalt, aus der man erkannte, wie sehr man eine Indiskretion fürchtete, und ließ ihn sodann schwören, daß er auf keine Weise versuchen würde, seineBinde abzunehmen, bevor man ihn dazu aufforderte.
Diebeiden Männer nahmen ihn jeder an einem Arm, und er entfernte sich, von ihnen geleitet, die Schildwache voran. Nach etwa 50 Schritten fühlte er an der Veränderung der Atmosphäre, daß man in ein unterirdisches Gewölbe eintrat. Nachdem man noch einige Sekunden gegangen war, hörte er ein Krachen, und es kam ihm vor, als hätte sich die Atmosphäre wieder geändert und würde lau und wohlriechend; endlich fühlte er, haß seine Füße auf einen dicken, weichen Teppich traten; seine Führer verließen ihn. Nach kurzem Stillschweigen sagte eine Stimme in gutem Französisch, obgleich mit fremderBetonung: Ich heiße Sie willkommen; Sie können IhreBinde abnehmen.
Franz kam dieser Aufforderung sofort nach, nahm das Tuch abundbefand sich einem Manne von vierzig Jahren in tunesischer Tracht gegenüber; der Unbekannte trug einen roten Fez mit einer langen Quaste vonblauer Seide, eine reich mit Gold gestickte Jacke von schwarzem Tuch, weite, bauschigeBeinkleider, goldgestickte Gamaschen von derselben Farbe und gelbe Pantoffeln. Ein prachtvoller Kaschmir umgürtete seine Hüften, und ein kleiner spitziger, gebogener Handschar stak in diesem Gürtel. Obgleichbleich, fastbleifarbig, hatte dieser Mann doch ein interessantes Gesicht; seine Augen waren lebhaft und durchdringend; seine gerade und die Stirnlinie fast fortsetzende Nase deutete den griechischen Typus in seiner ganzen Reinheit an, und seine perlweißen Zähne hoben sich von dem schwarzen Schnurrbart prächtig ab. Nur dieBlässe war seltsam; man hätte glauben sollen, er habe lange im Grabe gelegen und könne nun die natürliche Farbe der Lebenden nicht wieder annehmen. Wenn auch nicht hoch gewachsen, war er doch wohlgebaut und hatte, wie die Südländer, kleine Hände und Füße. Am meisten aber erstaunte Franz über die Kostbarkeit der Ausstattung.
Das ganze Zimmer war mit einem türkischen Stoffe von karmesinroter Farbe austapeziert. In einer Vertiefung stand ein Diwan, über dem man eine Trophäe von arabischen Waffen erblickte, deren Scheiden und Griffe von Edelsteinen funkelten; an der Zimmerdecke hing eine Lampe von venetianischem Glas von reizender Form und Farbe, und die Füße ruhten auf einem türkischen Teppich, in dem siebis an die Knöchel versanken. Vorhänge waren vor der Tür angebracht, durch die man Franz eingeführt hatte, und ebenso vor einer andern Tür, die nach einem zweiten Gemache ging, das glänzend erleuchtet zu sein schien. Der Wirt überließ Franz eine Zeit lang gänzlich seinem Staunen, prüfte ihn überdies auch seinerseits neugierig und hattebeständig seine Augen auf ihn geheftet.
Mein Herr, sagte er endlich, ichbitte Sie tausendmal um Entschuldigung wegen der Vorsichtsmaßregeln, die man von Ihnen verlangte. Da aber die Insel meist öde und verlassen ist, so fände ich, wenn das Geheimnis dieses Aufenthaltsortesbekannt würde, ohne Zweifelbei meiner Rückkehr mein Absteigequartier in schlimmem Zustand, was mir sehr unangenehm wäre, nicht wegen des Verlustes, den es mir verursachen würde, sondern weil ich nicht mehr die Gewißheit hätte, mich nachBelieben von der Welt abschließen zu können. Ich will mich nunbemühen, Sie diese kleine Unannehmlichkeit vergessen zu lassen, indem ich Ihnen anbiete, was Sie gewiß nicht zu finden hofften, nämlich ein erträgliches Abendbrot und guteBetten.
Wahrhaftig, mein lieber Wirt, Siebrauchen sich deshalbnicht zu entschuldigen. Ich habe immer gehört, daß man den Leuten, die in Zauberpaläste drangen, die Augen verband, auch geziemt es mir nicht, mich zubeklagen, denn das, was Sie mir zeigen, bildet offenbar die Fortsetzung von Tausendundeiner Nacht.
Ach! ich möchte Ihnen wie Lucullus sagen, wenn ich gewußt hätte, daß mir die Ehre IhresBesuches zuteil würde, so hätte ich mich daraus vorbereitet. Doch ich stelle meine Einsiedelei, so wie sie ist, zu Ihrer Verfügung; mein Abendbrot ist Ihnen angeboten, so mager es auch sein mag. Ali, ist ausgetragen?
In demselben Augenblick wurde der Türvorhang ausgehoben, und ein nubischer Neger, so schwarz wie Ebenholz und in einen einfachen weißen Leibrock gekleidet, deutete seinem Herrn durch ein Zeichen an, er könnte sich in den Speisesaalbegeben.
Ich weiß nicht, sagte der Unbekannte zu Franz, obSie meiner Ansicht sind, aber ich finde nichts unbehaglicher, als zweibis drei Stunden einander unter vier Augen gegenüber zubleiben, ohne zu wissen, mit welchem Namen oder welchem Titel man sich nennen soll. Ich achte indessen zu sehr die Gesetze der Gastfreundschaft, um Sie nach Ihrem Namen zu fragen, undbitte Sie nur, mir irgend eineBenennung zubezeichnen, unter der ich das Wort an Sie richten kann. Mich nennt man gewöhnlich Simbad, den Seefahrer.
Und ich denke, erwiderte Franz, ich kann mich, da mir, um in Aladins Lage zu sein, nur dieberühmte Wunderlampe fehlt, für den Augenblick Aladin nennen.
Wohl, edler Herr Aladin, sagte der Fremde, Sie haben gehört, daß aufgetragen ist, wollen Sie also die Güte haben, in den Speisesaal einzutreten! Ihr untertäniger Diener geht voran, um Ihnen den Weg zu zeigen.
Bei diesen Worten hobSimbad den Türvorhang auf und ging Franz voran. Franz schritt von Zauber zu Zauber; die Tafel schien herrlichbestellt. Nachdem er sich von diesem wichtigen Punkte überzeugt hatte, schaute er umher. Der Speisesaal war nicht minder glänzend, als das Zimmer, das er soeben verlassen hatte; er war ganz von Marmor mit antikenBasreliefs vom höchsten Werte, und in den vier Ecken des länglichen Saales standen vier prächtige Statuen, die Körbchen auf ihren Köpfen trugen. Diese Körbchen enthielten Pyramiden von herrlichen Früchten, Ananas von Sizilien, Granaten von Malaga, Orangen von denbalearischen Inseln, Pfirsiche aus Frankreich und Datteln aus Tunis. Das Abendbrotbestand aus gebratenem Fasan, mit korsischen Merlen garniert, einer Wildschweinskeule mit Gelee, einem Ziegenviertel, einem herrlichen Turbot und einer riesigen Languste. Daneben enthielten kleinere Platten die Nebengerichte. Die Platten waren von Silber, die Teller von japanischem Porzellan. Franz riebsich die Augen, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume. Ali allein war zurBedienung zugelassen und entledigte sich vortrefflich seiner Pflichten. Der Gast sagte seinem Wirte hierüber ein Kompliment.
Ja, sagte dieser, er ist ein mir sehr ergebenerBursche, der nach seinenbesten Kräften zu Werke geht. Er erinnert sich, daß ich ihm das Leben gerettet habe, und dafürbewahrt er mir die größte Dankbarkeit.
Wäre es nicht unbescheiden, edler Herr Simbad, sagte Franz, so möchte ich Sie fragen, bei welcher Gelegenheit Sie diese schöne Tat ausgeführt haben.
Mein Gott! Das ist ganz einfach, antwortete Simbad. Es scheint, derBursche war dem Serail desBeis von Tunis nähergekommen, als es sich für einen Menschen seiner Farbe geziemt, und so sollten ihm Zunge, Hand und Kopf abgeschnitten werden, die Zunge am ersten Tag, die Hand am zweiten, der Kopf am dritten. Es gelüstete mich immer, einen Stummen in meinem Dienste zu haben; ich wartete daher, bis ihm die Zunge abgeschnitten war, und schlug demBei vor, mir ihn gegen eine herrliche Doppelflinte zu überlassen, die tags zuvor dieBegierde Seiner Hoheit erregt hatte. Er schwankte einen Augenblick, so viel war ihm daran gelegen, mit dem armen Teufel ein Ende zu machen. Aber ich fügte zur Flinte noch ein englisches Jagdmesser, mit dem ich den Yatagan Seiner Hoheit durchhackt hatte, worauf derBei sich entschloß, Ali zubegnadigen, jedoch unter derBedingung, daß er nie mehr das Gebiet von Tunisbetreten würde. Dies anzuempfehlen war unnötig. Wenn der Unglückliche nur von fern die Küste von Afrika erblickt, flüchtet er sich in den untersten Raum des Schiffes, und man kann ihn nicht mehr herausbringen, bis man den dritten Weltteil aus dem Gesichte verloren hat.
Franzbliebeinen Augenblick stumm und nachdenklich, er überlegte sich, was er von der grausamen Gutmütigkeit denken sollte, mit der ihm sein Wirt diese Geschichte erzählte.
Und wie der ehrenwerte Seemann, dessen Namen Sie angenommen haben, sagte er, das Gespräch ändernd, bringen Sie Ihr Leben mit Reisen hin?
Ja, es ist ein Gelübde, das ich in einer Zeit getan habe, wo ich kaum glaubte, es je erfüllen zu können, sagte Simbad lächelnd! ich habe einige weitere getan, die, wie ich hoffe, wenn die Reihe an ihnen ist, ebenfalls erfüllt werden.
Obgleich Simbad diese Worte mit der größten Kaltblütigkeit sprach, schleuderten doch seine Augen dabei einen seltsam wildenBlick.
Sie haben viel gelitten, mein Herr? sprach Franz.
Simbadbebte, schaute ihn starr an und erwiderte: Woran sehen Sie dies?
An allem, an Ihrer Stirn, an IhremBlicke, an IhrerBlässe und an dem Leben, das Sie führen.
Ich? Ich führe das glücklichste Leben, das ich kenne, ein wahres Pascha‑Leben; ichbin der König der Schöpfung. Gefällt es mir an einem Orte, sobleibe ich; langweile ich mich, so reise ich ab; ichbin frei, wie der Vogel, ich habe Flügel, wie er. Die Leute meiner Umgebung gehorchen mir auf den Wink; von Zeit zu Zeitbelustige ich mich damit, der menschlichen Gerechtigkeit zu spotten, indem ich ihr einenBanditen entziehe, den sie sucht, oder sonst einen Verbrecher, den sie verfolgt. Dann habe ich meine eigene Gerichtsbarkeit, hohe und niedere, ohne Frist und Appellation, eine Gerichtsbarkeit, die verurteilt und freispricht, während sich niemand um sie zu kümmern hat. Ah, hätten Sie mein Leben gekostet, Sie würden sich kein anderes mehr wünschen, und Sie kehrten nie mehr in die Welt zurück, wenn Sie nicht ein großes Vorhaben antriebe.
Eine Rache zumBeispiel! versetzte Franz.
Der Unbekannte heftete auf den jungen Mann einen von jenenBlicken, die in die tiefste Tiefe des Herzens und des Geistes eintauchen. Dann fragte er: Und warum eine Rache?
Weil Sie aussehen wie ein Mann, der, von der Gesellschaft verfolgt, eine furchtbare Rechnung mit ihr abzuschließen hat.
Sie irren sich, erwiderte Simbad mit seltsamem Lachen, wobei sich seine weißen spitzigen Zähne zeigten; so wie Sie mich sehen, bin ich eher ein Menschenfreund, und ich gehe vielleicht eines Tages nach Paris, um mich dort um den Tugendpreis zubewerben.
Wird es das erste Mal sein, daß Sie diese Reise machen?
Mein Gott, ja. Nicht wahr, es scheint, daß ich sehr wenig neugierigbin? Doch ich versichere Ihnen, es ist nicht mein Fehler, daß ich so lange gezögert habe; jedenfalls wird es einmal geschehen.
Gedenken Sie diese Reisebald zu machen?
Ich weiß noch nicht; es hängt von verschiedenen Umständen ab.
Ich wünschte wohl, zur Zeit, wo Sie nach Paris kommen, ebenfalls dort zu sein; ich würde michbemühen, Ihnen, soviel in meinen Kräften liegt, die Gastfreundschaft zu vergelten, die Sie mir so reichlich auf Monte Christo angedeihen ließen.
Ich würde Ihr Anerbieten mit großem Vergnügen annehmen, versetzte der Unbekannte; leider aber wird es, wenn ich dahin gehe, wohl inkognito geschehen.
Das Abendbrot nahm indessen seinen Fortgang; es schien nur für Franzbestimmt zu sein, denn Simbad kostete kaum voll ein paar Schüsseln des glänzenden Mahles, dem sein unerwarteter Gast alle Ehre antat. Endlichbrachte Ali den Nachtisch, er nahm vielmehr die Körbchen aus den Händen der Statuen und setzte sie auf die Tafel. Zwischen zwei Körbchen stellte er einenBecher von Vermeil, der mit einem Deckel von demselben Metalle verschlossen war.
Die Ehrfurcht, mit der Ali diesenBecher herbeibrachte, stachelte Franzens Neugierde; er hobden Deckel auf und sah eine Art von grünlichem Teig, der ihm aber völlig unbekannt war. Er setzte den Deckel wieder auf und wußte ebensowenig wie zuvor, was derBecher enthielt; als er seine Augen zu seinem Wirte aufschlug, sah er, wie dieser über seine Neugier lächelte.
Sie können nicht erraten, sagte der Unbekannte, welche Art von eßbarem Stoffe diese kleine Vase enthält, und das setzt Sie in Verlegenheit?
Ich gestehe es.
Nun, diese Sorte von Zuckerwerk ist nichts mehr und nichts weniger als die Ambrosia, die Hebe an Jupiters Tafel reichte. Sind Sie ein materieller Mensch, ist das Gold Ihr Gott? Kosten Sie hiervon; und die Minen von Peru, Goleonda und Guzerate sind Ihnen geöffnet. Sind Sie ein Mann von Phantasie? Sind Sie ein Dichter? Kosten Sie abermals hiervon, und die Schranken des Möglichen werden verschwinden; die Gefilde des Unendlichen öffnen sich, und Sie wandeln, frei an Herz, frei an Geist, auf dem grenzenlosen Gebiete des Traumlebens umher. Sind Sie ehrgeizig, jagen Sie der irdischen Größe nach? In einer Stunde sind Sie König, nicht König eines kleinen Reiches, wie Spanien, Frankreich und England, sondern König der Welt, König des Weltalls. Sprechen Sie, ist es nicht verführerisch, was ich Ihnen dabiete, und ist es nicht etwas Leichtes, da nur folgendes zu tun ist? Sehen Sie!
Bei diesen Worten hober ebenfalls den Deckel von dem kleinenBecher ab, der den so gepriesenen Stoff enthielt, nahm einen Kaffeelöffel von dem magischen Zuckerwerk, führte ihn an den Mund und zog, die Augen halbgeschlossen und den Kopf zurückgelegt, die wunderbare Speise langsam in den Mund. Franz ließ ihm Zeit, sein Lieblingsgericht zu verzehren; als er ihn aber wieder etwas zu sich kommen sah, sagte er zu ihm: Was für ein kostbares Gericht ist denn dies?
Haben Sie vom Alten vomBerge sprechen hören?
Allerdings.
Sie wissen, daß ihm ein reiches Tal gehörte, das derBergbeherrschte, von dem er seinen malerischen Namen genommen hatte. In diesem Tale waren herrliche, von HassanBen Saba angelegte Gärten, und in diesen Gärten einzeln stehende Pavillons. In diese Pavillonsberief er seine Auserwählten, und hier ließ er sie ein gewisses Kraut essen, das sie in das Paradies, unter ewigblühende Pflanzen, stets reife Früchte und immer jungfräulich reizvolle Mädchen versetzte. Was aber die seligen jungen Leute für Wirklichkeit hielten, war ein Traum; doch ein so sanfter, soberauschender, so wollüstiger Traum, daß sie sich mit Leibund Seele an den verkauften, der sie darein versetzt hatte; daß sie, seinenBefehlen wie denen Gottes gehorchend, bis ans Ende der Welt gingen, um dasbezeichnete Opfer zu schlagen; daß sie unter den gräßlichsten Martern, ohne zu klagen, einzig und allein in dem Gedanken starben, der Tod, den sie erlitten, sei nur ein Übergang zu dem köstlichen Leben, von dem ihnen das Kraut einen Vorgeschmack gegeben hatte.
Also ist es Haschisch, rief Franz; ich kenne dies wenigstens dem Namen nach.
Sie haben das richtige Wort ausgesprochen, Herr Aladin, es ist Haschisch aus Alexandrien.
Wissen Sie, daß ich große Lust habe, selbst ein Urteil über die Richtigkeit Ihrer Lobeserhebungen zu gewinnen?
Urteilen Sie selbst, mein Gast! Sie werden nie mehr leben und immer nur träumen wollen. Kosten Sie von dem Haschisch, mein Freund, kosten Sie davon!
Franz nahm, ohne zu antworten, einen Löffel voll von dem Wunderteig und führte ihn an den Mund.
Dann standenbeide auf Simbads Vorschlag auf und traten in das anstoßende Zimmer. Dieses war einfacher, obwohl nicht minder reich ausgestattet. Es hatte eine runde Form, und ein großer Diwan prangte rings umher. Aber Diwan, Wände, Decken undBoden waren insgesamt mit prächtigem, weichem, teppichartigem Pelzwerk überzogen. Beide legten sich auf Diwans; Pfeifen in gehöriger Anzahl standen mit Jasminrohren undBernsteinspitzen imBereich der Hand. Jeder nahm eine. Ali zündete sie an und ging sodann hinaus, um Kaffee zu holen.
Während Wirt und Gast einen Augenblick schwiegen, überließ sich Simbad Gedanken, die ihn unablässig, selbst während des Gesprächs, zubeschäftigen schienen, und Franz gabsich jenen stummen Träumereien hin, in die man leicht verfällt, wenn man vortrefflichen Tabak raucht, wobei der Rauch alle Schmerzen des Geistes mitzunehmen und dem Raucher alle Goldträume der Seele dafür zu geben scheint. Alibrachte den Kaffee.
Ah! sehen Sie, unterbrach Simbad die Träumereien seines Gastes, die Orientalen sind die einzigen Menschen, die zu leben wissen. Ich für meine Person, fügte er mit seltsamem Lächelnbei, das dem jungen Manne nicht entging, ich werde, wenn meine Angelegenheiten in Parisbeendigt sind, nach dem Orient ziehen, um dort zu sterben, und wenn Sie mich dann Wiedersehen wollen, so müssen Sie mich in Kairo, inBagdad oder in Ispahan aufsuchen.
Wahrhaftig, sagte Franz, nichts kann in der Welt leichter sein, denn ich glaube, es wachsen mir Adlerflügel, und mit diesen Flügeln mache ich in 24 Stunden die Reise um die Welt.
Ah! ah! der Haschisch wirkt; wohl, so öffnen Sie die Flügel und fliegen Sie in überirdische Regionen; fürchten Sie nichts, man wacht über Ihnen.
Hierauf sagte er einige arabische Worte zu Ali, der ein Zeichen des Gehorsams machte und sich zurückzog, jedoch ohne sich zu entfernen. Bei Franz ging eine seltsame Veränderung vor: die ganze körperliche Ermattung, die ganze Unruhe seines Geistes verschwanden wie in einem ersten Augenblick der Ruhe, wo man noch genug lebt, um den Schlaf kommen zu fühlen. Sein Körper schien eine ätherische Leichtigkeit zubekommen, sein Geist erleuchtete sich auf wunderbare Weise, seine Sinne schienen ihre Fähigkeiten zu verdoppeln. Der Horizont erweiterte sich immer mehr, aber es war nicht mehr der düstere Horizont, den er so oft vor seinem Entschlummern gesehen hatte, sondern einblauer, durchsichtiger Horizont, mit allem, was das Meer an Azur, die Sonne an Goldfunken, der Abendwind an Wohlgeruch hat! Dann sah er mitten unter Gesängen seiner Matrosen die Insel Monte Christo erscheinen, nicht mehr wie eine über den Wellen drohende Klippe, sondern wie eine in der Wüste verlorene Oase.
Endlichberührte dieBarke das Ufer, und es kam Franz vor, als trete er in die Grotte, ohne daß diebezaubernde Musik aufhörte. Er stieg hinab, eine frische, balsamische Lust einatmend, und er sah alles, was er vor seinem Schlummer gesehen hatte, von Simbad, dem phantastischen Wirte, bis auf Ali, den stummen Diener; dann schien sich alles unter seinen Augen zu verwischen und zu vermengen, wie die letzten Schatten einer Zauberlaterne, die man auslöscht, und er fand sich wieder in dem Zimmer mit den Statuen, das nur von einer jener antiken, blassen Lampenbeleuchtet war, die mitten in der Nacht den Schlummer der Wollustbewachen.
Es waren wohl dieselben an Formen, Üppigkeit und Poesie reichen Statuen, mit den magnetischen Augen, mit dem verführerischen Lächeln, mit den überreichen Haupthaaren. Es waren Phryne, Kleopatra, Messalina, die drei großen Kurtisanen; dann glitt mitten unter diese unzüchtigen Schatten, wie ein reiner Engel, wie mitten im Olymp ein christlicher Engel, eine von den keuschen Gestalten, einer von den ruhigen Schatten, eine von den sanften Visionen, die ihre jungfräuliche Stirn unter allen diesen marmornen Unreinheiten zu verschleiern schien. Da kam es ihm vor, als hätten diese drei Statuen ihre dreifache Liebe für einen Menschen vereinigt, und dieser Mensch wäre er, als näherten sie sich demBette, wo er einen zweiten Schlaf träumte, die Füße in ihre langen, weißen Tuniken gehüllt, die Haare gleich Wellen sich entrollend, in einer von jenen Stellungen, denen die Heiligen widerstanden, denen aber die Götter unterlagen; mit einem jener unwiderstehlichen, glühendenBlicke, wie sie die Schlange auf den Vogel heftet, und als gäbe er sich diesenBlicken hin, die so schmerzlich waren wie ein gewaltiger Druck und zugleich so wollüstig wie ein Kuß.
Franz schien es, als schlösse er die Augen und als gewahrte er durch den letztenBlick, den er umherwarf, die züchtige Statue, die sich gänzlich verschleierte; als sodann seine Augen für die wirklichen Dinge geschlossen waren, öffneten sich seine Sinne für unbeschreibliche Eindrücke. Dann trat eine Wollust ohne Unterlaß, eine Liebe ohne Rast ein, wie die, die der Prophet seinen Auserwählten verspricht. Dannbelebten sich alle diese steinernen Wände dergestalt, daß für Franz, der zum erstenmal der Herrschaft des Haschisch unterlag, diese Liebebeinahe ein Schmerz, diese Wollustbeinahe eine Marter wurde, als er über seinenbebenden Mund die Lippen dieser Statuen, kalt und geschmeidig wie die Ringe einer Schlange, hinschlüpfen fühlte. Aber je mehr seine Arme diese unbekannte Liebe zurückzustoßen strebten, desto mehr unterlagen seine Sinne dem Zauber des geheimnisvollen Traumes, und nach einem Kampf, für den er seine Seele geopfert hätte, gaber sich ohne Rückhalt hin und fiel endlich stöhnend, brennend vor Müdigkeit, unter den Zauber dieses unerhörten Traumes zurück.
Erwachen
Als Franz wieder zu sich kam, schien seine Umgebung den Traum fortzusetzen; er glaubte, in einem Grabe zu sein, in das kaum ein Sonnenstrahl wie einBlick des Mitleids drang; er streckte die Hand aus und fühlte Stein, er setzte sich auf und fand, daß er in seinemBurnus auf getrocknetem Heidekraut gelegen hatte. Jede Vision war verschwunden, und die Statuen hatten, als wären sie nur während seines Traumes aus ihren Gräbern hervorgegangen, bei seinem Erwachen die Flucht ergriffen. Er machte einige Schritte nach dem Punkt zu, woher das Licht kam; auf die ganze Aufregung des Traumes folgten die Ruhe und die Wirklichkeit. Er sah sich in einer Grotte, schritt auf die Öffnung zu und erblickte durch die gewölbte Tür einenblauen Himmel und ein Azurmeer. Luft und Wasser erglänzten in den Strahlen der Morgensonne, auf dem Ufer saßen plaudernd und lachend die Matrosen, zehn Schritte in der See schaukelte sich anmutig dieBarke an ihrem Anker.
Da kostete er eine Zeitlang den frischen, gelinden Wind, der seine Stirn umspielte; er horchte auf das geschwächte Geräusch der Welle, die am Strand erstarbund auf den Felsen eine Spitze von silberweißem Schaum zurückließ; er überließ sich ganz und ohne Rückhalt dem göttlichen Zauber, der in den Dingen der Natur liegt, besonders wenn man aus einem phantastischen Traume erwacht. Dannbrachte ihm die stille, ungetrübte, großartige Umgebung allmählich die Unwahrscheinlichkeit eines Traumes zumBewußtsein, und die Erinnerungen fingen an, in sein Gedächtnis wiederzukehren. Er erinnerte sich seiner Ankunft auf der Insel, seiner Vorstellungbei einem Anführer von Schmugglern, eines unterirdischen Palastes voll Pracht und Herrlichkeit, eines vortrefflichen Abendbrotes und eines Löffels voll Haschisch. Nur kam es ihm der Wirklichkeit des lichten Tages gegenüber vor, als sei dies alles schon vor einem Jahre gewesen, so lebendig war der Traum in seinem Geiste, so gewaltig hatte er sich seinem Innern eingeprägt. Von Zeit zu Zeit ließ auch seine Einbildungskraft einen von den Schatten, derenBlicke und Küsse seine Nacht durchleuchtet hatten, mitten unter den Matrosen erscheinen, oder über einen Felsen hinschreiten, oder auf derBarke sich wiegen. Im übrigen war sein Kopf völlig frei, sein Körper ganz ausgeruht; keine Schwerfälligkeitbelastete das Gehirn, sondern im Gegenteil ein gewisses Wohlbehagen verlieh eine größere Fähigkeit als je, Luft und Licht einzusaugen. Er näherte sich daher heiter seinen Matrosen. Sobald sie ihn erblickten, standen sie auf, und der Patron kam ihm entgegen.
Herr Simbad, sagte er zu ihm, hat uns mit Empfehlungen für Eure Exzellenzbeauftragt; wir sollen seinBedauern ausdrücken, daß er nicht habe Abschied nehmen können; doch er hoffe, Sie werden ihn entschuldigen, wenn Sie erfahren, daß ihn eine sehr dringende Angelegenheit nach Malaga rufe.
Ah! mein lieber Gaetano, sagte Franz, dies alles ist also Wirklichkeit? Es hat mich jemand auf der Insel empfangen, mir königliche Gastfreundschaft gewährt, und ist während meines Schlafes abgereist!
Es ist so sehr Wahrheit, daß Sie dort seine kleine Jacht mit vollen Segeln hinfahren sehen können.
Franz zog sein Fernglas aus der Tasche, hielt es vor sein Auge und richtete es nach dembezeichneten Punkte. Gaetano täuschte sich nicht. Auf dem Hinterteile des Schiffes stand der geheimnisvolle Fremde, nach der Insel gekehrt und ebenfalls ein Fernglas in der Hand haltend. Er war ganz so gekleidet, wie er sich am Abend vorher vor seinem Gaste gezeigt hatte, und schwenkte zum Zeichen des Abschieds ein Tuch in der Luft. Franz zog auch sein Taschentuch, ließ es flattern und erwiderte den Gruß. Nach einer Sekunde erschien eine leichte Rauchwolke auf dem Hinterteil des Schiffes, machte sich leicht vom Verdeck los und stieg langsam zum Himmel empor; dann traf ein schwacher Knall Franzens Ohr. Hören Sie? rief Gaetano, er nimmt von Ihnen Abschied. Der junge Mann ergriff seineBüchse und schoß sie in die Lust.
Wasbefiehlt nun Eure Exzellenz? fragte Gaetano.
Zündet mir vor allem eine Fackel an.
Ah! ja, ichbegreife, um den Eingang in die Zaubergemächer zu suchen. Viel Vergnügen dabei, Exzellenz; die Fackel will ich Ihnen geben. Auch mich hat der Gedanke erfaßt, der Sie jetztbeschäftigt, drei- oder viermal habe ich gesucht, aber am Ende gabich jede weitere Nachforschung auf. Giovanni, fügte er hinzu, zünde eine Fackel an undbringe sie Seiner Exzellenz! Giovanni gehorchte. Franz nahm die Fackel und trat mit Gaetano in den unterirdischen Raum.
Er erkannte den Platz, wo er erwacht war, an dem noch ganz zerdrückten Lager von Heidekraut; doch wenn er auch mit der Fackel die ganze äußere Oberfläche der Grotte ableuchtete, er sah nichts und erkannte nur an Spuren von Rauchschwärze, daßbereits andere vor ihm vergeblich in gleicher Weise gesucht hatten. Er ließ indessen keinen Fuß dieser undurchdringlichen Granitmauer ungeprüft. Er sah keine Spalte, in die er nicht die Klinge seines Jagdmessers stieß. Erbemerkte keinen hervorspringenden Punkt, auf den er nicht drückte, in der Hoffnung, er würde nachgeben; aber alles war umsonst, und nachdem er zwei Stunden vergeblich aufgewendet hatte, leistete er Verzicht. Gaetano triumphierte.
Franz hielt nichts mehr auf Monte Christo zurück; er hatte jede Hoffnung verloren, das Geheimnis der Grotte zu entdecken, beeilte sich zu frühstücken, und eine halbe Stunde nachherbefand er sich anBord seinerBarke. Er warf einen letztenBlick auf die Jacht, die imBegriff war, im Golf von Porto‑Veechio zu verschwinden, und gabnun das Signal zur Abfahrt. In der Sekunde, wo dieBarke sich inBewegung setzte, verschwand die Jacht; mit ihr erlosch die letzte Wirklichkeit der vorhergehenden Nacht: Abendessen, Simbad, Haschisch und Statuen, alles fing an, sich für Franz im gleichen Traume zu vermengen.
DieBarke segelte den Tag und die ganze Nacht, und am Morgenbei Sonnenaufgang war die Insel Monte Christo ebenfalls verschwunden. Sobald Franz die Erdeberührte, vergaß er, wenigstens für den Augenblick, die erlebten Ereignisse, um seine Angelegenheiten in Florenz abzumachen. Dann reiste er ab, seinen Gefährten in Rom aufzusuchen, wobereits die ersten Karnevalsfestlichkeitenbegonnen hatten.
Franz mußte sich durch diebereits in gehobener Feststimmung die Straßen Roms passierende Menge — es war der Sonnabend vorBeginn des Festes — drängen und kam endlich zu Pastrinisberühmtem Hotel zur Stadt London, wo er mit seinem ihn erwartenden Freunde Albert von Morcerf zusammentraf.
Römische Banditen
Am nächsten Tage nach ihrer Ankunftbeabsichtigten diebeiden Freunde noch nach dem Abendessenbei Mondschein eine Spazierfahrt vor die Tore der ewigen Stadt zu machen. Aber der Wirt Pastrini, der einen Wagenbesorgen sollte, machte alle möglichen Ausflüchte und riet ernstlich von einer so gefährlichen, nächtlichen Partie ab. Als die neugierig gemachten Freunde energisch nach dem wahren Grunde seines ängstlichen Zögerns fragten, erklärte er endlich, daß die Kampagna gerade in letzter Zeit der Schauplatz häufiger Raubanfälle gewesen sei, und daß derbekannte Räuberhauptmann Luigi Vampa mit seinen gefährlichenBanditen die ganze Umgegend unsicher mache.
Die ungläubigen Zuhörerbaten ihren Wirt um ausführlichere Auskunft über denberüchtigten Räuber, worauf Pastrini anfing:
Luigi Vampa war ein einfacher Hirtenknabe auf dem Gute des Grafen San Felice, das zwischen Palestrina und dem Gabri‑See liegt. In Pampinara geboren, trat er in einem Alter von fünf Jahren in den Dienst des Grafen. Sein Vater, selbst ein Hirte, hatte eine eigene kleine Herde und lebte von der Wolle seiner Hammel und der Einnahme aus der Milch seiner Schafe, die er in Rom verkaufte. Luigi war gelehrig, und ein hervorragender Nachahmungstriebbefähigte ihn, alles rasch aufzufassen; so lernte er spielend lesen und schreiben, zeichnen und hübsche Holzschnitzereien anfertigen.
Ein Mädchen, etwas jünger als Vampa, hütete ebenfalls seine Schafe in der Nähe von Palestrina; die Kleine war Waise, in Valmontone geboren und hieß Teresa. Die Kinder trafen sich, setzten sich nebeneinander, ließen ihre Herden zusammen weiden, plauderten, lachten und spielten; am Abend trennte man die Schafe des Grafen San Felice von denen desBarons von Cervetri, und die Kinder kehrten nach Hause zurück mit dem gegenseitigen Versprechen, sich am nächsten Morgen wieder aufzusuchen. Bei diesem Leben wurde der Knabe zwölf, das Mädchen elf Jahre alt.
Inzwischen entwickelten sich ihre natürlichen Gaben. Bei seinen künstlerischen Neigungen, seinem feinen Geschmack für die Kunst zeigte sich Luigi eigensinnig, leidenschaftlich, unberechenbar und stets höhnisch. Kein Knabe aus Pampinara, Palestrina oder Valmontone vermochte je einen Einfluß auf ihn zu gewinnen oder sein Kamerad zu werden. Denn immer herrisch stieß er mit seinem eigenwilligen Temperament jede freundschaftliche Regung zurück. Teresa alleinbeherrschte mit einem Worte, mit einemBlick diesen festen Charakter, der sich unter eine weibliche Hand schmiegte, aber unter dem Einfluß eines Mannesbis zumBrechen starr geworden wäre. Teresa ihrerseits war lebhaft, munter, heiter, aber im Übermaß gefallsüchtig; die zwei Piaster, die Luigi als Monatslohn erhielt, gingen für allerlei Schmuck- und Putzgegenstände auf. Die Kinder wuchsen heran, brachten alle Tage miteinander zu und überließen sich ohne Widerstand dem Zuge und der Phantasie ihrer unverdorbenen Natur; so sah sich Vampa in seinen Gesprächen und Träumen stets als Schiffskapitän, als General eines Heeres, als Gouverneur einer Provinz; Teresa wähnte sich reich, in den schönsten Kleidern und vonBedienten umgeben.
Eines Tages sagte der junge Hirt dem Intendanten des Grafen, er habe einen Wolf aus dem Sabinergebirge hervorkommen und um seine Herde schweifen sehen. Der Intendant gabihm eine Flinte; damit hatte sich Luigis langgehegter Wunsch verwirklicht. Von diesem Augenblick an widmete er jede freie Zeit den Übungen im Gebrauch seiner Flinte; er kaufte Pulver undBlei, und nichts war vor seiner Kugel sicher. Bald war er so geschickt, daß Teresa mit Vergnügen zusah, wie ihr Gefährte jedes Ziel unfehlbar traf. Eines Tages kam in der Nähe der jungen Leute ein Wolf aus einem Fichtenwalde hervor, den Luigis Kugel nach kaum zehn Schritten tot niederstreckte. Stolz auf den ersten Erfolg, lud Vampa den Wolf auf seine Schultern und trug ihn nach Hause. Dies alles verschaffte ihm einen gewissen Ruf in der Gegend, der junge Hirte galt als der geschickteste, stärkste, mutigsteBursche weit undbreit in der Runde, und obgleich Teresa eines der hübschesten Mädchen des Sabinerlandes war, wagte doch niemand, ihr ein Wort von Liebe zu sagen, denn man wußte, daß sie von Vampa geliebt wurde.
Als Teresa sechzehn, Vampa siebzehn Jahre alt waren, fing man an, viel von einer Räuberbande zu sprechen, die sich in den Lepinerbergenbildete. Die Räuberei ist in der Nähe der ewigen Stadt nie ernstlich ausgerottet worden. Es fehlt oft an Anführern, aber wenn sich ein Anführer zeigt, fehlt es selten an einerBande. In den Abruzzen umstellt, aus dem Königreiche Neapel, wo er geradezu einen Feldzug geführt hatte, vertrieben, durchzog Cucumetto das Garigliano, eine neueBandebildend. Mehrere junge Leute von Palestrina, Frascati und Pampinara verschwanden, undbald erfuhr man, daß sie sich an CucumettosBande angeschlossen hatten. Nach einiger Zeit wurde Cucumetto der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Man erzählte sich von diesemBanditenanführer Züge von außerordentlicher Kühnheit und von empörender Roheit.
Eines Tages raubte er ein junges Mädchen, die Tochter des Feldmessers von Frosinone. Nach demBrauch derBanditen gehört ein junges Mädchen zuerst dem, der es raubt, dann ziehen die anderen das Los, und die Unglückliche dient der ganzenBande zum Vergnügen, bis sie verlassen wird oder stirbt. Sind die Eltern reich genug, um sie loszukaufen, so schickt man einenBoten ab, der um das Lösegeld unterhandelt; der Kopf der Gefangenen haftet für die Sicherheit des Abgesandten. Wird das Lösegeld verweigert, so ist die Gefangene unwiderruflich verurteilt. Das Mädchen hatte seinen Liebhaber in CucumettosBande, er hieß Carlini. Als die Unglückliche den jungen Mann erkannte, streckte sie die Hände nach ihm aus; doch dem armen Carlinibrach das Herzbei ihrem Anblick, denn er wußte, welches Los ihrer harrte.
Da er indessen Cucumettos Liebling war, mit dem er seit drei Jahren alle Gefahren geteilt, und dem er das Leben gerettet hatte, hoffte er, Cucumetto würde Mitleid haben. Erbat daher den Hauptmann, zu seinen Gunsten eine Ausnahme zu machen und Rita zu schonen, wobei er ihmbemerkte, der Vater sei reich und würde ein gutes Lösegeldbezahlen. Cucumetto schien auch wirklich denBitten seines Freundes nachzugeben. Da trat Carlini freudig zu seiner Geliebten, sagte ihr, sie sei gerettet, und forderte sie auf, ihrem Vater einenBrief zu schreiben und ihm zu sagen, das Lösegeld sei auf dreihundert Piaster festgesetzt. Man gabdem Vater eine Fristbis zum andern Morgen um neun Uhr.
Sobald derBrief geschrieben war, lief Carlini fort, um einenBoten zu suchen. Er fand einen jungen Hirten, der sich sogleich mit dem Versprechen entfernte, in einer Stunde in Frosinone zu sein. Carlini kam ganz heiter zurück, um wieder mit seiner Geliebten zusammenzutreffen und ihr die frohe Kunde mitzuteilen. Er fand dieBande auf einer Lichtung, wo sie lustig die Mundvorräte verzehrte, welche dieBanditen wie einen Tribut von denBauern erhoben; doch vergebens suchte er unter den fröhlichen Gästen Cucumetto und Rita. Er fragte, wo sie wären; dieBanditen antworteten mit einem schallenden Gelächter. Ein kalter Schweiß lief Carlini über die Stirn, und er fühlte, wie ihn die Angstbei den Haaren faßte. Er wiederholte seine Frage. Einer von den Genossen füllte ein Glas mit Orvieto‑Wein, reichte es ihm und sagte: Auf die Gesundheit desbraven Cucumetto und der schönen Rita!
In diesem Augenblick glaubte Carlini den Schrei einer Frau zu hören, und er erriet alles. Er nahm das Glas, zerschmetterte es am Gesichte dessen, der es ihm reichte, und eilte in der Richtung des Schreies fort. Nachdem er hundert Schritte gelaufen war, fand er in einem Gebüsche Rita ohnmächtig in Cucumettos Armen. Als dieser Carlini erblickte, erhober sich, in jeder Hand eine Pistole haltend. DieBanditen schauten einander einen Augenblick an, der eine mit dem Lächeln der Unzucht auf den Lippen, der andre mit derBlässe des Todes auf der Stirn. Es war, als sollte etwas Furchtbares zwischen denbeiden Männern vorgehen, aber allmählich verloren Carlinis Züge ihre Spannung, und seine Hand, die er an eine Pistole in seinem Gürtel gelegt hatte, fiel an der Seite nieder; Rita lag zwischenbeiden. Der Mondbeleuchtete die Szene.
Nun! sagte Cucumetto, hast du deinen Auftragbesorgt?
Ja, Kapitän, antwortete Carlini; morgen vor neun Uhr wird Ritas Vater mit dem Gelde hier sein.
Vortrefflich. Inzwischen wollen wir die Nacht lustig zubringen. Das Mädchen ist reizend, und du hast wahrhaftig einen guten Geschmack, Carlini. Da ich nicht eigennützigbin, so wollen wir zu den Kameraden zurückkehren und das Los ziehen, wem sie nun gehören soll.
Ihr seid also entschlossen, sie allen zu überantworten? fragte Carlini.
Warum sollte manbei ihr eine Ausnahme machen? — Ich glaubte auf meineBitte… — Bist du etwa mehr, als die andern? — Das ist richtig. — Doch sei unbesorgt, früher oder später kommt ja auch die Reihe an dich.
Bei diesen Worten preßte Carlini krampfhaft die Zähne zusammen.
Nun vorwärts, sagte Cucumetto, einen Schritt nach den Genossen zu machend, kommst du?
Ich folge Euch.
Cucumetto entfernte sich, jedoch ohne Carlini aus dem Gesichte zu verlieren, denn er fürchtete ohne Zweifel, er könnte von hinten auf ihn schießen; doch nichts deutetebei demBanditen eine feindselige Absicht an. Er stand mit gekreuzten Armenbei der immer noch ohnmächtigen Rita. Einen Augenblick dachte Cucumetto, der junge Mann würde sie in seine Armen nehmen und mit ihr fliehen. Es war ihm nun auch wenig mehr daran gelegen, denn er hatte von Rita, was er haben wollte, und auch das geringe Lösegeld ließ ihn gleichgültig. Er setzte daher seinen Weg nach der Lichtung fort, ohne umzuschauen; doch zu seinem großen Erstaunen kam Carlinibeinahe mit ihm hier an. Das Los gezogen! riefen dieBanditen, als sie ihren Anführer erblickten. Man legte alle Namen, den Carlinis wie die der andern, in einen Hut, und der jüngste derBande zog ein Zettelchen aus der improvisierten Urne. Auf diesem Zettelchen stand der Name Diavolaccio. Es war derselbe, dem Carlini, als er ihm auf die Gesundheit des Anführers zutrank, das Glas im Gesichte zerschmettert hatte. Als Diavolaccio sich so vom Glückebegünstigt sah, brach er in ein schallendes Gelächter aus.
Alle glaubten, Carlini werde losbrechen; aber zum allgemeinen Erstaunen nahm er ein Glas und rief mit vollkommen ruhiger Stimme: Auf deine Gesundheit, Diavolaccio! und leerte das Glas, ohne daß seine Hand zitterte. Dann setzte er sich ans Feuer, aß und trank, als obnichts vorgefallen wäre, während sich Diavolaccio entfernte.
DieBanditen schauten ihn voll Erstaunen an, denn siebegriffen diese Unempfindlichkeit nicht, als sie hinter sich denBoden unter einem schweren Tritte erdröhnen hörten. Sie wandten sich um und sahen Diavolaccio, der Rita in seinen Armen hielt; ihr Kopf war zurückgeworfen und ihre langen Haare hingenbis zur Erde herab. Als Diavolaccio mehr in den Kreis des vom Feuer sich verbreitenden Lichtes trat, sah man, daß das Mädchen wie derBandit ausfallendbleich waren. Erstaunt undbeunruhigt standen alle auf mit Ausnahme von Carlini, der sitzenbliebund zu trinken und zu essen fortfuhr, als obihn alles nichts anginge. Diavolaccio näherte sich unter dem tiefsten Stillschweigen und legte Rita zu den Füßen des Kapitäns nieder.
Jetzt sahen alle, daß in Ritas linkerBrust ein Messer stak, bis ans Heft eingebohrt. Alle Augen richteten sich auf Carlini; die Scheide hing leer an seinem Gürtel.
Auch rohe Naturen sind imstande, eine kraftvolle Handlung zu würdigen; obgleich schwerlich ein anderer von denBanditen die gleiche Tat ausgeführt hätte, sobegriffen sie doch, was er getan.
Nun, sagte Carlini, ebenfalls aufstehend und dem Leichnam sich nähernd, während er die Hand an den Kolben einer Pistole legte, ist vielleicht noch einer hier, der mir diese Frau streitig machen will?
Nein, erwiderte der Anführer, sie gehört dir.
Carlini nahm sie nun in seine Arme und trug sie aus dem Lichtkreise fort.
Am Fuße einer alten Eiche fand ihn am Morgen Ritas Vater, der herbeigeeilt war, das Lösegeld zubringen.
Elender! rief der Greis, was hast du getan?
Und erblickte voll Schrecken auf Rita, diebleich, unbeweglich, mit einemblutigen Messer in derBrust, da lag.
Cucumetto hatte deine Tochter geschändet, sagte derBandit, und da ich sie liebte, mußte ich sie töten, denn nach ihm hätte sie der ganzenBande zum Spielzeug gedient.
Der Greis sprach kein Wort, er wurde nurbleich wie ein Gespenst.
Räche sie nun, wenn ich unrecht gehabt habe, fügte Carlini hinzu.
Und er riß das Messer aus demBusen des Mädchens und reichte es dem Greise mit der einen Hand, während er mit der andern seine Weste auf die Seite schobund ihm seine nackteBrust darbot.
Du hast wohl getan, sprach der Greis mit dumpfer Stimme, umarme mich, mein Sohn!
Carlini warf sich schluchzend in die Arme des Vaters seiner Geliebten. Es waren die ersten Tränen, die dieserBlutmensch vergoß.
Dannbegruben sie das Mädchen, und Carlini schwurblutige Rache; doch er konnte seinen Schwur nicht halten, denn zwei Tage nachher wurde er in einem Kampfe von römischen Carabinieri getötet. Man wunderte sich nur, daß er, dem Feinde das Gesichtbietend, eine Kugel zwischen die Schulternbekommen hatte. Das Erstaunen hörte aber auf, als einer von denBanditen gegen seine Kameradenbemerkte, Cucumetto habe zehn Schritte hinter Carlini gestanden. Man erzählt sich von diesem Räuberhauptmann noch zehn andere, ebenso grauenvolle Geschichtchen, und es zitterte auch alles von Fondibis Perugia, wenn man nur Cucumettos Namen nannte.
Diese Geschichtenboten Luigi und Teresa oft Stoff zur Unterhaltung. Das Mädchen hörte immer diese Erzählungenbebend an, aber Vampaberuhigte sie mit einem Lächeln und schlug an seine nie fehlende Flinte. War sie dann noch nicht völligberuhigt, so zeigte er ihr auf hundert Schritte einen Raben, der auf einem dürren Aste saß, schlug an, drückte los, und das Tier fiel wohlgetroffen an dem Fuß desBaumes nieder.
Mittlerweile verlief die Zeit; die jungen Leute hattenbeschlossen, sich zu heiraten, wenn Vampa zwanzig Jahre alt wäre. Sie warenbeide Waisen und hatten nur ihre Herren um Erlaubnis zubitten; siebaten darum und erhielten auch die Einwilligung.
Als sie eines Tages von ihren Zukunftsplänen sprachen, vernahmen sie ein paar Schüsse; dann trat plötzlich ein Mann aus dem Gehölze hervor, bei dem die jungen Leute ihre Herden zu werden pflegten, lief auf sie zu und rief: Ich werde verfolgt, könnt ihr mich verbergen?
Die jungen Leute erkannten sogleich, daß der Flüchtige einBandit war; doch zwischen dem römischenBauern und dem römischenBanditen herrscht eine angeborene Sympathie, weshalbder erste immerbereit ist, dem zweiten Dienste zu leisten. Luigi lief, ohne ein Wort zu sagen, nach dem Steine, der den Eingang einer nahen Grotte verstopfte, entblößte diesen Eingang, hieß den Flüchtling durch ein Zeichen in dieses nur ihm und Teresabekannte Asyl schlüpfen, stieß den Stein wieder an seine vorige Stelle, kehrte zu Teresa zurück und setzte sich neben sie. Beinahe im selben Augenblick erschienen vier Carabinieri zu Pferde am Saume des Waldes. Sie gewahrten die jungen Leute, sprengten im Galopp auf sie zu undbefragten sie; doch diese gaben an, sie hätten nichts gesehen.
Das ist ärgerlich, sagte derBrigadier; denn der, den wir suchen, ist der Anführer.
Cucumetto? riefen Teresa und Luigi unwillkürlich.
Ja, antwortete derBrigadier, und da ein Preis von 1000 Talern auf seinen Kopf gesetzt ist, so wären 500 euch zugekommen, wenn ihr mir geholfen hättet, ihn aufzufinden.
Die jungen Leute wechselten einenBlick. DerBrigadier hatte eine Minute lang Hoffnung. 500 römische Taler sind ein Vermögen für arme Waisen, die sich heiraten wollen.
Ja, das ist schade, erwiderte Vampa, doch wir haben ihn nicht gesehen. Die Carabinieri durchstreiften nun die Gegend in verschiedenen Richtungen, aber vergebens; dann verschwanden sie allmählich. Vampa zog den Stein zurück, und Cucumetto trat hervor.
Er hatte durch eine Spalte die jungen Leute mit den Carabinieri sprechen hören und den Gegenstand ihres Gespräches vermutet. Jetzt zog er aus seiner Tasche eineBörse voll Gold undbot sie ihnen zum Lohn an. Aber Vampa hobstolz das Haupt empor, während Teresas Augenbei dem Gedanken all alles das glänzten, was sie sich für dieses Gold an reichen Juwelen und schönen Kleidern kaufen könnte. Cucumetto war ein listiger Teufel. Er erhaschte diesenBlick, erkannte in Teresa eine würdige Tochter Evas und kehrte vollböser Lust in den Wald zurück, wobei er sich wiederholt, als wolle er seineBefreier noch einmal grüßen, umdrehte. Es vergingen mehrere Tage, ohne daß man Cucumetto wiedersah oder von ihm sprechen hörte. Der Karneval nahte heran, und der Graf von San Felice veranstaltete einenBall, wozu die ganze elegante Welt Roms eingeladen war. Teresa hatte große Lust, diesenBall zu sehen. Luigibat seinenBeschützer, den Intendanten, um Erlaubnis für sie und für sich, unter den Dienern des Hauses verborgen, dem Festebeiwohnen zu dürfen, was ihm auch zugestanden ward.
DerBall wurde von dem Grafen hauptsächlich gegeben, um seiner Tochter Carmela, die er anbetete, ein Vergnügen zubereiten. Carmela war gerade von Teresas Alter und Wuchs, und Teresa war wenigstens ebenso schön, als Carmela. Am Abend desBalles wählte Teresa ihre schönste Toilette, ihre reichsten Nadeln, ihren glänzendsten Glasschmuck. Sie trug die Tracht der Frauen von Frascati, Luigi die malerische Festkleidung der römischenBauern. Beide mischten sich, wie man es ihnen erlaubt hatte, unter die zuschauenden Diener undBauern. Das Fest war prachtvoll. Nicht nur die Villa war glänzendbeleuchtet, sondern es hingen auch Tausende von farbigen Lampen an denBäumen im Garten. Bald strömte der Festjubel vom Palast auch auf die Terrassen über, und von den Terrassen wogte es in den Alleen. An jedem Kreuzweg gabes ein Orchester, Trinktische und Erfrischungen aller Art; die Spaziergängerblieben stehen, esbildeten sich Quadrillen, und man tanzte, wo einem die Lust dazu ankam. Carmela war wie die Frauen von Sonnino gekleidet; sie trug eine mit Perlen gestickte Mütze, die Nadeln in ihren Haaren waren von Gold und Diamanten, ihr Gürtel war von türkischer Seide, ihr Oberrock von Kaschmir, ihre Schürze von indischem Musselin, dir Knöpfe ihres Miedersbestanden aus Edelsteinen. Zwei andere Gefährtinnen von ihr hatten, die eine die Tracht der Frauen von Nettuno, die andere die der Riccianerinnen.
Vier junge Männer aus den edelsten und reichsten Familien Romsbegleiteten sie mit jener italienischen Zwanglosigkeit, die in keinem andern Lande der Welt ihresgleichen hat; sie waren alsBauern gekleidet. Carmela kam der Gedanke, eine Quadrille zubilden; es fehlte nur noch an einer Teilnehmerin. Carmela schaute umher, keine von den Eingeladenen hatte eine der ihrigen und der ihrer Gefährtinnen entsprechende Tracht. Da zeigte ihr der Graf von San Felice mitten unter denBäuerinnen Teresa, die sich auf Luigis Arm stützte.
Erlauben Sie mir, mein Vater? sagte Carmela.
Allerdings, erwiderte der Graf; sind wir nicht im Karneval? Carmela neigte sich an das Ohr eines jungen Mannes, der sie plauderndbegleitete, und sagte ihm leise ein paar Worte, wobei sie mit dem Finger auf Teresa deutete. Der junge Mann lud Teresa ein, an der von der Tochter des Grafen geleiteten Quadrille teilzunehmen. Teresa fühlte es wie eine Flamme über ihr Gesicht hinziehen, siebefragte Luigi mit demBlicke — es war ihr nicht möglich, zu widerstreben; Luigi ließ langsam ihren Arm los, und Teresa entfernte sich, geführt von ihrem zierlichen Kavalier, und nahm zitternd ihren Platz in der aristokratischen Quadrille an. Bei ihrer Eitelkeit und Putzsucht war sie von den feinen Stickereien, dem Glanz des Kaschmirs ganz geblendet, und das Feuer der Diamanten und Saphire machte sie toll. Luigi seinerseits fühlte ein unbekanntes Etwas in sich entstehen, es war anfangs wie ein dumpfer Schmerz, der ihm das Herz durchzuckte. Er verfolgte mit den Augen jedeBewegung Teresas und ihres Kavaliers. Wenn ihre Hände sichberührten, flimmerte es vor seinen Augen, und dasBlut hämmerte in seinen Adern. Zwar hörte Teresa, wenn sie miteinander sprachen, nur schüchtern und mit niedergeschlagenen Augen zu, aber Luigi, der in den glühendenBlicken des schönen jungen Mannes las, daß seine Reden Schmeicheleien waren, kam es dennoch vor, als drehte sich die Erde unter ihm, und als flüsterten ihm alle Stimmen der Hölle Mordgedanken zu. Dann klammerte er sich, aus Furcht, sich von seinem Wahnsinn hinreißen zu lassen, mit einer Hand an der nahenBuche an, erfaßte mit der andern in krampfhafterBewegung seinen Dolch und zog ihn, ohne es gewahr zu werden, mehrmals fast ganz aus der Scheide.
Als endlich der Tanz zu Ende war, führte ihr schöner Kavalier Teresa mit vielen Artigkeiten an den Platz zurück, wo Luigi ihrer harrte. Wiederholt hatte Teresa während des Kontertanzes einenBlick auf Luigi geworfen, und jedesmal waren ihr seine verstörten Züge aufgefallen. So faßte sie zitternd den Arm ihres Geliebten wieder, der sie, ohne ein Wort zu sagen, mit sich fortzog. Erst als sie eben in ihre Wohnung traten, fragte er: Teresa, woran dachtest du, als du der jungen Gräfin von San Felice gegenüber tanztest?
Ich dachte, ich würde die Hälfte meines Lebens für eine Kleidung geben, wie sie die Gräfin trägt.
Und was sagte dir dein Kavalier?
Er sagte mir, es hinge nur von mir ab, eine solche zu haben, und es koste mich nur ein Wort.
Er hatte recht, sagte Luigi. Wünschest du eine solche Tracht so glühend, wie du sagst? — Ja. — Wohl, du sollst sie haben.
Erstaunt schaute Teresa empor, um ihn zubefragen; aber sein Gesicht war so düster und furchtbar, daß das Wort auf ihren Lippen erstarb. Übrigens entfernte sich Luigi sogleich. Teresa folgte ihm in der Dunkelheit mit den Augen, solange sie ihn sehen konnte. Als er verschwunden war, trat sie in ihre Wohnung.
In derselben Nacht ereignete sich ein großes Unglück, ohne Zweifel durch die Unvorsichtigkeit einesBedienten, der die Lichter auszulöschen vergaß. Esbrach unmittelbar neben den Gemächern der schönen Carmela Feuer aus. Mitten in der Nacht durch den Schein der Flammen aufgeweckt, sprang sie aus demBette, hüllte sich in ihr Nachtkleid und suchte zu entfliehen; aber der Hausflur, durch den sie gehen mußte, war schon vom Feuer ergriffen. Da kehrte sie in ihr Zimmer zurück und rief aus Leibeskräften um Hilfe, als plötzlich ihr zwanzig Fuß über demBoden liegendes Fenster sich öffnete, ein jungerBauer in das Gemach stürzte, sie in seine Arme nahm und mit übermenschlicher Kraft und Gewandtheit auf den Rasen vor der Villa schleppte, wo sie ohnmächtig niedersank. Als sie wieder zu sich kam, war ihr Vaterbei ihr. Alle Diener umgaben sie, um ihr Hilfe zu leisten. Ein ganzer Flügel der Villa war abgebrannt; doch was lag daran, Carmela war unversehrt. Man suchte überall ihren Retter, aber der Retter fand sich nirgends; niemand hatte ihn gesehen. Carmela war so sehr von Angst ergriffen gewesen, daß sie ihn nicht erkannt hatte.
Am andern Tage fanden sich die jungen Leute zur gewöhnlichen Stunde am Saume des Waldes ein. Luigi war zuerst gekommen. Er ging dem Mädchen mit großer Heiterkeit entgegen und schien die Szene vom vorhergehenden Abend völlig vergessen zu haben. Teresa war sichtlich nachdenkend; als sie aber Luigi so gestimmt sah, heuchelte sie eine lachende Sorglosigkeit, die den Grundzug ihres Charaktersbildete, wenn sie nicht von irgend einer Leidenschaft ergriffen war. Luigi nahm Teresabeim Arm und führte sie zum Eingang der erwähnten Grotte. Hierblieber stehen. Das Mädchenbegriff, daß etwas Außerordentlichesbevorstand, und schaute ihn fest an.
Teresa, sagte Luigi, gestern hast du mir gesagt, du würdest alles in der Welt darum geben, eine Kleidung wie die der Grafentochter zubesitzen?
Allerdings, erwiderte Teresa erstaunt, aber ich war toll, daß ich einen solchen Wunsch hegte.
Und ich antwortete dir: Gut, du sollst sie haben. — Ich habe dir nie etwas versprochen, Teresa, ohne es dir zu geben, geh in die Grotte und kleide dich an.
Bei diesen Worten zog er den Stein heraus und zeigte Teresa die Grotte, die von zwei Kerzenbeleuchtet war, zwischen denen ein prachtvoller Spiegel stand; auf dem von Luigi verfertigten rohen Tische waren Diamantnadeln und ein Perlenhalsband ausgebreitet; auf einem Stuhle daneben lag die übrige Kleidung. Teresa stieß einen Freudenschrei aus und stürzte, ohne zu fragen, woher diese wertvollen Dinge kämen, ohne sich Zeit zu lassen, Luigi zu danken, in die Grotte. Luigi drückte den Stein wieder hinter ihr hinein, denn er erblickte auf der Höhe eines kleinen Hügels einen Reisenden zu Pferd, der einen Augenblick anhielt, als wäre er des Weges nicht kundig. Luigi hatte sich nicht getäuscht, der Reisende, der von Palestrina nach Tivoli ritt, war im Zweifel über seinen Weg. Der junge Mann wies ihn zurecht, und der Reisendebat Luigi, ihm ein kleines Stück als Führer zu dienen. Luigibegleitete ihnbis zum nächsten Kreuzweg und sagte: Hier ist Ihr Weg, Exzellenz, Sie können, nun nicht mehr fehlen.
Und hier ist deineBelohnung, sagte der Reisende undbot dem jungen Hirten einige kleine Münzen.
Ich danke, versetzte Luigi, seine Hand zurückziehend, ich leiste Dienste, ich verkaufe sie nicht.
Wohl, entgegnete der Reisende, wenn du eineBelohnung ausschlägst, so nimmst du wenigstens ein Geschenk an.
Oh! ja, das ist etwas anderes.
So nimm diese zwei venetianischen Zechinen und gibsie deinerBraut, die sich ein paar Ohrringe dafür kaufen soll.
Und Sie nehmen diesen Dolch, sagte der junge Hirt, und reichte ihm die von seiner eigenen kunstfertigen Hand geschnitzte Waffe. Sie finden von Albanobis Civita Castellana keinen, dessen Griffbesser geschnitzt wäre.
Ich nehme ihn an, sagte der Reisende. Wie heißt du?
Luigi Vampa. Und Sie?
Ich? Ich heiße Simbad der Seefahrer.
Franz d'Epinay stieß einen Schrei des Erstaunens aus.
Simbad der Seefahrer? wiederholte er.
Ja, diesen Namen nannte der Reisende.
Was haben Sie gegen diesen Namen einzuwenden? fragte Albert, es ist ein sehr schöner Name, und die Abenteuer des Ersten dieses Namens haben mich in meiner Jugend ungemeinbelustigt.
Franz antwortete nicht. Der Name Simbad der Seefahrer hattebei ihm eine ganze Welt von Erinnerungen geweckt.
Vampa, fuhr der Wirt fort, steckte verächtlich die Zechinen in die Tasche und schlug langsam den Rückweg wieder ein. Zwei‑bis dreihundert Schritte von der Grotte glaubte er einen Schritt zu hören. Er sprang wie eine Gemse, spannte den Hahn seiner Flinte im Laufe und gelangte in weniger als einer Minute auf die Spitze des kleinen Hügels dem gegenüber, wo er den Reisenden erblickt hatte. Hier hörte er rufen: Zu Hilfe! Er schaute sich um und sah, wie ein Mann Teresa fortschleppte. Der Unbekannte war wenigstens zweihundert Schritte vor ihm voraus, und er hatte keine Hoffnung, ihn einzuholen, ehe er das Gehölz erreichte. Der junge Hirtbliebstehen, als hätten seine Füße Wurzel gefaßt. Er stützte den Schaft seiner Flinte an seine Schulter, hobsacht das Rohr in der Richtung des Räubers und gabFeuer. — Der Räuber hielt an, seine Kniebogen sich, und er fiel, Teresa mit sich zur Erde ziehend; Teresa erhobsich sogleich wieder. Als Luigi sich überzeugt hatte, daß sie unversehrt war, wandte er sich gegen den Verwundeten um, der mit geballten Fäusten und schmerzverzogenem Munde tot dalag. Vampa erkannte Cucumetto. DerBandit hatte sich an dem Morgen, wo ihn die jungen Leute retteten, in Teresa verliebt und geschworen, das Mädchen sollte ihm gehören. Seit jenem Morgen spähte er nach ihr, und im Augenblick, wo Luigi Teresa allein ließ, um dem Reisenden den Weg zu zeigen, packte er sie undbetrachtete siebereits als seineBeute, als Vampas Kugel ihm das Herz durchdrang. Vampa schaute ihn ohne die geringsteBewegung an, während Teresa, noch ganz zitternd, sich dem totenBanditen nur mit kleinen Schritten zu nähern wagte und zögernd über die Schulter ihres Geliebten einenBlick auf den Leichnam warf. Nach ein paar Sekunden wandte sich Vampa zu dem Mädchen um und rief: Ah! das ist gut, dubist angekleidet; nun muß ich mich ebenfalls putzen. Teresa erschien in der Tat vom Kopfbis zu den Füßen in der Tracht der Tochter des Grafen von San Felice. Vampa nahm Cucumettos Leiche in seine Arme und trug ihn in die Grotte, während Teresa außenblieb.
Es war ein sonderbarer Anblick: eine Schäferin, die ihre Lämmer im Kaschmirkleide, mit Ohrringen und Halsband von Perlen, mit Diamantnadeln und Knöpfen von Saphiren, Smaragden und Rubinen hütete. Nach einer Viertelstunde kam Vampa ebenfalls aus der Grotte heraus. Seine Tracht war in ihrer Art nicht minder zierlich, als die Teresas. Er hatte ein Wams von granatfarbigem Samt mit ziselierten goldenen Knöpfen, eine mit Stickereienbedeckte seidene Weste, eine um den Hals geknüpfte römische Schärpe, eine mir Gold und roter und grünen Seide gesteppte Patronentasche, Hosen von himmelblauem Samt, die über dem Knie mit Diamantschnallenbefestigt waren, bunte Gamaschen von Damhirschleder und einen Hut, woranBänder von allen Farben flatterten; zwei Uhren hingen an seinem Gürtel, und ein prachtvoller Dolch stak in seinem Patronenleder.
Teresa stieß einen Schrei aus; Vampa hatte Cucumettos Kleidung angelegt. Der junge Mannbemerkte die Wirkung, die er auf seineBraut hervorbrachte; ein Lächeln des Stolzes umspielte seinen Mund, und er sagte zu Teresa: Bist du nunbereit, mein Schicksal zu teilen, wie es auch sein mag?
Oh ja! rief das Mädchen vollBegeisterung.
So nimm meinen Arm und vorwärts, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.
Teresa schlang ihren Arm durch den ihres Geliebten, ohne ihn nur zu fragen, wohin er sie führte; denn in diesem Augenblick kam er ihr schön, stolz und mächtig vor, wie ein Gott. Undbeide schritten dem Walde zu, dessen Saum sie nach ein paar Minuten hinter sich hatten. Vampa kannte alle Pfade des Gebirges; er wanderte daher, ohne zu zögern, im Walde fort. Nach ungefähr anderthalbStunden erreichten sie eine tiefe Schlucht. Plötzlich erschien, zehn Schritte vor ihnen, ein Mann, der auf Vampa zielte und rief: Keinen Schritt weiter, oder dubist tot!
Ruhig, sagte Vampa, die Hand mit einer verächtlichen Gebärde aufhebend, während Teresa sich schreckhaft an ihn drängte; zerreißen sich die Wölfe untereinander?
Werbist du? fragte die Wache.
Ichbin Luigi Vampa, der Hirte von dem Gute San Felice, und will mit deinen Genossen sprechen, die auf der Lichtung von RoccaBianca versammelt sind.
So folge mir, sagte die Wache, oder geh vielmehr voraus, da du weißt, wo es ist.
Vampa lächelte über diese Vorsichtsmaßregel und ging mit gleichmäßig festen, ruhigen Schritten, von Teresabegleitet, voran. Nach fünf Minuten hieß sie derBandit durch ein Zeichen stille stehen; die jungen Leute gehorchten. DerBandit ahmte dreimal das Krächzen des Raben nach, und ein ähnliches Geschreibeantwortete diesen Ruf.
Gut, sagte derBandit. Du kannst nun weiter gehen. Luigi und Teresa machten sich wieder auf den Weg, doch je mehr sie vorrückten, desto fester preßte sich die zitternde Teresa an ihren Geliebten an, denn man sah nun durch dieBäume Menschen erscheinen und Flintenläufe funkeln. Die Lichtung von RoceaBianca lag oben auf einem kleinenBerge. Teresa und Luigi erreichten die Anhöhe undbefanden sich in demselben Augenblick zwanzigBanditen gegenüber.
Dieser junge Mann sucht euch und will euch sprechen, sagte die Wache.
Und was will er uns sagen?
Ich will euch sagen, daß ich es satt habe, die Schafe zu hüten, antwortete Vampa.
Ah! ichbegreife, sagte ein anderer, und du kommst, uns um Aufnahme in unsere Reihen zubitten?
Er sei willkommen! riefen mehrereBanditen von Ferrusino, Pampinara und Anagni, die Luigi Vampa erkannten.
Ja, nur will ich euch um etwas anderesbitten, als um die Gunst, euer Gefährte zu sein.
Was verlangst du von uns? fragten dieBanditen erstaunt.
Ich will euer Kapitän werden.
DieBanditenbrachen in ein Gelächter aus.
Wasberechtigt dich, auf diese Ehre Anspruch zu machen? fragte der Leutnant.
Ich habe euren Anführer Cucumetto getötet, dessen Nachlaß ihr an mir seht, und Feuer an die Villa San Felice gelegt, um meinerBraut ein Hochzeitskleid zu schenken.
Eine Stunde nachher war Luigi Vampa an Cucumettos Stelle zum Kapitän erwählt. –
Nun, mein lieber Albert, sagte Franz, sich an seinen Freund wendend, was denken Sie von Luigi Vampa?
Ich sage, es ist eine Mythe, und er hat gar nie existiert.
Was ist das, eine Mythe? fragte Pastrini.
Es wäre zu lang, Ihnen dies zu erklären, mein lieber Wirt, antwortete Franz. Und Sie sagen, Herr Vampa treibe sein Gewerbe in diesem Augenblick in der Gegend von Rom?
Ja, und zwar mit einer Kühnheit, von der nie einBandit vor ihm einBeispiel gegeben hat.
Die Polizei hat seiner also nicht habhaft werden können?
Was wollen Sie? Er ist zugleich mit den Hirten der Ebene, mit den Fischern des Tiber und den Schmugglern an der Küste im Einverständnis. Sucht man ihn auf dem Gebirge, so ist er auf dem Fluß; verfolgt man ihn auf dem Fluß, so erreicht er die offene See; und glaubt man, er habe sich auf die Isola del Giglio, del Gnanuti oder nach Monte Christo geflüchtet, so sieht man ihn plötzlich in Albano, in Tivoli oder la Riccia auftauchen.
Und wie verfährt er gegen die Reisenden?
Oh, mein Gott! Das ist ganz einfach. Je nach der Entfernung, in der man sich von der Stadtbefindet, gibt er ihnen acht Stunden, zwölf Stunden oder einen Tag, das Lösegeld zubezahlen; ist diese Zeit abgelaufen, so gewährt er noch eine Stunde Gnadenfrist. Hat er nach sechzig Minuten das Geld noch nicht, so schießt er dem Gefangenen eine Kugel vor den Kopf oder stößt ihm seinen Dolch ins Herz, und alles ist abgemacht.
Nun, Albert, fragte Franz seinen Gefährten, sind Sie immer noch geneigt, vor die Stadt zu fahren?
Allerdings, wenn der Weg malerisch ist.
In diesem Augenblick schlug es neun Uhr, die Tür ging auf, und der Kutscher erschien.
Exzellenz, sagte er, der Wagen erwartet Sie.
Wohl! rief Franz, also nur in das Kolosseum.
Ah! mein Lieber, versetzte Albert, ebenfalls aufstehend und eine Zigarre anzündend, ich hielt Sie in der Tat für mutiger.
Hierauf gingen die jungen Leute die Treppe hinabund stiegen in den Wagen.
Erscheinungen
Auf der Fahrt durch die dunkle Stadt sprach Franz kein Wort, sein Geistbeschäftigte sich mit dem, was er über Luigi Vampa gehört hatte, denn es war ihmbefremdlich erschienen, daß Pastrini dabei den Namen seines Gastgebers auf Monte Christo genannt und diese Insel als Schlupfwinkel derBanditenbezeichnet hatte. Dabei erinnerte er sich, daß erbei seiner Landung auf Monte Christobei den Matrosen auch zwei flüchtigeBanditen getroffen hatte. So sehr auch alles dies seinen Geistbeschäftigte, so war es doch völlig vergessen in dem Augenblick, wo er das düstere, riesige Gespenst des Kolosseums, auf das der Mond seine langen, bleichen Strahlen warf, vor sich sah. Der Wagen hielt, die jungen Leute sprangen heraus und standen vor einem Führer. Franz kannte das Kolosseum, denn er hatte esbereits mehr als zehnmalbesucht; aber auf seinen Gefährten, der das gewaltige Monument zum erstenmalbetrat, brachte der Anblick einen mächtigen Eindruck hervor. Man hat in der Tat, wenn man es nicht gesehen, keinenBegriff von der Majestät einer solchen Ruine, deren Verhältnisse in dieser geheimnisvollenBeleuchtung des südlichen Mondes verdoppelt erscheinen.
Kaum hatte Franz gedankenvoll hundert Schritt unter den inneren Säulengängen gemacht, als er, Albert seinem Führer überlassend, der ihm den Löwengraben, die Loge der Gladiatoren, das Podium der Cäsaren zeigen wollte, eine halbin Trümmer zerfallene Treppe hinaufstieg und sich im Schatten einer Säule vor einem Ausschnitte niederließ, der ihm den Granitriesen in seiner ganzen majestätischen Ausdehnung zu erfassen gestattete. Franz war ungefähr eine Viertelstunde hier undblickte jetzt nach Albert hinüber, der, begleitet von zwei Fackelträgern, aus einer Vertiefung am andern Ende des Kolosseums hervorkam. Die Führer stiegen eben wie Schatten, die einem Irrlichte folgen, von Stufe zu Stufe zu den den Vestalinnen vorbehaltenen Plätzen hinab, als es ihm schien, als hörte er in die Tiefen des Gebäudes einen von der gegenüberliegenden Treppe abgestürzten Stein rollen. Es kam ihm vor, als wäre der Stein unter dem Fuße eines Menschen gewichen, und als vernähme er ein Geräusch.
Nach einen: Augenblick erschien wirklich ein Mensch; er trat allmählich aus dem Schatten hervor, während er die von dem Mondebeleuchtete Treppe hinaufstieg. Es konnte ein Reisender sein, wie er, der eine einsameBetrachtung dem Geschwätz seiner Führer vorzog, aber aus dem vorsichtigen Zögern, mit dem er die letzten Stufen erstieg, aus der Art und Weise, wie er, auf der Plattform angelangt, still stand und zu horchen schien, ging klar hervor, daß er zu einembesonderen Zwecke gekommen war und auf jemand wartete. Unwillkürlich verbarg sich Franz so viel als möglich hinter der Säule. Zehn Schritte davon war das Gewölbe ausgebrochen, und eine runde Öffnung ließ den mit Sternenbesäten Himmel hereinschauen. Um diese Öffnung her, die vielleicht schon seit Jahrhunderten den Mondstrahlen Durchgang gestattete, wuchsen Gesträuche, deren grüne Umrisse sich kräftig von dem matten Azur des Firmaments abhoben, während große Lianen und mächtige Efeuranken von der obern Terrasse herabhingen und sich, schwelgendem Tauwerk ähnlich, unter dem Gewölbe wiegten.
Der Mann, dessen geheimnisvolles Erscheinen Franzens Aufmerksamkeit erregt hatte, stand so im Halbdunkel, daß man seine Züge nicht zu unterscheiden vermochte, doch war die Tracht des Unbekannten zu erkennen: er war in einen großenbraunen Mantel gehüllt, dessen rechte Spitze, über die linke Schulter geworfen, den unteren Teil seines Gesichtes verbarg, während seinbreitkrempiger Hut seinen Kopfbedeckte. Nur das äußerste Ende seiner Kleidung wurde von dem schiefen Lichtebeleuchtet, das durch die Öffnung drang und ein schwarzes, einen Lackstiefel zierlich umschließendesBeinkleid gewahren ließ. Der Mann gehörte offenbar, wenn nicht der Aristokratie, doch wenigstens der guten Gesellschaft an. Er war ungefähr zehn Minuten anwesend und gabsichtbare Zeichen der Ungeduld von sich, als sich ein leichtes Geräusch auf der obern Terrasse hören ließ. In demselben Augenblick verdeckte ein Schatten den Lichtschein, ein Mann zeigte sich an der Öffnung, tauchte seinen durchdringendenBlick in die Finsternis und gewahrte den Mann im Mantel; sogleich ergriff er eine Handvoll herabhängender Lianen und Efeuranken, ließ sich hinabgleiten und sprang, sobald er nur noch drei Fuß vomBoden entfernt war, leicht zur Erde. Dieser Mann zeigte die vollständige Tracht eines Trasteveriners.
Entschuldigen Sie, Exzellenz, sagte er in römischem Dialekt, ich ließ Sie warten, doch nur ein paar Minuten, denn es hat soeben zehn Uhr geschlagen.
Ich kam zu früh und nicht Ihr zu spät, antwortete der Fremde, also keine Umstände; hättet Ihr mich übrigens auch warten lassen, so würde ich vermutet haben, ein von Eurem Willen unabhängigerBeweggrund halte Euch zurück.
Und Sie hätten recht gehabt, Exzellenz, ich komme vom Kastell St. Angelo, wo ich die größte Mühe hatte, bis es mir endlich gelang, mitBeppo zu sprechen.
Wer ist Beppo?
Beppo ist ein Angestellterbeim Gefängnis, dem ich eine kleine Rente dafür zukommen lasse, daß ich erfahre, was im Innern derBurg Seiner Heiligkeit vorgeht.
Ah! ah! ich sehe, Ihr seid ein vorsichtiger Mann, mein Lieber.
Man weiß nicht, was geschehen kann, Exzellenz; vielleicht werde ich auch eines Tages im Netze gefangen, wie der arme Peppino, undbedarf einer Ratte, um einige Maschen meines Gefängnisses zu durchnagen.
Sprecht, was habt Ihr in Erfahrung gebracht?
Dienstag um zwei Uhr sollen zwei Hinrichtungen stattfinden, wie dies in Rombei Eröffnung großer Feste gebräuchlich ist; einer von den Verurteilten wird durch Totschlag hingerichtet (mezzolato); er ist ein Elender, der einen Priester umgebracht hat, von dem er erzogen worden ist, und der keine Teilnahme verdient; der andere wird mit der Guillotine enthauptet, das ist der arme Peppino.
Was wollt Ihr, mein Lieber. Ihr flößt nicht nur der päpstlichen Regierung, sondern auch denbenachbarten Staaten einen so großen Schrecken ein, daß man durchaus einBeispiel geben muß.
Aber Peppino gehört nicht einmal zurBande, er ist ein armer Hirte, der kein anderes Verbrechenbeging, als daß er uns Lebensmittel lieferte.
Was ihn vollkommen zu Eurem Mitschuldigen macht. Es wird also ein Schauspiel stattfinden, das den Geschmack des römischen Volkesbefriedigen wird.
Dazu soll dann noch ein unerwartetes Schauspiel kommen, das ich mir vorbehalte, versetzte der Trasteveriner.
Mein lieber Freund, entgegnete der Mann im Mantel, erlaubt mir dieBemerkung, daß Ihr mir ganz geneigt zu sein scheint, irgend eine Albernheit zubegehen.
Ichbin zu allem geneigt, um die Hinrichtung des armen Teufels zu verhindern, der in der Klemme steckt, weil er mir gedient hat. Bei der heiligen Jungfrau, ich müßte mich als feigbetrachten, wenn ich nicht etwas für denbraven Jungen unternähme.
Und was gedenkt Ihr zu tun?
Ich stelle etwa zwanzig Mann um das Schafott, und in dem Augenblick, wo man ihn herbeibringt, stürzen wir auf ein Signal, das ich geben werde, mit dem Dolche in der Faust auf die Eskorte los und entführen ihn.
Das scheint mir sehr unsicher, und mein Plan taugt entschieden mehr, als der Eurige.
Und worinbesteht dieser Plan, Exzellenz?
Ich gebe irgend einem, den ich kenne, zweitausend Piaster; dafürbewirkt er, daß Peppinos Hinrichtung auf das nächste Jahr verschoben wird; im Verlaufe des Jahres gebe ich sodann weitere zweitausend Piaster einem andern, den ich ebenfalls kenne, undbringe es dahin, daß man ihn entschlüpfen läßt.
Sind Sie des Gelingens sicher?
Mein Lieber, ich sage, ich werde mit meinem Golde mehrbewirken, als Ihr und Eure Leute mit allen ihren Dolchen, Pistolen undBüchsen. Laßt mich also machen!
Vortrefflich; doch wenn Sie scheitern, sind wir immer nochbereit.
Haltet Euch immerhinbereit, wenn es Euch Vergnügen macht, doch seid überzeugt, daß ich die Freiheit für ihn erlange.
Vergessen Sie nicht, daß schon übermorgen Dienstag ist. Sie haben nur noch morgen.
Wohl, aber ein Tagbesteht aus 24 Stunden, jede Stunde aus 60 Minuten, jede Minuten aus 60 Sekunden, und in 86 400 Sekundenbringt man viel zu Wege.
Wie werden wir es erfahren, Exzellenz, wenn es Ihnen gelungen ist?
Das ist ganz einfach: die drei letzten Fenster des Palastes Rospoli sind von mir gemietet; habe ich den Aufschuberlangt, so sollen die zwei Fenster an der Ecke mit gelbem, das in der Mitte aber mit weißem Damast mit rotem Kreuzbehängt werden.
Gut; und durch wen werden Sie dieBegnadigung in diebetreffenden Hände gelangen lassen?
Schickt mir einen von Euren Leuten, alsBüßer verkleidet, und ich gebe sie ihm. Mit seinem Gewande wird erbis zum Fuße des Schafotts vordringen, wo er dieBulle dem Obersten derBrüderschaft übergibt, der sie dem Nachrichter einhändigt. Mittlerweile laßt diese Kunde Peppino zu Ohren kommen, daß er nicht vor Angst stirbt oder ein Narr wird, sonst hätten wir eine unnötige Ausgabe für ihn gemacht.
Hören Sie, Exzellenz, sagte der Trasteveriner, ichbin Ihnen ergeben, und davon sind Sie überzeugt, nicht wahr?
Ich hoffe es wenigstens.
Nun! Wenn Sie Peppino retten, so wird meine Ergebenheit sich in Gehorsam wandeln.
Gebt wohl acht auf das, was Ihr sagt, mein Lieber! Ich werde Euch eines Tages daran erinnern, denn vielleichtbedarf ich Euer einst ebenfalls.
Wohl, Exzellenz, dann sollen Sie mich zur Stunde der Not finden, wie ich Sie zu derselben Stunde gefunden habe. Wären Sie am andern Ende der Welt, sobrauchen Sie mir nur zu schreiben: Tue dies, und ich werde es tun, so wahr ich…
Still! sagte der Unbekannte, ich höre Geräusch.
Es sind Reisende, die das Kolosseum mit Fackelnbesuchen.
Sie sollen uns nichtbeisammen finden. Diese Spione von Führern könnten Euch erkennen, und so ehrenwert auch Eure Freundschaft ist, mein Lieber, sobefürchte ich doch, es dürfte mir meinen Kredit nehmen, wenn man erführe, in welchem Grade wir miteinander verbunden sind.
Also, wenn Sie den Aufschubhaben?
So ist am mittleren Fenster ein Damastvorhang mit rotem Kreuze.
Wenn Sie dieBulle nicht haben?
Drei gelbe Vorhänge.
Und dann?
Dann spielt mit dem Dolche nach EuremBelieben, ich erlaube es Euch und werde da sein, um Euch zuzusehen.
Gottbefohlen, Exzellenz, ich zähle auf Sie, zählen Sie auf mich!
Nach diesen Worten verschwand der Trasteveriner auf der Treppe, während der Unbekannte, sein Gesicht noch mehr als zuvor mit dem Mantel verhüllend, zwei Schritte entfernt an Franz vorüberging und auf den äußeren Stufen in die Arena hinabstieg. Eine Sekunde nachher hörte Franz seinen Namen unter dem Gewölbe erschallen; es war Albert, der ihn rief. Er wartete, um zu antworten, bis sich diebeiden Männer entfernt hätten, denn er wollte nicht, daß sie erführen, sie hätten einen Zeugen gehabt, der, wenn er auch ihr Gesicht nicht sehen konnte, wenigstens kein Wort von ihrem Gespräche verlor. Kaum waren zehn Minuten vergangen, als Franz nach dem Hotel Stadt London zurückfuhr. Er ließ Albert seine Eindrücke erzählen, ohne viel zu erwidern, denn er wollte sobald als möglich allein sein, um ungestört das, was in seiner Gegenwart vorgefallen war, überlegen zu können.
Von denbeiden Männern war ihm der eine offenbar fremd, und er sah und hörte ihn zum erstenmal; nicht so war es mit dem andern, und obgleich Franz seinbeständig im Schatten oder durch den Mantel verborgenes Gesicht nicht hatte unterscheiden können, so war ihm doch der Ton dieser Stimme sofort zu sehr aufgefallen, als daß sie in ihm nichtbestimmte Erinnerungen geweckt hätten. Es lag in dieser Stimme etwas Scharfes, Metallisches, das ihn ebensosehr im Kolosseum, wie in der Grotte von Monte Christo hatte erbeben lassen; er war auch vollkommen überzeugt, daß dieser Mann Simbad der Seefahrer war.
Unter allen andern Umständen hätte er sichbei der Neugierde, die ihm dieser Mann eingeflößt, ihm zu erkennen gegeben; aber das Gespräch, das erbei dieser Veranlassung gehört, war so vertraulicher Natur, daß ihn die Überzeugung, seine Erscheinung müßte ihm unangenehm sein, zurückhielt. Doch während er fernblieb, gelobte er sich, daß er sich eine zweite Gelegenheit mit ihm zu sprechen, nicht entschlüpfen lassen wollte.
Franz war zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um zu schlafen. Erbrachte die Nacht damit hin, daß er alle Umstände, die sich auf den Mann in der Grotte und den Unbekannten im Kolosseumbezogen und die auf die Gleichheitbeider Personen deuteten, in Erwägung zog; und je mehr Franz nachdachte, desto mehr wurde er in seiner Meinung, es sei ein und dieselbe Person, bestärkt. Er entschlummertebei Tagesanbruch und erwachte daher sehr spät. Albert hatte als echter Pariserbereits seine Maßregeln für den Abend getroffen und eine Loge im Theater Argentina genommen. Franz mußte mehrereBriefe schreiben und überließ deshalbAlbert den Wagen für den ganzen Tag. Um fünf Uhr kehrte Albert zurück; er hatte seine Empfehlungsbriefe abgegeben, Einladungen für alle Abende erhalten und Rom gesehen.
Albert war in der letzten Zeit sehr unzufrieden, denn seit den vier Monaten, wo er Italien in allen Richtungen durchkreuzte, hatte er nicht ein einziges galantes Abenteuer gehabt. Die Sache war um so peinlicher, als er, nach derbescheidenen Anschauung seiner Landsleute, von Paris mit der Überzeugung abgereist war, er würde in Italien die größten Erfolge erringen. Ach! es war dem nicht so gewesen; die reizenden genuesischen, florentinischen und neapolitanischen Gräfinnen hielten sich zwar nicht an ihre Ehemänner, aber an ihre Liebhaber, und Albert erlangte die grausame Überzeugung, die Italienerinnen hätten vor den Französinnen wenigstens den Vorzug, daß die meisten in ihrer Untreue treublieben.
Und dennoch war Albert nicht nur ein vollkommen eleganter Kavalier, sondern auch ein Mann von viel Geist; ferner war er Vicomte, allerdings Vicomte von neuem Adel; doch heutzutage, wo man keine Ahnenproben mehr zu liefern hat, was liegt daran, obder Adelstitel von 1399 oder von 1815 datiert? Dabei hatte er, was schwerer ins Gewicht fiel, fünfzigtausend Franken Rente, und das war mehr, als manbrauchte, um in Paris Mode zu sein. Es erschien also einigermaßen demütigend, daß er in keiner von den Städten, die erbesucht, Aufsehen erregt hatte.
Er hoffte sich in Rom zu entschädigen, da der Karneval in allen Ländern der Erde, die dieses herrliche Fest feiern, eine Zeit der Freiheit ist, wo sich die Strengsten zu einer Tollheit hinreißen lassen. Weil nun der Karneval am andern Tagebegann, so war es für Albert von großer Wichtigkeit, sich der vornehmen Welt noch vorherbemerklich zu machen. Er hatte daher eine von den am meisten ins Auge fallenden Logen des Theaters gemietet, und eine tadellose Toilette gemacht. Indes hegte er noch eine andere Hoffnung: er dachte, wenn es ihm gelänge, einen Platz im Herzen einer schönen Römerin zu erobern, so würde er damit natürlich auch einen Platz in einem Wagen erlangen und er dann in der Lage sein, den Karneval von der Höhe eines aristokratischen Gefährtes oder eines fürstlichenBalkons herabzu genießen.
Alle diese Gedanken trugen dazubei, Albert lebhafter zu machen, als er es je gewesen war. Er wandte den Schauspielern den Rücken zu, neigte sich mit halbem Leibe aus der Loge heraus, lorgnettierte alle jungen Frauen, was aber keinebewog, ihn mit einem einzigenBlicke zubelohnen. Alle Plauderten von ihren eigenen Angelegenheiten, von ihren Liebschaften, von ihren Vergnügungen, vom Karneval, von der nächsten heiligen Woche, ohne nur einen Augenblick den darstellenden Künstlern oder dem Stücke die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Gegen das Ende des ersten Aktes öffnete sich die Tür einer Loge, diebis jetzt leer geblieben war, und Franz sah eine Dame eintreten, der er in Paris vorgestellt zu werden die Ehre gehabt hatte; bis dahin war er der Meinung gewesen, siebefände sich noch in Frankreich. Albert sah, daß sein Freundbeim Erscheinen der Dame erregt wurde, wandte sich zu ihm und fragte: Kennen Sie diese Frau?
Ja; wie finden Sie sie?
Reizend, mein Lieber. Es ist eine Französin?
Nein, eine Venetianerin!
Und sie heißt?
Gräfin***.
Ah! ich kenne sie dem Namen nach, rief Albert; man sagt, sie sei ebenso geistreich als hübsch. Teufel! Wenn ichbedenke, daß ich mich ihrbei dem letztenBall von Frau von Villefort hätte vorstellen lassen können, und daß ich Dummkopf dies versäumte!
In diesem Augenblick gewahrte die Gräfin Franz und machte ihm mit der Hand ein anmutiges Zeichen, das er mit einer höflichen Verbeugung erwiderte.
Ah! es scheint mir, Sie stehen sehr gut mit ihr? sagte Albert.
Mein Lieber, was Sie hier täuscht und was uns Franzosen im Auslande tausend Albernheitenbegehen läßt, ist, daß wir alles von unserm Pariser Gesichtspunktbetrachten. In Spanien und in Italienbesonders dürfen Sie die Vertrautheit der Leute nie nach der Freiheit in ihren Umgangsformenbeurteilen. Wir haben eine gewisse Sympathie zu einander gehegt, das ist alles.
Endlich fiel der Vorhang zur großen Freude des Vicomte von Morcerf, der seinen Hut nahm und seinen Freundbat, ihn der Gräfin vorzustellen. Diebeiden Freundebetraten die Loge der Gräfin, und Franz stellte Albert als einen durch gesellschaftliche Stellung und Geist ausgezeichneten Kavalier vor. Er fügte hinzu, in Verzweiflung darüber, daß er den Aufenthalt der Gräfin in Paris nichtbenutzt, um sich ihr vorstellen zu lassen, habe er ihnbeauftragt, diesen Fehler gutzumachen, und er entledige sich dieses Auftrags, indem er die Gräfin, bei der er selbst eines Fürsprechersbedurft hätte, bitte, seine Unbescheidenheit entschuldigen zu wollen. Die Gräfin antwortete, Albert anmutigbegrüßend und Franz die Hand reichend. Von ihr eingeladen, nahm Albert den leeren Platz vorn ein, und Franz setzte sich in die zweite Reihe hinter die Gräfin.
Albert fand einen vortrefflichen Gegenstand zur Unterhaltung: Paris; er sprach mit der Gräfin von ihren gemeinschaftlichenBekannten. Franz seinerseits ließ sich von seinem Freunde dessen Riesenlorgnette geben und fing ebenfalls an, sich im Saal umzusehen. Allein, auf dem Vordersitze einer Loge, im dritten Rang ihnen gegenüber, saß einebewunderungswürdig hübsche Frau in griechischem Kostüm, das sie mit so viel Anmut trug, daß es offenbar ihre Landestracht sein mußte. Hinter ihr saß ein Mann, dessen Gesicht sich jedoch nicht erkennen ließ. Franz unterbrach das Gespräch Alberts mit der Gräfin, um diese zu fragen, obsie die schöne Albanesin kenne, die wohl würdig wäre, nicht nur die Aufmerksamkeit der Männer, sondern auch die der Frauen zu erregen.
Nein, sagte sie, ich weiß nur, daß sie seit dem Anfange der Saison in Rom ist, dennbei Eröffnung des Theaters habe ich sie da gesehen, wo sie jetzt sitzt, und seit einem Monat versäumt sie keine Vorstellung; baldbegleitet sie der Mann, der in diesem Augenblickbei ihr ist, bald folgt ihr nur ein schwarzer Diener.
Franz und die Gräfin tauschten ein Lächeln aus, dann setzte die Gräfin ihr Gespräch mit Albert fort, während Franz wieder seine Albanesinbetrachtete. Die Ouverture des zweiten Aktesbegann. Bei den erstenBogenstrichen sah Franz den Herrn aufstehen und sich der Griechin nähern, die sich umwandte, um einige Worte an ihn zu richten, und sich abermals mit dem Ellenbogen auf dieBrüstung der Loge stützte. Das Gesicht ihresBegleiters war immer noch im Schatten, und Franz vermochte seine Züge nicht zu unterscheiden.
Der Vorhang ging auf, Franzens Aufmerksamkeit richtete sich nun selbstverständlich auf die Schauspieler, und seine Augen verließen für kurze Zeit die Loge der schönen Griechin, um sich nach der Szene zu richten.
Als der zweite Akt zu Ende war, wollte er ebenBeifall spenden, als dasBravo, das seinem Munde entschlüpfen wollte, auf seinen Lippen erstarb.
Der Mann in der Loge war völlig aufgestanden, und Franz erkannte nun in ihm, da sein Kopf vom Licht getroffen wurde, den geheimnisvollenBewohner von Monte Christo, den Mann, dessen Stimme er am Abend zuvor in den Ruinen des Kolosseums wiederzuhören geglaubt hatte. Es unterlag keinem Zweifel, der fremde Reisende wohnte in Rom. Wahrscheinlich drückte sich auf Franzens Gesicht die Unruhe aus, die diese Erscheinung in seinem Innern hervorrief, denn die Gräfin schaute ihn an und fragte ihn, was er hätte.
Frau Gräfin, antwortete Franz, wenn ich Sie vorhin fragte, obSie jene albanesische Frau kennen, so frage ich Sie nun, obSie ihren Gatten kennen.
Ebensowenig als sie. Jedenfalls, sagte sie, mit Alberts Glas nach der Loge sehend, muß es aber ein Abgeschiedener sein, der mit Erlaubnis des Totengräbers aus seinem Sarge gestiegen ist, denn er sieht furchtbarblaß aus.
So sieht er immer aus, sagte Franz.
Sie kennen ihn also? sagte die Gräfin; dann ist es an mir, Sie zu fragen, wer er ist.
Ich habe ihn, glaube ich, bereits gesehen und erkenne ihn wieder.
In der Tat, sagte die Gräfin, während sie mit den Schultern eineBewegung machte, als durchliefe ein Schauer ihre Adern, ichbegreife, daß man einen solchen Menschen nie vergißt, wenn man ihn einmal gesehen hat.
Die Wirkung, die Franz an sich empfunden, war also keinebesondere, da sie sich auchbei einer andern Person fühlbar machte.
Nun! fragte Franz die Gräfin, als sie zum zweiten Male zu dem Fremden hinübersah, was denken Sie von diesem Manne?
Hören Sie, erwiderte die Gräfin, der verstorbene LordByron hat mir geschworen, er glaube an Vampire, er sagte mir sogar, er habe welche gesehen. Er schilderte mir ihr Gesicht, und wahrhaftig, gerade so, wie ich's dort drüben sehe: die schwarzen Haare, die großen, von seltsamem Feuer glänzenden Augen, die Totenblässe; bemerken Sie ferner, daß er mit keiner gewöhnlichen Frau zusammen ist, es ist eine Fremde, eine Griechin,… eine Abtrünnige… eine Magierin ohne Zweifel, wie er…
Die Gräfin war in der Tat sehr erregt, und Franz selbst konnte sich einem gewissen abergläubischen Schrecken nicht entziehen, der um so natürlicher erschien, als das, wasbei der Gräfin die Folge eines instinktartigen Eindrucks war, bei ihm durchbestimmte Erinnerungen hervorgebracht wurde. Er fühlte, daß sie zitterte, als sie in den Wagen stieg. Erbegleitete sie nach Hause; es war niemand da, und sie wurde nicht erwartet; Franz machte ihr darüber einen Vorwurf.
In der Tat, sagte sie zu ihm, ich fühle mich nicht wohl undbedarf der Einsamkeit; der Anblick dieses Menschen hat mich völlig verstört.
Franz versuchte zu lachen.
Lachen Sie nicht, sagte die Gräfin; Sie haben auch gar keine Lust dazu. Aus Gründen, die ich Ihnen nicht sagen kann, wünschte ich zu erfahren, wer dieser Mann ist, woher er kommt und wohin er geht. Aber nun guten Abend! Schlafen Sie wohl, ich weiß, wer nicht schlafen wird.
Als Franz in den Gasthof kam, fand er Albert im Schlafrock eine Zigarre rauchend und wütend darüber, daß ihm der Hotelbesitzer wiederholt erklärt hatte, daß zu dem Karneval weder ein Wagen noch ein Fenster zum Zuschauen mehr zubekommen sei.
Auch Franzbedauerte lebhaft das Mißgeschick, als der Wirt nochmals eintrat und sagte: Der Graf von Monte Christo, der auf dem gleichen Stocke mit Ihnen wohnt, hat durch mich von der Verlegenheit, in der Sie sichbefinden, gehört undbietet Ihnen zwei Plätze in seinem Wagen und zwei an seinen Fenstern im Palaste Rospoli an.
Albert und Franz schauten einander ins Gesicht.
Können wir das Anerbieten eines Fremden, eines uns völlig unbekannten Mannes annehmen? fragte Albert.
Wer ist dieser Graf von Monte Christo? fragte Franz den Wirt.
Ein vornehmer Herr aus Sizilien oder Malta, ich weiß nicht genau, aber edel wie einBorghese und reich wie eine Goldmine.
In diesem Augenblick klopfte man an die Tür.
Auf Franzens Herein erschien ein Diener in sehr zierlicher Livree auf der Schwelle und sprach: Von dem Grafen von Monte Christo für Herrn Franz d'Epinay und den Herrn Vicomte Albert von Morcerf.
Und er reichte dem Wirte zwei Karten, die dieser den jungen Leuten zustellte.
Der Herr Graf von Monte Christo, fuhr der Diener fort, läßt die Herren um Erlaubnisbitten, sich ihnen als Nachbar morgen früh vorstellen zu dürfen; er wird die Ehre haben, sichbei den Herren erkundigen zu lassen, um welche Stunde sie zu sprechen sind.
Sagen Sie dem Grafen, antwortete Franz, wir werden die Ehre haben, ihm unsernBesuch zu machen.
DerBediente entfernte sich.
Das nenne ich mit Artigkeit erstürmen, rief Albert; Sie haben offenbar recht, Herr Wirt, Ihr Graf von Monte Christo ist ein Mann von derbesten Lebensart.
Das Anerbieten von zwei Plätzen an einem Fenster des Palastes Rospoli erinnerte Franz an das Gespräch, das er in den Ruinen des Kolosseums zwischen seinem Unbekannten und dem Trasteveriner gehört, wobei der Mann mit dem Mantel die Verbindlichkeit übernommen hatte, Begnadigung für einen Verurteilten zu erlangen. War aber der Mann im Mantel, wie Franz allem Anschein nach glauben mußte, derselbe, dessen Erscheinen im Theater Argentina ihn so sehr in Anspruch genommen hatte, so erkannte er ihn ohne Zweifel wieder, und nichts sollte ihn dann abhalten, seine Neugierde inBezug auf seine Person zubefriedigen.
Franzbrachte einen Teil der Nacht damit zu, daß er von dem zweimaligen Auftauchen des Grafen träumte und den andern Tag herbeiwünschte. Der andere Tag sollte wirklich alles aufklären, und diesmal — besäße sein Wirt von Monte Christo nicht den Ring des Gyges und damit die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen — würde er ihm sicherlich nicht entgehen. Er erwachte vor acht Uhr und ließ sogleich den Wirt rufen.
Herr Wirt, sagte er zu ihm, soll nicht heute eine Hinrichtung stattfinden?
Ja, aber wenn Sie mich fragen, um einen Platz dazu zubekommen, so wird es zu spät sein.
Wahrscheinlich werde ich nicht hingehen; doch möchte ich gern die Anzahl der Verurteilten, ihre Namen und die Art der Hinrichtung wissen.
Das trifft sich gut, Exzellenz, man hat mir soeben die Tavolette gebracht.
Was ist das: Tavolette?
Die Tavolette sind hölzerne Täfelchen, die man am Tage vor einer Hinrichtung an allen Straßenecken anhängt, und worauf die Namen der Verurteilten, der Grund ihrer Verurteilung und die Art ihrer Hinrichtung angegeben sind. Damit werden die Gläubigen aufgefordert, zu Gott zubeten, er möge den Schuldigen eine aufrichtige Reue verleihen. Ich will sie Ihnen gleich holen.
Einen Augenblick späterbrachte er Franz die Tafel. Auf dieser stand wörtlich:
Es wird hiermit männiglich zu wissen getan, daß Dienstag den 22. Februar am ersten Tage des Karnevals durch Spruch des Tribunals der Rota auf der Piazza del popolo Andrea Rondolo, schuldig des Mordes an der Person des hochwürdigen und hochverehrten Don Cäsar Torlini, Kanonikus der Kirche St. Giovanni in Laterano, und Peppino, genannt Rocca Priori, überwiesen der Genossenschaft mit dem verabscheuungswürdigenBanditen Luigi Vampa und den Leuten seinerBande, hingerichtet werden sollen. Der erste wird mazzolato (totgeschlagen) und der zweite decapitato (enthauptet). Mitleidige Seelen wollen Gott um aufrichtige Reue für diese unglücklichen Verurteiltenbitten.
Das war genau dasselbe, was Franz zwei Tage vorher in den Ruinen des Kolosseums gehört hatte. Somit war aller Wahrscheinlichkeit nach der Trasteveriner kein anderer, als derBandit Luigi Vampa, und der Mann im Mantel Simbad der Seefahrer, der in Rom, wie in Porto Vecchio und Tunis als Menschenfreund in den Gang der Gerichte eingriff.
Indessen war es neun Uhr geworden, und Franz schickte sich an, Albert zu wecken, als dieser zu seinem großen Erstaunen ganz angekleidet aus seinem Zimmer trat. Der Karneval ließ ihn nicht länger schlafen und hatte ihn früher auf dieBeine gebracht, als sein Freund dies hoffte.
Franz und Albert hatten, um zum Grafen von Monte Christo zu gelangen, dem sie ihre Aufwartung machen wollten, nur den Flur zu durchschreiten. Der Wirt ging voran und klingelte für sie; ein Diener öffnete, verbeugte sich undbedeutete durch ein Zeichen, sie möchten eintreten. Sie durchschritten zwei Zimmer, die mit einem Luxus ausgestattet waren, den sie in Pastrinis Gasthofe nicht vermutet hätten, und gelangten endlich in einen Salon von vollkommener Eleganz. Ein türkischer Teppich war auf demBoden ausgebreitet, und diebehaglichsten Möbel mit schwellenden Kissen und zurückgebogenen Lehnen luden zum Sitzen ein. Herrliche Gemälde hingen neben kunstvollen Waffen an den Wänden, und große gestickte Vorhänge wogten von allen Fenstern und Türen.
Wollen sich Eure Exzellenzen setzen, sagte der Diener, ich werde den Herrnbenachrichtigen. Und er verschwand durch eine der Türen.
Nun, fragte Franz seinen Freund, was sagen Sie zu all diesen Herrlichkeiten?
Meiner Treu, mein Lieber, unser Nachbar muß ein Wechselagent sein, der auf das Fallen der spanischen Papiere spekuliert hat, oder ein Fürst, der inkognito reist.
Still! Wir werden esbald erfahren, denn hier kommt er. Eine Tür öffnete sich, der Vorhang hobsich, und derBesitzer dieser Reichtümer erschien. Albert ging ihm entgegen, Franz aberbliebwie an seinen Platz genagelt.
Der Eintretende war kein andrer, als der Mann mit dem Mantel im Kolosseum, der Unbekannte der Loge, der geheimnisvolle Wirt von Monte Christo.
Mazzolalo
Meine Herren, sagte der Graf von Monte Christo eintretend, ichbitte Sie tausendmal um Entschuldigung, daß ich mir zuvorkommen ließ, aber ich fürchtete, wenn ich früherbei Ihnen erschiene, unbescheiden zu sein.
Franz und ich sind Ihnen den größten Dank schuldig, Herr Graf, erwiderte Albert; Sie entziehen uns in der Tat einer großen Verlegenheit.
Ei! mein Gott, erwiderte der Graf, indem er diebeiden jungen Männer ersuchte, sich auf einen Diwan zu setzen, es ist Pastrinis Fehler, wenn ich Sie so lange in Verlegenheit ließ; er sagte mir kein Wort von Ihrer mißlichen Lage, während ich nur eine Gelegenheit suchte, mit meinen NachbarnBekanntschaft zu machen. Sie haben auch gesehen, wie ich im ersten Augenblick, wo ich erfuhr, ich könnte Ihnen in irgend einerBeziehung nützlich sein, mit allem Eifer diese Veranlassung ergriff, um Ihnen meine Achtung zubeweisen.
Die jungen Leute verbeugten sich. Franz hatte noch kein Wort sprechen können, er hatte auch noch keinen Entschluß gefaßt, und da nichtsbei dem Grafen seinen Willen, ihn zu erkennen, oder den Wunsch, von ihm erkannt zu werden, andeutete, so wußte er nicht, ober mit irgend einem Worte auf die Vergangenheit anspielen, oder es der Zukunft überlassen sollte, ihm neueBeweise an die Hand zu geben. Völlig überzeugt, daß derselbe Mann am Tage vorher in der Loge gewesen, konnte er nicht ebensobestimmt dafür stehen, daß er zwei Tage vorher im Kolosseum verweilt hatte. Erbeschloß daher, die Dinge ihren Gang gehen zu lassen, ohne dem Grafen irgend einebestimmte Eröffnung zu machen. Überdies war er ihm in gewisserBeziehung überlegen, da er Herr seines Geheimnisses war. Mittlerweile wollte er jedoch das Gespräch auf einen Punktbringen, der einiges Licht in das Dunkel werfen könnte, und er sagte:
Herr Graf, Sie haben uns Plätze in Ihrem Wagen und an Ihren Fenstern im Palaste Rospoli angeboten, können Sie uns nun auch noch sagen, wie wir uns einen Platz auf der Piazza del popolo verschaffen?
Ah! das ist wahr, entgegnete der Graf mit zerstreuter Miene, zugleich aber Morcerf mitbesonderer Aufmerksamkeit anschauend, findet auf der Piazza del popolo nicht eine Hinrichtung oder dergleichen statt?
Ja, antwortete Franz, als er sah, daß der Graf von selbst dahin kam, wohin er ihnbringen wollte.
Ah! ich glaube, ich habe gestern meinen Intendantenbeauftragt, hierfür zu sorgen; vielleicht kann ich Ihnen noch einen kleinen Dienst leisten.
Er streckte die Hand nach einer Klingelschnur aus.
Es trat ein Mann von 50 Jahren ein, der fast aufs Haar dem Schmuggler glich, durch den Franz in die Grotte geführt wurde, der ihn aber durchaus nicht zu erkennen schien.
HerrBertuccio, sagte der Graf, haben Sie sich meinem Auftrag gemäßbemüht, mir ein Fenster auf der Piazza del popolo zu verschaffen?
Ja, Exzellenz, es ist das, welches vom Fürsten Lobanieff gemietet worden war; doch ich mußte hundert…
Gut, gut, HerrBertuccio, erlassen Sie uns dieseBerechnungen; Sie haben das Fenster, weiteres ist nicht nötig. Geben Sie dem Kutscher die Adresse des Hauses, und stellen Sie sich auf die Treppe, um uns zu führen!
Der Intendant verbeugte sich und machte einen Schritt, um sich zu entfernen.
Oh! fügte der Graf hinzu, tun Sie mir den Gefallen und fragen Sie Pastrini, ober die Tavoletta erhalten habe und ober mir das Programm der Hinrichtung schicken wolle.
Das ist nicht nötig, versetzte Franz, seine Schreibtafel aus der Tasche ziehend, ich habe den Zettel gelesen und kopiert; hier ist er.
Sie können gehen, HerrBertuccio, ichbedarf Ihrer nicht mehr. Man melde uns nur, wenn das Frühstück aufgetragen ist. Diese Herren, fuhr er, sich an diebeiden Freunde wendend, fort, werden mir die Ehre erzeigen, mit mir zu frühstücken?
In der Tat, Herr Graf, das hieße Ihre Güte mißbrauchen, erwiderte Albert.
Im Gegenteil, Sie machen mir ein großes Vergnügen; einer oder der andere von Ihnen, vielleichtbeide, vergelten mir das alles einmal in Paris.
Er nahm die Schreibtafel aus Franzens Händen und las mit einem Tone, als seien es» Kleine Anzeigen«, die unsbekannte Ankündigung von der Hinrichtung derbeiden Verurteilten. Ja, in der Tat, sagte er dann, so sollte die Sache anfangs vor sich gehen; aber ich glaube, seit gestern hat man sich zu einer Programmänderung entschlossen.
Bah! rief Franz.
Ja, gestern warbei dem Kardinal Rospigliosi, wo ich den Abend zubrachte, glaub' ich, die Rede von einem Aufschube, der einem von den Verurteiltenbewilligt sein soll.
Andrea Rondolo? fragte Franz.
Nein, dem andern, erwiderte gleichgültig der Graf, dem andern — er warf einenBlick auf die Schreibtafel, als suchte er sich des Namens zu erinnern — Peppino, genannt Rocca Priori. Sie verlieren also eine Guillotinierung, aber esbleibt Ihnen noch die Mazzolata, die eine interessante Art von Hinrichtung ist, wenn man die Sache zum erstenmal sieht, und selbst noch zum zweitenmal, während die andre, Ihnen jedenfalls auchbekannte Art, zu einfach, zu einförmig erscheint, um das Zuschauen zu lohnen. Oh! fügte der Graf verächtlich hinzu, reden Sie mir nicht von den Europäern, was Hinrichtungenbetrifft, sie verstehen nichts davon und stecken wahrhaftig in dieserBeziehung noch in den Kinderjahren oder vielmehr im Greisenalter.
In der Tat, Herr Graf, erwiderte Franz, man sollte glauben, Sie hätten das Hinrichtungsverfahrenbei den verschiedenen Völkern der Welt zum Gegenstand eines vergleichenden Studiums gemacht.
Es gibt wenige Arten, die ich nicht gesehen habe, antwortete kalt der Graf.
Und Sie fanden ein Vergnügen daran, so furchtbaren Schauspielenbeizuwohnen?
Mein erstes Gefühl war Widerstreben, mein zweites Gleichgültigkeit, mein drittes Neugierde.
Neugierde? Das Wort ist schrecklich!
Warum? Es gibt im Leben nur eine ernste Sache, die unser ganzes Wesen erfaßt, und das ist der Tod. Ist nun nicht das Studium anziehend, auf welch verschiedene Arten die Seele aus dem Leibe gehen kann, und wie nach den Charakteren, nach den Temperamenten und selbst nach den Sitten der Länder die einzelnen Menschen diesen Übergang vom Sein zum Nichts ertragen? Ich meinesteils stehe Ihnen für eines: je mehr man sterben gesehen hat, desto leichter wird es einem zu sterben; meiner Ansicht nach ist der Tod vielleicht eine Strafe, aber keine Sühne.
Ichbegreife Sie nicht ganz, sprach Franz.
Hören Sie, versetzte der Graf, und sein Gesicht unterlief sich mit Galle. Wenn ein Mensch durch unerhörte Qualen, unter endlosen Martern Ihren Vater, Ihre Mutter, Ihre Geliebte, kurz eines von den Wesen hätte sterben lassen, die, aus Ihrem Herzen gerissen, eine ewige Leere, eine stetsblutende Wunde darin zurücklassen, würden Sie die Genugtuung, die Ihnen das Gesetz durch die Guillotine gewährt, für hinreichend erachten, weil der, welcher Sie jahrelang moralische Leiden erdulden ließ, ein paar Sekunden lang körperliche Schmerzen ausgestanden hat?
Ja, ich weiß, versetzte Franz, die menschliche Gerechtigkeit ist als Trösterin ungenügend; sie kannBlut fürBlut vergießen, und mehr nicht; man muß nicht mehr von ihr verlangen, als sie zu tun vermag.
Und ich setze noch den Fall, wo die Gesellschaft, durch den Tod eines Menschen in der Grundlage angegriffen, worauf sieberuht, den Tod durch den Tod rächt. Gibt es aber nicht Millionen von Schmerzen, von denen die Eingeweide des Menschen zerrissen werden können, ohne daß sich die Welt nur im geringsten darum kümmert, und ohne daß sie ihm auch nur das ungenügende Mittel einer Rachebietet, von der wir soeben gesprochen haben? Gibt es nicht Verbrechen, für die der Pfahl der Türken, die Nervenzerrung der Irokesen noch zu gelinde Strafen wären, während sie die gleichgültige Gesellschaft völlig straflos läßt… antworten Sie mir, gibt es nicht solche Verbrechen?
Ja, versetzte Franz, und um sie zubestrafen, ist das Duell geduldet.
Ah! das Duell, rief der Graf, eine schöne Art, zu seinem Ziele zu gelangen, wenn das Ziel Rache ist. Es hat Ihnen ein Mensch Ihre Geliebte geraubt, Ihre Frau verführt, Ihre Tochter entehrt; er hat aus einem ganzen langen Leben ein Dasein des Schmerzes, des Elends oder der Schande gemacht, und Sie halten sich für gerächt, weil Sie diesem Menschen, der Ihnen Wahnsinn in den Geist, Verzweiflung ins Herz pflanzte, einen Degenstich in dieBrust gegeben oder eine Kugel vor den Kopf geschaffen haben? Abgesehen davon, daß er oft siegreich aus dem Kampfe hervorgeht, in den Augen der Welt rein gewaschen und von Gott gleichsam freigesprochen wird. Nein, nein, wenn ich mich je zu rächen hätte, würde ich mich nicht auf diese Art rächen.
Sie mißbilligen also das Duell, Sie würden sich nicht auf einen Zweikampf einlassen? fragte Albert, erstaunt, eine so seltsame Theorie aussprechen zu hören.
Oh! doch wohl, erwiderte der Graf. Verstehen wir uns recht! Ich würde mich schlagen wegen einer Erbärmlichkeit, wegen einerBeleidigung, wegen einer Ohrfeige, wenn man mich einer Lügebezichtigen wollte, und dies mit um so mehr Kaltblütigkeit, als ich infolge der Gewandtheit, die ich in allen körperlichen Übungen erlangt habe, infolge langer Gewöhnung an die Gefahr so gut wie sicher wäre, meinen Mann zu töten. Aber für einen tiefen, endlosen, ewigen Schmerz würde ich, wenn es möglich wäre, einen ähnlichen Schmerz dembereiten wollen, der ihn mir verursacht hätte. Auge um Auge, Zahn um Zahn, wie die Orientalen sagen… unsere Meister in allen Dingen, diese Auserwählten der Schöpfung, die sich ein Leben der Träume und ein Paradies der Wirklichkeit zubereiten gewußt haben. — Aber auf Ehre, meine Herren, wir führen da ein sonderbares Gespräch für einen Karnevalstag; setzen wir uns vor allem zu Tische, denn man meldet, daß aufgetragen ist.
Ein Diener öffnete eine von den vier Türen des Salons. Die jungen Männer standen auf und gingen in den Speisesaal. Während des Frühstücks, das aus allen möglichen Leckerbissenbestand und mit dem feinsten Luxus serviert wurde, suchte Franz mit den Augen AlbertsBlick, um darin den Eindruck zu lesen, den die Worte ihres Wirtes, wie er nicht zweifelte, auf ihn hervorgebracht haben mußten. Er fand aber seinen Gefährten nicht im geringsten ergriffen; er erwies im Gegenteil dem Mahle die schuldige Ehre. Der Graf dagegen, den Alberts Person merkwürdig zubeunruhigen schien, berührte die Schüsseln kaum. Es war, als erfüllte er, wenn er sich mit seinen Gästen zu Tische setzte, nur eine einfache Pflicht der Höflichkeit, und als erwarte er ihr Fortgehen, um sich irgend einbesonderes Gericht vorsetzen zu lassen. Dies erinnerte Franz unwillkürlich an den Schrecken, den der Graf der Gräfin G*** eingeflößt, und an ihre Überzeugung, der Mann, den er ihr in der Loge gegenüber der ihrigen gezeigt, sei ein Vampir. Als das Frühstück zu Ende war, zog Franz seine Uhr.
Nun!.. sagte der Graf zu ihm, was machen Sie denn?
Sie werden uns entschuldigen, Herr Graf, erwiderte Franz, wir haben noch tausenderlei zubesorgen. Wirbesitzen zumBeispiel noch keine Maskenanzüge, und heute ist die Verkleidung strengstes Gebot.
Sorgen Sie nicht hierfür! Wir haben auf der Piazza del popolo einbesonderes Zimmer; ich lasse dahin die Kostümebringen, die Sie mir gefälligstbezeichnen wollen, und wir maskieren uns, während wir dort verweilen.
Nach der Hinrichtung? rief Franz.
Nachher, während derselben oder vorher, wie Sie wollen.
Im Angesicht des Schafotts?
Das Schafottbildet einen Teil des Festes.
Vorwärts also, da Sie es so wollen, sagte Franz; doch wünschte ichbeim Gange nach der Piazza del popolo über den Korso zu kommen.
Gut, über den Korso! Wir schicken den Wagen voraus mit demBefehl, uns auf der Piazza del popolo zu erwarten; überdies ist es nur auch nicht unangenehm, wenn wir den Korso passieren, denn ich kann michbei dieser Gelegenheit überzeugen, obmeineBefehle vollzogen worden sind.
In diesem Augenblick öffnete ein Diener die Tür und meldete: Exzellenz, ein Mensch in der Tracht einesBüßers wünscht Sie zu sprechen.
Ah ja, sagte der Graf, ich weiß. Meine Herren, wollen Sie in den Salon zurückkehren, Sie finden auf dem Tische einige Havanna; ich folge Ihnen sogleich.
Die jungen Männer standen auf und gingen zu einer Tür hinaus, während sich der Graf, nachdem er seine Entschuldigung wiederholt hatte, durch die andere entfernte.
Nun, sagte Franz zu Albert, was denken Sie von dem Grafen von Monte Christo?
Was ich denke? erwiderte dieser, sichtbar erstaunt, daß Franz eine solche Frage an ihn richtete. Ich denke, er ist ein sehr angenehmer Mann, der vortrefflich die Honneurs seines Hauses macht, viel gesehen, viel nachgedacht, viel studiert hat, der einemBrutus der stoischen Schule gleicht, und der, fügte er hinzu, indem er eine Rauchwolke ausstieß, die in einer Schneckenlinie zum Plafond aufstieg, und der ausgezeichnete Zigarrenbesitzt.
Dies war die Ansicht, die Albert über den Grafen äußerte. Da Franz aber wußte, sein Freund urteile nur nach eigener Überzeugung, erbilde seine Ansicht über Menschen und Dinge erst nach reiflicher Erwägung, sobemerkte er nichts dagegen und fragte nur: Doch haben Sie die Aufmerksamkeitbemerkt, mit der er Siebetrachtete?
Albert dachte nach.
Ah! rief er, einen Seufzer ausstoßend, darüber darf man sich nicht wundern. Ichbin fast ein Jahr von Paris abwesend und muß Kleider wie ein Hinterwäldler haben. Der Graf wird mich für einen Menschen aus der Provinz halten; ichbitte Sie, klären Sie ihn darüberbei der nächsten Gelegenheit auf.
Franz lächelte; einen Augenblick nachher kehrte der Graf zurück.
Hierbin ich, meine Herren, sagte er, und ich stehe nun ganz zu Ihren Diensten. Nehmen Sie von diesen Zigarren, Herr von Morcerf, fügte er hinzu, indem er einen seltsamen Nachdruck auf diesen Namen legte, den er zum erstenmal aussprach.
Mit großem Vergnügen; wenn Sie nach Paris kommen, werde ich es Ihnen vergelten.
Ich weise das nicht von mir ab, denn ich gedenke eines Tages dorthin zu gehen und werde dann, wenn Sie es mir erlauben, an Ihre Tür klopfen.
Alle drei gingen hinabund schlugen den Weg über die Piazza di Spagna nach der Via Frattina ein, die sie gerade an den Palast Rospoli führte. Franz schaute nach diesem Palaste; er hatte das im Kolosseum zwischen dem Manne mit dem Mantel und dem Trasteveriner verabredete Signal nicht vergessen.
Welche Fenster gehören Ihnen? fragte er den Grafen mit dem natürlichsten Tone, den er anzunehmen vermochte.
Die drei letzten, erwiderte der Graf mit einer Nachlässigkeit, die nichts Geheucheltes hatte.
Franzens Augen richteten sich rasch nach den drei Fenstern. An denbeiden Seitenfenstern erblickte er Vorhänge von gelbem Damast, an dem mittleren einen Vorhang von weißem Damast mit rotem Kreuz. Der Mann mit dem Mantel hatte dem Trasteveriner Wort gehalten; es unterlag keinem Zweifel mehr, der Mann mit dem Mantel war der Graf. Die drei Fenster waren noch leer. Man traf übrigens auf allen Seiten Vorbereitungen, man stellte Stühle, schlug Gerüste auf undbehing die Fenster. Erst mit dem Klange der Glocke durften die Masken erscheinen und die Wagen fahren.
Franz, Albert und der Graf setzten ihren Weg auf dem Korso fort. Je mehr sie sich der Piazza del popolo näherten, desto dichter wurde die Menge, und schon sah man über den Häuptern des Volkes zwei Gegenstände emporragen: im Mittelpunkt des Platzes den Obelisken, überragt von einem Kreuze, und davor diebeiden oberstenBalken des Schafotts, zwischen denen das runde Eisen glänzte.
An der Ecke der Straße fand man den Intendanten des Grafen, der seinen Herrn erwartete. Das gemietete Fenster gehörte zu dem zweiten Stocke des zwischen der Strada delBabuino und dem Monte Pincio liegenden großen Palastes. Es lag in einem Ankleidekabinett, das in ein Schlafzimmer ging; schloß man die Tür des Schlafzimmers, so waren die Mieter des Kabinetts für sich allein; auf den Stühlen lagen die zierlichstenBajazzo‑Anzüge von weiß‑blauem Atlas.
Da Sie mir die Wahl der Tracht überließen, so wählte ich diese, sagte der Graf. Einmal wird sie in diesem Jahre am meisten Mode sein, und dann ist sie dasBequemste für die Konfetti, da man das Mehl nicht daraufbemerkt.
Franz hörte kaum die Worte des Grafen, denn seine ganze Aufmerksamkeit war von dem Schauspiel, das die Piazza del popolobot, und von dem furchtbaren Werkzeuge gefesselt, das zu dieser Stunde ihren Hauptzierratbildete. Er sah zum erstenmal eine Guillotine.
Zwei Männer, die Gehilfen des Nachrichters, die auf demBrette saßen, woraus man den Verurteilten legt, frühstückten in Erwartung der Dinge und aßen, soviel Franz sehen konnte, Brot und Würste; der eine hobdasBrett auf, zog eine Flasche Wein hervor, trank einen Schluck und reichte sie seinem Kameraden. Schonbei diesem Anblick fühlte Franz den Schweiß an den Wurzeln seiner Haare hervorbrechen.
Am Abend zuvor von den neuen Gefängnissen in die kleine Kirche Santa‑Maria‑del‑Popolo geführt, hatten die Verurteilten, jeder unter demBeistande von zwei Priestern, die Nacht in einer schwarz ausgeschlagenen Kapelle zugebracht, die mit einem Gitter verschlossen war, vor dem Schildwachen auf und abgingen. Eine doppelte Reihe von Carabinieri stand von der Kirchentürbis zumBlutgerüst, um das herum sich diese Doppelreihe schloß. Der ganze übrige Platz war mit Männer- und Frauenköpfen wie gepflastert, während viele Frauen ihre Kinder auf den Schultern hielten.
Der Monte Pincio sah aus wie ein weites Amphitheater, dessen Plätze insgesamt mit Zuschauern überfüllt waren; dieBalkone der Kirchen waren vonbevorzugten Neugierigen vollgepfropft; jeder Mauervorsprung trug lebendige Statuen. Was der Graf sagte, entsprach also der Wahrheit: das Interessanteste im Leben ist das Schauspiel des Todes. Und dennoch stieg statt des Stillschweigens, das die Feierlichkeit dieser Szene zu fordern schien, ein Geräusch aus dieser Menge empor, das sich aus Gelächter, Gezisch und freudigem Geschrei zusammensetzte; die Hinrichtung war eben, wie der Graf ebenfalls gesagt hatte, für all dieses Volk nichts anderes, als der Anfang des Karnevals.
Plötzlich hörte der Lärm wie durch einen Zauberschlag auf; die Tür der Kirche hatte sich geöffnet. Mönche von derBrüderschaft derBüßer, deren Mitglieder insgesamt in graue, nur an den Augen ausgehöhlte Säcke gekleidet waren und eine angezündete Kerze in der Hand hielten, erschienen zuerst. Hinter denBüßern kam ein Mensch von hoher Gestalt; dieser Mensch war nackt, abgesehen von einer Leinwandhose, an deren linker Seite er ein großes in seiner Scheide verborgenes Messerbefestigt hatte; auf der Schulter trug er eine schwere eiserne Keule. Es war der Henker. Unter den Füßen hatte er noch mit Stricken angebundene Sandalen. Hinter dem Henker marschierten in der Ordnung, in der sie hingerichtet werden sollten, zuerst Peppino und dann Andrea, jeder von zwei Priesternbegleitet. Keiner hatte die Augen verbunden. Peppino ging festen Schrittes einher; ohne Zweifel hatte er Kunde von dem, was sich für ihn vorbereitete. Andrea wurde unter dem Arme durch einen Priester unterstützt. Beide küßten von Zeit zu Zeit das Kruzifix, das ihnen derBeichtiger darbot.
Franz fühlte, wie ihmbei diesem Anblick dieBeine den Dienst versagten; er schaute Albert an. Dieser warblaß wie sein Hemd und warf unwillkürlich seine Zigarre von sich. Nur der Graf allein sah unempfindlich aus. Mehr noch, es schien sogar eine leichte Röte die Leichenblässe seiner Wangen durchdringen zu wollen. Seine Nase erweiterte sich wie die eines wilden Tieres, dasBlut riecht. Bei alledem hatte sein Antlitz einen Ausdruck lächelnder Sanftmut, den Franz nie an ihm wahrgenommen; seine Augenbesonders waren vonbewunderungswürdiger Weichheit und Milde.
Die Verurteilten setzten indessen den Weg nach dem Schafott fort, und ihre Gesichtszüge ließen sich nach und nach deutlicher unterscheiden. Peppino war ein hübscher Junge von etwa 25 Jahren, mit sonnverbranntem Gesichte und freiem, wildemBlicke. Er trug den Kopf hoch und schien den Wind einzuziehen, als wollte er sehen, von welcher Seite seinBefreier käme. Andrea war dick und kurz; sein gemein grausames Gesicht ließ das Alter nicht genau erkennen; er mochte jedoch ungefähr dreißig Jahre zählen. Im Gefängnis hatte er seinenBart wachsen lassen. Der Kopf fiel ihm auf eine Schulter herab, seineBeinebogen sich unter der Last; sein Körper schien nur einem mechanischen Triebe zu gehorchen, an dem sein Wille keinen Teil mehr hatte.
Wie mir scheint, kündigten Sie uns an, es würde nur eine Hinrichtung stattfinden? sagte Franz zu dem Grafen.
Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, antwortete er kalt.
Hier sind aber zwei Verurteilte.
Ja, doch von den zwei Verurteilten ist der eine dem Tode nahe, während der andere noch lange Jahre zu leben hat.
Soll die Gnade kommen, so ist meiner Ansicht nach keine Zeit zu verlieren.
Sie kommt schon, sehen Sie dort! sagte der Graf.
In dem Augenblick, wo Peppino am Fuße des Schafotts anlangte, drang einBüßer, der sich verspätet zu haben schien, durch die Hecke der Soldaten, ohne daß diese Widerstand leistete, eilte auf den Anführer derBrüderschaft zu und überreichte ihm ein zusammengelegtes Papier. Peppinos glühenderBlick war diesem Vorgang mit äußerster Spannung gefolgt. Der Anführer derBrüderschaft entfaltete das Papier, las es, hobdie Hand auf und sagte mit lauter, verständlicher Stimme:
Der Herr sei gesegnet und Seine Heiligkeit sei gelobt! Man hat dem Leben eines Gefangenen Gnade angedeihen lassen.
Gnade! rief das Volk mit einem Schrei; begnadigt!
Bei dem Worte schien Andrea emporzuspringen und den Kopf aufzurichten.
Gnade für wen? rief er.
Die Todesstrafe ist Peppino, genannt Rocca Priori, erlassen. antwortete der Anführer der Priesterschaft und übergabdas Papier dem die Carabinieribefehligenden Kapitän, der es ihm, nachdem er es gelesen hatte, zurückstellte.
Gnade für Peppino! rief Andrea, völlig aus der Starrheit erwachend, in die er versunken zu sein schien. Warum Gnade für ihn und nicht für mich? Wir sollten miteinander sterben, man versprach mir, er würde vor mir sterben, man darf mich nicht allein sterben lassen; ich will nicht allein sterben, nein, ich will nicht.
Und er hing sich an die Arme der Priester und krümmte sich und heulte undbrüllte und strengte sich wahnsinnig an, die Stricke zu zerreißen, mit denen seine Hände gebunden waren. Der Henker machte seinen Gehilfen ein Zeichen: sie sprangen vom Schafott herabundbemächtigten sich des Verurteilten.
Was gibt es denn? fragte Franz den Grafen, denn da alles in römischer Mundart gesprochen wurde, hatte er's nicht gut verstanden.
Was es gibt? erwiderte der Graf, erraten Sie es nicht? Dieser Mensch, der sterben soll, ist wütend darüber, daß der andre nicht mit ihm stirbt, und wenn man ihn gewähren ließe, würde er ihn eher mit seinen Nägeln und Zähnen zerreißen, als ihn das Leben genießen lassen, dessen er selbstberaubt werden soll. Oh! Menschen, Menschen! Krokodilenbrut, wie Karl Moor sagt, rief er, seinebeiden Fäuste nach der Menge ausstreckend, wie erkenne ich euch hier, und wie sehr seid ihr jeder Zeit euer selbst würdig.
Andrea und diebeiden Gehilfen des Henkers wälzten sich wirklich im Staube, wobei der Verurteilte fortwährend ausrief: Er muß sterben, ich will, daß er sterbe, man hat nicht das Recht, mich allein umzubringen. Die Knechte trugen Andrea schließlich auf das Schafott, alles Volk nahm gegen ihn Partei, und zwanzigtausend Stimmen riefen wie mit einem Schrei: Tötet ihn! tötet ihn! Franz warf sich zurück, aber der Graf ergriff ihn am Arm und hielt ihn am Fenster fest.
Was machen Sie denn? sagte er zu ihm; Mitleid? Das wäre in der Tat gut angebracht! Wenn Sie rufen hörten: Dort ist ein wütender Hund! so würden Sie Ihr Gewehr nehmen, auf die Straße eilen und das arme Tier niederschießen, dessen ganze Schuld am Ende darinbestände, daß es, von einem andern Hunde gebissen, das, was man ihm getan, vergilt. Und Sie haben Mitleid mit einem Menschen, den kein anderer Mensch gebissen, und der dennoch seinen Wohltäter umgebracht hat, und nun, da er nicht mehr umbringen kann, weil seine Hände gebunden sind, mit aller Gewalt seinen Kerkergefährten, seinen Unglückskameraden sterben sehen will? Sehen Sie, sehen Sie!
Diese Ausforderung war überflüssig geworden, Franz war von dem furchtbaren Schauspiel wie von einemBlendwerk ergriffen. Die Knechte hatten den Verurteilten auf das Schafott geschleppt und ihn hier, trotz seines Widerstrebens, seinesBeißens, seines Geschreis, genötigt, sich auf die Knie zu werfen; währenddessen stellte sich der Henker an seine Seite und hielt die Keule empor; auf ein Zeichen zogen sich die Gehilfen zurück. Der Verurteilte wollte sich erheben, doch ehe er dazu Zeit hatte, fiel die Keule auf seine linke Schläfe; man hörte ein dumpfes, mattes Geräusch, und der Verbrecher stürzte mit dem Gesicht voran wie ein geschlagener Ochs zur Erde. Der Henker ließ nun die Keule aus seinen Händen sinken, zog das Messer aus seinem Gürtel und öffnete dem Opfer mit einem Schnitte die Gurgel.
Nun konnte es Franz nicht mehr aushalten; er warf sich zurück und fiel halbohnmächtig in einen Lehnstuhl. Albertbliebmit geschlossenen Augen auf seinen Füßen, klammerte sich aber an den Vorhängen an, ohne deren Unterstützung er gewiß gefallen wäre.
Der Graf stand aufrecht und triumphierend wie der Racheengel.
Der Karneval in Rom
Als Franz zu sich kam, erblickte er Albert, der ein Glas Wasser trank, was er, nach seinerBlässe zu urteilen, sehr nötig hatte, und den Grafen, derbereits die Tracht einesBajazzo anlegte. Auf dem Platze war alles verschwunden, Schafott, Henker, Opfer; nur das geräuschvolle, geschäftige, lustige Volk war noch übrig; die Glocke des Monte‑Citorio, die nurbeim Tode des Papstes undbei der Eröffnung des Karnevals hörbar wird, ertönte in vollen Schwingungen.
Nun! fragte er den Grafen, was ist denn vorgefallen?
Nichts, durchaus nichts, wie Sie sehen, erwiderte der Graf; der Karneval hat nunbegonnen, und wir wollen uns ankleiden.
In der Tat, sagte Franz, von dieser ganzen furchtbaren Szene ist nichts mehr vorhanden, als die Spur eines Traumes.
Weil es nichts anderes ist, als ein Traum, ein Alp, den Sie gehabt haben.
Ja, ich, aber der Verurteilte?
Auch für ihn ist es ein Traum, nur ist er eingeschlafen geblieben, während Sie erwacht sind; und wer vermag zu sagen, welcher vonbeidenbesser daran ist?
Und Peppino, fragte Franz, was ist aus ihm geworden?
Peppino ist ein Mensch von Verstand und ohne alle Eitelkeit. Während sonst die Leute wütend darüber werden, wenn man sich nicht mit ihnenbeschäftigt, war er entzückt, als er sah, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit seinem Kameraden zuwandte; erbenutzte daher die Zerstreuung, um unter die Menge zu schlüpfen und zu verschwinden, ohne auch nur den würdigen Priestern, die ihnbegleitet hatten, zu danken. Der Mensch ist offenbar ein sehr undankbares und selbstsüchtiges Geschöpf… Doch kleiden Sie sich an! Sie sehen, Herr von Morcerf geht Ihnen mit gutemBeispiel voran.
Albert zog mechanisch seine Taffethose über seine schwarzenBeinkleider und seine Lackstiefel.
Nun, Albert, fragte Franz, sind Sie wirklich im Zuge, Karnevalstollheiten zubegehen? Sprechen Sie offenherzig.
Nein, aber es ist mir lieb, daß ich eine solche Szene gesehen habe, und ichbegreife nun, was der Herr Graf sagte. Hat man sich einmal an ein solches Schauspiel gewöhnen können, so ist es das einzige, das noch Aufregung gewährt.
Abgesehen davon, daß man in diesem Augenblick allein Charakterstudien machen kann, sagte der Graf. Auf der ersten Stufe des Schafotts reißt der Tod die Larve ab, die man das ganze Leben hindurch getragen hat, und das wahre Gesicht erscheint. Man muß gestehen, Andreas war nicht schön anzuschauen… der häßliche Schuft!.. Kleiden wir uns an, meine Herren! Ich fühle dasBedürfnis, Pappenmasken zu sehen, um mich über die Fleischmasken zu trösten.
Franz schämte sich, demBeispiel derbeiden andern nicht zu folgen. Er legte daher ebenfalls sein Kostüm an und nahm seine Maske, die sicher nichtbleicher war als er. Als alle drei mit der Toilette fertig waren, gingen sie hinunter. Der Wagen wartete vor der Tür, voll von Confetti und Sträußen. Man schloß sich der Reihe an.
Es läßt sich kaum ein vollständigerer Gegensatz denken, als der, welcher sich jetzt vollzogen hatte. Statt der düsteren, schweigsamen Todesszenebot die Piazza del popolo den Anblick einer tollen, brausenden Orgie. Eine Menge von Masken drängte von allen Seiten hervor, strömte aus allen Türen, stieg von allen Fenstern herab; mit Pierrots, Harlekins, Dominos, Marquis, mit Trasteverinern, Grotesken, Kavalieren undBauernbeladen, quollen die Wagen aus allen Straßenecken hervor, und alles schrie, gestikulierte, schleuderte Eier voll Mehl, Confetti, Sträuße, griff mit Worten und Geschossen Freunde und Fremde, Bekannte und Unbekannte an, ohne daß jemand das Recht hatte, sich darüber zu ärgern, ohne daß auch nur einer etwas anderes tat, als lachen.
Franz und Albert waren wie Menschen, die man, um sie von einem heftigen Kummer zu zerstreuen, zu einer Orgie führt, und die, je mehr sie trinken und sichberauschen, fühlen, wie sich ein immer dichterer Schleier zwischen die Vergangenheit und die Gegenwart zieht. Sie sahen immer noch den Wiederschein dessen, was sie geschaut hatten. Aber allmählich erfaßte sie doch die allgemeine Trunkenheit; es kam ihnen vor, als sei ihre schwankende Vernunft imBegriff, sie zu verlassen, sie verspürten in sich dasBedürfnis, an diesem Geräusch, an dieserBewegung, an diesem Schwindel teilzunehmen. Eine Handvoll Confetti (etwa erbsengroße Wurfkügelchen aus Gips), die Morcerf von einembenachbarten Wagen zuflog, prickelte ihn am Halse und an allen Teilen seines Gesichts, die nicht durch die Maske geschützt waren, als hätte man ihm hundert Nadeln zugeworfen, und dies zog ihn vollends in den allgemeinen Kampf hinein, in denbereits alle Masken verwickelt waren. Er erhobsich nun auch in seinem Wagen, schöpfte mit vollen Händen aus den Taschen und schleuderte mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft und Geschicklichkeit seine Geschosse gegen seine Nachbarn. Von nun an nahm der Kampf ununterbrochen seinen Fortgang. Die Erinnerung an das, was sie eine halbe Stunde zuvor gesehen, verwischte sichbei Franz und Albert völlig, so viel Abwechslungbot ihnen dasbuntscheckige, bewegliche, tolle Schauspiel, das sie vor sich hatten. Auf den Grafen von Monte Christo dagegen schien nichts einenbesonderen Eindruck hervorbringen zu können.
Man denke sich die große, schöne Straße des Korso, von einem Ende zum andern mit Palästen von vierbis fünf Stockwerken eingefaßt, derenBalkone insgesamt mit Teppichen verziert, deren Fenster alle reich drapiert sind, auf diesenBalkonen und an diesen Fenstern dreimal hunderttausend Zuschauer, Römer, Italiener, Fremde aus allen Weltteilen; alles Vornehme vereinigt: Aristokraten der Geburt, des Geldes und des Genies; reizende Frauen, die, von diesem Schauspiel hingerissen, sich über dieBalkone herabneigen, aus den Fenstern sichbeugen und auf die vorüberfahrenden Wagen einen Hagel von Confetti regnen lassen, auf den man ihnen mit Sträußen erwidert, bis die Luft ganz voll ist von herabfliegenden Dragées (Zuckerwerk) und hinaufsteigendenBlumen. Dazu auf der Straße eine freudige, rastlose, tolle Menge in den phantastischen Trachten und Gestalten: wandernde Kohlköpfe, Büffelköpfe, auf menschlichen Leibernbrüllend, Hunde, die auf den Vorderbeinen zu gehen schienen; und mitten darunter eine Maske, die sich lüftet, oder irgend eine Astarte, die ein reizendes Gesicht zeigt, von dem man aber, wenn man ihm folgen will, durch Dämonen getrennt wird, wie man sie nur in seinen Träumen sieht; — man versuche, sich das alles vereinigt vorzustellen, und man hat einen schwachenBegriff von dem, was der Karneval in Rom ist.
Bei der zweiten Fahrt ließ der Graf den Wagen halten, bat die Freunde um Erlaubnis, sie verlassen zu dürfen, und stellte die Kalesche zu ihrer Verfügung. Manbefand sich vor dem Palaste Rospoli, und an dem mittleren Fenster, woran der weiße Damastvorhang mit einem roten Kreuz angebracht war, stand ein Domino, unter dem sich Franzens Einbildungskraft ohne Mühe die schöne Griechin des Teatro Argentina vorstellte.
Meine Herren, sagte der Graf, aus dem Wagen springend, sind Sie müde, Schauspieler zu sein, und wollen Sie wieder Zuschauer werden, so wissen Sie, daß Sie Platz an meinen Fenstern haben; inzwischen verfügen Sie über meinen Kutscher, meinen Wagen und meineBedienten.
Franz dankte dem Grafen für sein höfliches Anerbieten. Die Freunde fuhren davon, nutzten das lustige Karnevalsfest noch gehörig aus und amüsierten sichbis zum späten Abend, um wiederum das Theater zubesuchen.
Im Foyer trafen sie mit der Gräfin zusammen, die ihnen mit allen Zeichen der Ungeduld entgegenkam und Franz hastig fragte: Ich hörte, daß Siebereits heute mit ihm inBeziehung traten. Wie heißt er? Sprechen Sie, ich muß näheres über ihn erfahren.
Lächelnd verbeugte sich Franz und erwiderte der schönen Frau: Allerdings habe ich schon seit heute morgenbei einem vorzüglichen Frühstück dieBekanntschaft des Grafen von Monte Christo gemacht.
Was für ein Name ist dies? Ich kenne das Geschlecht nicht.
Es ist der Name einer Insel, die er gekauft hat.
Und er ist Graf?
Toskanischer Graf.
So werden wir ihn dulden wie die andern, sagte die Gräfin, die einer der ältesten Familien aus Venetien angehörte. Und was für ein Mann ist er im übrigen? wandte sich die Gräfin an den Vicomte von Morcerf.
Oh, uns gefällt er ausgezeichnet, antwortete Albert; ein zehnjähriger Freund hätte nicht mehr für uns getan, als er, und dies mit einer Anmut, einer Zartheit, einer Höflichkeit, worin sich der wahre Weltmann offenbart.
Gehen Sie, versetzte die Gräfin lachend. Sie werden sehen, mein Vampir ist nichts als ein plötzlich reichgewordener Emporkömmling, der für seine Millionen Verzeihung sucht. Und sie haben Sie auch gesehen?
Welche sie? fragte Franz lächelnd.
Die schöne Griechin von gestern.
Nein. Wir hörten, wie ich glaube, den Ton ihrer Zither, doch siebliebvöllig unsichtbar.
Das heißt, wenn Sie unsichtbar sagen, mein lieber Franz, unterbrach Albert, so geschieht dies nur, um den Geheimnisvollen zu spielen. Für wen halten Sie denblauen Domino, der an dem mittleren Fenster mit dem weißen Damastvorhang im Palaste Rospoli stand? — Der Graf hatte also drei Fenster im Palaste Rospoli? Dieser Mensch muß ein wahrer Nabobsein. Wissen Sie, daß drei solche Fenster für acht Karnevalstage 2–3000 römische Taler kosten? Ah, Teufel! — Bezieht er diese Einkünfte von seiner Insel? — Seine Insel trägt ihm keinen Heller ein. — Warum hat er sie dann gekauft? — Aus Phantasie. — Er ist also ein Original? — Ich kann es nicht leugnen, er kam mir sehr exzentrisch vor, sagte Albert.
Es war Zeit geworden, sich zu verabschieden, und diebeiden Freunde verließen die Gräfin. Die nächsten Tage vergingen im Taumel der Vergnügungen, und endlich kam der Dienstag, der letzte und lärmendste von den Karnevalstagen. Am Dienstag öffneten sich die Theater um zehn Uhr morgens, denn sobald acht Uhr abends vorüber ist, beginnt die Fastenzeit. Am Dienstag mischt sich alles, was aus Mangel an Zeit, Geld oderBegeisterung an den vorhergehenden Festen nicht teilgenommen hat, in dasBacchanal, läßt sich von der Orgie fortreißen undbringt seinen Tribut an Leben und Lärm zu der allgemeinen Tollheit. Von zwei Uhrbis fünf Uhr folgten Franz und Albert der Reihe, tauschten Hände voll Confetti mit den Wagen der entgegengesetzten Reihe und den Fußgängern aus, die zwischen den Füßen der Pferde, zwischen den Rädern der Karrossen umherschwärmten, ohne daß mitten unter diesem furchtbaren Gedränge ein Unfall geschah oder irgend ein Streit entstand. Die Italienerbilden in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Die Feste sind für sie wahre Feste.
Albert triumphierte in seinerBajazzotracht. Er trug auf der Schulter einen Knoten von rosaBändern, deren Enden ihmbis zu den Knien herabfielen, um keine Verwechslung zwischen ihm und Franz herbeizuführen, der seinerseits in der Tracht eines römischenBauern steckte.
Je mehr der Tag vorrückte, desto größer wurden Lärm und Gedränge; es war in der Tat ein menschliches Ungewitter, das sich aus einem Donner schreiender Stimmen und einem Hagel von Dragées, Sträußen, Eiern, Orangen undBlumen zusammensetzte. Um drei Uhr verkündigtenBöllerschüsse, die zu gleicher Zeit auf der Piazza del popolo und im venetianischen Palaste gelöst wurden, daß das Wettrennenbeginne.
Das Wettrennen ist, wie die Moccoli, einebesondere Eigenheit der letzten Tage des Karnevals. Bei dem Krachen derBöllerbrachen die Wagen sofort aus ihren Reihen und flüchteten sich in die nächste Querstraße. Alle diese Szenenwechsel vollziehen sich übrigens mit unbegreiflicher Geschicklichkeit und wunderbarer Geschwindigkeit, und zwar ohne daß die Polizei nur im geringsten nötig gehabt hätte, jedem seinen Posten anzuweisen oder seinen Weg vorzuschreiben. Die Fußgänger drückten sich an die Paläste, dann hörte man ein gewaltiges Geräusch von Pferden und Säbelrasseln.
Eine fünfzehn Mann starke Abteilung von Carabinieri sprengte im Galopp durch die Straße des Korso, um den Wettrennern Platz zu machen. Als diese Abteilung zum venetianischen Palaste gelangte, verkündigte eine zweiteBatterie vonBöllern, daß die Straße frei sei.
Beinahe im selben Augenblick sah man unter allgemeinem, unerhörtem Geschrei siebenbis acht Reiter, vom Zuruf von dreimal hunderttausend Personen angestachelt, vorüberjagen; dann verkündigten drei Kanonenschüsse vom Kastell St. Angelo, daß Nummer 3 gewonnen habe.
Sogleich setzten sich die Wagen wieder inBewegung, strömten gegen den Korso zurück und mündeten aus allen Straßen aus. Nun hatte sich ein neues Element des Lärmens und derBewegung in die Menge gemischt: die Moccolihändler traten in Szene.
Die Moccoli oder Moccoletti sind Kerzen von verschiedener Dicke, diebei den Schauspielern dieser Schlußszene des römischen Karnevals zweierlei Tätigkeiten auslösen: erstens, das eigene Moccolettobrennend zu erhalten, zweitens, das anderer auszulöschen.
Das Moccoletto wird an irgend einem Lichte angezündet. Wer aber vermöchte die tausend Mittel zubeschreiben, die erfunden worden sind, um das Moccoletto auszulöschen… die Riesenohrfeigen, die ungeheuren Löschhörner, die übermenschlichen Windfächer? Allebeeilten sich, Moccoletti zu kaufen, Franz und Albert so gut wie die andern.
Die Nacht rückte rasch heran, undbereitsbegannenbei dem tausendfachen schrillen Rufe der Händlern» Moccoli!«einige Sterne über der Menge zu glänzen. Es war dies wie ein Signal. Nach Verlauf von zehn Minuten funkelten fünfzigtausend Lichter von dem venetianischen Palaste nach der Piazza del popolo herab, und von der Piazza del popolo nach dem venetianischen Palaste hinauf. Man hätte glauben sollen, es sei das Fest der Irrlichter; denn man kann sich in der Tat von diesem Anblick, wenn man nicht einmal Augenzeuge davon gewesen ist, keinenBegriff machen.
In diesem Augenblickbesonders gibt es keinen gesellschaftlichen Unterschied mehr. Der Facchino hängt sich an den Prinzen, der Prinz an den Trasteveriner, der Trasteveriner an denBürger… Jederbläst, löscht aus, zündet wieder an. Das tolle Lichterspiel dauerte ungefähr zwei Stunden; der Korso war erleuchtet wie am hellen Tage, man konnte die Züge der Zuschauer im dritten und vierten Stocke unterscheiden.
Plötzlich erscholl die Glocke, die das Signal zum Schlusse des Karnevals gibt, und in einer Sekunde erloschen wie durch einen Zauber alle Moccoli. Es war, als obein einziger, ungeheurer Windstoß alles vernichtet hätte. Franz, den Albert mit derBemerkung, er gehe zu einem Stelldichein, verlassen hatte, befand sich in der tiefsten Finsternis. Man hörte jetzt nur noch das Rollen der Wagen, die die Masken nach Hause führten, und sah nur spärliche Lichter hinter den Fenstern glänzen.
Der Karneval war zu Ende.
Die Katakomben von San Sebastiano
Franz hatte vielleicht in seinem Leben keinen so scharfen, schneidenden Eindruck, keinen so raschen Übergang von der Heiterkeit zur Traurigkeit erfahren, als in diesem Augenblick; es war, als hätte sich Rom unter dem magischen Hauche eines Dämons der Nacht in ein Grabverwandelt. Da der abnehmende Mond erst um elf Uhr abends aufging, so waren die Straßen, durch die der junge Mann fuhr, noch in die tiefste Finsternis versenkt. Nach Verlauf von zehn Minuten hielt sein Wagen oder vielmehr der des Grafen vor dem Gasthofe zur Stadt London.
Das Diner harrte der Freunde; da jedoch Albert erwähnt hatte, er gedenke nicht sobald zurückzukehren, so setzte sich Franz ohne ihn zu Tische. Gewohnt, sie miteinander speisen zu sehen, erkundigte sich Herr Pastrini nach der Ursache seiner Abwesenheit, aber Franzbegnügte sich, ihm zu erwidern, Albert habe am Tage zuvor eine Einladung erhalten, der er Folge leiste. Das plötzliche Auslöschen der Moccoletti, die Dunkelheit, die auf den maßlosen Lärm folgende Stille hatten Franz in eine traurige Stimmung versetzt, die nicht ganz frei von Unruhe war. Er speiste also sehr schweigsam, trotz der Dienstfertigkeit seines Wirtes, der wiederholt erschien, um zu fragen, ober nichtsbedürfe.
Franz war entschlossen, solange als möglich auf Albert zu warten. Erbestellte daher den Wagen erst auf elf Uhr undbeauftragte Pastrini, ihn sogleichbenachrichtigen zu lassen, wenn Albert zurückkehrte. Um elf Uhr war dies noch nicht geschehen. Franz kleidete sich an und entfernte sich mit derBemerkung, er würde die ganze Nachtbei dem Herzog vonBracciano, bei dem die Freunde zu einemBalle geladen waren, zubringen.
Das Haus des Herzogs vonBracciano gehörte zu den gesuchtesten Häusern Roms; die Herzogin, eine der letzten Erbinnen der Colonna, war eine der gefeiertsten Damen der ewigen Stadt, und die Feste, die der Herzog gab, hatten europäischen Ruf. Franz und Albert waren mit Empfehlungsbriefen an ihn nach Rom gekommen, er fragte deshalbFranz auch sogleich, wo sein Reisegefährte geblieben sei. Franz erwiderte dem Herzog, er habe ihn in dem Augenblick, wo man die Moccoletti ausgelöscht, verlassen und sei ihmbei der Via Macello aus dem Gesichte gekommen.
Er ist also nicht nach Hause zurückgekehrt? fragte der Herzog.
Ich erwartete ihnbis zu dieser Stunde.
Wissen Sie, wohin er gegangen ist?
Nicht genau; ich glaube jedoch, es handelt sich um ein Stelldichein.
Teufel! rief der Herzog; das ist ein übler Tag, oder vielmehr eine üble Nacht, um noch spät außen zubleiben, nicht wahr, Frau Gräfin?
Diese Worte waren an die Gräfin G*** gerichtet, die soeben erschien und am Arme des Herrn Torlonia, desBruders des Herzogs, auf und abging.
Mir scheint im Gegenteil, daß es einebezaubernde Nacht ist, entgegnete die Gräfin, und die, welche sich hierbefinden, werden nur klagen, daß sie so schnell vorübergeht.
Ich spreche auch nicht von den Personen, die hier sind, versetzte der Herzog lächelnd; die Männer laufen keine andere Gefahr, als die, in Sie verliebt zu werden, die Frauen keine andere, als vor Eifersucht zu sterben, wenn sie Ihre Schönheit erschauen; ich spreche von denen, die in den Straßen der Stadt umherlaufen.
Ei! guter Gott, fragte die Gräfin, wer läuft zu dieser Stunde aus den Straßen umher, wenn nicht, um auf denBall zu gehen?
Unser Freund Albert von Morcerf, Frau Gräfin, den ich heute abend um sieben Uhr, als er einer Unbekannten folgte, verlassen und seitdem nicht wieder gesehen habe, sagte Franz. Hat er Waffenbei sich?
Er geht in der Tracht einesBajazzo.
Sie hätten ihn nicht sollen gehen lassen, sagte der Herzog zu Franz, Sie, der Sie Rombesser kennen, als er.
Oh! es wäre ebenso leicht gewesen, Nummer 3 der Wettrenner, die heute den Preis gewonnen hat, aufzuhalten als ihn zu hindern; und dann, was soll ihm geschehen?
Wer weiß? Die Nacht ist sehr finster, und der Tiber ganz nahebei der Ria Macello.
Franz fühlte, wie ihm ein Schauer durch die Adern lief, als er fand, daß die Gedanken des Herzogs und der Gräfin so sehr mit seiner persönlichen Unruhe im Einklang standen.
Ich habe auch im Gasthofebemerkt, ich würde die Nacht hier zubringen, und manbenachrichtigt mich, sobald er zurückkommt, versetzte Franz.
Halt, sprach der Herzog, ich glaube, es kommt hier gerade einer von meinen Dienern, der Sie sucht.
Der Herzog täuschte sich nicht, der Diener näherte sich Franz und sagte: Exzellenz, der Gastwirt von der Stadt London läßt Ihnen melden, daß Sie ein Mann mit einemBriefe des Vicomte von Morcerfbei ihm erwarte.
Warumbrachte er denBrief nicht hierher?
DerBote hat mir keine Erklärung gegeben.
Und wo ist der Bote?
Er ging sogleich wieder weg, als er mich in denBallsaal eintreten sah, um Sie zubenachrichtigen.
Oh! mein Gott! sagte die Gräfin zu Franz, gehen Sie schnell; es ist ihm vielleicht ein Unglück widerfahren, und kommen Siebald zurück, uns Kunde zu geben.
Franz nahm seinen Hut und entfernte sich in größter Eile. Er hatte seinen Wagen weggeschickt und erst auf zwei Uhr wiederbestellt, aber zum Glück ist der PalastBracciano kaum zehn Minuten von der Stadt London entfernt. Als sich Franz dem Gasthofe näherte, sah er einen Menschen mitten auf der Straße stehen, von dem er keinen Augenblick zweifelte, daß er der von Albert abgeschickteBote sei. Er ging auf den Menschen, der in einen langen Mantel gehüllt war, zu; doch zu seinem großen Erstaunen richtete der Unbekannte zuerst das Wort an ihn.
Was wollen Sie von mir, Exzellenz? sagte er, einen Schritt zurückweichend, wie ein Mensch, der auf seiner Hut ist. Seid Ihr es nicht, der mir einenBrief vom Vicomte von Morcerfbringt? entgegnete Franz.
Wie heißt Eure Exzellenz?
Baron Franz d'Epinay.
Dann ist dieserBrief wohl an Eure Exzellenz gerichtet.
Bedarf er einer Antwort? fragte Franz, denBrief aus den Händen des Unbekannten nehmend.
Ja, wenigstens hofft Ihr Freund auf eine Antwort.
So kommt mit mir herauf, und ich werde sie Euch geben.
Ich will lieber hier warten, sagte derBote lachend.
Warum?
Eure Exzellenz wird die Sachebegreifen, wenn sie denBrief gelesen hat.
Franz ging in den Gasthof; auf der Treppebegegnete er Pastrini, der ihn mit verstörter Miene erwartet hatte. Franz entfaltete rasch das Papier. DerBrief war von Alberts Hand geschrieben und von ihm unterzeichnet. Franz las ihn zweimal, so überrascht war er von seinem Inhalt. Er lautete:
«Lieber Freund!
Sobald Sie Gegenwärtiges empfangen, haben Sie die Gefälligkeit, aus meinem Portefeuille, das Sie in der viereckigen Schublade des Sekretärs finden werden, den Kreditbrief zu nehmen; nehmen Sie den Ihrigen dazu, wenn meiner nicht reicht. Laufen Sie zu Torlonia, lassen Sie sich auf der Stelle viertausend Piaster geben, und händigen Sie dieselben dem Überbringer ein. Es ist dringend, daß mir diese Summe ohne Verzug zukommt. Ich sage nicht mehr, da ich auf Sie zähle, wie Sie auf mich zählen können. N. S. Ibelieve now in Italianbandits.
Ihr Freund Albert von Morcerf.«
Unter diese Zeilen waren von fremder Hand folgende italienische Worte geschrieben:
Se alle sei della mattina le quattro mille piastre non sono nelle miei mani, alle sette il conte Alberto avrà cessto di vivere.
Luigi Vampa
Die zweite Unterschrift erklärte Franz alles, und erbegriff das Widerstreben desBoten, zu ihm heraufzukommen; die Straße schien ihm sicherer als Franzens Zimmer. Albert war in die Hände desberüchtigtenBanditenführers gefallen, an dessen Existenz er so lange nicht hatte glauben wollen.
Es war keine Zeit zu verlieren. Er lief an den Sekretär, öffnete ihn, fand in derbezeichneten Schublade das Portefeuille, und in dem Portefeuille den Kreditbrief; er war im ganzen auf 6000 Piaster ausgestellt; aber von diesen 6000 Piastern hatte Albertbereits 3000 verbraucht. Franzbesaß keinen Kreditbrief; da er in Florenz wohnte und nur nach Rom gekommen war, um hier siebenbis acht Tage zubleiben, so hatte er etwa 100 Louisd'or mitgenommen, und davonblieben ihm höchstens noch 50. Es waren also noch 7bis 800 Piaster erforderlich, wenn Franz und Albert die verlangte Summe zusammenbringen sollten. Allerdings konnte Franz auf die Gefälligkeit des Herrn Torlonia rechnen, und er war daher auch schon imBegriff, in den PalastBracciano zurückzukehren, als ein leuchtender Gedanke seinen Geist durchblitzte.
Der Graf von Monte Christo fiel ihm ein. Franz wollte eben den Wirt rufen lassen, als dieser auf der Türschwelle erschien.
Mein lieber Herr Pastrini, sagte er, glauben Sie, daß der Graf zu Hause ist?
Ja, Exzellenz, er ist soeben zurückgekommen.
Ichbitte Sie, fragen Sie ihn für mich um Erlaubnis, ihn einen Augenblick sprechen zu dürfen.
Der Wirtbeeilte sich, diesen Auftrag zu vollziehen; fünf Minuten nachher meldete er Franz, der Graf erwarte ihn. Franz durchschritt rasch den Gang, ein Diener führte ihnbei dem Grafen ein. Erbefand sich in einem kleinen, ganz von Diwans umgebenen Kabinett, das Franz noch nicht gesehen hatte. Der Graf kam ihm entgegen.
Ei! welcher gute Wind führt Sie zu dieser Stunde hierher? sagte er. Sollten Sie das Abendessen mit mir nehmen wollen? Das wäre sehr liebenswürdig.
Nein, ich komme wegen einer sehr ernsten Angelegenheit.
Wegen einer ernsten Angelegenheit! sagte der Graf, Franz mit dem ihm eigentümlichen tiefenBlicke anschauend; worum handelt es sich?
Franz übergabihm AlbertsBrief und sagte: Lesen Sie.
Ah! ah! rief der Graf.
Was sagen Sie dazu? fragte Franz.
Haben Sie die verlangte Summe? Es fehlen mir achthundert Taler.
Der Graf ging an einen Sekretär, öffnete ihn, zog eine Schublade voll Gold heraus und sagte zu Franz: Ich hoffe, daß Sie mir nicht dieBeleidigung antun werden, sich an einen andern, als mich zu wenden?
Sie sehen im Gegenteil, daß ich gerade zu Ihnen gekommenbin.
Dafür danke ich; nehmen Sie. Und er ersuchte Franz, das Gold zu nehmen.
Ist es denn durchaus notwendig, diese Summe Luigi Vampa zu schicken? fragte der junge Mann, den Grafen ebenfalls fest anschauend.
Bei Gott! rief dieser, urteilen Sie selbst, die Nachschrift klingt sehrbestimmt.
Es scheint mir, wenn Sie ein wenig nachdenken wollten, würden Sie ein Mittel finden, das die Unterhandlung sehr vereinfachen müßte? entgegnete Franz.
Welches? fragte der Graf erstaunt.
Wenn wir zumBeispiel Luigi Vampa miteinander aufsuchten… ichbin überzeugt, er schlüge es Ihnen nicht ab, Albert freizugeben.
Mir? Welchen Einfluß soll ich auf denBanditen ausüben?
Haben Sie ihm nicht einen von den Diensten geleistet, die man nie vergißt? — Einen Dienst?
Haben Sie nicht vor wenigen Tagen Peppino gerettet?
Ah! ah! rief der Graf, wer hat Ihnen das gesagt?
Was liegt daran? Ich weiß es.
Der Grafbliebeinen Augenblick stumm.
Und wenn ich Vampa aufsuchte, würden Sie michbegleiten?
Falls Ihnen meine Gesellschaft nicht zu unangenehm wäre.
Gut! Es sei; das Wetter ist schön, ein Spaziergang nach der Campagna kann uns nur wohltun. Wo ist der Mensch, der diesenBrief gebracht hat? Auf der Straße.
Er muß hören, wohin wir gehen; ich werde ihn rufen.
Der Graf trat an das Fenster des Kabinetts, das nach der Straße ging, und pfiff auf einebesondere Weise. Der Mann mit dem Mantel entfernte sich von der Mauer und schrittbis in die Mitte der Straße vor.
Salite! sprach der Graf mit einem Tone, als gäbe er seinemBedienten einenBefehl. DerBote gehorchte, ohne zu zögern, ja sogar mit einem gewissen Eifer, sprang die vier Stufen der Freitreppe hinauf und trat in den Gasthof. Fünf Sekunden nachher war er an der Tür des Kabinetts.
Ah! Dubist es, Peppino, rief der Graf.
Doch statt zu antworten, warf sich Peppino auf die Knie, ergriff die Hand des Grafen und drückte seine Lippen wiederholt darauf.
Oh! sagte der Graf, du hast noch nicht vergessen, daß ich dir das Leben rettete! Das ist seltsam, es sind doch heute schon acht Tage vorüber.
Nein, Exzellenz, ich werde es nie vergessen, antwortete Peppino mit dem Tone der tiefsten Dankbarkeit.
Nie? Das ist sehr lange; doch schon genug, wenn du es nur glaubst. Steh auf und antworte.
Peppino warf einen unruhigenBlick auf Franz.
Oh! du kannst vor dem Herrn sprechen, versetzte der Graf, es ist einer meiner Freunde. Wie ist der Graf Albert in Luigis Hände gefallen?
Exzellenz, die Kalesche des Franzosen hat wiederholt den Wagen gekreuzt, worin Teresa saß.
Des Hauptmanns Geliebte?
Ja. Der Franzose liebäugelte mit ihr, Teresa machte sich den Spaß es zu erwidern: der Franzose warf ihr Sträuße zu und sie ihm, alles, wohlverstanden, mit Einwilligung des Hauptmanns, der sie, als Kutscher verkleidet, führte.
Und dann? fragte der Graf.
Nun, dann nahm der Franzose die Maske ab; Teresa tat dasselbe; der Franzose verlangte eine Zusammenkunft, Teresa sagte sie ihm zu; nur fand sich, statt Teresa, Beppo — verkleidet alsBäuerin — auf den Stufen der Kirche von San Giacomo ein; ein Wagen wartete am Ende der Via Macello, Beppo forderte den Franzosen auf, ihm zu folgen; er ließ sich dies nicht zweimal sagen und setzte sich neben ihn. Dieser sagte ihm nun, er führe ihn nach einer Villa, die eine Meile von der Stadt liege. Der Franzose versicherteBeppo, er seibereit, ihmbis ans Ende der Welt zu folgen. Sogleich fuhr der Kutscher die Strada di Ripetta hinauf, erreichte die Porta di San Paolo, und als der Franzose, zweihundert Schritte in der Campagna, zu unternehmend wurde, setzte ihmBeppo ein paar Pistolen vor dieBrust; rasch hielt der Kutscher seine Pferde an, wandte sich auf seinem Sitze um und tat dasselbe. Zu gleicher Zeit stürzten vier von den Unseren, die am Ufer des Almo verborgen waren, an den Kutschenschlag. Der Franzose hatte große Lust, sich zu verteidigen, würgteBeppo auch ein wenig, wie ich hörte; aber er konnte gegen fünfbewaffnete Männer nichts machen, er mußte sich ergeben. Man ließ ihn aussteigen, folgte dem Ufer des Flüßchens und führte ihn zu Teresa und Luigi, die ihn in den Katakomben von San Sebastiano erwarteten.
Ei, das ist eine romantische Geschichte, bemerkte der Graf. Was sagen Sie dazu, Sie, der Sie Kenner sind?
Ich würde sie sehr lustig finden, wäre sie einem anderen, als dem armen Albertbegegnet.
Wenn Sie mich nicht gefunden hätten, erwiderte der Graf, so würde dieses Liebesabenteuer Ihrem Freunde ziemlich teuer zu stehen gekommen sein; dochberuhigen Sie sich, er wird mit der Angst davon kommen.
Und wir suchen ihn auf? fragte Franz.
Bei Gott! Um so mehr, als er sich an einem sehr malerischen Ortebefindet. Kennen Sie die Katakomben von San Sebastiano?
Nein, doch ich dachte, sie einmal zubesuchen. Wohl, die Gelegenheit ist da, und es wäre schwer, einebessere zu finden. Haben Sie Ihren Wagen?
Nein.
Gleichviel; es istbei mir Gewohnheit, Tag und Nacht einen Wagen angespannt halten zu lassen.
Tag und Nacht angespannt?
Ja, ichbin ein sehr launenhafter Mensch und muß Ihnen sagen, daß mir zuweilen, wenn ich aufstehe, nach der Mahlzeit oder auch mitten in der Nacht, die Lust ankommt, nach irgend einem Punkte der Welt zu reisen, und dann reise ich auch.
Der Graf läutete, sein Kammerdiener erschien.
Lassen Sie den Wagen vorfahren, sagte der Graf zu ihm, nehmen Sie die Pistolen heraus, die in den Taschen sind! es ist nicht nötig, den Kutscher zu wecken, Ali fährt.
Nach einem Augenblick hörte man den Wagen.
Halbein Uhr, sagte der Graf, auf seine Uhrblickend, wir hätten erst um fünf Uhr fahren können und wären noch zu rechter Zeit gekommen; doch dann würde Ihr Gefährte vielleicht eine schlimme Stunde durchgemacht haben, und es ist daherbesser, ihn auf der Stelle den Händen der Ungläubigen zu entziehen. Sind Sie immer noch entschlossen, mich zubegleiten?
Mehr als je.
Franz und der Graf verließen das Zimmer, gefolgt von Peppino. Vor der Tür fanden sie den Wagen, Ali saß auf demBocke; Franz erkannte den stummen Sklaven der Grotte von Monte Christo. Franz und der Graf stiegen in den Wagen; Peppino setzte sich neben Ali, und man fuhr im Galopp fort. Ali hatte vorherBefehle erhalten, denn er fuhr über den Korso und erreichte die Porta di San Sebastiano; hier wollte der Torwart einige Schwierigkeiten machen, aber der Graf von Monte Christo zeigte ihm einen Erlaubnisschein vom Gouverneur der Stadt, der ihm zu jeder Stunde des Tages und der Nacht ungehinderten Aus- und Einlaß zusicherte; das Fallgatter wurde also aufgehoben, der Torwart erhielt einen Louisd'or für seine Mühe, und man fuhr hinaus.
Die Straße war die alte, beiderseits von Gräbernbegrenzte Via Appia. Von Zeit zu Zeit kam es Franzbeim Lichte des aufgehenden Mondes vor, als obeine Schildwache hinter einer Ruine hervorträte; doch auf ein zwischen Peppino und dieser Schildwache ausgetauschtes Zeichen kehrte sie in den Schatten zurück und verschwand. Wenige Schritte vor dem Zirkus des Caracalla hielt der Wagen an, Peppino öffnete den Schlag, und Franz und der Graf stiegen aus.
In zehn Minuten sind wir an Ort und Stelle, sagte der Graf zu seinemBegleiter. Dann nahm er Peppinobeiseite, gabihm leise einenBefehl, und derBandit entfernte sich, nachdem er sich mit einer Fackel versehen hatte, die er aus einem Kistchen hervorzog. Es vergingen fünf Minuten, während Franz Peppino auf einem schmalen Fußpfade fortschreiten und dann in hohem rötlichem Grase verschwinden sah. Franz und der Graf schlugen denselben Fußpfad ein, der sie nach hundert Schritten auf einen sich in ein Tälchen senkenden Abhang führte.
Exzellenz, sagte Peppino, der stehen geblieben war, folgen Sie mir, bitte, die Öffnung der Katakomben ist nur zwei Schritte von hier.
Gut, sagte der Graf, geh voraus!
Esbot sich in der Tat hinter einem Gebüsch und mitten unter einigen Felsen eine Öffnung, durch die kaum ein Mann dringen konnte. Peppino schlüpfte zuerst hinein; aber kaum hatte er einige Schritte getan, als der unterirdische Gang sich erweiterte. Erbliebnun stehen und zündete seine Fackel an. Der Graf war zuerst in eine Art von Luftloch gedrungen, und Franz folgte ihm. Das Terrain vertiefte sich allmählich und wurde immer weiter, je mehr man vorrückte. Franz und der Graf waren jedoch genötigt, gebückt zu marschieren, und konnten nur mit Mühe nebeneinander gehen. Sie machten auf diese Weise noch ungefähr fünfzig Schritte, dann wurden sie durch den Ruf: Wer da? angehalten. Zu gleicher Zeit sahen sie inmitten der Finsternis den Lauf eines Karabiners im Schimmer ihrer eigenen Fackel aufblitzen.
Gut Freund! antwortete Peppino, und sagte einige Worte mit leiser Stimme zu der Schildwache, die, wie die erste, grüßte und dann den nächtlichen Gästen durch ein Zeichenbedeutete, sie könnten weitergehen. Hinter der Wache war eine Treppe von ungefähr zwanzig Stufen. Franz und der Graf stiegen die zwanzig Stufen hinabundbefanden sich an einem Kreuzweg. Fünf Wege liefen wie Strahlen von dieser Stelle aus, und an den Wänden, in denen sargartige Nischen ausgegraben waren, erkannte man, daß man in den Katakomben angelangt war. In einer von diesen Höhlen, deren Ausdehnung sich nicht erkennen ließ, gewahrte man einige Lichtstrahlen. Der Graf legte die Hand auf Franzens Schulter und sagte: Wollen Sie ein Lager ruhenderBanditen sehen, so folgen Sie mir! Peppino, lösche deine Fackel aus!
Peppino gehorchte, und Franz und der Grafbefanden sich in der tiefsten Finsternis; nur tanzte fortwährend etwa fünfzig Schritte vor ihnen längs den Wänden ein rötlicher Schein nach dem andern hin. Sie rückten langsam vor, wobei der Graf Franz leitete, alsbesäße er die seltene Fähigkeit, in der Finsternis zu sehen. Drei Arkaden, von denen die mittlere als Tür zubetrachten war, gewährten ihnen Durchlaß. Diese Arkaden öffneten sich einerseits nach dem Gange, wo Franz und der Graf sichbefanden, andererseits nach einem großen viereckigen Gemache, das ganz von Nischen, den vorhergehenden ähnlich, umgeben war. Mitten in diesem Gemach erhoben sich vier Steine, die einst als Altar gedient hatten, wie das überragende Kreuz andeutete. Eine einzige auf einem Säulenschafte stehende Lampebeleuchtete mitbleichem, flackerndem Lichte die seltsame Szene, die sich den Augen der im Schatten verborgenen Gefährtenbot. Den Ellenbogen auf diese Säule gestützt, saß ein Mann und las, den Rücken den Arkaden zuwendend, durch deren Öffnung die Ankömmlinge ihnbetrachteten. Es war der Anführer derBande, Luigi Vampa. Ringsumher sah man in ihren Mänteln liegend oder an eine Steinbank gelehnt etwa zwanzig Räuber; jeder hatte seinen Karabiner imBereiche der Hand. Im Hintergrunde ging schweigsam, kaum sichtbar und einem Schatten ähnlich, eine Schildwache vor einer Öffnung auf und ab, die man kaum zu unterscheiden vermochte.
Als der Graf glaubte, Franz hätte seineBlicke hinreichend an diesem malerischenBilde geweidet, legte er den Finger an seine Lippen, um ihm Stillschweigen zu empfehlen, trat, die drei Stufen hinabsteigend, die von dem Gange ins Lager führten, durch die mittlere Arkade in das Gemach und ging auf Vampa zu, der so tief in das Lesen versunken war, daß er das Geräusch seiner Tritte nicht hörte.
Wer da? rief die Schildwache, diebei dem Schimmer der Lampe etwas wie einen Schatten sah, der hinter ihrem Hauptmann immer größer wurde. Bei diesem Ruf erhobsich Vampa rasch und zog gleichzeitig eine Pistole aus seinem Gürtel. In einem Augenblick waren alleBanditen auf denBeinen, und zwanzig Karabinerläufe richteten sich auf den Grafen.
Nun! sagte dieser mit vollkommen ruhiger Stimme und ohne daß eine Muskel seines Gesichtes sich rührte; nun, mein lieber Vampa, es scheint, Ihr macht Euch große Unkosten, um einen Freund zu empfangen.
'runter die Gewehre! rief der Anführer mit einem gebieterischen Zeichen einer Hand, während er mit der andern ehrfurchtsvoll seinen Hut abnahm. Dann, sich gegen den hinwendend, der diese ganze Szenebeherrschte, sagte er: Verzeihen Sie, Herr Graf, aber ich war so weit entfernt, die Ehre IhresBesuches zu erwarten, daß ich Sie nicht erkannte.
Es scheint, Ihr habt in allen Dingen ein kurzes Gedächtnis, Vampa, entgegnete der Graf, und Ihr vergeßt nicht nur das Gesicht der Menschen, sondern auch dieBedingungen, die Ihr mit ihnen eingegangen seid.
WelcheBedingungen habe ich vergessen, Herr Graf? fragte derBandit, wie ein Mensch, dem alles daran liegt, einen etwa gemachten Fehler wieder gutzumachen.
Sind wir nicht miteinander übereingekommen, daß Euch nicht nur meine Person, sondern auch die meiner Freunde heilig sein soll?
In welcherBeziehung habe ich mich gegen diesen Vertrag verfehlt, Exzellenz?
Ihr habt den Vicomte Albert von Morcerf entführt und hierher gebracht; nun, so wißt, fuhr der Graf mit einem Tone fort, der Franz erbeben ließ, dieser junge Mann gehört zu meinen Freunden, er wohnt in demselben Gasthofe wie ich, er hat acht Tage lang in meinem Wagen den Korso mitgemacht, und dessenungeachtet, ich wiederhole es, habt Ihr ihn entführt, hierher geschleppt und — der Graf zog denBrief aus der Tasche — ein Lösegeld wie für den nächstenbesten festgesetzt.
Warum habt ihr mich nicht davon in Kenntnis gesetzt? sagte der Anführer, sich gegen seine Leute wendend, die sämtlich vor seinemBlicke zurückwichen; warum habt ihr mich dem ausgesetzt, daß ich mein Wortbreche gegen einen Mann, der unser aller Leben in seinen Händen hat? Bei demBlute Christi! Wenn ich dächte, einer von euch hätte gewußt, der junge Mann sei der Freund Seiner Exzellenz, ich würde ihm die Hirnschale zerschmettern.
Nun! sprach der Graf, sich an Franz wendend, ich sagte Ihnen, es walte irgend ein Irrtum ob.
Sind Sie nicht allein? fragte Vampa unruhig.
Die Person istbei mir, an die derBrief gerichtet war; ich wollte ihrbeweisen, daß Luigi Vampa ein Mann von Wort ist. Kommen Sie, Exzellenz, sagte er zu Franz, hier ist Luigi Vampa, der Ihnen selbst zu sagen wünscht, er sei in Verzweiflung über den Irrtum, den erbegangen hat.
Franz näherte sich; derBanditenführer trat ihm entgegen und sagte: Seien Sie uns willkommen, Exzellenz; Sie haben gehört, was der Herr Graf sagte, und was ich antwortete; ich füge hinzu, gern gäbe ich viertausend Piaster her, könnte ich das Geschehene ungeschehen machen. Doch wo ist der Gefangene? versetzte Franz, unruhig umherschauend, ich sehe ihn nicht.
Es ist ihm hoffentlich nichts widerfahren, fragte der Graf, die Stirn faltend.
Der Gefangene ist dort antwortete Vampa, auf die Vertiefung deutend, vor welcher derBandit als Schildwache auf und abging; ich werde ihm selbst ankündigen, daß er frei ist.
Der Anführer schritt dem von ihmbezeichneten Orte und zu, und Franz folgte ihm mit dem Grafen.
Der Graf und Franz stiegen, dem Hauptmann folgend, siebenbis acht Stufen hinauf; sobald Vampa einen Riegel gezogen und eine Tür aufgestoßen hatte, konnte manbeim Schimmer einer Lampe Albert sehen, der, in einen Mantel gehüllt, in einem Winkel im tiefsten Schlafe lag. Sieh da, sagte der Graf mit eigentümlichem Lächeln, nicht übel für einen Menschen, der um sieben Uhr erschossen werden sollte.
Bampa schaute den schlafenden Albert mit einer gewissenBewunderung an; man sah, daß er für einen solchenBeweis von Mut nicht unempfindlich war.
Sie haben recht, Herr Graf, sagte er, dieser Mann muß zu Ihren Freunden gehören. Dann, sich Albert nähernd und ihn an der Schulterberührend, fügte er hinzu: Exzellenz, ist's gefällig, aufzuwachen?
Ah! ah! sagte Albert, Ihr seid es, Hauptmann? Ihr hättet mich, bei Gott! sollen schlafen lassen; ich hatte einen entzückenden Traum; es träumte mir, ich tanze mit der Gräfin G***. Er zog seine Uhr, die man ihm gelassen hatte.
Halbzwei Uhr morgens… warum zum Teufel weckt Ihr mich zu dieser Stunde?
Um Ihnen zu sagen, daß Sie frei sind, Exzellenz.
Mein Lieber, erwiderte Albert mit vollkommener Geistesfreiheit, befolgt künftig den Grundsatz des großen Napoleon! Weckt mich nur wegen schlimmer Nachrichten! Hättet Ihr mich schlafen lassen, so würde ich meinen Tanz fortgesetzt haben und wäre Euch mein Leben lang dankbar… Man hat also mein Lösegeldbezahlt?
Nein, Exzellenz, einer, dem ich nichts verweigern kann, hat Sie zurückgefordert.
Ah! bei Gott, dieser jemand ist sehr liebenswürdig.
Albert schaute umher, erblickte Franz und rief: Wie, mein lieber Freund, Sie treiben die Ergebenheit so weit?
Nein, nicht ich, sondern der Herr Graf von Monte Christo.
Ah! bei Gott! Herr Graf, sagte Albert heiter, während er seine Krawatte und seine Manschetten ordnete, Sie sind wahrlich ein kostbarer Mann, und ich hoffe, daß Sie mich als Ihnen ewig verbunden ansehen werden. Er reichte dem Grafen die Hand, der siebebend in die seine nahm.
DerBandit sah mit erstaunter Miene zu; er war offenbar gewohnt, seine Gefangenen vor sich zittern zu sehen, und hier fand er einen, den seine heitere Laune nicht verlassen hatte. Franz war entzückt, daß Albert selbst einemBanditen gegenüber die Ehre der Nation aufrecht erhielt.
Mein lieber Albert, sagte er zu ihm, wenn Sie sichbeeilen wollten, so haben wir noch Zeit, die Nachtbei Torlonia zubeschließen. Sie nehmen Ihren Galopp wieder auf, wo Sie ihn unterbrochen haben, und werden somit keinen Groll gegen den edlen Herrn Luigibewahren, der sich in der Tatbei dieser ganzen Angelegenheit auf das artigstebenommen hat.
Ah! gewiß, versetzte Albert, Sie haben recht, wir können um zwei Uhr dort sein. Herr Luigi, ich wünsche Ihnen ein lustiges Leben. Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie!
Und Franz und dem Grafen voran ging Albert die Treppe hinabund durchschritt den großen viereckigen Saal. AlleBanditen standen mit dem Hut in der Hand. Der Hauptmann nahm die Fackel aus den Händen des Hirten und ging den Gästen voran, nicht wie ein Diener, sondern wie ein König, der seinenBotschaftern voranschreitet. An der Tür verbeugte er sich und sagte: Und nun, Herr Graf, wiederhole ich meine Entschuldigung, und ich hoffe, daß Sie mir wegen dessen, was geschehen ist, nicht ferner grollen werden.
Nein, mein lieber Vampa, sagte der Graf; Ihr sühnt überdies Eure Irrtümer auf eine so artige Weise, daß man versucht ist, Euch auch dafür, daß Ihr siebegangen habt, Dank zu wissen.
Meine Herren, sagte derBanditenführer, sich nach den jungen Männern umwendend, vielleicht kommt Ihnen mein Anerbieten nicht sehr lockend vor, aber wenn Sie je Lust verspüren, mir einen zweitenBesuch zu machen, so werden Sie, wo ich auch sein mag, stets willkommen sein.
Franz und Albert grüßten, und alle drei gingen hinaus. Sie fanden den Wagen, wo sie ihn gelassen hatten. Der Graf sagte zu Ali ein einziges arabisches Wort, und die Pferde setzten sich in schnellsten Galopp. Es war zwei Uhr, als die Freunde wieder im Tanzsaal erschienen; ihre Rückkehr machte das größte Aufsehen; da sie aber miteinander kamen, so hörte im Augenblick jede Unruhe wegen Alberts auf.
Gnädige Frau, sagte der Vicomte von Morcerf, auf die Gräfin zuschreitend, Sie haben gestern die Güte gehabt, mir einen Galopp zu versprechen, ich komme etwas spät, um Sie an diese entzückende Zusage zu erinnern; doch hier ist ein Freund, dessen Wahrheitsliebe Sie kennen; er wird Ihnenbestätigen, daß ich nicht schuld daranbin.
Und da die Musik in diesem Augenblick mit einem Galopp einsetzte, schlang Albert seinen Arm um die Hüfte der Gräfin und verschwand mit ihr im Wirbel der Tänzer. Während dieser Zeit dachte Franz an den seltsamen Schauder, der den ganzen Leibdes Grafen in dem Augenblicke durchlaufen hatte, wo er Albert die Hand gereicht hatte.
Das Wiedersehen
Am andern Tage machte Albert seinem Freunde mit dem ersten Worte den Vorschlag, den Grafen zubesuchen. Er hatte ihm zwarbereits gedankt, aber er meinte, daß ein Dienst, wie der Graf ihn geleistet, wohl zwei Danksagungen wert war. Franz, den ein mit Furcht gemischter Zauber zu dem Grafen von Monte Christo hinzog, wollte Albert nicht allein gehen lassen undbegleitete ihn. Beide wurden eingeführt, und nach fünf Minuten erschien der Graf.
Herr Graf, sagte Albert, ihm entgegengehend, erlauben Sie mir, Ihnen heute zu wiederholen, was ich gestern schlecht ausgedrückt habe: nie werde ich vergessen, unter welchen Umständen Sie mir zu Hilfe gekommen sind, und stets werde ich mich erinnern, daß ich Ihnen das Leben zu verdanken habe.
Mein lieber Nachbar, antwortete der Graf lachend, Sie übertreiben Ihre Verbindlichkeiten gegen mich, denn Sie sind mir nicht mehr schuldig, als eine kleine Ersparnis von 20 000 Franken an Ihren Reiseausgaben. Sie sehen, daß es nicht der Mühe wert ist, davon zu sprechen. Empfangen Sie Ihrerseits mein Kompliment, fügte er hinzu, Siebesitzen einebewunderungswürdige Ungezwungenheit und Leichtigkeit desBenehmens.
Was wollen Sie, Herr Graf? entgegnete Albert, ich stellte mir vor, ich hätte Händel gehabt, und ein Duell sei die Folge davon, und so wollte ich demBanditenbegreiflich machen, daß, wenn man sich auch in allen Ländern der Welt schlägt, doch nur die Franzosen sich lachend schlagen. Nichtsdestoweniger, da meine Verbindlichkeit Ihnen gegenüber nicht minder groß ist, komme ich, um Sie zu fragen, obich Ihnen nicht durch mich, durch meine Freunde und meineBekannten in irgend einerBeziehung nützlich sein kann. Mein Vater, der Vicomte von Morcerf, besitzt großen Einfluß in Spanien und in Frankreich. Verfügen Sie über mich und über alle, die mich lieben!
Ich gestehe, Herr von Morcerf, erwiderte der Graf, ich erwartete Ihr Anerbieten und nehme es von ganzem Herzen an. Es war sogar meine Absicht, Sie um einen großen Dienst zubitten. Ichbin nie in Paris gewesen, ich kenne Paris nicht.
Wirklich? rief Albert, Sie konntenbis jetzt leben, ohne Paris zu sehen? Das ist unglaublich.
Und dennoch ist es so. Doch ich fühle, daß eine längere Unbekanntschaft mit dieser Hauptstadt der intelligenten Welt unverantwortlich ist. Mehr noch, ich hätte die seit langer Zeit unerläßliche Reise dorthin vielleicht schon gemacht, wäre ich mit irgend jemandbekannt gewesen, der mich in diese Welt eingeführt hätte, in der ich mich keiner Verbindung erfreue.
Oh! ein Mann wie Sie, rief Albert.
Sie sind sehr gütig. Doch da ich eben kein anderes Verdienst von mir kenne, als daß ich mit Ihren reichstenBankiers in die Schranken zu treten imstandebin, und da ich nicht nach Paris gehe, um an derBörse zu spielen, so hielt mich dieser kleine Umstand zurück. Ihr Anerbieten hat aber nunmehr meinen Entschluß zur Reife gebracht. Machen Sie sich anheischig, mein lieber Herr von Morcerf, — der Grafbegleitete diese Worte mit einem seltsamen Lächeln, — wenn ich nach Frankreich komme, mir die Türen dieser Welt zu öffnen, in der ich so fremd sein werde, wie ein Hurone oder ein Cochinchinese?
Oh! Herr Graf, mit der größten Freude, um so mehr, als ich nach Paris durch einen mir soeben zugekommenenBrief zurückgerufen werde, worin für mich von einer Verbindung mit einem sehr angenehmen Hause die Rede ist, das in denbesten Verhältnissen zu der ganzen Pariser Welt steht.
Verbindung durch Heirat? versetzte Franz lachend.
Oh! mein Gott, ja. Wenn Sie nach Paris kommen, finden Sie mich als einen gesetzten Mann und vielleicht als Familienvater. Nicht wahr, das wird sich zu meinem natürlichen Ernste gut machen? In jedem Falle wiederhole ich Ihnen, ich und die Meinigen gehören Ihnen mit Leibund Seele.
Ich nehme es an, sagte der Graf, denn ich schwöre Ihnen, es fehlte mir nur eine solche Gelegenheit, um Pläne zu verwirklichen, mit denen ich mich seit geraumer Zeit trage.
Franz zweifelte keinen Augenblick, diese Pläne seien die, welche der Graf in der Grotte von Monte Christo angedeutet hatte, und er schaute den Grafen, während er sprach, fest an, um auf seinem Gesichte irgend eine Enthüllung der Entwürfe, die ihn nach Paris führten, zu erhaschen; aber es war sehr schwierig, in das Innere dieses Mannes zu dringen, besonders wenn er es mit einem Lächeln verschleierte.
Wann werden Sie selbst dort sein? fragte der Graf Albert.
In vierzehn Tagen oder spätestens drei Wochen, gerade soviel ich Zeit zur Rückkehrbrauche.
Wohl! ich gebe Ihnen drei Monate; Sie sehen, ich mache das Maß lang. Und in drei Monaten werden Sie an meine Tür klopfen? rief Albert vor Freude.
Wollen Sie ein Wiedersehen auf Tag und Stunde? Ich sage Ihnen, daß ich von einer verzweifelten Pünktlichkeitbin.
Auf Tag und Stunde! sagte Albert, das ist mir äußerst angenehm.
Wohl, es sei!
Und er streckte die Hand nach einem in der Nähe des Spiegels hängenden Kalender aus und fuhr dann fort: Wir haben heute den 21. Februar, es ist halbelf Uhr morgens. Wollen Sie mich am 21. Mai um halbelf Uhr morgens erwarten?
Vortrefflich! Das Frühstück wirdbereit sein.
Wo wohnen Sie?
In der Rue du Helder, Nr. 27. Ich wohne im Hotel meines Vaters, aber in einem völlig abgesonderten Hintergebäude.
Der Graf nahm seine Schreibtafel und schrieb: Rue du Helder, Nr. 27 am 21. Mai um halbelf Uhr morgens.
Und nun seien Sie unbesorgt, sagte der Graf, ich werde pünktlich sein.
Ich sehe Sie noch vor meiner Abreise? fragte Albert.
Je nachdem, wann reisen Sie?
Morgen abend um fünf Uhr.
Dann sage ich Ihnen Lebewohl. Ich habe Geschäfte in Neapel und werde erst Samstag oder Sonntag früh zurückkommen. Und Sie, fragte der Graf Franz, reisen Sie ebenfalls, HerrBaron?
Ja, nach Venedig. Ichbleibe noch in Italien.
Wir werden uns also in Paris nicht sehen?
Ichbefürchte, nicht die Ehre zu haben.
Meine Herren, glückliche Reise, sagte der Graf zu den Freunden und reichte jedem eine Hand. Es war das erstemal, daß Franz die Hand dieses Mannesberührte; erbebte, denn sie war eisig wie die Hand eines Toten. Also, auf Wiedersehen, am 21. Mai um halbelf Uhr morgens, Rue du Helder, Nr. 27, sagte Albert.
Hierauf grüßten die jungen Männer den Grafen und entfernten sich.
Was haben Sie denn? sagte Albert, in sein Zimmer zurückkehrend, zu Franz, Sie sehen ja ganz sorgenvoll aus?
Ja, ich gestehe, der Graf ist ein seltsamer Mann, antwortete Franz, und nur mit Unruhe sehe ich seinem Pariser Aufenthalt entgegen.
Mit Unruhe? Ah! Sie sindbefangen, lieber Franz! rief Albert.
Obbefangen, obnicht, es ist einmal so.
Hören Sie, und es ist mir sehr lieb, daß sich eine Gelegenheitbietet, Ihnen dies zu sagen, ich habe Sie sehr kalt gegen den Grafen gefunden, während mir seinBenehmen gegen Sie tadellos, ja sogar höchst zuvorkommend erschien. Haben Sie etwasBesonderes gegen ihn einzuwenden?
Vielleicht.
Haben Sie ihn etwa schon irgendwo gesehen, ehe Sie ihm hierbegegneten?
Allerdings.
Wo?
Versprechen Sie mir, nicht ein Wort von dem zu sagen, was ich Ihnen mitteilen werde?
Ich verspreche es Ihnen.
Gut. Hören Sie.
Hierauf erzählte Franz seinem Freunde den ganzen Verlauf seines Ausflugs nach der Insel Monte Christo, wie er dort mehrere Schmuggler gefunden und unter diesen Schmugglern einigeBanditen. Er verweiltebei allen einzelnen Umständen der feenhaften Gastfreundschaft, die ihm der Graf in seiner Grotte hatte angedeihen lassen; er sprach vom Abendessen, vom Haschisch, von den Statuen, von Wirklichkeit und Traum, und wie am Morgen alsBeweis und als Erinnerung an all diese Ereignisse nichts mehr übrig geblieben sei, als eine kleine Jacht, die er am Horizont nach Porto Vecchio segeln sah. Dann ging er auf Rom über, auf die Nacht im Kolosseum, auf das Gespräch über Peppino, das er zwischen dem Grafen undBampabelauscht und wobei der Graf versprochen habe, dieBegnadigung desBanditen zu erlangen.
Endlich gelangte er zu dem Abenteuer der vorhergehenden Nacht, zu seiner Verlegenheit, als er gesehen, daß ihm 6bis 700 Piaster fehlten, um die erforderliche Summe vollständig zu machen, und endlich zu dem Eintreten des Grafen. Albert hörte mit größter Aufmerksamkeit zu.
Nun, sagte er, als sein Freund geendigt hatte, was finden Sie daran auszusetzen? Der Graf hat ein eigenes Schiff, weil er reich ist. Gehen Sie nach Portsmouth oder Southampton, und Sie werden die Häfen voll von Jachten sehen, die reichen Engländern gehören, die dieselbe Neigung haben. Um zu wissen, wo erbei seinen Ausflügen anhalten soll, um nicht aus der abscheulichen Küche zu essen, die mich seit vier Monaten vergiftet, um nicht in den niederträchtigenBetten zu liegen, in denen man nicht schlafen kann, läßt er sich ein Absteigequartier auf Monte Christo einrichten. Nachdem er sein Absteigequartier eingerichtet hat, befürchtet er, die toskanische Regierung könnte ihm die Sache verleiden, und er seiner Aufwendungen verlustig gehen; er kauft daher die Insel und nimmt deren Namen an.
Aber dieBanditen, die sichbei seiner Mannschaftbefanden? Was sagen Sie zu dem Einfluß des Grafen auf dergleichen Leute?
Ich sage, mein Lieber: Insofern ich aller Wahrscheinlichkeit nach diesem Einfluß das Leben zu verdanken habe, ist es nicht meine Sache, hierüber zu scharf zu urteilen. Statt ihm, wie Sie, ein Hauptverbrechen daraus zu machen, werden Siebegreifen, daß ich ihn entschuldige, nicht weil er mir das Leben gerettet, was vielleicht übertrieben ist, sondern weil er mir 4000 Piaster erspart hat, eine Summe, die gerade 20 000 Franken unseres Geldes gleichkommt, eine Summe, zu der man mich sicherlich in Frankreich nicht angeschlagen hätte, was zumBeweise dient, fügte er lachendbei, daß der Prophet in seinem Vaterlande nie etwas gilt.
Wohl! gerade das ist es. Aus welchem Lande ist der Graf? Welche Sprache spricht er? Welches sind seine Existenzmittel? Woher kommt sein ungeheures Vermögen? Wie war der erste Teil seines Lebensbeschaffen? Was hat über den zweiten den düsteren, menschenfeindlichen Schatten geworfen? Das wünschte ich an Ihrer Stelle zu wissen.
Mein lieber Franz, erwiderte Albert, als Siebeim Empfang meinesBriefes sahen, daß Sie seines Einflussesbedurften, sagten Sie zu dem Grafen: Albert von Morcerf, mein Freund, ist in Gefahr; helfen Sie mir, ihn dieser Gefahr entziehen! Nicht wahr? — Ja.
Fragte er dann: Wer ist Albert von Morcerf? Woher hat er seinen Namen? Woher sein Vermögen? Welches sind seine Existenzmittel? Welches ist sein Vaterland? Wo ist er geboren? Sprechen Sie, hat er Sie danach gefragt?
Ich muß gestehen, nein.
Er ist ohne weiteres gegangen und hat mich aus Vampas Händenbefreit, wo ich eben keinebeneidenswerte Rolle spielte. Nun, mein Lieber, wenn er mich dafür um etwasbittet, was man jeden Tag für jeden italienischen oder russischen Fürsten tut, der durch Paris reist, das heißt, ihn in der Gesellschaft vorzustellen… soll ich ihm das verweigern? Oh, Franz, Sie sindbefangen.
Tun Sie, wie Sie wollen, lieber Vicomte, versetzte Franz nach kurzem Stillschweigen, denn alles, was Sie mir da sagen, ist dem Anscheine nach völlig richtig; aber darum scheint es mir nicht minder wahr, daß der Graf ein äußerst seltsamer Mann ist.
Der Graf von Monte Christo ist ein Menschenfreund; hat er Ihnen nicht gesagt, in welcher Absicht er nach Paris kommt? Nun wohl, er kommt, um sich um den von Monthyon für edle Schriftwerke gestifteten Tugendpreis zubewerben, und wenn es nur meiner Stimmebedarf, damit er ihn erhält, so werde ich sie ihm geben. Somit wollen wir diesen Gegenstand ruhen lassen, lieber Franz, uns zu Tische setzen und dann Sankt Peter einen letztenBesuch machen.
Es geschah, wie Albert sagte, und am andern Tage um fünf Uhr nachmittags trennten sich die jungen Leute, Albert von Morcerf, um nach Paris zurückzukehren, Franz d'Epinay, um vierzehn Tage in Venedig zuzubringen. Doch ehe Albert in den Wagen stieg, übergaber einem Diener im Gasthofe eine Karte für den Grafen von Monte Christo, auf die er unter die Worte: Vicomte Albert von Morcerf, die Worte geschrieben hatte:
Am 21. Mai, um halbelf Uhr morgens, Rue du Helder, Nr. 27.
Das Frühstück
In dem Hause der Rue du Helderbereitete sich am Morgen des 21. Mai alles vor, um dem Worte des jungen Mannes Ehre zu machen. Albert von Morcerfbewohnte einen Pavillon, der an der Ecke eines großen Hofes und einem andern für die Dienerschaftbestimmten Gebäude gegenüber lag. Nur zwei Fenster dieses Pavillons gingen auf die Straße, während drei nach dem Hof und zwei weitere rückwärts nach dem Garten schauten. Zwischen dem Hofe und dem Garten erhobsich die modische, geräumige Wohnung des Grafen und der Gräfin von Morcerf.
Aus der Wahl des zur Wohnung für Albertbestimmten Pavillons leuchtete die zarte Fürsorge einer Mutter, die sich von ihrem Sohne nicht trennen wollte, aber wohl einsah, daß ein junger Mann vom Alter des Vicomte seiner vollen Freiheitbedurfte. Zugleich ergabsich daraus auch der verständige Egoismus des jungen Mannes, dem es das freie, müßige Leben eines minderjährigen Sohnes angetan hatte, das man ihm vergoldete, wie dem Vogel seinenBauer.
Durch die nach der Straße gehenden Fenster konnte Albert sich von den Vorgängen draußen unterrichten, und wenn er sich weiter orientieren wollte, durch eine kleine Tür gehen, die neben der Wohnung des Pförtners angebracht war. Es sah aus, als sei es ein seit Erbauung des Hauses vergessenes und zu fortwährender Vergessenheit verurteiltes Pförtchen, sobestaubt undbescheiden erschien esbeim erstenBlick; aberbei nähererBetrachtung zeugten Schloß und Angeln, sorgfältig eingeölt, von einer geheimenbeständigenBenutzung.
Am Ende eines weiten, stillen, als Vorzimmer dienenden Ganges öffneten sich rechts der nach dem Hofe gehende Speisesaal Alberts und links sein kleiner Salon, von dem man die Aussicht nach dem Garten hatte. Gesträuche und Schlingpflanzenbreiteten sich fächerartig von den Fenstern aus und verbargen dem Hofe und dem Garten das Innere der zwei einzigen im Erdgeschosse liegenden Zimmer, in die unbescheideneBlicke hätten dringen können. Im ersten Stocke fanden sich die gleichen Zimmer, außerdem ein drittes, das als Vorzimmer diente. Diese drei Gelasse waren ein Salon, ein Schlafzimmer und einBoudoir. Der untere Salon war nur eine Art algerischen Rauchzimmers. DasBoudoir des ersten Stockes ging in das Schlafzimmer und stand durch eine unsichtbare Tür mit der Treppe in Verbindung. Es waren, wie man sieht, alle Vorsichtsmaßregeln getroffen.
Über diesem ersten Stocke fand sich ein geräumiges Atelier, das man, Mauern und Scheidewände einreißend, vergrößert hatte… ein Pandämonium, das der Künstler dem Stutzer streitig machte. Dort sammelten sich alle Spuren der verschiedenen Neigungen Alberts: Waldhörner, Baßgeigen, Flöten, ein ganzes Orchester, denn Albert hatte einen Augenblick nichtBegabung, sondern Neigung zur Musik gehabt; sodann fanden sich dort Staffeleien, Paletten, Pastelle, auf die Neigung zur Musik war nämlich die Neigung zur Malerei gefolgt, ferner Rappiere, Boxhandschuhe und Stöcke aller Art, denn nach den Überlieferungen der jungen Modeherren der Zeit pflegte Albert mit unendlich mehr Ausdauer, als er diesbei der Musik und Malerei getan, jene drei Künste, welche die Erziehung des Salonlöwen vollenden, die Fechtkunst, dasBoxen und die Handhabung des Stockes.
Im übrigenbestand die Ausstattung in alten Truhen aus der Zeit Franz I., die mit chinesischem Porzellan, japanischen Vasen, Fayencen von Lucca della Robbia und Platten vonBernard de Palissy gefüllt waren; in antiken Lehnstühlen, worin vielleicht Heinrich IV. oder Ludwig XIII. gesessen hatte, denn zwei von diesen Stühlen waren mit dem geschnitzten Lilienwappen geschmückt. Auf diesen Stühlen lagen durcheinander kostbare Stoffe aus Persien oder Indien. An dem am meisten in die Augen fallenden Platze stand ein prächtiges Piano. Überall, längs den Wänden, über den Türen, an der Decke sah man Schwerter, Dolche, Keulen, Äxte, ganz vergoldete Rüstungen; Kräuterbücher, Haufen von Mineralien, ausgestopfte Vögel u. s. w.
Es versteht sich von selbst, daß dieses Zimmer Alberts Lieblingszimmer war.
Am Tage des Wiedersehens hatte jedoch der junge Mann sein Hauptquartier in dem kleinen Salon im Erdgeschosse aufgeschlagen und alle Anordnungen zu einem würdigen Empfange seines Gastes getroffen.
Um drei Viertel auf zehn Uhr trat ein Kammerdiener ein. Erbildete für gewöhnlich mit einem kleinen Reitknecht, der nur englisch sprach und auf den Namen John antwortete, die ganze Dienerschaft Alberts. Der Kammerdiener, der Germain hieß und das vollkommene Vertrauen seines jungen Herrn genoß, hielt in der Hand einen Stoß Zeitungen, die er auf den Tisch legte, und ein PäckchenBriefe, das er Albert übergab.
Albert schaute mit zerstreutem Auge die verschiedenen Schreiben an, wählte zwei mit zarter Schrift und wohlriechenden Umschlägen, öffnete sie und las sie mit einiger Aufmerksamkeit.
Lassen Sie Frau Danglars sagen, wandte er sich dann an den Diener, ich nehme den Platz an, den sie mir in ihrer Loge anbietet… Warten Sie doch… im Verlaufe des Tages gehen Sie zu Rosa und melden ihr, ich werde ihrer Einladung zufolge nach der Operbei ihr zu Nacht speisen; bringen Sie ihr sechs Flaschen ausgesuchten Wein, Cyprier, Xeres und einen KorbOstender Austern…
Um welche Zeit soll gedeckt werden?
Servieren Sie um halbelf Uhr. Debray muß vielleicht in sein Ministerium gehen… Und überdies… es ist die Stunde, die ich dem Grafen angegeben habe, am 21. Mai um halbelf Uhr morgens; wenn ich auch nicht erwarte, daß er sein Versprechen hält, so will ich doch pünktlich sein. Wissen Sie nicht, obdie Frau Gräfin aufgestanden ist?
Wenn es der Herr Vicomte wünscht, werde ich mich erkundigen.
Ja… erbitten Sie sich von ihr einen Likörkasten, meiner ist unvollständig; sagen Sie ihr, ich werde um drei Uhr die Ehre haben, zu ihr zu kommen.
Der Kammerdiener ging ab. Albert warf sich auf einen Diwan, blätterte in ein paar Zeitungen, sah nach den Theatern, machte eine Grimasse, als er wahrnahm, daß man eine Oper und keinBallett gab, warf einBlatt nach dem andernbeiseite und murmelte gähnend: Diese Zeitungen werden in der Tat immer erbärmlicher.
In diesem Augenblick hielt ein leichter Wagen vor der Tür, und eine Minute nachher kam der Kammerdiener zurück, um Herrn Lucien Debray zu melden. Ein großer, blonder, bleicher junger Mann, mit grauem, sicherem Auge, dünnen, kalten Lippen, mit weißer Kravatte und einem an einer seidenen Schnur hängenden Monokle trat, ohne zu lächeln, ohne zu sprechen und mit einer halboffiziellen Miene ein. Er war nämlich Privatsekretär des Ministers des Innern. Diebeiden jungen Leute sprachen von allerlei Stadtklatsch, und Debray erzählte eben, ihr gemeinschaftlicherBekannter, Baron von Danglars, habe in spanischen Papieren eine Million gewonnen, als der Kammerdiener eintrat und HerrnBeauchamp anmeldete.
Herein! Herein! Furchtbare Feder! rief Albert, aufstehend und dem jungen Manne entgegengehend, hier ist Debray, der Ihr Gegner ist, ohne Sie zu lesen… so sagt er wenigstens.
Er hat recht, erwiderteBeauchamp, es geht ihm wie mir, ich kritisiere ihn, ohne zu wissen, was er tut. Doch sage mir, lieber Albert: Frühstücken wir oder speisen wir zu Mittag? Die Deputiertenkammer nimmt mich in Anspruch. Es ist, wie Sie sehen, nicht alles rosa in unsermBerufe.
Wir frühstücken nur; wir erwarten noch zwei Personen und setzen uns zu Tische, sobald sie gekommen sind.
Ich werde also zum Nachtisch zurückkehren. Heben Sie mir Erdbeeren, Kaffee und Zigarren auf. Ich esse mein Kotelett in der Kammer.
Tun Sie das nicht, Beauchamp, denn wir frühstücken Punkt elf Uhr; mittlerweile machen Sie es wie Debray, kosten Sie meinen Xeres und meine Zwiebacke.
Gut, ichbleibe; ich muß mich heute unbedingt zerstreuen.
Sie machen's gerade wie Debray, doch mir scheint, wenn das Ministerium traurig ist, sollte die Opposition heiter sein.
Ah! sehen Sie, lieber Freund, sagte Debray, Sie wissen nicht, was mir droht. Ich werde heute in der Deputiertenkammer eine Rede von Herrn Danglars hören. Der Teufel hole die konstitutionelle Regierung!
Ichbegreife, Siebedürfen eines Vorrats an Heiterkeit.
Machen Sie Herrn Danglars' Reden nicht schlecht, sagte Albert zuBeauchamp, wenn er auch zur Opposition gehört. Erinnern Sie sich doch, daß die Pariser Chronik von einer Heirat zwischen mir und Fräulein Eugenie Danglars spricht. Ich kann Sie also nicht mit gutem Gewissen dieBeredsamkeit eines Mannes anzweifeln lassen, der mir eines Tages sagen soll: Herr Vicomte, Sie wissen, daß ich meiner Tochter zwei Millionen mitgebe.
Still doch! sagteBeauchamp, diese Heirat wird nie stattfinden. Der König konnte ihn zum Grafen machen, er kann ihn zum Pair ernennen, aber er wird ihn nie zum Edelmann machen, und der Graf von Morcerf ist ein viel zu aristokratischer Degen, um gegen zwei armselige Millionen in eine Mesalliance zu willigen. Der Vicomte von Morcerf darf nur eine Marquise heiraten.
Lassen Sie ihn reden, Morcerf, versetzte Debray nachlässig, und heiraten Sie! Sie heiraten die Etikette eines gewissen Sacks, nicht wahr? Wohl, was liegt Ihnen daran? Es istbesser, ein Wappenschild wenigerbei dieser Etikette und eine Null mehr; Sie haben sieben Amseln in Ihrem Wappen, Sie geben Ihrer Frau drei, und esbleiben Ihnen immer noch vier; das ist eine mehr, als Herr von Guise gehabt hat, derbeinahe König von Frankreich geworden wäre, und dessen Vetter Kaiser von Deutschland war.
Meiner Treu, ich glaube, Sie haben recht, erwiderte Albert zerstreut.
Herr von Chateau‑Renaud! Herr Maximilian Morel, sagte der Kammerdiener, zwei neue Gäste meldend.
Vollzählig also! riefBeauchamp, denn wenn ich mich nicht täusche, erwarteten Sie nur noch zwei Personen, Albert?
Morel! murmelte Albert erstaunt; Morel, wer ist das?
Doch ehe er vollendet hatte, nahm Herr von Chateau‑Renaud, ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, ein Edelmann vom Scheitelbis zur Zehe, Albertbei der Hand und sagte zu ihm: Erlauben Sie mir, mein Lieber, Ihnen den Spahi‑Kapitän, Herrn Maximilian Morel, meinen Freund und meinen Retter, vorzustellen, obgleich ein solcher Mann wohl keiner Vorstellungbedarf. Begrüßen Sie meinen Helden, Vicomte.
Und er trat auf die Seite, um den großen, edeln, jungen Mann mit derbreiten Stirne, mit dem durchdringenden Auge, mit dem schwarzen Schnurrbart vorzustellen, den unsere Leserbereits in Marseille unter so dramatischen Umständen kennen gelernt haben. Eine reiche, halbfranzösische, halborientalische, stolz getragene Uniform ließ seinebreite, mit dem Kreuze der Ehrenlegion geschmückteBrust und die kühnen Linien seines Wuchses nochbesser hervortreten.
Der junge Mann verbeugte sich mit anmutreicher Höflichkeit.
Mein Herr, sagte Albert mit zuvorkommender Freundlichkeit, Herr von Chateau‑Renaud wußte zum voraus, welches Vergnügen er mir durch IhreBekanntschaftbereiten würde; Sie gehören zu seinen Freunden, lassen Sie sich auch zu den unsern zählen.
Sehr gut, rief Chateau‑Renaud, Sie können nur wünschen, daß er eintretendenfalls für Sie tun möge, was er für mich getan hat.
Und was hat er denn getan? fragte Albert.
Oh! es ist nicht der Mühe wert, davon zu reden, sagte Morel; der Herr übertreibt.
Wie? entgegnete Chateau‑Renaud, es ist nicht der Mühe wert, davon zu reden? Das Leben ist nicht wert, daß man davon spricht…? In der Tat, was Sie da sagen, ist zu philosophisch, mein lieber Herr Morel. Gut für Sie, der Sie Ihr Leben jeden Tag aufs Spiel setzen, aber nicht für mich, der es zufällig einmal in Gefahrbrachte.
Aus Ihren Worten entnehme ich, daß Ihnen Kapitän Morel das Leben gerettet hat, unterbrach ihn Albert.
Ja, es ist so, erwiderte Chateau‑Renaud.
Bei welcher Gelegenheit? fragteBeauchamp.
Sie wissen alle, daß mir der Gedanke kam, nach Afrika zu gehen.
Das ist ein Weg, den Ihnen Ihre Ahnen, die Kreuzfahrer, vorgezeichnet haben, mein lieber Chateau‑Renaud, bemerkte Morcerf höflich.
Ja, doch ich zweifle, daß esbei Ihnen auch dieBefreiung des Grabes Christi galt, warfBeauchamp ein.
Sie haben recht, Beauchamp, versetzte der junge Aristokrat. Ich ging nur, um mich im Pistolenschießen zu üben. Das Duell widerstrebt mir, wie Sie wissen, seitdem zwei Zeugen, die ich gewählt, um eine Sachebeizulegen, mich zwangen, einem meinerbesten Freunde den Arm zu zerschmettern… oh! bei Gott, dem armen Franz d'Epinay, den ihr alle kennt.
Ah! ja, es ist wahr, ihr habt euch geschlagen, sagte Debray. Aus welcher Veranlassung?
Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich dessen erinnere, erwiderte Chateau‑Renaud; ich weiß nur noch, daß ich mich schämte, ein Talent wie das meinige ruhen zu lassen, und daß ich an den Arabern die Pistolen versuchen wollte, die ich zum Geschenkebekommen habe. Demzufolge schiffte ich mich nach Oran ein undbegabmich nach Constantine, wo ich gerade ankam, als dieBelagerung aufgehoben wurde. Ich zog mich daher zurück wie die andern. 48 Stunden lang ertrug ich den Regenbei Tage, den Schneebei Nacht, am dritten Morgen endlich starbmein Pferd vor Kälte. Armes Tier! Als es tot war, mußte ich zu Fuß zurückgehen. Da sprengten sechs Araber im Galopp herbei, mir den Kopf abzuhauen. Ich schoß zwei mit der Flinte, zwei mit meinen Pistolen nieder; aber esblieben noch zwei übrig, und ich hatte keine Waffe mehr. Der eine nahm michbei den Haaren, weshalbich sie jetzt kurz trage, denn man kann nicht wissen, was wieder geschieht; der andere zielte mit seinem Yatagan nach meinem Halse, und ich fühltebereits das kalte Eisen, als dieser Herr, den Sie hier sehen, ebenfalls auf sie eindrang, den, welcher michbei den Haaren hielt, mit einem Pistolenschuß niederstreckte und dem andern, der mir mit einem Säbelhiebden Hals abschlagen wollte, den Schädel spaltete. Der Herr hatte sich die Aufgabe gestellt, an diesem Tage einen Menschen zu retten, der Zufall wollte, daß ich dies war; wenn ich einmal reichbin, lasse ich dem Zufall eine Statue errichten.
Ja, sagte Morel lächelnd, es war am 5. September, am Jahrestage einer wunderbaren Rettung meines Vaters, ich feiere daher auch, soviel in meinen Kräften liegt, diesen Tag jedes Jahr durch irgend eine Handlung.
Durch eine heldenmütige, nicht wahr? unterbrach ihn Chateau‑Renaud; kurz ich war der Auserwählte, doch das ist noch nicht alles. Nachdem er mich vom Eisen errettet, rettete er mich vor der Kälte, indem er mir seinen Mantel gab; dann schützte er mich vor dem Hunger dadurch, daß er sein kostbares Pferd, von dem wir, vom Hunger getrieben, jeder ein Stück mit großem Appetit verzehrten, mit mir teilte.
Ich ahnte, Sie würden mein Freund werden, Herr Graf, sagte Morel; überdies habe ichbereits die Ehre gehabt, Ihnen zubemerken, daß ich an diesem Tage dem Schicksal eine Gabe als Wiedervergeltung für die Gunst schuldigbin, die uns einst zu teil geworden ist.
Die Geschichte, auf die Herr Morel anspielt, fuhr Chateau‑Renaud fort, ist eine ganzbewunderungswürdige Geschichte, die er Ihnen eines Tages erzählen wird, wenn Sie nähereBekanntschaft mit ihm gemacht haben; für heute wollen wir den Magen und nicht das Gedächtnis stärken. Um wieviel Uhr frühstücken Sie, Albert?
Um halbelf Uhr.
Auf den Punkt? fragte Debray, seine Uhr ziehend.
Ah! Sie werden mir doch die fünf Wartminuten gewähren, erwiderte Morcerf, denn ich erwarte ebenfalls einen Retter.
Einen Retter wessen?
Von mir, bei Gott! antwortete Morcerf. Glauben Sie, man könne mich nicht auch retten, wie einen andern, und nur die Araber schlagen Köpfe ab? Unser Frühstück ist ein philanthropisches Frühstück, und wir werden, wenigstens hoffe ich es, zwei Wohltäter der Menschheitbei Tische haben.
Und woher kommt er? fragte Debray.
Das weiß ich nicht, erwiderte Albert. Als ich ihn vor drei Monaten einlud, war er in Rom; doch wer kann sagen, welchen Weg er seitdem gemacht hat?
Glauben Sie, daß er Pünktlichkeitbesitzt? fragte Debray.
Ich glaube, daß er alle guten Eigenschaftenbesitzt.
Passen Sie ja auf! Mit Ihren fünf Wartminuten sind's noch zehn.
Ich werde siebenutzen, um Ihnen ein Wort von meinem interessanten Gaste zu sagen. Ich war während des letzten Karnevals in Rom und wurde von Räubern entführt.
Es gibt keine Räuber, sagte Debray.
Allerdings gibt es welche und zwar abscheuliche, das heißt liebenswürdige, denn ich habe sie zum Fürchten zu schön gefunden. Die Räuber hatten mich also entführt und an einen jammervollen Ort gebracht, den man die Katakomben von San Sebastiano nennt. Man kündigte mir an, ich sei Gefangener gegen Lösegeld für erbärmliche 4000 römische Taler. Zum Unglückbesaß ich nicht mehr als fünfzehnhundert; ich war am Ende meiner Reise und mein Kredit erschöpft. Ich schrieban Franz, daß ich mich, wenn er nicht um sechs Uhr morgens mit den 4000 Talern käme, zehn Minuten später in der Gesellschaft der Heiligen und glorreichen Märtyrerbefinden würde, und Luigi Vampa, dies ist der Name meines Räuberhauptmanns, hätte gewissenhaft sein Wort gehalten, das dürfen Sie glauben.
Doch Franz kam mit den 4000 Talern? sagte Chateau‑Renaud. Zum Teufel! Man ist um 4000 Taler nicht in Verlegenheit, wenn man Franz d'Epinay oder Albert von Morcerf heißt!
Nein, er kam einfach inBegleitung des Gastes, den ich Ihnen ankündige und vorzustellen hoffe.
Oh! dieser Herr ist also ein Herkules.
Nein, er ist ein Mann etwa von meiner Figur.
Bis unter die Zähnebewaffnet?
Er hatte nicht einmal eine Stricknadelbei sich.
Unterhandelte er wegen Ihres Lösegeldes?
Er sagte dem Anführer zwei Worte ins Ohr, und ich war frei.
Man entschuldigte sich sogarbei Ihnen, daß man Sie festgenommen hatte? sagteBeauchamp.
Allerdings, sagte Morcerf.
Der Mann war also ein Geisterbanner?
Es war der Graf von Monte Christo.
Es gibt keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray.
Ich glaube nicht, fügte Chateau‑Renaud mit der überlegenen Miene eines Mannesbei, der sein europäisches Adelsbuch an den Fingern auswendig weiß, daß irgend wer irgend was von einem Grafen von Monte Christo gehört hat.
Verzeihen Sie, meine Herren, sagte Maximilian, ich glaube, ich kann Ihnen einen Fingerzeig geben. Monte Christo ist eine kleine Insel, von der ich die Matrosen im Dienste meines Vaters oft sprechen hörte… ein Sandkorn im Mittelländischen Meere.
Ganz richtig, versetzte Albert. Nun, dieses Sandkorns Gebieter und König ist der, von dem ich eben rede; er wird das Grafendiplom irgendwo in Toskana gekauft haben.
Ihr Graf ist also reich?
Haben Sie Tausendundeine Nacht gelesen?
Bei Gott, eine schöne Frage!
Wissen Sie denn, obdie Leute, die man dort sieht, reich oder arm sind? Obihre Getreidekörner nicht Diamanten oder Rubinen sind? Sie sehen aus wie armselige Fischer, nicht wahr? Plötzlich öffnen Sie Ihnen eine geheimnisvolle Höhle, worin Sie einen Schatz finden, für den man Indien kaufen könnte.
Nun?
Nun, mein Graf von Monte Christo ist einer von diesen Fischern. Er hat sogar einen entsprechenden Namen angenommen, denn er nennt sich Simbad der Seefahrer undbesitzt eine Höhle voll Gold.
Und haben Sie diese Höhle gesehen, Morcerf? sagteBeauchamp.
Ich nicht, aber Franz. Doch still! Man darf kein Wort davon in seiner Gegenwart sprechen. Franz stieg mit verbundenen Augen in die Höhle hinabund wurde von Stummen und von Frauenbedient, gegen die Kleopatra nur eine Lorette ist. Nur ist er nicht ganz sicher inBeziehung auf diese Frauen, weil er sie erst gesehen hat, nachdem er Haschisch gegessen hatte, so daß möglicherweise das, was er für tanzende Frauen hielt, eine Quadrille von Statuen war.
Die jungen Leute schauten Morcerf mit Augen an, als wollten sie sagen: Sind Sie wahnsinnig, oder wollen Sie unser spotten?
In der Tat, sagte Morel nachdenklich, ich habe einen alten Matrosen namens Penelon etwas erzählen hören, was mit Herrn von Morcerfs Erzählung übereinstimmt.
Ah! rief Albert, es ist ein Glück, daß mir Herr Morel zu Hilfe kommt. Nicht wahr, es ärgert Sie, daß er einen Faden in mein Labyrinth wirft?
Verzeihen Sie, lieber Freund, entgegnete Debray, Sie erzählen uns so unwahrscheinliche Dinge.
Ja, aber mein Graf von Monte Christo existiert.
Bei Gott! Die ganze Welt existiert, ein schönes Wunder also!
Allerdings existiert die ganze Welt, aber nicht unter ähnlichenBedingungen. Nicht die ganze Welt hat schwarze Sklaven, fürstliche Galerien, Waffen wie in der Kasauba, Pferde für 6000 Franken das Stück, eine griechische Geliebte.
Haben Sie die griechische Geliebte gesehen?
Ja, ich habe sie gesehen und gehört, gesehen im Teatro Argentina, gehört eines Tages, als ichbei dem Grafen frühstückte.
Ihr außerordentlicher Mann ißt also?
Meiner Treu, wenn er es tut, ist es so wenig, daß es sich nicht der Mühe lohnt, nur davon zu sprechen.
Sie werden sehen, es ist ein Vampir.
Lachen Sie, wenn Sie wollen. Das war auch die Ansicht der Gräfin G***.
Falbes Auge, dessen Stern sich nachBelieben vermindert oder erweitert, sagte Debray; stark hervortretende Gesichtswinkel, herrliche Stirn, Leichenblässe, schwarzerBart, weiße, spitzige Zähne, Höflichkeit ebenso.
Ganz genau getroffen, Lucien, rief Morcerf, das Signalement paßt Zug für Zug. Ja, spitzige, einschneidende Höflichkeit. Er hat mich oft schaudern lassen, so eines Tages, als wir gemeinschaftlich einer Hinrichtungbeiwohnten und ich ihn kalt über alle Arten von Hinrichtungen sprechen hörte.
Hat er Sie nicht auch in die Ruinen des Kolosseums geführt, um Ihnen dasBlut auszusaugen, Morcerf? fragteBeauchamp.
Spotten Sie, solange Sie wollen, meine Herren, versetzte Morcerf etwas gereizt. Wenn ich Sie anschaue, Sie, den schönen Pariser, und mir daneben diesen Mann vorstelle, so kommt es mir vor, als wären wir nicht von demselben Geschlechte.
Jedenfalls, sagte Chateau‑Renaud, ist Ihr Graf in seinen verlorenen Augenblicken ein artiger Mann, abgesehen von seinem Verkehr mit den italienischenBanditen.
Es gibt keine italienischenBanditen! sagte Debray.
Keine Vampire! fügteBeauchamp hinzu.
Keinen Grafen von Monte Christo, sagte Debray. Hören Sie, Albert, es schlägt halbelf Uhr. Gestehen Sie, daß Sie der Alp gedrückt hat, und lassen Sie uns frühstücken!
Doch die Pendeluhr hatte vom Schlage noch nicht zu schwingen aufgehört, als die Tür sich öffnete; Germain trat ein und meldete: Der Graf von Monte Christo.
Alle Zuhörer fuhren in die Höhe, so sehr hatte sie Morcerfs Erzählung erregt; Albert selbst konnte sich einer ungestümenBewegung nicht erwehren. Man hatte weder einen Wagen auf der Straße noch Tritte im Vorzimmer gehört; selbst die Tür hatte sich geräuschlos geöffnet.
Der Graf erschien auf der Schwelle mit der größten Einfachheit gekleidet, aber auch der anspruchsvollste Gesellschaftslöwe hätte an seiner Toilette nichts zu tadeln gefunden. Alles war vom feinsten Geschmack und aufs eleganteste gearbeitet.
Er schien kaum fünfunddreißig Jahre alt zu sein, und allen Anwesenden fielbeim erstenBlick die große Ähnlichkeit mit dem von Debray entworfenen Porträt auf.
Der Graf trat lächelnd mitten in den Saal und ging auf Albert zu, der ihm mit zuvorkommendem Eifer die Hand reichte.
Die Pünktlichkeit, sagte Monte Christo, ist die Höflichkeit der Könige, wie einer Ihrer Fürstenbehauptet hat; doch sie ist nicht immer die der Reisenden, trotz ihrembesten Willen. Ich hoffe indessen, mein lieber Vicomte, Sie werden zu gunsten meines guten Willens die paar Sekunden entschuldigen, die ich zu spät erscheine. Fünfhundert Meilen macht man nicht, ohne auf Hindernisse zu stoßen, besonders in Frankreich, wo es, wie mir scheint, verboten ist, die Postillone durchzuprügeln.
Herr Graf, erwiderte Albert, ich war eben damitbeschäftigt, IhrenBesuch einigen meiner Freunde anzukündigen, die ich aus Veranlassung Ihrer Zusage eingeladen und nun Ihnen vorzustellen die Ehre habe. Es sind dies der Herr Graf von Chateau‑Renaud, dessen Adelbis zu den zwölf Pairs hinaufsteigt, und dessen Ahnen an der Tafelrunde gesessen haben; Herr Lucien Debray, Privatsekretär des Ministers des Innern, HerrBeauchamp, ein furchtbarer Journalist, der Schrecken der französischen Regierung, von dem Sie jedoch vielleicht trotz seiner nationalenBerühmtheit in Italien niemals etwas gehört haben, weil seine Zeitung wegen ihrer freien Haltung in Italien nicht zugelassen wird, ferner Herr Maximilian Morel, Kapitänbei den Spahis.
Bei diesem Namen machte der Graf, derbis dahin höflich, aber mit echt englischer Kälte und Unempfindlichkeit gegrüßt hatte, einen Schritt vorwärts, und ein leichter rötlicher Ton zog wie einBlitz über seinebleichen Wangen hin.
Der Herr trägt die Uniform der neuen französischen Sieger? sagte er; es ist eine schöne Uniform.
Man hätte schwer sagen können, was die Stimme des Grafen so tief ertönen ließ, was den unwillkürlichen Glanz in sein Auge lockte, das so schön, so ruhig, so durchsichtig war, wenn er nicht irgend einen Grund hatte, es zu verschleiern.
Sie haben unsre Afrikaner nie gesehen? sagte Albert.
Nie, erwiderte der Graf, der nun wieder vollkommen seiner Herr geworden war.
Wohl, unter dieser Uniform schlägt eins derbravsten und edelsten Herzen des Heeres.
Oh! Herr Vicomte… unterbrach ihn Morel.
Lassen Sie mich sprechen, Kapitän. Wir haben soeben von diesem Herrn einen so edelmütigen Zug erfahren, fuhr Albert fort, daß ich mir, obgleich ich ihn heute zum erstenmal sehe, die Gunst erbitte, ihn als meinen Freund vorstellen zu dürfen.
Bei diesen Worten konnte manbeim Grafen abermals den seltsamenBlick und das leichte Zittern des Augenlides wahrnehmen, wodurch sichbei ihm eine innereBewegung kundgab. Ah! der Herr hat ein edles Herz, destobesser, sagte er.
Dieser mehr dem eigenen Gedanken, als dem, was Albert gesagt hatte, entsprechende Ausruf überraschte alle, besonders Morel, der Monte Christo ganz erstaunt anschaute. Aber der Ton war zu gleicher Zeit so sanft und weich, daß man sich, so seltsam auch der Ausruf erscheinen mußte, unmöglich darüber ärgern konnte.
Warum sollte er daran zweifeln? sagteBeauchamp leise zu Chateau‑Renaud.
In der Tat, versetzte Chateau‑Renaud ebenso, der mit seiner Welterfahrenheit und der Schärfe seines aristokratischenBlickes allesbei Monte Christo durchdrungen hatte, wasbei ihm zu durchdringen war, in der Tat, Albert hat uns nicht getäuscht; dieser Graf ist eine seltsame Person. Was sagen Sie dazu, Morel?
Meiner Treu, sagte Morel, er hat ein offenes Auge und eine sympathische Stimme, und er gefällt mir, trotz der sonderbarenBemerkung, die er soeben über mich gemacht hat.
Meine Herren, sagte Albert, Germain meldet mir, daß aufgetragen ist. Mein lieber Graf, erlauben Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen.
Man ging schweigend in den Speisesaal.
Meine Herren, sagte der Graf, nachdem er sich gesetzt hatte, erlauben Sie mir ein Geständnis, das zur Entschuldigung für jede Unschicklichkeit dienen soll, die ichbegehen dürfte; ichbin fremd, und zwar dergestalt fremd, daß ich zum erstenmal nach Paris komme. Das französische Leben ist mir folglich unbekannt, und ich habebis jetzt nur ein orientalisches Leben geführt, das den guten Pariser Traditionen am allerwenigsten entspricht. Ichbitte Sie also, mich zu entschuldigen, wenn Sie an mir etwas zu Türkisches, zu Neopolitanisches oder zu Arabisches finden. So, nun lassen Sie uns aber frühstücken, meine Herren!
Wie er das alles sagt! murmelteBeauchamp; es ist entschieden ein vornehmer Herr.
Ein vornehmer Herr aus fremden Lande, flüsterte Debray.
Ein vornehmer Herr in allen Ländern, sagte Chateau‑Renaud.
Der Graf war, wie man sich erinnern wird, ein mäßiger Esser. Albertbefürchtete, das Pariser Leben könnte dem Gast schon von Anfang an durch seine materiellste, aber zugleich notwendigste Seite mißfallen, und sagte daher zu ihm: Mein lieber Graf, ich fürchte, die Küche der Rue du Helder wird Ihnen nicht so sehr munden, als die der Piazza di Spagna. Ich hätte Ihren Geschmack zu Rate ziehen und Ihnen einige Gerichte nach Ihrer Phantasiebereiten lassen sollen.
Wenn Sie mich näher kennten, antwortete der Graf lächelnd, so würden Sie sich deswegen nicht die geringste Sorgebei einem Reisenden machen, der abwechselnd von Maccaroni in Neapel, von Polenta in Mailand, von Olla potrida in Valencia, von Pilau in Konstantinopel, von Carick in Indien und von Schwalbennestern in China gelebt hat. Es gibt keine Küche für einen Kosmopoliten wie ichbin. Ich esse von allem und überall, nur esse ich wenig, und heute, wo Sie mir meine Nüchternheit zum Vorwurf machen, habe ich gerade Appetit, denn seit gestern morgen ist nichts über meine Lippen gekommen.
Wie, seit gestern morgen? riefen die Gäste; Sie haben seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen?
Nein, erwiderte Monte Christo, ich war genötigt, von der Straße abzugehen und in der Gegend von Nimes Erkundigungen einzuziehen; dadurch verspätete ich mich etwas, und dann wollte ich nicht mehr anhalten. Und Sie speisten in Ihrem Wagen? fragte Morcerf.
Nein, ich schlief, wie mir diesbegegnet, wenn ich mich langweile, ohne den Mut zu haben, mich zu zerstreuen, oder wenn mich hungert, ohne daß ich Lust habe zu essen.
Sie können also dem Schlafbefehlen?
So ungefähr.
Besitzen Sie ein Rezept hierzu?
Ein untrügliches.
Das wäre gut für uns Afrikaner, die wir nicht immer zu essen und selten zu trinken haben, bemerkte Morel.
Ja, erwiderte Monte Christo, doch so vortrefflich mein Rezept für einen Menschen ist wie ich, der ein ausnahmsweises Leben führt, so gefährlich wäre es für eine ganze Armee, die nicht mehr erwachen würde, wenn man ihrerbedürfte.
Darf man wissen, worin dieses Rezeptbesteht? fragte Debray.
Oh! mein Gott, ja, ich mache kein Geheimnis daraus. Es ist eine Mischung von vortrefflichem Opium, das ich selbst in Canton geholt habe, um es rein zubesitzen, und vombesten Haschisch, den man im Orient, das heißt zwischen dem Tigris und Euphrat, findet. Man mengt diesebeiden Ingredienzien zu gleichen Teilen und macht daraus eine Art von Pillen, die man im Augenblick desBedürfnisses verschluckt. Zehn Minuten nachher tritt die Wirkung ein. Fragen Sie denBaron Franz d'Epinay, ich glaube, er hat eines Tages davon gekostet.
Ja, versetzte Morcerf, er erzählte mir davon, und erbewahrt eine sehr angenehme Erinnerung an diesen Genuß.
Sie führen also diese Droge stetsbei sich? fragteBeauchamp, der in seiner Eigenschaft als Journalist sehr ungläubig war.
Beständig, antwortete Monte Christo.
Wäre es unbescheiden, wenn ich Siebitte, diese Pillen sehen zu dürfen? fuhrBeauchamp fort, in der Hoffnung, den Fremden auf einerBlöße zu ertappen. Nein, mein Herr, erwiderte der Graf; und er zog aus seiner Tasche eine wundervolleBonbonniére, die aus einem einzigen Smaragd gearbeitet und mit einer Schraube verschlossen war, und die, wenn man sie ausschraubte, ein Kügelchen von grünlicher Farbe und von der Größe einer Erbse durchließ. Dieses Kügelchen hatte einen scharfen, durchdringenden Geruch; es waren vier oder fünf ähnliche in dem Smaragd, der ungefähr ein Dutzend fassen mochte. DieBonbonniére machte die Runde um die Tafel, doch die Gäste ließen sie mehr umhergehen, um den prachtvollen Smaragd zubewundern, als um die Pillen zuberiechen.
Und diese Speisebereitet Ihnen Ihr Koch? fragteBeauchamp.
Nein, erwiderte Monte Christo; ich überlasse meine reellen Genüsse nicht der Willkür unwürdiger Hände. Ichbin ein ziemlich guter Chemiker undbereite meine Pillen selbst.
Das ist einbewunderungswürdiger Smaragd… es ist der größte, den ich je gesehen habe, obgleich meine Mutter als Familienwertstücke verschiedene ziemlich merkwürdige Juwelenbesitzt, sagte Chateau‑Reuaud.
Ich hatte drei gleiche, versetzte Monte Christo; den einen gabich dem Großsultan, der ihn an seinen Säbel fassen ließ; den andern unserem heiligen Vater, dem Papst, auf dessen Geheiß er auf seine Tiara, als Gegenstück zu einem ähnlichen, aber doch minder schönen Smaragd, einer Gabe Napoleons an seinen Vorgänger Pius VII., eingesetzt wurde. Den drittenbehielt ich für mich; ich ließ ihn aushöhlen, was ihm ungefähr die Hälfte seines Wertesbenommen, aber für den Gebrauch, zu dem ich ihnbestimmte, bequemer gemacht hat.
Alle schauten Monte Christo erstaunt an; er sprach mit so viel Einfachheit, daß er offenbar die Wahrheit sagte oder verrückt sein mußte. Beim Anblick des Smaragds in seinen Händen aber neigte man natürlich zu der ersten Vermutung.
Und was haben Ihnen diesebeiden Herrscher dagegen gegeben? fragte Debray.
Der Großherr die Freiheit einer Frau, antwortete der Graf, unser heiliger Vater, der Papst, das Leben eines Mannes. So war ich einmal in meinem Dasein so mächtig, als hätte mich Gott auf den Stufen eines Thrones geboren werden lassen.
Es ist Peppino, den Siebefreit haben, nicht wahr? rief Morcef; für ihn haben Sie IhrBegnadigungsrecht angewendet?
Vielleicht, antwortete Monte Christo lächelnd.
Herr Graf, Sie machen sich keinenBegriff, welches Vergnügen es mirbereitet, Sie so sprechen zu hören, sagte Morcerf. Ich hatte Sie zum voraus meinen Freunden als einen fabelhaften Mann, als einen Zauberer aus Tausendundeiner Nacht, als einen Hexenmeister angekündigt; doch die Pariser sind so paradoxe Leute, daß sie die unbestreitbarsten Wahrheiten für Launen der Einbildungskraft halten, wenn diese Wahrheiten nicht in ihrer täglichen Existenz in Erscheinung treten, Nehmen Sie zumBeispiel hier Debray, der alle Tage liest, undBeauchamp, der täglich druckt, daß man auf demBoulevard ein verspätetes Mitglied des Jockeyklubs geplündert, daß man vier Personen in der Rue Saint‑Denis oder im Faubourg Saint‑Germain ermordet hat, daß zehn Diebe in einem Kaffeehause desBoulevard du Temple verhaftet worden sind, und dennochbestreiten sie das Vorhandensein vonBanditen in der römischen Campagna. Sagen Sie ihnen doch selbst, Herr Graf, daß michBanditen festgenommen, und daß ich ohne Ihre edelmütige Vermittelung aller Wahrscheinlichkeit nach heute die ewige Auferstehung in den Katakomben von San Sebastiano zu erwarten hätte, statt Ihnen in meinem unwürdigen Häuschen in der Rue du Helder ein Frühstück zu geben.
Bah! rief Monte Christo, Sie haben mir versprochen, von dieser Kleinigkeit nie zu sprechen. Nicht ich, Herr Graf, entgegnete Morcerf; Sie verwechseln mich mit einem andern, dem Sie wahrscheinlich denselben Dienst geleistet haben, wie mir. Sprechen wir im Gegenteil davon, ichbitte Sie! Denn wenn Sie sich entschließen, hiervon zu reden, so werden Sie mir vielleicht nicht nur das wiederholen, was ich weiß, sondern auch vieles sagen, was ich nicht weiß.
Es scheint mir aber, entgegnete der Graf lächelnd, Sie habenbei dieser ganzen Angelegenheit eine genügend wichtige Rolle gespielt, um ebensogut wie ich zu wissen, was vorgefallen ist.
Wollen Sie mir versprechen, wenn ich alles sage, was ich weiß, mir Ihrerseits zu sagen, was ich nicht weiß?
Das ist nurbillig, antwortete Monte Christo.
Gut, sagte Morcerf, und sollte es auch auf Kosten meiner Eitelkeit gehen. Ich hielt mich drei Tage lang für den Gegenstand der Liebesblicke einer Maske, die mir als neue Julia oder Poppäa erschien, während ich doch in Wahrheit von einerBäuerin geködert wurde. Ich weiß nur, daß ich Dummkopf einen jungenBanditen von fünfzehnbis sechzehn Jahren mitbartlosem Kinn und von schlankem Wuchse für dieseBäuerin hielt, der im Augenblick, wo ich mir die Freiheit nehmen wollte, einen Kuß auf seine keusche Schulter zu drücken, mir die Pistole vor dieBrust setzte und mich mit Hilfe von sieben oder acht Gefährten in die Katakomben von Sebastiano führte oder vielmehr schleppte. Hier fand ich einen wissenschaftlich gebildetenBanditenanführer, der Cäsars Kommentar las und sich nurbewogen fühlte, seine Lektüre zu unterbrechen, um mir zu sagen, daß ich, wenn ich am andern Morgen um sechs Uhr nicht viertausend Taler in seine Kasse entrichtet hätte, um Viertel auf sieben Uhr zu leben aufhören würde. DerBrief ist noch in Franzens Händen, von mir unterzeichnet und mit einer Nachschrift von Luigi Vampa versehen. Zweifeln Sie an meinen Worten, so schreibe ich an Franz und lasse die Echtheit der Unterschriftenbescheinigen. Das ist alles, was ich weiß. Was ich aber nicht weiß, ist der Umstand, wie es Ihnen gelungen ist, denBanditen so große Achtung einzuflößen. Ich gestehe Ihnen, daß Franz und ich vonBewunderung erfüllt waren.
Nichts ist einfacher, antwortete der Graf; ich kannte denberüchtigten Vampa seit mehr als zehn Jahren. Als er noch ganz jung und Hirte war, gaber mir eines Tages dafür, daß ich ihm irgend eine Goldmünze schenkte, weil er mir den Weg gezeigt hatte, einen von ihm selbst geschnitzten Dolch, den Sie wohl in meiner Waffensammlung gesehen haben. Später,… hatte er nun dieses Vorkommnis vergessen, oder hatte er mich nicht erkannt… wollte er mich einmal festnehmen; es gelang mir aber im Gegenteil, ihn mit einem Dutzend seiner Leute gefangen zu nehmen. Ich konnte Vampa der römischen Justiz ausliefern, die ziemlich rasch zu Werke geht und in seinem Fall sich noch mehr als gewöhnlichbeeilt haben würde, aber ich tat es nicht; ich entließ ihn und die Seinigen.
Unter derBedingung, daß sie nicht mehr sündigen würden, sagte der Journalist lachend. Ich sehe mit Vergnügen, daß sie ihr Wort gewissenhaft gehalten haben.
Nein, entgegnete Monte Christo, unter der einzigenBedingung, daß sie mir und den Meinen Achtung erweisen. Was ich Ihnen sage, kommt Ihnen vielleicht seltsam vor, meine Herren Sozialisten, Progressisten, Humanisten, aber ich kümmere mich nie um meinen Nächsten, ich suche nie die Gesellschaft zubeschützen, die mich nichtbeschützt und sich, ich darf es wohlbehaupten, im allgemeinen nur mit mirbeschäftigt, um mir zu schaden, und indem ich sie gering achte und ihnen gegenüber Neutralitätbeobachte, sind mir die Gesellschaft und mein Nächster das gleiche schuldig.
Das gefällt mir! rief Chateau‑Renaud; das ist der erste Mensch, den ich ehrlich und geradeheraus die Selbstsucht predigen höre. Sehr schön, bravo, Herr Graf!
Es ist wenigstens offenherzig, bemerkte Morel; doch ichbin überzeugt, der Herr Grafbereut es nicht, daß er einmal von den Grundsätzen abgegangen ist, die er soeben so unbedingt gegen uns ausgesprochen hat.
Wiesobin ich von diesen Grundsätzen abgegangen? fragte Monte Christo, der von Zeit zu Zeit Maximilian unwillkürlich so aufmerksam anschaute, daß der kühne junge Mann schon ein paarmal die Augen vor dem klaren, durchsichtigenBlicke des Grafen niedergeschlagen hatte.
Mir scheint, antwortete Morel, indem Sie Herrn von Morcerf, der Ihnen unbekannt war, befreiten, dienten Sie Ihrem Nächsten und der Gesellschaft.
Deren schönste Zierde erbildet, sagteBeauchamp ernst und leerte mit einem Zuge ein volles Glas Champagner.
Herr Graf, rief Morcerf, Sie sind gefangen, Sie, einer der schärfsten Logiker, die ich kenne, und Sie werden sehen, manbeweist Ihnen sogleich, daß Sie kein Egoist, sondern ein Philanthrop sind. Ah, Herr Graf, Sie sagen, Sie seien Orientale, Malaie, Indianer, Chinese, Wilder, Sie nennen sich Monte Christo mit Familiennamen, Simbad der Seefahrer mit Vornamen, und an dem Tage, wo Sie Paris zum erstenmalbetreten, besitzen Siebereits das größte Verdienst oder den größten Fehler unserer überschwenglichen Pariser, das heißt, Sie maßen sich Laster an, die Sie nicht haben, und verbergen die Tugenden, die Siebesitzen.
Lieber Vicomte, sagte Monte Christo, ich sehe in allem, was ich gesprochen oder getan, nicht das geringste, was des Lobes wert wäre, das ich soeben von Ihnen und diesen Herren empfangen habe. Sie waren kein Fremder für mich, da ich Sie kannte, da ich Ihnen zwei Zimmer abgetreten, da ich Ihnen ein Frühstück gegeben, da ich Ihnen meinen Wagen geliehen, da wir miteinander auf dem Korso die vorüberziehenden Maskenbetrachtet und von einem Fenster der Piazza del popolo einer Hinrichtung zugeschaut hatten, die einen so gewaltigen Eindruck auf Sie machte, daß Ihnenbeinahe übel geworden wäre. Ich frage nun alle diese Herren: Konnte ich meinen Gast in den Händen derBanditen lassen, wie Sie diese Leute nennen? Auch hatte ich, als ich Sie rettete, wie Sie wissen, einen Hintergedanken; ich wollte gern durch Sie in die Pariser Salons eingeführt werden, wenn ich nach Frankreich käme. Sie konnten das damals für einen flüchtigen Einfall halten, heute aber sehen Sie, daß es eine ernste Wahrheit ist, der Sie sich unterwerfen müssen, wenn Sie Ihr Wort nichtbrechen wollen.
Ich werde es halten, sagte Morcerf, doch ich fürchte sehr, es wird eine Entzauberungbei Ihnen eintreten, lieber Graf, da Sie durch romantischeBegebenheiten und phantastische Ereignisse verwöhnt sind. Bei uns finden Sie keine Spur von Episoden der Art, wie sie in Ihrem abenteuerlichen Leben zur Regel gehören. Unser Chimborasso ist der Montmartre, unser Himalaya der Mont‑Valérien, unsere große Wüste die Ebene von Grenelle, wo man einen artesischenBrunnen gegraben hat, damit die Karawanen Wasser finden. Wir haben auch Räuber, viele Räuber, wenn auch nicht so viele, wie man sagt, aber diese Räuber fürchten der weitem mehr den kleinsten Spion, als den mächtigsten Herrn: kurz, Frankreich ist ein so prosaisches Land und Paris eine so zivilisierte Stadt, daß Sie in allen unseren Departements keinenBerg finden, auf dem nicht eine Telegraphenstange stände, und keine etwas dunkle Grotte, in der die Polizei nicht hätte eine Glastür einsetzen lassen. Ich kann Ihnen folglich nur einen Dienst leisten, lieber Graf, und für diesen stehe ich zu Ihrer Verfügung: ich kann Sie überall vorstellen oder durch meine Freunde vorstellen lassen. Übrigensbrauchen Sie niemand hierzu; mit Ihrem Namen, mit Ihrem Vermögen und Ihrem Geiste — Monte Christo verbeugte sich mit leichtem ironischem Lächeln — stellt man sich überall selbst vor und wird überall gut aufgenommen. Ich kann Ihnen also nur in einerBeziehung nützlich sein. Gereicht es mirbei Ihnen zur Empfehlung, daß ich ein wenig mit dem Pariser Leben vertrautbin, einige Erfahrung im Komfortablen habe und unsereBasare kenne, so verfügen Sie über mich, wenn Sie sich einbequemes Haus aussuchen wollen. Ich wage es nicht, Ihnen den Vorschlag zu machen, meine Wohnung mit mir zu teilen, wie ich die Ihrige in Rom geteilt habe, ich, der ich mich nicht zum Egoismusbekenne, aber nichtsdestoweniger vorzugsweise Egoistbin; dennbei mir würde es, mich selbst ausgenommen, kein Schatten aushalten, dieser Schatten müßte denn der einer Frau sein.
Ah! rief der Graf, das ist ein ganz ehrlicher Vorbehalt. Sie haben mir in der Tat in Rom ein paar Worte von einem Heiratsplane gesagt; darf ich Ihnen zu Ihrer nahebevorstehenden Verbindung Glück wünschen?
Meinem Vater ist daran gelegen, und ich hoffe Ihnenbinnen kurzem, wenn nicht meine Frau, doch meineBraut, Fräulein Eugenie Danglars, vorzustellen.
Eugenie Danglars! rief Monte Christo, warten Sie doch… ist Ihr Vater nicht der Graf Danglars?
Ja, antwortete Morcerf, aber ein Graf neuer Herkunft.
Oh! Was tut das? entgegnete Monte Christo. Wenn er nur dem Staate Dienste geleistet hat, welche diese Auszeichnung als gerechteBelohnung erscheinen lassen.
Ungeheure Dienste, sagteBeauchamp. Er hat, obgleich in seinem Innern liberal, im Jahre 1829 ein Anlehen von sechs Millionen für den König Karl X. zu stande gebracht und wurde von diesem dafür zum Grafen und Ritter der Ehrenlegion ernannt, und so trägt er dasBand nicht an seiner Westentasche, wie man glauben könnte, sondern hübsch am Knopfloch seines Frackes.
Oh! rief Morcerf lachend, Beauchamp, Beauchamp, sparen Sie sich das für das Journal Amüsant und den Charivari, aber schonen Sie in meiner Gegenwart meinen künftigen Schwiegervater!
Sich an Monte Christo wendend, fragte Morcerf: Sie haben soeben seinen Namen ausgesprochen, wie einer, der den Grafen kennt?
Ich kenne ihn nicht, antwortete Monte Christo mit nachlässigem Tone, werde jedoch wahrscheinlichbald seineBekanntschaft machen, da ich einen offenen Kredit auf ihn durch das Haus Thomson und French in Rom habe.
Beim Aussprechen dieser Namen warf der Graf aus einem Winkel seines Auges Morel einenBlick zu.
Hatte der Fremde auf Morel eine Wirkung hervorzubringen gehofft, so täuschte er sich nicht. Morel zitterte, wie vom elektrischen Schlag getroffen. Thomson und French, sagte er, kennen Sie dieses Haus?
Es sind meineBankiers in der Hauptstadt der christlichen Welt, antwortete ruhig der Graf, kann ich Ihnenbei diesen Herren in irgend einerBeziehung nützlich sein?
Oh! Herr Graf, Sie könnten uns vielleicht in Nachforschungen unterstützen, diebis jetzt fruchtlos gewesen sind. Dieses Haus hat einst dem unsrigen einen großen Dienst geleistet, diesen Dienst aber, ich weiß nicht warum, stets abgeleugnet.
Ich stehe zuBefehl, sagte der Graf, sich verbeugend.
Aber wir sind vom Gegenstande unseres Gespräches abgekommen, bemerkte Morcerf. Es war davon die Rede, eine taugliche Wohnung für den Grafen von Monte Christo auszusuchen. Also meine Herren, wir wollen unsbesinnen! Wo werden wir unsern neuen Gast einquartieren?
Im Faubourg Saint‑Germain, sagte Chateau‑Renaud, der Herr findet dort ein reizendes kleines Hotel zwischen Garten und Hof.
Bah! Chateau‑Renaud, rief Debray, Sie kennen nur Ihren öden, langweiligen Faubourg Saint‑Germain. Hören Sie nicht auf ihn, Herr Graf! Wohnen Sie in der Chaussée‑d'Antin, das ist der wahre Mittelpunkt von Paris.
Boulevard de l'Opéra, sagteBeauchamp, im ersten Stock, ein Haus mitBalkon, der Herr Graf läßt Kissen von Silberstoff dahinbringen und sieht, seinen Tschibuk rauchend oder seine Pillen schluckend, die ganze Hauptstadt vor seinen Augen vorüberziehen.
Haben Sie keinen Gedanken, Morel, daß Sie nichts vorschlagen? sagte Chateau‑Renaud.
Doch wohl, erwiderte lächelnd der junge Mann; ich habe einen Gedanken, wartete aber, obsich der Herr Graf nicht durch einen von den glänzenden Vorschlägen, die man ihm macht, verführen lassen würde. Nun, da er nicht geantwortet, glaube ich ihm eine Wohnung in einem reizenden kleinen Hotel… ganz Pompadour… anbieten zu dürfen, das meine Schwester seit einem Jahr in der Rue Meslay gemietet hat.
Sie haben eine Schwester? fragte Monte Christo.
Ja, mein Herr, eine vortreffliche Schwester.
Verheiratet?
Seitbald neun Jahren, und so glücklich, als es ein menschliches Geschöpf nur sein kann, antwortete Maximilian; sie hat den Mann geheiratet, den sie liebte, der uns in unserem Unglück treu geblieben ist: Emanuel Raymond.
Monte Christo lächelte unmerklich.
Ich wohnte dort während meines halbjährigen Urlaubs, fuhr Maximilian fort, und stehe mit meinem Schwager Emanuel mit jeder Auskunft zu Diensten, deren der Herr Grafbedürfen sollte.
Einen Augenblick, rief Morcerf, noch ehe der Graf von Monte Christo Zeit gehabt hatte zu antworten. Bedenken Sie wohl, was Sie tun, Herr Morel; Sie wollen einen freien, schrankenlosen Reisenden, Simbad den Seefahrer, an das Familienleben fesseln; Sie wollen aus einem Mann, der gekommen ist, Paris zu sehen und zu genießen, einen Patriarchen machen.
Oh nein, erwiderte Morel lächelnd. Meine Schwester ist fünfundzwanzig Jahre alt, mein Schwager dreißig; sie sindbeide jung, heiter und glücklich. Zudem wird der Graf in eigenen Räumen leben, völlig sein eigener Herr sein und seine Wirte nur sehen, so oft es ihmbeliebt, sich zu ihnen zubegeben.
Ich danke, ich danke, sagte Monte Christo, ich werde michbegnügen, Ihrer Schwester und Ihrem Schwager durch Sie vorgestellt zu werden, wenn Sie mir diese Ehre erweisen wollen; aber ich nehme keines von den Anerbieten der Herren an, da schon eine Wohnung für michbereit steht.
Wie? rief Morcerf, Sie wollen im Gasthof absteigen? Das wird sehr unbequem für Sie sein.
War ich denn in Rom so übel dran? fragte Monte Christo.
Oh! in Rom, entgegnete Morcerf, dort haben Sie fünfzigtausend Piaster ausgegeben, um sich eine Wohnung möblieren zu lassen, doch ich setze voraus, Sie sind nicht geneigt, sich jeden Tag eine solche Ausgabe zu machen.
Das hätte mich nicht zurückgehalten, sagte Monte Christo; doch ich war entschlossen, ein Haus in Paris zu haben, ein eigenes Haus, und schickte meinen Kammerdiener voraus, der mir dieses Haus kaufen und möblieren lassen mußte.
Haben Sie denn einen Kammerdiener, der Paris kennt? riefBeauchamp.
Er kommt, wie ich, zum erstenmal nach Frankreich, mein Herr, ist schwarz und spricht nicht.
Dann ist es Ali? versetzte Albert, während alle erstaunt aufblickten.
Ja, es ist Ali, mein Nubier, mein Stummer, den Sie, wie ich glaube, in Rom gesehen haben.
Allerdings, ich erinnere mich seiner, sagte Morcerf.
Aber wie konnten Sie einen Nubierbeauftragen, Ihnen ein Haus zu kaufen, einen Stummen, es möblieren zu lassen? Der arme Unglückliche wird alles verkehrt gemacht haben.
Sie täuschen sich, Herr; ichbin im Gegenteil überzeugt, daß er alles nach meinem Geschmack eingerichtet hat, denn Sie wissen, mein Geschmack stimmt mit dem gewöhnlichen nicht überein. Er ist vor acht Tagen angekommen und wird in der Stadt mit dem Instinkte eines guten Jagdhunds herumgelaufen sein. Er kennt meine Neigungen, meine Schrullen, meineBedürfnisse, und ich zweifle nicht, daß er alles nach meinem Sinn gewählt hat. Er wußte, daß ich heute um zehn Uhr ankomme, und wartete auf mich seit neun Uhr an derBarrière de Fontainebleau. Dort übergaber mir dieses Papier, auf dem meine neue Adresse steht; sehen Sie! Monte Christo reichte das Papier Albert, und dieser las: Champs‑Elysées Nr. 30.
Das ist in der Tat originell, riefBeauchamp unwillkürlich.
Und ganz fürstlich, fügte Chateau‑Renaud hinzu.
Sie kennen Ihr Haus nicht einmal? fragte Debray.
Nein, erwiderte Monte Christo. Ich habe Ihnenbereits gesagt, daß ich die Stunde nicht versäumen wollte. Ich machte meine Toilette im Wagen und stieg vor der Tür des Vicomte aus.
Die jungen Leute schauten sich an; sie wußten nicht, obMonte Christo Komödie spielte; doch alles, was aus dem Munde dieses Mannes kam, trug ein solches Gepräge der Einfachheit, daß man an keine Lüge denken konnte. Warum sollte er auch gelogen haben?
Wir werden uns alsobegnügen müssen, dem Herrn Grafen alle die kleinen Dienste zu leisten, die in unserer Macht liegen, sagteBeauchamp. Ich meinerseits öffne ihm in meiner Eigenschaft als Journalist alle Theater von Paris.
Ich danke, versetzte Monte Christo lächelnd, mein Intendant hatbereitsBefehl erhalten, mir in jedem eine Loge zu mieten.
Ist Ihr Intendant auch ein Nubier, ein Stummer? fragte Debray.
Nein, er ist ein Landsmann von Ihnen, soweit manbei einem Korsen überhaupt von Landsmannschaft reden kann, er ist also ein Korse: doch Sie kennen ihn, Herr von Morcerf?
Sollte es etwa derbrave SignorBertuccio sein, der so gut Fenster zu mieten versteht?
Ganz richtig, Sie haben ihnbei mir an dem Tage gesehen, wo ich Siebeim Frühstück zu empfangen die Ehre hatte. Er ist ein sehrbraver Mann, der ein wenig Soldat, ein wenig Schmuggler, ein wenig von allem, was man sein kann, gewesen ist. Ich möchte nicht schwören, daß er nicht einmal mit der Polizei wegen einer Lumperei, etwa wegen eines Messerstichs, in Konflikt gekommen ist.
Und Sie haben diesen ehrlichen Weltbürger zum Intendanten gewählt, Herr Graf? sagte Debray. Wieviel stiehlt er Ihnen jährlich?
Auf mein Ehrenwort, nicht mehr als ein andrer, dessenbin ich sicher; doch erbesorgt meine Angelegenheiten, kennt keine Unmöglichkeit, und ichbehalte ihn.
Also Sie haben ein völlig eingerichtetes Haus, sagte Chateau‑Renaud, ein Hotel in den Champs‑Elysées, Bediente, Intendanten; es fehlt Ihnen nur noch eine Geliebte.
Albert lächelte; er dachte an die schöne Griechin, die er in der Gesellschaft des Grafen gesehen hatte.
Ich habe etwasBesseres, antwortete Monte Christo, ich habe eine Sklavin. Sie mieten Ihre Geliebten im de l'Opéra, im Théâtre des Variétés, ich habe die meinige in Konstantinopel gekauft; sie hat mich sehr viel gekostet, aber ichbrauche mich in dieserBeziehung um nichts mehr zubekümmern.
Doch Sie vergessen, sagte Debray lachend, wir sind, wie König Karl gesagt hat, frank dem Namen nach, frank der Natur nach, und somit ist Ihre Sklavin, sobald sie den Fuß auf die Erde Frankreichs gesetzt hat, frei geworden.
Wer wird es ihr sagen? fragte Monte Christo.
Der nächstebeste.
Sie spricht nur Neugriechisch.
Das ist etwas anderes.
Aber wir werden sie wenigstens sehen, fragteBeauchamp, oderbesitzen Sie auch Eunuchen, wie Sie einen Stummen haben?
Nein, erwiderte Monte Christo, so weit treibe ich den Orientalismus nicht. Jedem von meiner Umgebung steht es frei, mich zu verlassen, und wer mich verläßt, bedarf weder mehr meiner, noch irgend einer andern Person, darum verläßt man mich vielleicht nicht.
Inzwischen war man längstbeim Nachtisch undbei den Zigarren angelangt.
Mein Lieber, sagte Debray, als er aufstand und wegging, zum Wirt, es hat halbdrei Uhr geschlagen, Ihr Gast ist entzückend, aber die Gesellschaft mag so gut sein, wie sie will, man verläßt sie doch endlich… zuweilen einer schlechten zu Liebe; ich muß in mein Ministerium zurückkehren. Über den Grafen spreche ich mit dem Minister, und wir erfahren sicherlich, wer er ist.
Nehmen Sie sich in acht, entgegnete Morcerf; die Schlauesten haben darauf Verzicht geleistet.
Bah! wir haben drei Millionen für unsere Polizei; sie sind allerdings fast immer zum voraus ausgegeben, doch gleichviel, esbleiben immerhin fünfzigtausend Franken, die man hierauf verwenden kann.
Und wenn Sie wissen, wer er ist, werden Sie es mir sagen?
Ich verspreche es Ihnen. Auf Wiedersehen, meine Herren!
Mit diesen Worten verließ Debray die Gesellschaft und rief ganz laut im Vorzimmer: Vorfahren!
Gut, sagteBeauchamp zu Albert, ich gehe nicht in die Kammer, aber ich habe nun meinen Lesern etwasBesseres zubieten, als eine Rede von Danglars.
Ichbitte, Beauchamp, erwiderte Morcerf, ichbitte, kein Wort, hiervon; berauben Sie mich nicht des Verdienstes, ihn vorzustellen. Nicht wahr, er ist interessant?
Er ist noch mehr, sagte Chateau‑Renaud, er ist in der Tat einer der außerordentlichsten Menschen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Kommen Sie mit, Morel?
Lassen Sie mich nur meine Karte dem Grafen geben, der uns einenBesuch zugesagt hat.
Seien Sie versichert, daß ich nicht verfehlen werde, ihn abzustatten, sagte der Graf mit einer Verbeugung.
Nachdem hierauf Morel dem Grafen seine Karte überreicht hatte, entfernte er sich mit demBaron von Chateau‑Renaud und ließ Monte Christo mit Morcerf allein.
Dritter Band
Die Vorstellung
Als Albert sich mit Monte Christo allein sah, sagte er: Herr Graf, erlauben Sie mir, Ihnen zunächst meine Junggesellenwohnung zu zeigen. An die italienischen Paläste gewöhnt, werden Sie sich freilich wundern, mit wie wenig Raum ein junger Mann hier in Paris auskommen kann.
Monte Christo kanntebereits das Speisezimmer und den Salon im Erdgeschoß. Albert führte ihn nun in seinbevorzugtes Zimmer, sein Atelier. Der Graf wußte alle die zahllosen Gegenstände darin zu würdigen, und Morcerf, der dem Gaste als Erklärer hatte dienen wollen, machte seinerseits unter Leitung seines Gastes einen Kursus in der Archäologie und Naturwissenschaft durch.
Man stieg dann in den ersten Stock hinauf, und Albert führte seinen Gast in den Salon, der mit Werken moderner Meister geschmückt war. Wenn er aber erwartet hatte, diesmal wenigstens dem fremden Reisenden etwas Neues zu zeigen, so hörte er zu seinem großen Erstaunen diesen sofort den Namen jedes Meisters nennen, obgleich die Werke häufig nur die Anfangsbuchstaben desselben trugen. Offenbar kannte er nicht nur alle diese Namen, sondern verstand auch jedes dieser Talente zu würdigen.
Vom Salon ging man ins Schlafzimmer; es war zugleich ein Muster von Eleganz und von strengem Geschmack; darin glänzte ein einziges künstlerisch ausgeführtes Porträt in mattgoldenem Rahmen. DiesesBild zog sogleich dieBlicke des Grafen an, denn er machte drei rasche Schritte darauf zu.
Es war das Porträt einer Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren, vonbrauner Gesichtsfarbe, mit feurigem, von schön geformtem Augenlide verschleiertemBlicke, sie trug die malerische Kleidung der katalonischen Fischerinnen mit rot und schwarzem Mieder und goldenen, durch die Haare gesteckten Nadeln; sie schaute auf die See hinaus, und ihr hübsches Profil hobsich von dem doppelten Azur der Wellen und des Himmels ab.
Es war düster im Zimmer, sonst hätte Albert gesehen, welche Leichenblässe sich über die Wangen des Grafen verbreitete, er hätte dasBeben seiner Schultern und seinerBrustbemerken müssen.
Nach kurzem Stillschweigen sagte der Graf von Monte Christo mit vollkommen ruhiger Stimme: Graf, Sie haben da eine schöne Geliebte, und diesesBallkostüm steht ihr zum Entzücken.
Oh! erwiderte Albert, Sie irren. Das ist meine Mutter, die Sie ja noch nicht gesehen haben. Die Tracht ist, wie es scheint, ein Phantasiekostüm, und die Ähnlichkeit ist so groß, daß ich meine Mutter noch vor mir zu sehen wähne, wie sie im Jahre 1830 war, als sie dieses Porträt während einer Abwesenheit des Grafen malen ließ. Seltsamerweise mißfiel das Porträt meinem Vater, und der große Kunstwert des Gemäldes ließ ihn den Widerwillen nicht überwinden, den er dagegen gefaßt hatte. Allerdings ist Herr von Morcerf, unter uns gesagt, einer der eifrigsten Politiker, einberühmter General, aber ein äußerst mäßiger Kunstkenner. Anders meine Mutter, die sehr gut malt, und da sie ein solches Werk zu sehr schätzt, um sich gänzlich davon trennen zu können, hat sie es mir gegeben, damit es Herrn von Morcerf, dessen Porträt ich Ihnen übrigens auch zeigen werde, seltener vor Augen komme. Meine Mutter jedoch kommt selten zu mir, ohne es zubetrachten, und noch seltener geschieht es, daß sie dasBildbetrachtet, ohne zu weinen. Übrigens ist die Wolke, die durch dieses Gemälde in unser Haus kam, die einzige, die sich zwischen dem Grafen und der Gräfin erhoben hat, denn sie sind, obgleich seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet, noch heute so sehr eins wie am ersten Tage.
Monte Christo warf einen raschenBlick auf Albert, als wollte er unter seinen Worten eine verborgene Absicht suchen, aber der junge Mann hatte sie offenbar völlig absichtslos ausgesprochen.
Nun haben Sie alle meine Reichtümer gesehen, fuhr Albert fort; erlauben Sie mir, Herr Graf, sie Ihnen anzubieten, so unwürdig sie auch sein mögen. Betrachten Sie sich als hier zu Hause, und um noch heimischer zu werden, haben Sie die Güte, mich zu Herrn von Morcerf zubegleiten, dem ich von Rom den Dienst, den Sie mir geleistet, mitgeteilt. und denBesuch, den Sie mir versprochen, angekündigt habe. Ich darf wohl sagen, der Graf und die Gräfin erwarten mit Ungeduld den Zeitpunkt, wo sie Ihnen danken können. Sie haben hierfür wenig Sinn; ich weiß das, Herr Graf, und Familienszenen üben keine große Wirkung auf Simbad den Seefahrer aus, der so viele andere Szenen gesehen hat. Nehmen Sie indessen, was ich Ihnenbieten kann, als Eingang in das Pariser Leben an, in ein Leben voll Höflichkeitsbesuche und Vorstellungen.
Monte Christo verbeugte sich, ohne zu antworten; er nahm den Vorschlag ohneBegeisterung und ohne Widerstreben an… wie eine Pflicht des Anstandes, der sich jeder unterwerfen muß. Albert rief seinen Kammerdiener undbefahl ihm, Herrn und Frau von Morcerf den Grafen von Monte Christo zu melden; dann folgte er ihm mit dem Grafen.
Als man in das Vorzimmer des Grafen gelangte, sah man über der Tür des Salons ein Wappenschild; der Grafbliebvor dem Wappen stehen, schaute es aufmerksam an und fragte: Ohne Zweifel das Wappen Ihrer Familie, Vicomte? Ichbin sehr unwissend in der Wappenkunde.
Sie haben richtig erraten, es sind die Wappen meines Vaters und meiner Mutter, antwortete Morcerf mit dem einfachen Tone der Überzeugung. Von weiblicher Seitebin ich Spanier, doch das Haus Morcerf ist französisch und, wie ich sagen hörte, eines der ältesten im südlichen Frankreich.
Ja, sagte der Graf, das deuten die Amseln in den Wappen an. Fast alle Kreuzfahrer wählten als Wappen entweder Kreuze oder Wandervögel. Einer Ihrer väterlichen Ahnen wird einen Kreuzzug mitgemacht haben, und nehmen wir auch an, es sei einer der letzten Züge unter Ludwig dem Heiligen gewesen, so führt dies Ihren Adel schon in das dreizehnte Jahrhundert zurück, was immerhin ein hübsches Alter ist. Sie stammen also zugleich von der Provence und von Spanien her, wodurch sich, wenn das Porträt, das Sie mir gezeigt haben, ähnlich ist, die schönebraune Farbe erklärt, die ich so sehr auf dem Antlitz der edeln Katalonierinbewunderte.
Die Ironie, die in diesen Worten lag, die scheinbar das Gepräge der größten Höflichkeit an sich trugen, war schwer zu erraten; Morcerf dankte ihm auch mit einem Lächeln, ging voran und öffnete eine in den Salon führende Tür. An der am meisten in das Auge fallenden Stelle dieses Salons sah man ebenfalls ein Porträt; es war das eines Mannes von etwa sechsunddreißig Jahren in Generalsuniform mit demBande der Kommandeure der Ehrenlegion, dem Stern des Großoffiziers vom Erlöser‑Orden und dem Großkreuz des Ordens Karls III.
Monte Christobeschäftigte sich eben damit, dieses Porträt mit derselben Sorgfalt zu zergliedern wie vorher das andere, als eine Seitentür geöffnet wurde und er sich dem Grafen von Morcerf selbst gegenüber fand.
Dieser war ein Mann von vierzigbis fünfundvierzig Jahren; sein schwarzer Schnurrbart und seine schwarzen Augenbrauen stachen seltsam von seinen weißen, nach militärischer Modebürstenartig geschnittenen Haaren ab; er warbürgerlich gekleidet und trug am Knopfloch ein Ordensband. Der Graf von Morcerf trat mit ziemlich edlem Anstand und mit einem gewissen Eifer ein. Monte Christo ließ ihn auf sich zukommen, ohne einen Schritt zu tun; man hätte glauben sollen, seine Füße seien an denBoden genagelt, wie seine Augen an das Gesicht des Eintretenden.
Mein Vater, sagte der junge Mann, ich habe die Ehre, Ihnen den Grafen von Monte Christo, den edelmütigen Freund, vorzustellen, den ich so glücklich war unter den Ihnenbekannten, schwierigen Umständen zu treffen.
Der Herr ist willkommen in unserer Mitte, sagte der Graf von Morcerf, Monte Christo mit einem Lächelnbegrüßend; er hat unserem Hause durch Erhaltung seines einzigen Erben einen Dienst geleistet, für den wir zu unauslöschlichem Danke verpflichtet sind.
Mit diesen Wortenbot Morcerf seinem Gaste einen Lehnstuhl, während er sich selbst vor das Fenster setzte. Monte Christo nahm den gebotenen Platz an, richtete es aber so ein, daß er im Schatten der großen Samtvorhänge verborgenblieb, wo es ihm gestattet war, in den Zügen des Grafen, die auffallende Spuren sorgenvoller Ermattung zeigten, eine ganze Geschichte geheimer Leiden zu lesen, die aus den tiefen Furchen sprach, womit ein frühzeitiges Alter sein Gesicht durchzogen hatte.
Graf Morcerf sagte hierauf: Die Frau Gräfin warbei der Toilette, als sie der Herr Vicomte von demBesuchebenachrichtigen ließ, den sie zu empfangen die Ehre haben sollte; sie wird in zehn Minuten hier sein.
Es ist viel Ehre für mich, erwiderte Monte Christo, daß ich schon am Tage meiner Ankunft in Paris mit einem Manne inBerührung treten kann, dessen Verdienst seinem Rufe gleichkommt, undbei dem das gerechte Schicksal keinen Irrtumbeging. Hatte es Ihnen aber nicht auf dem algerischen Kriegsschauplatze einen Marschallsstabanzubieten?
Ich habe den Dienst verlassen, sagte Morcerf, ein wenig errötend. Unter der Restauration zum Pair ernannt, nahm ich meinen Abschied, denn wenn man, wie ich, seine Epauletten auf dem Schlachtfelde gewonnen hat, so versteht man nicht auf dem schlüpfrigenBoden des Salons zu manövrieren. Ich habe den Degen niedergelegt und mich auf die Politik geworfen, widme mich der Industrie und studiere die nützlichen Künste. Während der zwanzig Jahre, die ich im Dienste geblieben, hatte ich wohl Lust hierzu, aber es gebrach mir an Zeit.
Auf diesen Ansichtenberuht die Überlegenheit Ihrer Nation über die anderen Länder, Herr Graf, versetzte Monte Christo. Von vornehmer Herkunft und imBesitz eines schönen Vermögens, haben Sie es doch nicht verschmäht, als gemeiner Soldat von der Pike auf zu dienen, und das ist etwas Seltenes. Zum General, Pair von Frankreich, Kommandeur der Ehrenlegion erhoben, geben Sie sich zu einer zweiten Lehrzeit her, ohne andere Hoffnung und andereBelohnung, als die, eines Tages Ihresgleichen nützlich zu sein. Ah! mein Herr, das ist in der Tat schön, ich sage noch mehr, es ist erhaben!
Albertbetrachtete und hörte Monte Christo mit Erstaunen; er war nicht gewohnt, ihn so enthusiastisch sich ausdrücken zu hören.
Ah! fuhr der Fremde fort, ohne Zweifel, um die unmerkliche Wolke zu verscheuchen, diebei seinen Worten über Morcerfs Stirn hinzog, ah! wir machen es in Italien nicht so, wir wachsen nach unserem Geschlecht und unserer Gattung, und wirbehalten dasselbeBlätterwerk, dieselbe Gestalt und leider oft dieselbe Nutzlosigkeit unser ganzes Leben hindurch.
Aber, entgegnete der Graf von Morcerf, für einen Mann von Ihrem Verdienste ist Italien kein Vaterland; Frankreich reicht Ihnen seine Arme. Entsprechen Sie dem Rufe, den es an Sie ergehen läßt! Frankreich ist nicht immer undankbar; esbehandelt manchmal seine Kinder schlecht, aber für die Fremden zeigt es sich gewöhnlich großherzig.
Ei! sagte Albert lächelnd, man sieht, daß Sie den Herrn Grafen von Monte Christo nicht kennen. SeineBefriedigung liegt außerhalbdieser Welt; er strebt nicht nach Auszeichnungen.
Sie sind Herr Ihrer Zukunft gewesen und haben denBlumenpfad gewählt, sagte der Graf von Morcerf mit einem Seufzer.
Allerdings, erwiderte Monte Christo mit einem Lächeln, das ein Maler schwerlich wiedergeben könnte.
Hätte ich nicht den Herrn Grafen zu ermüdenbefürchtet, sagte der General, offenbar entzückt über die Art seines Gastes, so würde ich ihn in die Kammer geführt haben, es ist heute eine interessante Sitzung.
Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, doch für heute hat man mir mit der Hoffnung, der Frau Gräfin vorgestellt zu werden, geschmeichelt, und ich will lieber hierauf warten.
Ah! da kommt meine Mutter, rief der Vicomte.
Rasch sich umwendend, erblickte Monte Christo wirklich Frau von Morcerf auf der Schwelle der gegenüberliegenden Tür; unbeweglich undbleich, stand sie hier seit einigen Sekunden und hatte die letzten Worte gehört.
Monte Christo erhobsich und machte eine tiefe Verbeugung vor der Gräfin, die sich stumm und zeremoniös verneigte.
Fehlt Ihnen etwas, teure Mutter? rief der junge Vicomte, Mercedes entgegeneilend.
Sie dankte mit einem Lächeln und sagte: Nein, ich fühle mich nur erschüttertbeim ersten Anblick des Herrn Grafen, ohne dessen Eingreifen wir heute in Tränen und Trauer wären. Mein Herr, fügte die Gräfin, mit der Majestät einer Königin vorschreitend, hinzu, ich verdanke Ihnen das Leben meines Sohnes und segne Sie für diese Wohltat. Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, welches Vergnügen es mirbereitet, daß Sie mir Gelegenheit verschafften, Ihnen aus dem Grunde meines Herzens zu danken, wie ich Sie aus dem Grunde meines Herzens gesegnet habe.
Der Graf verbeugte sich abermals, jedoch noch tiefer als das erste Mal; er warbleicher als Mercedes.
Gnädige Frau, sagte er, der Herr Graf und Siebelohnen mich zu großmütig für eine ganz einfache Handlung. Einen Menschen retten, dem Vater eine Qual ersparen, das empfindliche Herz einer Frau schonen, heißt nicht ein gutes Werk, sondern ein Gebot der Menschlichkeit ausführen.
Auf diese mit außerordentlicher Weichheit und Artigkeit gesprochenen Worte erwiderte die Gräfin mit gefühlvollerBetonung: Mein Herr, mein Sohn ist glücklich, Sie seinen Freund nennen zu dürfen, und ich danke Gott, der die Dinge so gelenkt hat.
Mercedes schlug ihre Augen mit grenzenloser Dankbarkeit zum Himmel auf, und Monte Christo glaubte sogar Tränen darin zittern zu sehen.
Herr Graf, fuhr sie fort, werden Sie uns die Ehre erweisen, den Rest des Tages mit uns zuzubringen?
Glauben Sie mir, gnädige Frau, ich weiß Ihnen den größten Dank für Ihr Anerbieten, aber ichbin heute morgen vor Ihrer Tür aus meinem Reisewagen gestiegen. Ich weiß noch gar nicht, wie ich in Paris eingerichtetbin; ich weiß kaum, wo ichbleibe.
So versprechen Sie uns wenigstens, daß wir das Vergnügen ein andermal haben werden, sagte die Gräfin.
Monte Christo verbeugte sich, ohne zu antworten.
Dann halte ich Sie nicht zurück, sagte die Gräfin, denn meine Dankbarkeit soll keine Last für Sie sein.
Lieber Graf, sagte Albert, wenn Sie gestatten, stelle ich Ihnen meinen Wagen zur Verfügung, wie Sie es mir gegenüber in Rom getan haben, bis Sie Zeit gehabt haben, Ihre Equipagen in gehörigen Stand zu setzen.
Ich danke Ihnen tausendmal für Ihre Zuvorkommenheit, Vicomte, aber ich denke, Bertuccio wird die fünf Stunden, die ich ihm gelassen, gut angewendet haben, und ich werde vor der Tür einen Wagen finden.
Albert war an diese Art und Weise des Grafen gewöhnt, er wußte, daß für ihn etwas Unmögliches so wenig zubestehen schien, wie für den Kaiser Nero; er wollte sich aber doch selbst überzeugen undbegleitete daher den Grafenbis an die Tür des Hauses. Monte Christo hatte sich nicht getäuscht; er fand wirklich einen Wagen, der auf ihn wartete. Es war ein prachtvolles Coupé und ein Gespann, das, wie man in der Pariser Gesellschaft wußte, noch am Tage zuvor nicht für achtzehntausend Franken feil gewesen war.
Mein Herr, sagte der Graf zu Albert, ich mache Ihnen nicht den Vorschlag, mich nach Hause zubegleiten, ich könnte Ihnen nur ein improvisiertes Haus zeigen, und ich habe, wie Sie wissen, inBezug auf Improvisationen einen Ruf zu wahren. Bewilligen Sie mir einen Tag und erlauben Sie mir dann, Sie einzuladen. Und er sprang in den Wagen, der sich hinter ihm schloß, und fuhr im Galopp von dem Hause weg, jedoch nicht so schnell, daß er nicht eine unmerklicheBewegung wahrgenommen hätte, welche den Vorhang des Salons zittern machte, wo er die Gräfin zurückgelassen hatte.
Als Albert zu seiner Mutter zurückkehrte, bemerkte er, daß sie wie aufgelöst in einen samtenen Lehnstuhl zurückgesunken war; in dem halbdunklen Gemache konnte man aber nichts deutlich erblicken, so konnte er auch das Gesicht der Gräfin nicht sehen, doch kam es ihm vor, alsbebte ihre Stimme; auch drang durch die Wohlgerüche von Rosen und Heliotropen der herbe, beißende Geruch von Essigäther, und seiner ängstlichen Aufmerksamkeit entging das Flacon der Gräfin nicht, das auf dem Kamin stand.
Sie sind doch nicht wohl, teure Mutter! rief er eintretend.
Nein, Albert; aber dubegreifst, diese Rosen, diese Hyacinthen, diese Orangenblüten strömen während der ersten Wärme so starke Wohlgerüche aus…
Dann muß man sie in Ihr Vorzimmerbringen lassen, sagte Morcerf, mit der Hand nach der Glocke greifend. Sie sind in der Tat unpäßlich; schon vorhin, als Sie eintraten, waren Sie sehrbleich.
Ich warbleich, sagst du, Albert?
Sie waren von einerBlässe, die Ihnen sehr gut steht, meine Mutter, aber darum meinen Vater und mich nichtsdestoweniger erschreckt hat.
Sprach dein Vater mit dir darüber? fragte Mercedes rasch.
Nein, Mama, doch erinnern Sie sich, er hat Ihnen gegenüber selbst dieseBemerkung gemacht.
Ich erinnere mich dessen nicht, versetzte die Gräfin.
Ein Diener erschien und trug auf Alberts Geheiß dieBlumen ins Vorzimmer.
Was für ein Name ist Monte Christo? fragte die Gräfin, nachdem sich der Diener entfernt hatte. Ist es ein Familienname oder nur ein Titel?
Ich glaube, es ist nur ein Titel. Der Graf hat eine Insel im toskanischen Archipel gekauft. Übrigensbildet er sich nichts auf den Adel ein und nennt sich einen Zufallsgrafen, obgleich in Rom allgemein die Ansicht herrscht, der Graf sei ein sehr vornehmer Herr.
Seine Haltung ist ausgezeichnet, sagte die Gräfin, wenigstens nach dem, was ich während der wenigen Augenblicke, die er hier war, beurteilen konnte.
Oh! sie ist ganz vollkommen, so vollkommen, daß siebei weitem alles übersteigt, was ich Aristokratischesbeim englischen, spanischen oder deutschen Adel gesehen habe.
Die Gräfin dachte einen Augenblick nach und fuhr dann nach diesem kurzen Zögern fort: Mein lieber Albert… du hast Herrn von Monte Christo in seinem Heim gesehen, dubist mit der Welt vertraut undbesitzest mehr Takt, als man in deinem Alter zu haben pflegt, glaubst du, daß der Graf wirklich ist, was er zu sein scheint?
Und was scheint er zu sein?
Du sagtest es soeben, ein vornehmer Herr.
Ich sagte Ihnen, man halte ihn dafür.
Und was denkst du davon, Albert?
Ich muß gestehen, ich habe keinebestimmte, abgeschlossene Ansicht über ihn; ich habe so viele seltsame Dinge von ihm gehört, daß ich, wenn ich sagen soll, was ich von ihm denke, Ihnen antworte, ich möchte den Grafen für einen Menschen nach LordByrons Art halten, dem das Schicksal einen unseligen Stempel aufgedrückt hat, für den Sprossen irgend einer alten Familie, der, seines väterlichen Vermögens enterbt, ein neues durch die Kraft seines abenteuerlichen Geistes fand, der ihn über die Gesetze der Gesellschaft stellte.
Du sagst?…
Ich sage, Monte Christo ist eine Insel im Mittelländischen Meere, ohneBewohner, ohne Garnison, ein Schlupfwinkel für Schmuggler und Piraten. Wer weiß, obdiese würdigen Gewerbsleute ihrem Herrn nicht eine Abgabe zahlen?
Es ist möglich, sagte die Gräfin, in Sinnen verloren.
Doch gleichviel, versetzte der junge Mann, Schmuggler oder nicht, Sie werden zugestehen, meine Mutter, da Sie es selbst gesehen haben, der Herr Graf von Monte Christo ist ein merkwürdiger Mann, und seine Erscheinung in den Salons von Paris wird von dem glänzendsten Erfolgbegleitet sein. Schon heute hat erbei mir seinen Eintritt in die Welt damitbegonnen, daß er sogar Chateau‑Renaud in das höchste Erstaunen versetzte.
Wie alt kann der Graf sein? sagte Mercedes, sichtbar ein großes Gewicht auf diese Frage legend.
Fünfunddreißigbis sechsunddreißig Jahre, meine Mutter.
So jung! Das ist unmöglich, sagte Mercedes, zugleich auf Alberts Worte und ihre eigenen Gedanken erwidernd.
Es ist dennoch wahr, drei- oder viermal äußerte er, und gewiß ohne Vorbedacht: damals war ich fünf Jahre, damals zehn, zu jener Zeit zwölf Jahre alt. Meine Neugierde achtete auf diese Einzelheiten, ich stellte die Daten zusammen, und nie fand ich einen Widerspruchbei ihm. Das Alter dieses seltsamen Mannes, der eigentlich kein Alter hat, ist nach meiner festen Überzeugung fünfunddreißig Jahre. Erinnern Sie sich überdies, meine Mutter, wie lebhaft sein Auge ist, wie üppig und ungebleicht seine Haare, und wie runzelfrei seine edle Stirn; erbesitzt nicht nur einen kräftigen, sondern auch noch einen jungen Körper.
Die Gräfin senkte das Haupt wie unter dem Druck schwerer, bitterer Gedanken.
Und dieser Mann hat ein Gefühl der Freundschaft für dich gefaßt, Albert? fragte sie inbebendem Tone, und du liebst ihn?
Er gefällt mir, Mutter, was auch Franz d'Epinay sagen mag, dem er als unheimliches, einer andern Welt entstammendes Wesen erscheint.
Die Gräfin machte eineBewegung des Schreckens und sagte stotternd: Albert, stets war ichbemüht, dirBehutsamkeit gegen neueBekanntschaften zu empfehlen. Nunbist du ein Mann und könntest mir Ratschläge geben, dennoch wiederhole ich dir, sei klug. Albert.
Liebe Mutter, wenn nur dieser Rat Nutzenbringen sollte, so müßte ich zum voraus wissen, wogegen sich mein Mißtrauen zu richten hätte. Der Graf spielt nie, der Graf trinkt nur durch einen Tropfen spanischen Wein vergoldetes Wasser, der Graf ist so reich, daß er, ohne sich ins Gesicht lachen zu lassen, kein Geld von mir entlehnen könnte; was soll ich also von ihmbefürchten?
Du hast recht, meine Furcht ist töricht, besonders da sie einen Mann zum Gegenstand hat, der dir das Leben rettete. Doch sprich, hat ihn dein Vater gut ausgenommen? Es ist wünschenswert, daß wir auf recht gutem Fuße mit dem Grafen stehen. Herr von Morcerf ist zuweilen sehrbeschäftigt, seine Angelegenheitenbereiten ihm Sorgen, und es könnte sein, daß er, ohne zu wollen…
Mein Vater war, wie man es nur immer wünschen konnte; ich sage noch mehr, er schien geschmeichelt durch ein paar sehr geschickte Komplimente, die der Graf sehr glücklich und passend einfließen ließ, als kennte er ihn seit dreißig Jahren. Jeder von diesen Lobpfeilen mußte meinen Vater kitzeln, fügte Albert lachend hinzu. Sie trennten sich als diebesten Freunde der Welt, und Herr von Morcerf wollte ihn sogar in die Kammer mitnehmen, um ihn seine Rede hören zu lassen.
Die Gräfin antwortete nicht, sie war in so tiefe Träumerei versunken, daß sich ihre Augen allmählich geschlossen hatten. Vor ihr stehend, betrachtete sie der junge Mann mit jener Sohnesliebe, diebesonders zärtlich und innigbei Kindern ist, deren Mütter noch schön und jung sind. Als er sah, wie sich ihre Augen schlossen, als er sie eine Minute lang in ihrer sanften Unbeweglichkeit atmen hörte und sie entschlummert glaubte, entfernte er sich auf den Fußspitzen.
Dieser Teufelskerl, murmelte er, den Kopf schüttelnd, ich prophezeite ihm dort schon, er würde in der Welt Aufsehen machen; ich ermesse die Wirkung seiner Person nach einem untrüglichen Thermometer; meiner Mutter ist er aufgefallen, folglich muß er sehr merkwürdig sein. Und er ging in seinen Stall hinab, nicht ohne leisen Ärger darüber, daß sich der Graf, ohne nur daran zu denken, ein Gespann erworben hatte, das seineBraunenbei Kennern in die zweite Reihe schob.
Bertuccio
Mittlerweile war der Graf in seiner Wohnung angelangt; er hatte sechs Minuten gebraucht, den Weg zurückzulegen. Diese sechs Minuten genügten, daß er von zwanzig jungen Leutenbemerkt wurde, die, bekannt mit dem Preise des Gespanns, das sie selbst nicht hatten kaufen können, ihre Rosse in Galopp setzten, um den glänzenden Herrn zu sehen, der sich Pferde im Werte von 20 000 Franken anschaffte.
Das von Ali gewählte Haus, das für Monte Christo als Pariser Residenz dienen sollte, lag rechts, wenn man die Champs‑Elysées hinaufgeht, zwischen Hof und Garten. Eine üppigeBaumgruppe, die sich mitten im Hofe erhob, verbarg einen Teil der Fassade. Das inmitten eines weiten Raumes vereinzelt stehende Haus hatte außer dem Haupteingang noch einen andern Eingang, der sich nach der Rue de Ponthieu öffnete.
Ehe der Kutscher den Pförtner angerufen hatte, drehte sich schon das massive Gittertor auf seinen Angeln; man hatte den Grafen kommen sehen, und er wurde in Paris, wie in Rom und überall, mitBlitzesschnellebedient. Der Kutscher fuhr also hinein, beschriebden Halbkreis, ohne den Gang seiner Pferde im geringsten zu hemmen, und die Räder krachten noch auf dem Sande der Allee, alsbereits das Gitter wieder geschlossen war. Auf der linken Seite der Freitreppe hielt der Wagen an, zwei Männer erschienen am Schlage; der eine war Ali, der seinem Herrn mit unglaublich treuherziger Freude zulächelte und sich durch einen einzigenBlick von Monte Christobezahlt fand. Der andere verbeugte sich in Demut und reichte dem Grafen den Arm, um ihm aussteigen zu helfen.
Ich danke, HerrBertuccio, sagte der Graf, leicht herausspringend; wie ist's mit dem Notar?
Er wartet im kleinen Salon, antworteteBertuccio.
Und die Visitenkarten, die Sie meinemBefehle gemäß stechen lassen sollten, sobald Sie die Nummer des Hauses wüßten?
Sindbesorgt, Herr Graf; ich warbei dembesten Graveur des Palais Royal und ließ ihn die Platte in meiner Gegenwart ausführen; die erste abgezogene Karte wurde, wie Siebefohlen, demBaron Danglars, Deputierten, Rue de la Chaussee d'Antin Nr. 7, überbracht, die andern liegen auf dem Kamin des Schlafzimmers Eurer Exzellenz!
Gut. Wieviel Uhr ist es? — Vier Uhr.
Monte Christo gabseine Handschuhe, seinen Hut und Stock einemBedienten und ging dann in den kleinen Salon, wo ihn der Notar, ein ehrliches Schreibergesicht mit der unzerstörbaren Würde eines PariserBeamten, erwartete.
Ist dies der Notar, der den Auftrag hat, das Landhaus zu verkaufen, das ich mir erwerben will? fragte Monte Christo.
Ja, Herr Graf, antwortete der Notar; hier ist der Kaufvertrag!
Vortrefflich. Und wo liegt das Haus? fragte Monte Christo nachlässig, sich halbanBertuccio, halban den Notar wendend.
Der Intendant machte eine Gebärde, die wohlbedeuten sollte: Ich weiß es nicht.
Der Notar schaute Monte Christo an und rief: Wie, der Herr Graf weiß nicht, wo das Haus liegt, das er kaufen will?
Wie zum Teufel soll ich es wissen? Ich komme heute von Cadix, bin nie in Paris gewesen, ja es ist sogar das erste Mal, daß ich französischenBodenbetrete.
Dann ist es etwas anderes; das Haus, das der Herr Graf kauft, liegt in Auteuil.
Bei diesen Worten erbleichteBertuccio sichtbar.
Und wo liegt Auteuil? fragte Monte Christo.
Nur ein paar Schritte von hier, Herr Graf, erwiderte der Notar, etwas hinter Paffy, in einer reizenden Gegend.
So nahe! sagte Monte Christo, das ist kein Landhaus. Wie zum Teufel konnten Sie ein Haus vor den Toren der Stadt wählen, HerrBertuccio?
Ich! rief der Intendant mit seltsamem Eifer; hat mich der Herr Graf nichtbeauftragt, dieses Haus zu wählen? Der Herr Graf wolle die Gnade haben, sich zubesinnen.
Ah! es ist richtig, sagte Monte Christo, ich erinnere mich nun, ich habe die Anzeige in irgend einemBlatte gelesen und mich durch den lügnerischen Titel Landhaus verführen lassen.
Es ist noch Zeit, sagteBertuccio lebhaft, und wenn mich Eure Exzellenzbeauftragen will, anderswo zu suchen, so werde ich dasBeste finden, was es gibt, mag es nun in Enghien, in Fontenay‑aux‑Roses oder inBellevue sein.
Nein, erwiderte Monte Christo gleichgültig, da dies einmal ins Auge gefaßt ist, will ich's auchbehalten.
Und der gnädige Herr hat recht, sagte rasch der Notar, der seine Gebühr zu verlieren fürchtete, es ist ein reizendes Eigentum: fließendes Wasser, Gebüsch, ein, wenn auch seit geraumer Zeit verlassenes, doch äußerstbehagliches Wohngebäude, abgesehen von dem Mobiliar, das, so alt es auch ist, doch seinen Wert hat, besonders heutzutage, wo man Altertümer liebt und sucht.
Zum Teufel, eine solche Gelegenheit wollen wir nicht versäumen, rief Monte Christo; den Vertrag, Herr Notar!
Und er unterzeichnete rasch, nachdem er einenBlick auf die Stelle geworfen hatte, wo die Lage des Hauses und die Namen der Eigentümer angegeben waren, dannbefahl er, 55 000 Franken auszuzahlen. Der Intendant ging mit unsichern Schritten hinaus und kehrte mit einem PäckchenBanknoten zurück, die der Notar zählte.
Und nun ist allen Förmlichkeiten Genüge geleistet? fragte der Graf. Haben Sie die Schlüssel?
Sie sind in den Händen des Hausverwalters, der das Hausbewacht; doch hier ist der schriftlicheBefehl, den ich an ihn ergehen lasse, den gnädigen Herrn in sein Eigentum einzuführen.
Sehr gut. Begleiten Sie diesen Herrn, sagte der Graf zuBertuccio.
Der Intendant ging hinter dem Notar hinaus.
Kaum war der Graf allein, als er aus seiner Tasche ein Portefeuille mit einem Schlosse zog, das er mit einem Schlüsselchen öffnete, das er am Halse trug und nie von sich ließ. Nachdem er einen Augenblick gesucht hatte, nahm er einBlättchen zur Hand, worauf einige Notizen standen, verglich diese mit dem auf dem Tische liegenden Verkaufsschein und sagte: Auteuil, Rue de la Fontaine Nr. 30, es stimmt. Soll ich nun durch religiösen Schrecken oder durch körperliche Angst ein Geständnis zu entreißen suchen? Jedenfalls werde ich in einer Stunde alles wissen.
Bertuccio! rief er, mit einem Hämmerchen auf ein Glöckchen schlagend, das einen scharfen, anhaltenden Ton von sich gab, und der Intendant erschien auf der Schwelle.
HerrBertuccio, sagte der Graf, erzählten Sie mir nicht, Sie seien in Frankreich gereist?
Ja, Exzellenz, in einigen Teilen Frankreichs.
Sie kennen ohne Zweifel die Gegend von Paris?
Nein, Exzellenz, antwortete der Intendant mit einemBeben, das der Graf als Kenner einer heftigen Unruhe zuschrieb.
Es ist ärgerlich, daß Sie nie die Gegend von Parisbesucht haben, sagte er, denn ich will noch heute abend mein neues Gut in Augenschein nehmen, und wenn Sie michbegleitet hätten, würden Sie mir ohne Zweifel nützliche Auskunft gegeben haben.
Nach Auteuil! riefBertuccio, dessen kupferfarbiges Gesicht plötzlich leichenblaß wurde. Ich nach Auteuil gehen?
Aber was ist denn Erstaunliches daran, daß Sie nach Auteuil gehen sollen? Wenn ich in Auteuil wohnen werde, müssen Sie wohl dahin kommen, da Sie doch zum Haushalt gehören!
Bertuccio neigte das Haupt vor dem gebieterischenBlicke des Herrn undbliebunbeweglich und ohne zu antworten.
Was ist Ihnen denn? Sie lassen mich zum zweitenmale um den Wagen läuten? rief Monte Christo mit dem Tone, in dem Ludwig XIV. dasbekannte: Ich habe warten müssen! aussprach.
Bertuccio sprang in das Vorzimmer und schrie mit heiserer Stimme: Die Pferde Seiner Exzellenz! Monte Christo schriebein paarBriefe; als er den letzten versiegelte, erschien der Intendant wieder und meldete den Wagen.
Wohl, nehmen Sie Ihren Hut, sagte Monte Christo.
Es gabkeinBeispiel, daß man einemBefehle des Grafen widersprochen hätte; der Intendant folgte auch, ohne eine Einwendung zu machen, seinem Herrn und nahm seinen Platz ehrfurchtsvoll auf dem Vordersitz.
Das Haus in Auteuil
Monte Christo war es nicht entgangen, daßBertuccio sichbekreuzt und im Wagen ein kurzes Gebet gemurmelt hatte, denn er ließ den Intendanten, dessen Widerwille gegen die Fahrt unverkennbar war, keinen Augenblick aus den Augen.
In zwanzig Minuten war man in Auteuil. Die Unruhe des Intendanten hatte immer mehr zugenommen, und als sie in das Dorf hineinfuhren, betrachtete er mit fieberhafter Aufregung jedes Haus, an dem sie vorüberkamen.
Sie lassen in der Rue de la Fontaine Nr. 30 halten, sagte der Graf, seinenBlick unbarmherzig auf den Intendanten heftend.
Der Schweiß tratBertuccio aufs Gesicht, aber er gehorchte und rief, sich aus dem Wagen neigend, dem Kutscher zu: Rue de la Fontaine, Nr. 30.
Diese Nummer 30 lag am Ende des Dorfes. Während der Fahrt war es Nacht geworden, der Wagen hielt an, und der Lakai stürzte an den Schlag und öffnete.
Nun! sagte der Graf, Sie steigen nicht aus, HerrBertuccio, Siebleiben im Wagen? Aber zum Teufel, was ist Ihnen denn heute?
Bertuccio sprang aus dem Wagen undbot seine Schulter dem Grafen zur Stütze.
Klopfen Sie, sagte dieser, und melden Sie mich an.
Bertuccio klopfte, die Tür öffnete sich, und der Hausmeister erschien.
Wasbeliebt? fragte er.
Ihr neuer Herr ist hier, sagte der Diener und übergabdem Hausmeister das Schreiben des Notars.
Das Haus ist also verkauft, und der Herr wird esbewohnen? versetzte der Hausmeister.
Ja, mein Freund, sagte der Graf, und ich werde dafür sorgen, daß Sie den Verlust Ihres früheren Herrn nicht zubeklagen haben.
Oh! Herr, ich habe nicht viel zubeklagen, denn wir sahen ihn nur äußerst selten, den Herrn Marquis von Saint‑Meran.
Der Marquis von Saint‑Meran! versetzte Monte Christo, der Name kommt mirbekannt vor… Und er schien in seinem Gedächtnis zu suchen.
Ein alter Edelmann, fuhr der Hausmeister fort, ein getreuer Diener derBourbonen. Er hatte eine einzige Tochter, die an Herrn von Villefort verheiratet war, der Staatsanwalt in Nimes und später in Versailles gewesen ist.
Monte Christo warf einenBlick aufBertuccio, der fahler aussah, als die Mauer, an die er sich lehnte, um nicht zu fallen.
Ist diese Tochter nicht gestorben? fragte Monte Christo; es ist mir, als hätte ich davon gehört.
Ja, vor einundzwanzig Jahren.
Ich danke, sagte Monte Christo, denn der Intendant kam ihm so niedergeschmettert vor, daß er jetzt nicht weiter fragte. Nehmen Sie eine Wagenlaterne, Bertuccio, und zeigen Sie mir die Zimmer!
Der Intendant gehorchte unverzüglich, aber aus dem Zittern der Hand, welche die Laterne hielt, war leicht zu entnehmen, was ihn dieser Gehorsam kostete. Sie durchschritten ein ziemlich geräumiges Erdgeschoß und einen ersten Stock, bestehend aus einem Salon, einemBadezimmer und zwei Schlafzimmern. Durch eines von diesen Schlafzimmern gelangte man zu einer Wendeltreppe, die nach außen zu führen schien.
Ah! ein Nebenausgang, sagte der Graf, das ist sehrbequem. Leuchten Sie mir, HerrBertuccio; gehen Sie voraus, wir wollen sehen, wohin die Treppe führt!
Herr Graf, sie geht in den Garten. — Und woher wissen Sie das? — Das heißt, sie muß wohl dahin führen. — Gut, wir wollen uns überzeugen.
Bertuccio stieß einen Seufzer aus und ging voran. Die Treppe führte wirklich nach dem Garten. An der AusgangstürbliebBertuccio stehen.
Vorwärts! sagte der Graf.
DochBertuccio war wiebetäubt, wie vernichtet. Seine irren Augen suchten ringsumher die Spuren einer furchtbaren Vergangenheit, und er schien mit seinen krampfhaft zusammengepreßten Händen entsetzliche Erinnerungen zurückdrängen zu wollen.
Nun! rief der Graf.
Nein, stammelteBertuccio, die Laterne hinstellend; nein, Herr Graf, ich gehe nicht weiter, es ist unmöglich!
Was soll das heißen? entgegnete des Grafen gebieterische Stimme.
Sie sehen Wohl, Exzellenz, rief der Intendant, daß dies nicht mit natürlichen Dingen zugeht. Sie wollten ein Haus in der Gegend von Paris kaufen und kauften gerade eins in Auteuil, und das Haus, das Sie kauften, ist gerade Nummer 30 in der Rue de la Fontaine. Oh! warum habe ich Ihnen nicht schon dort alles gesagt, gnädiger Herr; Sie hätten sicherlich nicht von mir verlangt, ich solle mitfahren. Ich hoffte, das Haus des Herrn Grafen würde ein anderes sein! Als obes nicht noch mehr Häuser in Autenil gäbe als das, wo der Mord vorgefallen ist!
Oh! oh! rief Monte Christo, was für ein scheußliches Wort haben Sie da ausgesprochen! Teufel von einem Menschen! Eingefleischter Korse! Stets Aberglauben oder Geheimnisse! Nehmen Sie die Laterne und lassen Sie uns den Gartenbesehen, in meiner Gegenwart werden Sie hoffentlich keine Angst haben?
Bertuccio hobdie Laterne auf und gehorchte. Als die Tür sich öffnete, wurde einblasser Himmel sichtbar, an dem der Mond vergebens gegen ein Meer ihn meist verhüllender Wolken kämpfte. Der Intendant wollte sich nach der linken Seite wenden.
Nein, nein, sagte der Graf, wozu den Alleen folgen? Hier ist ein schöner Rasen, gehen wir geradeaus!
Bertuccio wischte den Schweiß von seiner Stirn ab, gehorchte, zielte dabei aber fortwährend nach links. Monte Christo wandte sich im Gegenteil mehr rechts; an einerBaumgruppeblieber stehen. Der Intendant vermochte es nicht länger auszuhalten und rief: Zurück, Herr! ichbitte, halten Sie sich fern, Sie sind gerade an der Stelle.
LieberBertuccio, versetzte der Graf lachend, kommen Sie doch zu sich, wir sind hier in einem, ich kann es nicht leugnen, schlecht unterhaltenen englischen Garten, weiter nichts.
Gnädigster Herr, ich flehe Sie an, bleiben Sie nicht dort!
Ich glaube, Sie werden ein Narr, Bertuccio; wenn dies der Fall ist, so sagen Sie es mir, ich lasse Sie in irgend eine Heilanstalt einsperren, ehe ein Unglück geschieht.
Ach, Exzellenz, sagteBertuccio, den Kopf schüttelnd und die Hände mit einerBewegung faltend, die den Grafen zum Lachen gebracht hätte, wenn ihn nicht im Augenblick Gedanken von höherem Interesse gefesselt und äußerst aufmerksam auf jede Äußerung dieses von der Angst gepeinigten Gewissens gemacht hätten; ach! Exzellenz, das Unglück ist geschehen.
Bertuccio, entgegnete der Graf, ich erlaube mir, Ihnen zubemerken, daß Siebei Ihren heftigen Gebärden sich die Arme verdrehen und die Augen rollen, wie einBesessener, aus dessen Leibder Teufel nicht weichen will. Ich habe aber stets wahrgenommen, daß der Teufel mit der größten Hartnäckigkeit am Platze zubleiben trachtet, wo ein Geheimnis zu Grunde liegt. Ich wußte, daß Sie ein Korse sind, ich wußte auch, daß Sie stets düster waren und eine alte Rache im Herzen trugen, und ließ dies in Italien hingehen, weil dergleichen dort gang und gäbe ist. In Frankreich aber ist man gegen Morde allgemein sehr eingenommen; es gibt Gendarmen, die sich damitbeschäftigen, Richter, die verurteilen, und rächende Schafotte.
Bertuccio faltete die Hände, während die Laterne, die er hielt, sein verstörtes Gesichtbeleuchtete. Monte Christo schaute ihn eine Minute lang mit demselbenBlick an, mit dem er in Rom Andreas Hinrichtung angeschaut hatte, und sprach dann mit einem Tone, bei dem ein neuer Schauer den Leibdes armen Intendanten durchlief: Der AbbéBusoni hat also gelogen, als er mir Sie nach seiner Reise durch Frankreich im Jahre 1829 mit einem Empfehlungsbriefe zuschickte, worin er Ihre kostbaren Eigenschaften hervorhob. Gut, ich werde dem Abbéschreiben, ich werde ihn für seinen Schützling verantwortlich machen und ohne Zweifel erfahren, wie es sich mit dieser Mordgeschichte verhält. Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, Bertuccio, daß ich mich immer, wo ich meinen Aufenthalt nehme, nach den Gesetzen des Landes zu richten pflege und keine Lust habe, mich Ihnen zu Liebe mit der französischen Justiz zu entzweien.
Oh! tun Sie das nicht, Exzellenz; nicht wahr, ich habe treu gedient? riefBertuccio in Verzweiflung, ichbin immer ein ehrlicher Mann gewesen, und habe sogar, soviel ich vermochte, gute Handlungen verrichtet.
Ich leugne das nicht, doch warum zum Teufel gebärden Sie sich so? Das ist ein schlimmes Zeichen; ein reines Gewissenbringt nicht solcheBlässe auf die Wangen, solches Fieber in die Hände…
Aber, Herr Graf, versetzteBertuccio zögernd, sagten Sie mir nicht selbst, es sei Ihnen vom AbbéBusoni, der mich im Gefängnis zu Nimesbeichten hörte, mitgeteilt worden, ich hätte mir einen schweren Vorwurf zu machen?
Ja, doch da er Sie mit derBemerkung, Sie würden ein vortrefflicher Intendant werden, zu mir sandte, so glaubte ich, Sie hätten gestohlen.
Oh! Herr Graf, riefBertuccio mit Verachtung.
Oder als Korse hätten Sie derBegierde nicht widerstehn können, eine Haut zu machen, wie man in Ihrem Lande sonderbarerweise sagt, während man doch eine Haut vernichtet.
Nun ja, guter gnädiger Herr, ja, Exzellenz, so ist es, riefBertuccio, sich dem Grafen zu Füßen werfend, ja, es ist eine Rache, das schwöre ich, nichts als eine Rache.
Ichbegreife das, begreife aber nicht, warum Sie gerade dieses Haus in solche heftige Aufregung versetzt?
Ist das nicht natürlich, gnädigster Herr, da in diesem Hause die Rache vollführt wurde?
Wie, in meinem Hause?
Oh! Exzellenz, es gehörte Ihnen noch nicht.
Das ist ein seltsames Zusammentreffen. Siebefinden sich durch Zufall wieder an einem Orte, wo eine Szene vorgefallen ist, die so furchtbare Gewissensbissebei Ihnen veranlaßt…
Gnädiger Herr, ichbin fest überzeugt, ein unvermeidliches Verhängnis lenkt dies so. Zuerst kaufen Sie ein Haus gerade in Auteuil. Dieses Haus ist das, wo ich einen Mordbegangen habe; Sie steigen in den Garten gerade auf der Treppe herab, wo er herabgestiegen ist; Siebleiben gerade auf der Stelle stehen, wo er den Stoß erhalten hat. Zwei Schritte von hier, unter jener Platane, war das Grab, wo er das Kind verscharrt hatte. Alles dies ist kein Zufall, sonst müßte der Zufall zu sehr der Vorsehung gleichen.
Gut, nehmen wir an, es sei die Vorsehung — ich nehme immer alles an, was man will; überdies muß man kranken Geistern entgegenkommen. Auf, Bertuccio, fassen Sie sich und erzählen Sie mir die ganze Geschichte.
Ich habe sie nur ein einziges Mal erzählt, und zwar dem AbbéBusoni. Dergleichen, fügteBertuccio hinzu, läßt sich nur unter dem Siegel derBeichte aussprechen.
Dann werden Sie es für angezeigt halten, wenn ich Sie zu IhremBeichtvater schicke, mein lieberBertuccio! Doch mirbangt vor einem Gaste, den solche Gespenster in Schrecken versetzen; mir paßt es nicht, daß meine Leute am Abend nicht in den Garten zu gehen wagen. Auch muß ich gestehen, daß mich durchaus nicht nach demBesuche irgend eines Polizeikommissars verlangt. Denn lassen Sie sich sagen, HerrBertuccio, in Italienbezahlt man die Justiz nur, wenn sie schweigt, in Frankreichbezahlt man sie dagegen nur, wenn sie spricht. Teufel! ich meinte, Sie seien noch ein wenig Korse, ein gut Teil Schmuggler und ein äußerst geschickter Intendant; aber ich sehe, daß Sie noch andere Saiten auf IhremBogen haben. Sie sind nicht mehr in meinem Dienst!
Oh! gnädigster Herr, rief der Intendant, bei dieser Drohung vom heftigsten Schrecken ergriffen, wenn es nur hiervon abhängt, obich in Ihrem Dienstebleibe, so werde ich reden, so werde ich alles sagen, und wenn ich Sie verlasse, nun so mag es sein, um das Schafott zubesteigen!
Das ist etwas anderes, sagte Monte Christo, doch wenn Sie lügen wollen, überlegen Sie es sich wohl! Es wäre dannbesser, Sie sprächen gar nicht.
Nein, Herr Graf, ich schwöre Ihnenbei dem Heile meiner Seele, ich werde alles sagen; denn selbst der AbbéBusoni hat nur einen Teil meines Geheimnisses erfahren. Aber ich flehe Sie vor allem an, entfernen Sie sich von dieser Platane; sehen Sie, der Mond tritt eben hervor und will jene Stellebeleuchten, und dort, wo Sie stehen, in den Mantel gehüllt, der mir Ihre Gestalt verbirgt und ganz dem des Herrn von Villefort gleicht…
Wie! rief Monte Christo, Herrn von Villefort?…
Eure Exzellenz kannte ihn? — Ja, wenn es der ehemalige Staatsanwalt von Nimes ist, der den Ruf eines der ehrlichsten und gerechtestenBeamten hatte? — Jawohl, gnädiger Herr, riefBertuccio, dieser Mann… — Nun? — War ein Schurke! –
Bah, unmöglich! — Es ist dennoch, wie ich Ihnen sage. — Oh! und Sie haben denBeweis dafür? — Ich hatte ihn wenigstens. — Und Sie waren so ungeschickt, ihn zu verlieren? — Ja, doch wenn man gut sucht, kann man ihn wohl wieder finden. — Wahrhaftig, erzählen Sie mir das, Bertuccio, denn es fängt wirklich an, mich zu interessieren!
Und eine Arie aus der Oper Lucia trällernd, setzte sich der Graf auf eineBank, während ihmBertuccio, seine Erinnerungen sammelnd, folgte. Bertucciobliebvor Monte Christo stehen.
Die Vendetta
Wo soll ich anfangen, Herr Graf? fragteBertuccio.
Wo Sie wollen, erwiderte Monte Christo, denn ich weiß von nichts.
Die Sache geht in das Jahr 1815 zurück.
Ah! ah! rief Monte Christo, 1815 ist lange her.
Ja, gnädiger Herr, aber dennoch sind die geringsten Umstände meinem Gedächtnis so gegenwärtig, als wäre nur ein Tag vergangen. Ich hatte einen älterenBruder, der dem Kaiser diente und Leutnant in einem ganz aus Korsenbestehenden Regiment war. DieserBruder war mein einziger Freund; wir waren, ich mit fünf, er mit achtzehn Jahren, Waisen; er zog mich auf, als wäre ich sein Sohn. Im Jahre 1814, unter denBourbonen, verheiratete er sich; der Kaiser kam von der Insel Elba zurück, meinBruder nahm sogleich wieder Dienste und zog sich, bei Waterloo leicht verwundet, mit der Armee hinter die Loire zurück. Eines Tages empfingen wir einenBrief von meinemBruder. Er teilte uns mit, die Armee sei entlassen, und er werde über Clermont‑Ferrand und Nimes zurückkommen; erbat mich, wenn ich etwas Geld hätte, es ihm durch einen Wirt in Nimes, mit dem ich in Verbindung stand, zukommen zu lassen. Ich liebte, wie gesagt, meinenBruder zärtlich und war entschlossen, ihm das Geld selbst zubringen. Ichbesaß etwa tausend Franken, ließ fünfhundert davon Assunta, meiner Schwägerin, nahm die andern fünfhundert undbegabmich auf den Weg nach Nimes. Diesbot keine Schwierigkeit; ich hatte meineBarke, auch einen Seetransport zubesorgen; allesbegünstigte mein Vorhaben. Als aber die Ladung fertig war, wurde der Wind konträr, so daß wir vier oder fünf Tage nicht in die Rhone einlaufen konnten. Endlich gelang es uns; wir fuhrenbis Arles hinaus, ließen dieBarke zwischenBellegarde undBeaucaire und schlugen den Weg nach Nimes ein. Es war die Zeit, wo dieberüchtigten Metzeleien im Süden stattfanden. Wer desBonapartismus verdächtig war, wurde von denBlutknechten des Royalismus erwürgt. In Nimes watete manbuchstäblich imBlute, bei jedem Schritt stieß man auf Leichen; zu förmlichenBanden organisierte Mörder töteten, plünderten, sengten undbrannten. Bei dem Anblicke dieser Schlächterei erfaßte mich ein Schauder, nicht für mich, den einfachen, korsischen Fischer, — denn ich hatte nicht viel zubefürchten, im Gegenteil, das war für uns Schmuggler eine gute Zeit, — sondern für meinenBruder, der von der Loire‑Armee mit seiner Uniform und seinen Epauletten zurückkam und folglich alles zubefürchten hatte. Ich lief zu unserm Wirte, meine Ahnungen hatten mich nicht getäuscht; meinBruder war am Abend zuvor in Nimes angekommen und vor der Tür des Mannes, von dem er Gastfreundschaft forderte, ermordet worden. Ich tat alles in der Welt, um die Mörder in Erfahrung zubringen, aber niemand wagte es, mir ihre Namen zu sagen, so sehr waren sie gefürchtet. Ich dachte nun an die französische Justiz, von der man mir so viel gesprochen hatte, undbegabmich zum ersten Staatsanwalt.
Und dieser Staatsanwalt hieß Villefort? fragte Monte Christo scheinbar gleichgültig.
Ja, Exzellenz; er kam von Marseille, wo er Staatsanwaltsgehilfe gewesen war. Sein Eifer hatte seineBeförderung zur Folge gehabt. Er hatte, heißt es, als einer der ersten der Regierung die Landung von der Insel Elba angezeigt. Mein Herr, sagte ich zu ihm, meinBruder ist in den Straßen von Nimes ermordet worden, ich weiß nicht von wem, aber das ist Ihre Sache. Sie sind hier der Chef der Justiz, und der Justiz kommt es zu, die zu rächen, die sich nicht zu verteidigen vermochten. — Was war IhrBruder? fragte der Staatsanwalt. — Leutnant im korsischenBataillon. — Ein Soldat des Usurpators also? — Ein Soldat der französischen Armee. — Wohl! erwiderte er, er hat sich des Schwertesbedient und ist durch das Schwert umgekommen. — Sie täuschen sich, mein Herr, er ist durch den Dolch umgekommen. — Was soll ich dabei tun? — Ich habe es Ihnenbereits gesagt, Sie sollen ihn an seinen Mördern rächen. — Warum? IhrBruder wird Streit gehabt und sich duelliert haben. Diese alten Soldaten erlauben sich Übergriffe, die ihnen unter der Herrschaft des Kaisers durchgingen, jetzt aber nicht mehr, denn hier im Süden liebt man weder die Soldaten, noch die Übergriffe.
Mein Herr, entgegnete ich, ichbitte Sie nicht für mich. Ich werde mich rächen, aber meinBruder hatte eine Frau; die Arme würde Hungers sterben, denn sie lebte allein von der Arbeit meinesBruders. Erlangen Sie eine kleine Pension für sie von der Regierung!
Jede Revolution hat ihre Katastrophen, antwortete Herr von Villefort. IhrBruder ist ein Opfer der neuesten gewesen, das mögen Sie als ein Unglückbetrachten, aber die Regierung ist Ihrer Familie deshalbnichts schuldig. Wenn wir zu Gericht zu sitzen hätten über alle Rachetaten, welche die Parteigänger des Usurpators gegen die Parteigänger des Königs verübten, als noch die Macht in ihren Händen lag, so wäre IhrBruder heute vielleicht zum Tode verurteilt. Was hier vorgeht, kann nur als etwas Natürliches erscheinen, denn es ist die Folge des Gesetzes der Vergeltung.
Herr, rief ich, ist es möglich, daß Sie so sprechen, Sie, als Staatsbeamter?
Bei meinem Ehrenwort, alle Korsen sind Narren, erwiderte Herr von Villefort, Sie glauben, Ihr Landsmann sei noch Kaisers, Sie irren sich in der Zeit, mein Lieber, Sie hätten mir das vor zwei Monaten sagen müssen. Gehen Sie, oder ich lasse Sie abführen!
Ich schaute ihn einen Augenblick an, um zu sehen, obweiteresBitten Erfolg verspräche. Aber der Mann war von Stein. Ich näherte mich ihm und sagte mit halber Stimme: Wohl! da Sie die Korsen so gut kennen, so müssen Sie wissen, wie sie ihr Wort halten. Sie meinen, man habe wohl daran getan, meinenBruder umzubringen, der einBonapartist war, während Sie Royalist sind. Ichbin ebenfallsBonapartist und sage Ihnen nur eins: Ich werde Sie töten. Von diesem Augenblicke an erkläre ich Ihnen Vendetta! Seien Sie also auf Ihrer Hut, denn sobald wir uns wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, hat Ihre letzte Stunde geschlagen. Darauf öffnete ich, ehe er sich von seinem Erstaunen erholt hatte, die Tür und entfloh.
Ah! ah! sagte Monte Christo, mit Ihrem ehrlichen Gesichtebringen Sie dergleichen fertig und noch dazu gegen einen Staatsanwalt! Pfui doch! Und wußte er denn, was das Wort Vendettabesagen wollte?
Er wußte es so gut, daß er von diesem Augenblick an nicht mehr allein ausging, sich zu Hause verschanzte und mich überall suchen ließ. Zum Glück war ich so gut verborgen, daß er mich nicht finden konnte. Da faßte ihn die Angst, er fürchtete sich, länger in Nimes zubleiben; erbat um Versetzung, und da er wirklich ein einflußreicher Mann war, soberief man ihn nach Versailles. Aber Sie wissen, daß es für einen Korsen, der seinem Feinde Rache geschworen hat, keine Entfernung gibt, und sein Wagen, so gut er gefahren wurde, hatte nie über einen halben Tag Vorsprung vor mir, während ich ihm doch zu Fuße folgte.
Das Schwierige dabei war nicht, ihn zu töten, denn hundertmal fand ich hierzu Gelegenheit, aber ich mußte ihn töten, ohne entdeckt undbesonders ohne verhaftet zu werden. Denn ich gehörte nicht mehr mir; ich hatte meine Schwägerin zubeschützen und zu ernähren. Drei Monate langbelauerte ich Herrn von Villefort; drei Monate lang machte er keinen Schritt, keinen Spaziergang, ohne daß ihm meinBlick folgte. Endlich entdeckte ich, daß er insgeheim nach Auteuil kam; ich folgte ihm und sah ihn in das Haus gehen, in dem wir unsbefinden; nur kam er, statt durch die Haustür vorn einzutreten, entweder zu Pferde oder zu Wagen, ließ Pferd oder Wagen im Wirtshaus und schlich sich durch die kleine Tür herein, die Sie dort sehen.
Ich hatte nichts mehr in Versailles zu tun, bliebin Autenil und zog Erkundigungen ein. Wollte ich ihn fangen, so mußte ich offenbar hier meine Falle stellen. Das Haus gehörte Villeforts Schwiegervater, Herrn von Saint‑Meran. Dieser wohnte aber in Marseille, folglich war ihm dieses Landhaus unnütz; es hieß auch, er habe es an eine junge Witwe vermietet, die nur unter dem Namen dieBaroninbekannt war. Während ich eines Abends über die Mauer schaute, sah ich wirklich eine hübsche junge Frau allein im Garten gehen. Sieblickte häufig nach der kleinen Tür, und ich sagte mir, daß sie Herrn von Villefort am Abend erwarte. Als sie so nahe zu der Mauer kam, daß ich trotz der Dunkelheit ihre Züge zu unterscheiden vermochte, erkannte ich, daß sie sehr hübsch, blond, groß und etwa neunzehn Jahre alt war; auch konnte ichbemerken, daß sie sich in andern Umständenbefand, und ihre Schwangerschaft schien mir sogar ziemlich weit vorgerückt. Einige Augenblicke nachher öffnete man die kleine Tür; ein Mann trat ein, die junge Fran lief ihm so rasch als möglich entgegen, sie umarmten sich, küßten sich zärtlich und gingen ins Haus. Dieser Mann war Herr von Villefort. Ich dachte, wenn er herauskäme, besonders wenn erbei Nacht herauskäme, müßte er den Garten in seiner ganzen Länge durchschreiten.
Und Sie haben seitdem den Namen der Frau erfahren? fragte der Graf.
Nein, Exzellenz, Sie werden sehen, daß ich nicht Zeit gehabt habe, mich danach zu erkundigen. — Ich hätte den Staatsanwalt vielleicht an diesem Abend töten können; aber ich kannte den Garten noch nicht genau genug und fürchtete, wenn er nicht sofort tot wäre und Leute auf sein Geschrei herbeiliefen, nicht schnell genug fliehen zu können. Deshalbverschobich die Ausführung meines Vorhabens auf das nächste Mal undbezog, damit mir nichts entginge, ein kleines Zimmer mit der Aussicht auf die Straße, die längs der Gartenmauer hinlief.
Drei Tage nachher sah ich gegen sieben Uhr abends einen Diener zu Pferde aus dem Garten eilen und im Galopp auf dem Wege fortsprengen, der zur Straße nach Sèvres führte. Ich nahm an, er reite nach Versailles, und täuschte mich nicht. Drei Stunden später kam er mit Staubbedeckt zurück. Zehn Minuten nach ihm erschien ein anderer Mann, in einen Mantel gehüllt, zu Fuß und öffnete die kleine Gartentür, die sich wieder hinter ihm schloß.
Ich ging rasch hinab. Obschon ich das Gesicht des Mannes nicht gesehen hatte, so verrieten mir doch die Schläge meines Herzens, daß er es sei; ich ging über die Straße zu einem Randstein an der Mauerecke, von dem aus ich das erste Mal in den Garten gesehen hatte. Diesmalbegnügte ich mich nicht mit dem Schauen, ich zog mein Messer aus der Tasche, überzeugte mich, daß es gehörig geschärft war, und sprang über die Mauer. Es war mein erstes, an die Tür zu laufen; er hatte den Schlüssel stecken lassen und ihn nur zweimal umgedreht. Nichts konnte also von dieser Seite meine Flucht hemmen. Ich übersah die Örtlichkeit; der Gartenbildete ein langes Geviert, mittendurch zog sich ein Rasenteppich, an dessen Rande dichtbelaubteBaumgruppen standen. Um sich von dem Hause an die kleine Tür oder von der kleinen Tür nach dem Hause zubegeben, mußte Herr von Villefort an einer von diesenBaumgruppen vorübergehen.
Es war Ende September, der Windblies heftig, ein wenig Mondschein, alle Augenblicke durch dichte Wolken verschleiert, die schnell am Himmel hinglitten, ließ den Sand der zu dem Hause führenden Alleen weiß erscheinen, vermochte aber die Dunkelheit der Gebüsche nicht zu durchdringen. Ich verbarg mich also in dem Gebüsch, an dem Herr von Villefort vorüberkommen mußte. Kaum war ich hier, als ich unter den Windstößen, welche dieBaumzweige über meine Stirnbeugten, etwas wie Seufzen zu unterscheiden glaubte. Es vergingen zwei Stunden, während deren ich wiederholt dasselbe Seufzen zu hören glaubte. Endlich schlug es Mitternacht.
Als noch der letzte Schlag verhallte, sah ich einen schwachen Schimmer die Geheimtreppe erhellen, auf der wir soeben herabgekommen sind. — Die Tür öffnete sich, und der Mann mit dem Mantel erschien. Der furchtbare Augenblick war da. Doch ich hatte mich auf diesen Augenblick so lange vorbereitet, daß ich nicht die geringste Schwäche empfand; ich zog mein Messer, öffnete es und hielt mich fertig.
Der Mann mit dem Mantel kam gerade auf mich zu; als er aber in dem entblößten Raume weiter vorschritt, glaubte ich zubemerken, daß er in der rechten Hand eine Waffe hielt; ich fürchtete nicht den Kampf, sondern das Mißlingen. Sobald er nur noch einige Schritte von mir entfernt war, erkannte ich, daß das, was ich für eine Waffe gehalten hatte, nichts anderes war, als ein Spaten. Ich hatte noch nicht erraten können, in welcher Absicht Herr von Villefort das Gerät trug, als er am Saume des Gebüsches stehenbliebund, nachdem er sich umgeschaut hatte, ein Loch in die Erde zu graben anfing. Nunbemerkte ich, daß er etwas in seinem Mantel trug, das er auf den Rasen legte, um in seinenBewegungen freier zu sein. Da mischte sich, muß ich gestehen, etwas Neugier in meinen Haß, ich wollte sehen, was Herr von Villefort tat, bliebunbeweglich, atemlos und wartete.
Es kam mir ein Gedanke, der sich auchbestätigte, als ich den Staatsanwalt ein kleines, etwa zwei Fuß langes und sechsbis acht Zollbreites Kistchen unter seinem Mantel hervorziehen sah, das er in das Loch legte, auf das er wieder Erde warf; diese frische Erdebearbeitete er sodann mit seinen Füßen, um die Spur seines nächtlichen Werkes verschwinden zu lassen. Hierauf warf ich mich auf ihn, stieß ihm mein Messer in dieBrust und sagte: Ichbin GiovanniBertuccio! Dein Tod für meinenBruder, dein Schatz für seine Witwe. Du siehst, meine Rache ist noch vollständiger als ich hoffte.
Ich weiß nicht, ober diese Worte hörte, ich glaube es nicht, denn er sank nieder, ohne einen Ton von sich zugeben; ich fühlte dasBlut heiß auf meine Hände und in mein Gesicht spritzen; aber ich war trunken, ich war wahnsinnig; diesesBlut erfrischte mich, statt mich zubrennen. In einer Sekunde hatte ich das Kistchen mit Hilfe des Spatens wieder ausgegraben; ich füllte das Loch wieder, warf den Spaten über die Mauer, eilte durch die Tür, schloß sie doppelt von außen und nahm den Schlüssel mit.
Gut, sagte Monte Christo, das war, scheint mir, ein Raubmord.
Nein, Exzellenz, erwiderteBertuccio, es war Vendetta, verbunden mit einer Wiedererstattung.
Sie fanden doch wenigstens eine runde Summe?
Ich lief an den Fluß und sprengte, begierig zu erfahren, was das Kistchen enthielt, das Schloß mit meinem Messer.
In eine Windel von seinemBattist war ein neugebornes Kind eingewickelt; sein purpurrotes Gesicht und seineblauen Hände deuteten an, daß es durch eine Schnur, die sich um seinen Hals geschlungen, erdrosselt war. Da es mir jedoch noch nicht ganz kalt zu sein schien, zögerte ich, das arme Geschöpf in das Wasser zu werfen; nach einem Augenblick glaubte ich in der Tat ein leichtes Schlagen in der Gegend des Herzens zu fühlen. Ichbefreite seinen Hals von der Schnur, und da ich als Krankenwärter im Hospital vonBastia gedient hatte, so tat ich, was ein Arzt unter solchen Umständen hätte tun können, das heißt, ichblies ihm kräftig Luft in die Lunge, und nach einer Viertelstunde unerhörter Anstrengung sah ich es atmen, und unmittelbar darauf hörte ich einen Schrei seinerBrust sich entwinden. — Ich stieß ebenfalls einen Schrei aus, aber einen Freudenschrei. Gott verflucht mich also nicht, sagte ich zu mir selbst, denn er gestattet mir, einem Menschen Leben zu geben, im Austausch für das Leben, das ich einem andern genommen habe.
Und was taten Sie mit diesem Kinde? fragte Monte Christo; es war ein ziemlichbeschwerliches Gepäck für einen Menschen, der fliehen mußte.
Ich hatte auch keinen Augenblick den Gedanken, es zubehalten. Doch ich wußte, daß es in Paris ein Hospiz gibt, wo man diese armen Geschöpfe aufnimmt. Als ich durch dieBarriere kam, gabich vor, ich hätte das Kind auf der Straße gefunden und erkundigte mich. Das Kistchen machte meine Aussage glaubwürdig! dieBattistwindeln deuteten an, daß das Kind reichen Eltern gehörte; dasBlut, mit dem ichbedeckt war, konnte ebensowohl von dem Kinde, als von irgend einem andern Wesen herrühren. Man machte keine Einwendung, bezeichnete mir das Hospiz, das ganz oben in der Rue l'Enfer lag, und nachdem ich aus Vorsicht die Windel so entzwei geschnitten hatte, daß einer von denbeidenBuchstaben, womit sie gezeichnet war, bei der Einhüllungblieb, während ich den andern an mich nahm, legte ich meineBürde in den Turm, läutete und entlief, so rasch ich nur immer vermochte. Vierzehn Tage nachher war ich wieder in Rogliano und sagte zu Assunta: Tröste dich, meine Schwester. Israel ist tot, aber ich habe ihn gerächt. Dabat sie mich um Erläuterung meiner Worte, und ich erzählte ihr alles, was vorgefallen war.
Giovanni, sagte Assunta, du hättest das Kind hierherbringen sollen; wir würden Elternstellebei ihm vertreten und ihm den NamenBenedetto gegeben haben, und Gott hätte uns für diese gute Handlung gesegnet.
Statt einer Antwort gabich ihr die Hälfte der Windel, die ichbehalten hatte, um das Kind eines Tages, wenn wir reicher wären, zurückzufordern.
Mit welchenBuchstaben war die Windel gezeichnet? fragte der Graf.
Mit einem H und N, und darüber eineBaronenkrone.
Fahren Sie fort! Ichbinbegierig, zu erfahren, was aus dem Kleinen geworden ist, und welches Verbrechens man Siebeschuldigte, als Sie einenBeichtiger verlangten und der AbbéBusoni Sie darauf im Gefängnis aufsuchte.
Bertuccio fuhr in seiner Erzählung fort: Halbum die Erinnerungen zu vertreiben, die michbeständig quälten, halbum dieBedürfnisse der armen Witwe zubestreiten, legte ich mich wieder mit allem Eifer auf das Schmugglerhandwerk. Dieses Gewerbe ist sehr einträglich, wenn man dabei mit einigem Verstand und Geschick zu Werke geht. Ich für meine Person lebte im Gebirge, denn ich hatte nun eine doppelte Ursache, die Gendarmen und Zöllner zu fürchten. Da ich tausendmal lieber getötet als verhaftet werden wollte, vollführte ich erstaunliche Dinge. Meine Unternehmungen wurden immer ausgedehnter und immer vorteilhafter. Assunta war eine gute Wirtschafterin, und unser kleines Vermögen rundete sich allmählich. Als ich eines Tages eine neue Wanderung antrat, sagte sie zu mir: Geh, bei deiner Rückkehrbereite ich dir eine Überraschung.
Mein Ausflug dauertebeinahe sechs Wochen; als ich zurückkam, war das erste, was ich erblickte, ein Kind von siebenbis acht Monaten, in einer im Verhältnis zu unserer sonstigen Ausstattung sehr kostbaren Wiege. Ich stieß einen Freudenschrei aus. Die einzigen traurigen Gedanken, die mich seit der Ermordung des Staatsanwaltes heimgesucht, waren durch das Verlassen des Kindes verursacht worden. Es versteht sich von selbst, daß ich inBeziehung auf den Mord selbst keine Gewissensbisse fühlte.
Die arme Assunta hatte alles erraten; sie hatte, um nichts zu vergessen, den Tag und die Stunde, wo das Kind im Hospiz niedergelegt worden war, genau aufgeschrieben und war, mit der Windel versehen, nach Paris gereist, um den Kleinen zurückzufordern. Man machte keine Einwendung, und sie erhielt das Kind.
Ah! ich gestehe, Herr Graf, als ich das arme Kind in seiner Wiege schlafend erblickte, dehnte sich meineBrust aus, und Tränen traten in meine Augen. In der Tat, Assunta, rief ich, dubist eine vortreffliche Frau, und die Vorsehung wird dich segnen.
Dies ist weniger Philosophie, sagte der Graf, als Glaube.
Ach! Exzellenz, sagteBertuccio, Sie haben ganz recht, gerade dieses Kind wählte Gott zum Werkzeug meinerBestrafung. Nie offenbarte sich früher eine verderbte Natur, und dennoch kann man nicht sagen, daß es schlecht erzogen wurde, denn meine Schwesterbehandelte es wie den Sohn eines Fürsten. Es war ein Knabe von reizender Gesichtsbildung, mit hellblauen Augen; nur verliehen die etwas feurigblonden Haare dem Gesichte des Jungen einen seltsamen Ausdruck, den die Lebhaftigkeit seines Auges und die Schlauheit seines Lächelns noch verstärkten. Nach dem Sprichwort sind die Roten entweder ganz gut oder ganzböse; dieses Sprichwort log nicht inBeziehung aufBenedetto; er zeigte sich schon von seiner frühesten Jugend ganzböse. Es ist nicht zu leugnen, daß die Sanftmut seiner Mutter seine ersten üblen Neigungen ungemeinbegünstigte; denn während meine arme Schwägerin auf den Markt der fünfbis sechs Stunden entlegenen Stadt ging, um die ersten Früchte und das wohlschmeckendste Zuckerwerk zu kaufen, zog der Knabe die Kastanien und Äpfel, die er dem Nachbar stahl, vor.
Eines Tages — Benedetto mochte etwa fünf Jahre alt sein — kam der Nachbar Wasilio, der nach, der Gewohnheit unsers Landes weder seineBörse, noch seine Schmucksachen verschloß — der Herr Graf weiß, daß es in Korsika keine Diebe gibt, — zu uns und klagte, es sei ein Louisd'or aus seinerBörse verschwunden. Man glaubte, er habe falsch gezählt; aber erbehauptete, seiner Sache gewiß zu sein. Benedetto hatte das Haus schon am Morgen verlassen, und wir gerieten in nicht geringe Unruhe, als wir ihn am Abend mit einem Affen zurückkehren sahen, den er gefesselt am Fuße einesBaumes gefunden zu haben vorgab. Seit einem Monat war es das leidenschaftliche Trachten des Kindes gewesen, einen Affen zubesitzen. Ein Gaukler, der durch Rogliano kam und mehrere solche Tierebesaß, deren Possen unsern Jungen sehr ergötzten, hatte ihm ohne Zweifel dieses unglückliche Verlangen eingeflößt.
Man findet in unsern Wäldern keinen Affen, sagte ich zu ihm, undbesonders keinen gefesselten Affen; gestehe mir also, wie du dir das Tier verschafft hast.
Benedettobeharrtebei seiner Lüge und gabnoch weitere nähere Umstände an, die mehr seiner Einbildungskraft, als seiner Wahrheitsliebe Ehre machten; ich ärgerte mich, er lachte; ich drohte, er zog sich ein paar Schritte zurück. — Du kannst mich nicht schlagen, sagte er, du hast nicht das Recht dazu, denn dubist nicht mein Vater.
Wir wußten gar nicht, wer ihm dieses unselige Geheimnis entdeckt hatte, das wir mit so großer Sorgfalt vor ihm verbargen. Aber die Antwort erschreckte mich so, daß mein aufgehobener Arm niederfiel, ohne den Schuldigen zuberühren. Das Kind triumphierte und wurde infolgedessen so unbändig, daß alles Geld Assuntas, deren Liebe zu ihm immer mehr zuzunehmen schien, je weniger er derselben würdig war, für tolle Launen des Knaben, die sie nicht zubekämpfen vermochte, daraufging. Wenn ich in Rogliano war, ging es noch erträglich; aber sobald ich abreiste, warBenedetto Meister im Hause, und einböser Streich folgte dem andern. Kaum elf Jahre alt, wählte er seine Kameraden unter den jungen Leuten von achtzehn und neunzehn Jahren, den schlimmstenBurschen vonBastia und Corte, undbereits hatte uns das Gericht Warnungen zugehen lassen.
Es wurde mirbange; jede Untersuchung konnte verhängnisvolle Folgen nach sich ziehen, und ich sollte eben einer wichtigen Expedition halber Korsika für einige Zeit verlassen. Ich sann lange nach undbeschloß, um ein Unglück zu vermeiden, Benedetto mit mir zu nehmen. Ich hoffte, das tätige harte Leben eines Schmugglers, die strenge Disziplin anBord würden ihm, der sonst unrettbar verloren schien, gut tun. Ich nahm ihn alsobeiseite und machte ihm den Vorschlag, mir zu folgen, wobei ich ihm alles Mögliche versprach, was ein Kind von zwölf Jahren locken kann.
Er ließ mich reden, ohne mich zu unterbrechen. Als ich aber zu Ende war, schlug er ein Gelächter an und rief: Seid Ihr ein Narr, Oheim? — so nannte er mich, wenn er guter Laune war — Ich soll das Leben, das ich führe, meinen schönen Müßiggang, gegen die schauderhafte Arbeit vertauschen, die Ihr tut? Ich soll die Nacht in der Kälte, den Tag in der Hitze zubringen, mich fortwährend verbergen, oder, wenn ich mich zeige, Flintenschüsse kriegen, und dies alles, um ein wenig Gold zu gewinnen? Geld habe ich, soviel ich will; Mutter Assunta gibt mir, so oft ich von ihr fordere. Ihr seht also, daß ich dumm wäre, wenn ich Euern Vorschlag annähme.
Während ich noch ganz starr vor Staunen über diese Worte war, kehrte er zu seinen Kameraden zurück, und ich sah von ferne, wie er mich ihnen gegenüber für einen Dummkopf erklärte.
Ein reizendes Kind! murmelte Monte Christo.
Oh! wenn er mir gehört hätte, sagteBertuccio, wenn er mein Sohn oder wenigstens mein Neffe gewesen wäre, so würde ich ihn auf den rechten Pfad zurückgeführt haben, denn das gute Gewissen verleiht Stärke. Aber der Gedanke, daß ich ein Kind schlagen sollte, dessen Vater ich getötet hatte, machte es mir unmöglich, ihn zu züchtigen. Ich gabmeiner Schwester, die den Jungen stets verteidigte, gute Ratschläge, und da sie mir gestand, es hätten ihr wiederholt größere Summen gefehlt, sobezeichnete ich ihr einen Ort, wo sie unsern kleinen Schatz verbergen könnte. Mein Entschluß war gefaßt: Benedetto konnte vortrefflich lesen, schreiben und rechnen, denn wenn er sich zufällig zur Arbeit herbeiließ, so lernte er in einem Tag so viel, wie andere in einer Woche. Mein Entschluß, sage ich, war gefaßt; ich wollte ihn als Schreiber auf irgend einem zu langen Seefahrtenbestimmten Schiffe unterbringen und, ohne ihn zuvor in Kenntnis zu setzen, an einem schönen Morgen nehmen und anBord schaffen lassen. War er dem Kapitän gehörig empfohlen, so hing seine Zukunft nur von ihm ab. Sobald dieser Plan festgestellt war, brach ich nach Frankreich auf. Alle unsere Operationen sollten diesmal im Golf von Lyon ausgeführt werden; die Unternehmungen wurden aber immer schwieriger, denn der Küstendienst war strenger geworden, als je. Anfänglich ging alles vortrefflich. Wirbanden unsereBarke, die einen doppeltenBoden hatte, worin wir unsere Waren verbargen, mitten unter einer Anzahl von Schiffen an, die an denbeiden Ufern der Rhone vonBeaucairebis Arles lagen. Hierbegannen wir nächtlicherweile unsere verbotenen Waren auszuschiffen und durch die Vermittlung von Leuten, die mit uns in Verbindung standen, oder mit Hilfe der Wirte, bei denen wir unsere Niederlagen hatten, in die Stadt zu schaffen. Mag es nun sein, daß uns das Glück unvorsichtig gemacht hatte, oder waren wir verraten: eines Abends gegen fünf Uhr, als wir eben unser Vesper verzehren wollten, lief unser Schiffsjunge ganz erschrocken herbei und sagte, er habe eine Abteilung Zollbeamter auf unser Schiff zukommen sehen. In einem Augenblick waren wir auf denBeinen, aber es war schon zu spät, man hattebereits unsereBarke umzingelt. Unter den Zöllnernbemerkte ich auch einige Gendarmen, und durch diesen Anblick erschreckt, stieg ich in den Schiffsraum hinab, schlüpfte durch eine Stückpforte und ließ mich in den Fluß fallen; dann schwamm ich unter dem Wasser, schöpfte nur nach laugen Zwischenräumen Atem und erreichte, ohne gesehen zu werden, einen kurz zuvor angelegten Graben, durch den die Rhone mit dem Kanal in Verbindung steht, der vonBeaucaire nach Aigues‑Mortes führt. Nun war ich gerettet, denn ich konnte dem Graben folgen, ohne gesehen zu werden. Ungehindert kam ich in den Kanal. Diesen Weg hatte ich auch deshalbgewählt, weil ich denBesitzer eines kleinen Gasthofs auf der Straße vonBellegarde nachBeaucaire kannte.
Wie hieß dieser? fragte der Graf, der wieder einiges Interesse an der ErzählungBertuccios zu nehmen schien.
Er hieß Gaspard Caderousse und war mit einer Frau verheiratet, die am Sumpffieber hinsiechte. Der Mann dagegen war ein kräftigerBursche, der uns mehr als einmal unter schwierigen UmständenBeweise von Geistesgegenwart und Mut gegeben hatte.
Und Sie sagen, fragte der Graf, diese Dinge seien vorgefallen im Jahre…
Am 3. Juni 1829 abends.
Ah! sagte Monte Christo, am 3. Juni 1829?… Gut, fahren Sie fort.
Bei Caderousse gedachte ich also eine Zufluchtsstätte zu finden. Da wir aber gewöhnlich nicht durch die Tür, die nach der Straße führte, bei ihm eintraten, so stieg ich über die Gartenhecke und erreichte, in derBesorgnis, Caderousse könnte einen Reisenden im Hause haben, eine Art Schuppen, worin ich wiederholt die Nacht zugebracht hatte. Dieser Schuppen war von der Gaststube im Erdgeschoß nur durch einenBretterverschlag getrennt, in dem man Öffnungen gemacht hatte, damit wir im geeigneten Augenblick unsre Anwesenheit anmelden könnten. Ich gedachte, Caderousse, wenn er allein wäre, von meiner Ankunft in Kenntnis zu setzen, schlich mich also unter den Schuppen und tat Wohl daran, denn in demselben Augenblick kam Caderousse mit einem Unbekannten nach Hause. Ich hielt mich still und wartete, nicht um die Geheimnisse meines Wirtes zubelauschen, sondern weil ich nicht anders konnte.
Der Mann, der Caderoussebegleitete, war offenbar fremd im südlichen Frankreich; er gehörte zu den Handelsleuten, die zur Messe vonBeaucaire kommen, um Juwelen zu verkaufen. Caderousse trat rasch und zuerst ein. Als er die untere Stube wie gewöhnlich leer sah, rief er seiner Frau zu: He! Carconte, der würdige Priester hat uns nicht getäuscht; der Stein war gut.
Ein freudiger Ausruf ließ sich vernehmen, und fast in demselben Augenblick kam ein schwacher Tritt die Treppe herunter. Was sagst du? fragte die Frau, bleicher als eine Tote.
Ich sage, daß der Diamant gut war, und daß dieser Herr, einer der ersten Juweliere von Paris, uns fünfzigtausend Franken dafür geben will. Nur verlangt er, um sicher zu sein, daß der Diamant uns gehört, du sollst ihm, wie ich's schon getan habe, erzählen, auf welche wunderbare Weise er in unsere Hände gekommen ist. Setzen Sie sich einstweilen, mein Herr, wenn es Ihnenbeliebt, ich will Ihnen eine Erfrischung holen. Der Juwelierbetrachtete mit großer Aufmerksamkeit das Innere der Herberge und die sichtbare Armut des Wirtes, der einen Diamanten, der aus dem Schmuckkästchen eines Fürsten zu kommen schien, an ihn verkaufen wollte.
Erzählen Sie, sagte der Fremde; ohne Zweifel wollte er die Abwesenheit des Mannesbenutzen und sehen, obdiebeiden Erzählungen übereinstimmten.
Ei! mein Gott, sagte die Frau mit großer Zungenfertigkeit, es ist ein Segen des Himmels, den wir entfernt nicht erwarteten. Denken Sie sich, lieber Herr, daß mein Mann im Jahre 1814 mit einem Seefahrer, namens Dantes, in Verbindung stand; der arme Junge, den Caderousse ganz vergessen hatte, hat ihn nicht vergessen und ihm, als er im Gefängnis starb, den Diamanten, den Sie hier sehen, hinterlassen.
Aber wie ist er in denBesitz dieses Diamanten gelangt? fragte der Juwelier. Erbesaß ihn also, ehe er in das Gefängnis kam?
Nein, mein Herr, erwiderte die Frau, sondern er machte, wie mir scheint, im Gefängnis dieBekanntschaft eines reichen Engländers; und da sein Stubengenosse im Kerker krank wurde und Dantes ihn pflegte, so schenkte der Engländer, als er aus der Haft entlassen wurde, diesen Diamanten dem armen Dantes, der, minder glücklich, im Gefängnis starbundbei seinem Tode uns den Stein vermachte, den uns heute früh ein würdiger Abbé in seinem Auftrag überbrachte.
Das ist ganz das gleiche, murmelte der Juwelier, und die Geschichte muß am Ende wahr sein, so unwahrscheinlich sie auch aussieht. Es handelt sich also nur um den Preis, über den wir noch nicht einig sind.
Wie! rief Caderousse, ich glaubte, Sie hätten eingewilligt, den von mir verlangten Preis dafür zu zahlen. — Das heißt, versetzte der Juwelier, ich habe vierzigtausend Franken geboten. — Vierzigtausend Franken! rief die Careonte, wir geben ihn dafür nicht her. Der Abbé hat uns gesagt, er sei ohne Fassung fünfzigtausend Franken wert. — Zeigen Sie mir den Diamanten, sagte der Juwelier, damit ich ihn noch einmalbetrachten kann; man irrt sichbei flüchtigemBetrachten leicht.
Caderousse zog aus seiner Tasche ein kleines Futteral, öffnete es und gabes dem Juwelier. Beim Anblick des Diamanten, der so groß war wie eine kleine Haselnuß, funkelten die Augen der Carconte vorBegierde.
Und was dachten Sie dabei, Herr Horcher? fragte Monte Christo. Kannten Sie den Edmond Dantes, von dem die Rede war?
Nein, Exzellenz, ich hattebis dahin nie von ihm sprechen hören und hörte auch seitdem nur ein einziges Mal den AbbéBusoni von ihm reden, als ich ihn im Gefängnis in Nimes sah.
Gut, fahren Sie fort!
Der Juwelier nahm den Ring aus Caderousses Händen, zog aus seiner Tasche ein stählernes Zänglein und eine kleine messingne Wage, öffnete die goldenen Krampen, die den Stein im Ringe hielten, zog den Diamanten heraus und wog ihn mit ängstlicher Sorgfalt. Dann sagte er: Ich gebe 45 000 Franken, aber keinen Sou mehr; es tut mir sogar leid, daß ich diese Summe geboten habe, insofern der Stein einen Mangel hat, den ich anfangs nichtbemerkte.
Bringen Sie den Stein wenigstens wieder in den Ring, sagte Caderousse spitzig. — Sie haben recht, versetzte der Juwelier, undbrachte den Diamanten wieder in seinen Kasten. — Gut, sagte Caderousse, ich verkaufe ihn an einen anderen.
Ja, entgegnete der Juwelier, aber ein anderer wird sich nicht so leicht mit der Auskunftbegnügen, die Sie mir gegeben haben. Er wird sagen: Es geht nicht mit rechten Dingen zu, daß ein Mensch wie Sie einen Diamanten von fünfzigtausend Frankenbesitzt, er wird dieBehörden darauf aufmerksam machen, dann sucht man den AbbéBusoni, und die Abbés, die Diamanten von zweitausend Louisd'or verschenken, sind selten. Die Justizbemächtigt sich der Sache, man schickt Sie ins Gefängnis, — und werden Sie auch als unschuldig erkannt, setzt man Sie nach einer Haft von dreibis vier Monaten wieder in Freiheit, so hat sich der Ring in der Gerichtskanzlei verloren, oder man gibt Ihnen einen falschen Stein, der drei Franken wert ist, statt eines Steines von fünfzigtausend Franken. Also ganz nach Ihrem Gutdünken; ich habe übrigens, wie Sie sehen, schönes Geld mitgebracht.
Und er zog aus einer von seinen Taschen eine Handvoll Gold, die er vor den geblendeten Augen des Wirtes funkeln ließ, und aus der andern ein Päckchen mitBanknoten. In Caderousses Innern entspann sich offenbar ein harter Kampf, und das kleine Futteral von Saffianleder, das er in seiner Hand hin und her drehte, schien ihm als Wert offenbar nicht der ungeheuren Summe zu entsprechen, die seine Augenblendete. Er wandte sich zu seiner Frau und sagte leise: Was meinst du dazu?
Gib, gib, antwortete sie; wenn er ohne den Diamanten nachBeaucaire zurückkehrt, zeigt er uns an, und wer weiß, obwir je wieder des AbbésBusoni habhaft werden können.
Gut, sagte Caderousse, nehmen Sie den Diamanten für 45 000 Franken; meine Frau will aber noch eine goldene Kette haben und ich silberne Schnallen.
Nun, so geben Sie doch her! Was für ein schrecklicher Mensch! versetzte der Juwelier, ihm den Ring aus der Hand ziehend; ich zahle ihm 45 000 Franken, das heißt ein Vermögen, wie ich wohl eines haben möchte, und er ist noch nicht zufrieden!
Warten Sie, bis ich die Lampe angezündet habe, entgegnete die Carconte, es ist nicht mehr hell, und man könnte sich irren.
Während dieser Verhandlung war es wirklich Nacht geworden, und mit der Nacht war der Sturm gekommen, der seit einer halben Stunde loszubrechen drohte. Man hörte den Donner dumpf in der Ferne grollen; aber ganz und gar vom Dämon des Gewinnesbesessen, schienen sich weder der Juwelier noch die Carconte darum zubekümmern. Ich selbst fühlte mich ganz geblendetbei dem Anblick von all diesem Gold und all denBanknoten. Es kam mir vor, als träumte ich.
Caderousse zählte wiederholt das Gold und die Scheine, die der Juwelier auf den Tisch gezählt hatte, und gabdannbeides seiner Frau, die ebenfalls alles durchzählte. Mittlerweile ließ der Juwelier den Diamanten unter dem Strahle der Lampe spiegeln.
Nun, ist die Rechnung richtig? fragte der Händler.
Ja, antwortete Caderousse, und nun, obgleich Sie uns vielleicht zehntausend Livres zu wenig gezahlt haben, wollen Sie mit uns zu Nacht speisen? Es kommt von gutem Herzen.
Ich danke, erwiderte der Juwelier. Es istbereits spät, und ich muß nachBeaucaire zurück, sonst wird meine Frau unruhig. Bei Gott, es istbald neun Uhr, ich werde vor Mitternacht nicht inBeaucaire sein. Gottbefohlen, Kinder.
Ein Donnerschlag erdröhnte, begleitet von einem so grellenBlitze, daßbeinahe die Lampe verdunkelt wurde.
Oh! sagte Caderousse, bei diesem Wetter wollen Sie fort? — Ich fürchte mich nicht vor dem Donner, versetzte der Juwelier. — Und vor den Räubern? fragte die Carconte. Die Straße ist während der Messe nie sicher. — Oh! was die Räuberbetrifft, entgegnete der Händler, da ist etwas für sie. Und er zog ein paar kleine, bis an die Mündung geladene Pistolen aus der Tasche. Das sind Hunde, die zugleichbellen undbeißen, sie sind für diebeiden erstenbestimmt, die es nach Eurem Diamanten gelüsten sollte, Vater Caderousse.
Caderousse und seine Frau wechselten einen finsternBlick. Sie hatten, wie es schien, gleichzeitig einen furchtbaren Gedanken.
Dann glückliche Reise, sagte Caderousse.
Ich danke, erwiderte der Juwelier, nahm seinen Stock und wollte sich entfernen. In dem Augenblick, wo er die Tür öffnete, drang ein so heftiger Windstoß in die Stube, daß erbeinahe die Lampe ausgelöscht hätte.
Oh! oh! sagte er, ein schönes Wetter, und drei Stunden Wegbei einem solchen Sturme! — Bleiben Sie hier, schlafen Siebei uns! versetzte Caderousse. — Ja, bleiben Sie, sagte Carconte mit zitternder Stimme, wir sorgen für Sie. — Nein, ich muß inBeaucaire schlafen. Gottbefohlen.
Caderousse ging langsambis zur Schwelle.
Man sieht weder Himmel noch Erde, sagte der Juwelier, bereits halbaußer dem Hause. Muß ich mich links oder rechts halten? — Rechts, antwortete Caderousse, Sie können nicht fehlen, die Straße ist aufbeiden Seiten mitBäumenbesetzt. — Schließe doch die Tür! rief die Carconte, ich liebe offene Türen nicht, wenn es donnert! — Und wenn Geld im Hause ist, nicht wahr? entgegnete Caderousse, den Schlüssel zweimal im Schlosse drehend.
Er kam zurück, ging an den Schrank, nahm den Sack und das Portefeuille heraus, undbeide fingen an, zum dritten Male ihr Gold und ihre Scheine zu zählen. Ich habe nie einen Ausdruck gesehen, wie den dieser gierigen, von der spärlichen Lampebeleuchteten Gesichter. Die Fraubesonders war abscheulich, ihr gewöhnliches fiebriges Zittern hatte sich noch gesteigert. Ihr Gesicht war leichenfarbig geworden, ihre hohlen Augen flammten.
Warum hast du ihm ein Nachtlager hier angeboten? fragte sie mit dumpfem Tone. — Um… damit… antwortete Caderoussebebend, damit erbei dem Wetter nicht nachBeaucaire zurückzukehrenbrauchte. — Ah! sagte die Carconte mit einem Tone, der sich nichtbeschreiben läßt; ich glaubte, es geschehe aus einem andern Grunde. — Weib! Weib! rief Caderousse, warum hast du solche Gedanken, und warumbehältst du sie nicht für dich? — Gleichviel, sagte die Carconte, dubist kein Mann. — Warum? — Wärest du ein Mann, so würde er nicht von hier weg gekommen sein. — Weib! — Oder er würde wenigstensBeaucaire nicht erreichen. — Weib! — Die Straße macht eineBiegung, er muß der Straße folgen, während sich längs dem Kanal ein kürzerer Weg hinzieht. — Weib, dubeleidigst den guten Gott. Halt, horch!
Man hörte in der Tat einen furchtbaren Donnerschlag, während einBlitz die ganze Stube mit einerbläulichen Flamme übergoß, doch langsam abnehmend schien sich der Donner nur ungern von dem verfluchten Hause zu entfernen.
Jesus! rief die Carconte sichbekreuzend.
Beinahe in demselben Augenblicke hörte man mitten unter dem Stillschweigen des Schreckens, das gewöhnlich auf Donnerschläge folgt, an die Tür klopfen. Caderousse und seine Fraubebten und schauten sich ängstlich an.
Wer ist da? rief Caderousse aufstehend, schobdie auf dem Tische zerstreuten Goldstücke undBanknoten auf einen Haufen undbedeckte sie mit seinen Händen.
Ei, bei Gott, ich, der Juwelier.
Nun, was sagtest du, versetzte die Carconte mit einem furchtbaren Lächeln, ichbeleidige den guten Gott?… Gerade der gute Gott schickt ihn uns zurück.
Caderousse fielbleich und keuchend auf seinen Stuhl.
Die Carconte dagegen stand auf, ging festen Schrittes auf die Tür zu, öffnete und sagte: Kommen Sie herein, lieber Herr.
Meiner Treu, sagte der Juwelier, der, vom Regen triefend, eintrat, es scheint, der Teufel will nicht, daß ich heute abend nachBeaucaire zurückkehre. Sie haben mir Gastfreundschaft angeboten, ich nehme sie an und komme, um hier zu schlafen.
Caderousse stammelte einige Worte, während er den Schweiß abtrocknete, der von seiner Stirn floß. Die Carconte schloß die Tür doppelt hinter dem Juwelier.
Der Blutregen
Der Juwelier schautebei seinem Eintritt forschend umher; aber nichts schien einen Verdacht in ihm zu erregen. Caderousse hielt sein Gold und seineBanknoten immer noch mitbeiden Händen. Die Carconte lächelte ihrem Gaste so freundlich zu, als sie nur immer konnte. Dann setzte sie auf eine Ecke des Tisches die magern Überreste eines Mittagsessens, denen sie einige frische Eier hinzufügte.
Caderousse hatte seine Geldscheine wieder in sein Portefeuille, das Gold in einen Sack getan und das Ganze in seinem Schrank verschlossen. Er ging düster und nachdenkend in der Stube auf und abund schaute von Zeit zu Zeit den Juwelier an, der dampfend vor dem Herde stand und, als eine Seite trocken war, sich auf die andere wandte.
Mein Herr, sagte die Carconte, eine Flasche Wein auf den Tisch stellend, es ist allesbereit, wenn Sie zu Nacht essen wollen.
Und Sie? fragte der Gast.
Ich esse nicht zu Nacht, antwortete Caderousse.
Wir haben sehr spät zu Mittag gegessen und werden Siebedienen, erwiderte die Carconte mit einembei ihr, selbst gegen zahlende Gäste, ungewöhnlichen Eifer.
Caderousse warf von Zeit zu Zeit einen raschenBlick auf sie. Der Sturm wütete fort.
Es ist der Mistral, und der wirdbis morgen fortdauern, sagte Caderousse, den Kopf schüttelnd, und stieß einen Seufzer aus.
Desto schlimmer für die, welche draußen sind, sagte der Juwelier, sich an den Tisch setzend.
Ja, die haben eineböse Nacht durchzumachen, versetzte die Carconte.
Der Juwelier fing an zu essen, und die Carconte erwies ihm fortwährend alle die kleinen Rücksichten einer aufmerksamen Wirtin; sonst so wunderlich und widerwärtig, war sie ein Muster von Zuvorkommenheit und Höflichkeit geworden. Hätte sie der Juwelier vorher gekannt, so würde ihm diese Veränderung sicherlich aufgefallen sein und Verdacht eingeflößt haben. Als das Abendessenbeendet war, ging Caderousse selbst an die Tür, öffnete sie und sagte: Ich glaube, der Sturm legt sich.
Aber als sollte er Lügen gestraft werden, erschütterte in diesem Augenblick ein furchtbarer Donnerschlag das Haus, ein Windstoß, vermischt mit Regen, drang in die Tür und löschte die Lampe aus. Caderousse schloß die Tür wieder, und seine Frau zündete ein Licht an der ersterbenden Glut au.
Mein Herr, sagte sie, Sie müssen müde sein, ich habe dasBett frisch überzogen, gehen Sie hinauf und schlafen!
Der Juwelierbliebnoch einen Augenblick, dann wünschte er seiner Wirtin gute Nacht und stieg die Treppe hinauf. Ich hörte ihn über mir gehen, jede Stufe krachte unter seinen Tritten. Die Carcounte folgte ihm mit gierigemBlick, während ihm Caderousse den Rücken zuwandte.
Alle diese einzelnen Umstände, welche seitdem in meinem Geiste mit der Frische des ersten Momentes Platz gegriffen haben, fielen nur zur Zeit, wo sie unter meinen Augen vorgingen, nicht auf; in allem, was geschah, lag im ganzen nichts Unnatürliches, und abgesehen von der Diamantengeschichte, die mir etwas unwahrscheinlich vorkam, konnte nichts einen Argwohn in mir rege machen.
Von Müdigkeit überwältigt und entschlossen, die erste Frist zubenutzen, die der Sturm den Elementen gönnen würde, wollte ich ein paar Stunden schlafen und um Mitternacht weggehen. Ich hörte im obern Zimmer den Juwelier alle Vorkehrungen treffen, um die Nacht sobehaglich als möglich zuzubringen. Baldbemerkte ich an dem Krachen seinesBettes, daß er sich niedergelegt hatte.
Ich fühlte, wie sich meine Augen unwillkürlich schlossen, und da ich keinen Verdacht geschöpft hatte, so suchte ich nicht gegen den Schlaf zu kämpfen und warf nur noch einenBlick in das Innere. Caderousse saß an einem langen Tische auf einer von den hölzernenBänken, die in den Dorfwirtshäusern die Stühle ersetzen; er wandte mir den Rücken zu und hielt seinen Kopf aufbeide Hände gestützt.
Die Carconte schaute ihn eine Zeit lang an, zuckte die Achseln und setzte sich ihm gegenüber. In diesem Augenblick flackerte die Flamme zufällig auf, und ein etwas hellerer Schimmer erleuchtete die düstere Stube. Die Carconte schaute ihren Mann starr an, und da dieser stets in derselben Stellung verharrte, sah ich sie ihre gekrümmte Hand nach ihm ausstrecken und seine Stirnberühren.
Caderoussebebte. Es kam mir vor, als spräche sie ganz leise zu ihm, doch der Schall ihrer Worte gelangte nichtbis zu mir. Ich sah nur noch wie durch einen Nebel und halbtraumbefangen. Endlich schlossen sich meine Augen, und ich verlor dasBewußtsein.
Ich lag im tiefsten Schlafe, als ich durch einen Pistolenschuß erweckt wurde, auf den ein furchtbarer Schrei folgte. Es erschollen ein paar wankende Tritte auf demBoden der Stube, und eine träge Masse stürzte auf der Treppe, gerade über meinem Haupte, nieder.
Ich war noch nicht ganz meiner Herr. Ich vernahm Seufzer und dann halberstickte Schreie, wie von einem Kampf. Ein letzter Schrei, der länger anhielt, als die andern, und sich endlich in ein Stöhnen verwandelte, entriß mich völlig meiner Erstarrung.
Ich erhobmich, öffnete die Augen, die in der Finsternis nichts sahen, und fuhr mit der Hand nach der Stirn, auf die, wie es mir vorkam, durch dieBretter der Treppe ein lauer Regen floß.
Das tiefste Schweigen war auf den furchtbaren Lärm gefolgt. Ich hörte sodann die Tritte eines Menschen über meinem Kopfe und auf der Treppe; dieser Mensch stieg in die untere Stube herabund zündete eine Kerze an. Ich erkannte Caderousse, sein Gesicht warbleich, und sein Hemd ganz mitBlut überzogen. Als das Licht angezündet war, stieg er rasch wieder die Treppe hinauf, und ich hörte von neuem seine raschen, unruhigen Tritte.
Einen Augenblick nachher kam er wieder herab; er hielt das Futteral in der Hand, wickelte es in sein rotes Tuch undband es um den Hals. Dann lief er nach dem Schranke, ergriff sein Geld, nahm ein paar Hemden, stürzte aus der Tür und verschwand in der Dunkelheit. Da wurde mir alles klar, und ich machte mir das Geschehene zum Vorwurf, als wäre ich selbst der wahre Schuldige. Es kam mir vor, als hörte ich ein Stöhnen. Der unglückliche Juwelier war nicht tot, vielleicht lag es in meiner Macht dadurch, daß ich ihm Hilfe leistete, einen Teil von dem Übel wieder gutzumachen, das ich zwar nicht selbst getan, wohl aber hatte tun lassen. Ich stemmte meine Schultern gegen die schlecht zusammengefügtenBretter, die den Schuppen, in dem ich michbefand, von der inneren Stube trennten. DieBretter gaben nach, und ichbefand mich im Hause.
Ich ergriff den Leuchter und eilte nach der Treppe; ein Körper versperrte mir den Weg, es war der Leichnam der Carconte. Der Pistolenschuß, den ich gehört, war auf sie abgefeuert; ihr Hals war völlig durchbohrt. Das Zimmerbot den Anblick der furchtbarsten Zerstörung. Alle Geräte waren umgeworfen; dieBettlaken, an die sich der unglückliche Juwelier ohne Zweifel angeklammert hatte, lagen auf demBoden; er selbst war auf der Erde ausgestreckt und schwamm, den Kopf an die Wand gestützt, in seinemBlute, das aus dreibreiten Wunden in seinerBrust hervorquoll. In einer vierten stak ein langes Küchenmesser, dasbis ans Heft hineingestoßen war.
Ich näherte mich dem Juwelier, er war nicht ganz tot. Bei dem Lärm, den ich machte, öffnete er seine stieren Augen; heftete sie eine Sekunde lang auf mich, bewegte seine Lippen, als wollte er sprechen, und verschied.
Dieses furchtbare Schauspiel machte mich fast wahnsinnig. Von dem Augenblick jedoch, wo ich nicht mehr helfen konnte, fühlte ich nur dasBedürfnis, zu fliehen. Michbei den Haaren fassend und ein Geschrei des Schreckens ausstoßend, stürzte ich nach der Treppe.
In der unteren Stube fand ich eine ganzebewaffnete Macht, bestehend aus fünfbis sechs Zollbeamten und mehreren Gendarmen. Manbemächtigte sich meiner. Ich versuchte es nicht einmal, Widerstand zu leisten;… ich war nicht mehr Herr meiner Sinne. Ich wollte sprechen, stieß aber nur unzusammenhängende Töne aus.
Ich sah, daß die Zöllner und Gendarmen mit dem Finger auf mich deuteten, denn ich war ganz mitBlutbedeckt. Der laue Regen, der durch dieBretter der Treppe auf mich gefallen, war dasBlut der Carconte.
Ich deutete mit dem Finger auf den Ort, wo ich verborgen gewesen war.
Was will er sagen? fragte ein Gendarm.
Ein Zöllner sah nach und sagte: Er will sagen, daß er hier durchgeschlüpft ist, und zeigte das Loch, durch das ich wirklich geschlüpft war.
Nunbegriff ich, daß man mich für den Mörder hielt. Ich fand meine Sinne wieder, ich fand meine Kräfte wieder, befreite mich von den Händen zweier Männer, die mich hielten, und rief: Ichbin es nicht.
Zwei Gendarmen schlugen mit ihren Karabinern auf mich an.
Wenn du dich rührst, sagten sie, bist du des Todes.
Aber ich wiederhole, daß ich es nichtbin, rief ich.
Du kannst deine Geschichten den Richtern von Nimes erzählen, erwiderten sie. Inzwischen folge uns; und wenn wir dir raten sollen, leiste keinen Widerstand!
Das war nicht meine Absicht; ich fühlte mich durch Erstaunen und Schrecken gelähmt. Man legte mir Handschellen an, band mich an den Schweif eines Pferdes und führte mich nach Nimes.
Es war mir auf meinem Wege durch den Kanal ein Zöllner gefolgt; als er mich in der Gegend des Hauses aus dem Gesichte verlor, vermutete er, ich würde die Nacht hier zubringen. Erbenachrichtigte seine Kameraden und kam mit ihnen gerade, um den Pistolenschuß zu hören und mich inmitten von Schuldbeweisen festzunehmen, deren Widerlegung mir, wie ich wohl einsah, kaum gelingen konnte.
Ich verließ mich auch nur auf eines undbat den Untersuchungsrichter sogleich, überall einen gewissen AbbéBusoni suchen zu lassen, der im Verlaufe des Tages im Wirtshause zum Pont du Gard gewesen sei. Hatte Caderousse gelogen, gabes keinen AbbéBusoni, so war ich offenbar verloren, wenn nicht Caderousse ebenfalls gefangen wurde und alles gestand.
Es vergingen zwei Monate, während deren, ich muß es zum Lobe meines Richters sagen, alle Nachforschungen angestellt wurden, um den aufzusuchen, nach dem ich verlangte. Ich hatte jede Hoffnung verloren, Caderousse war nicht festgenommen worden. In der nächsten Sitzung sollte ich gerichtet werden, als am 8. September, das heißt drei Monate und fünf Tage nach dem Vorfall, der AbbéBusoni, auf den ich nicht mehr rechnete, sichbei dem Kerkermeister einfand und sagte, er habe erfahren, ein Gefangener wünsche ihn zu sprechen. Er habe in Marseille davon gehört, gaber an, undbeeile sich, dem Wunsche zu entsprechen.
Sie können sich denken, mit welcher Freude ich ihn empfing ich erzählte ihm das ganze Ereignis, dessen Zeuge ich gewesen, sprach aber nicht ohne Unruhe von der Geschichte mit dem Diamanten. Gegen mein Erwarten war sie Punkt für Punkt wahr; ebenfalls gegen mein Erwarten maß er allem, was ich sagte, Glaubenbei. Von seinem Wohlwollen und seiner tiefen Einsicht ergriffen, beichtete ich ihm, was in Auteuil geschehen, und erhielt von ihm den Trost der Absolution. Er verließ mich, indem er mir versprach, er würde alles tun, was in seiner Macht liege, meine Richter von meiner Unschuld zu überzeugen.
DenBeweis, daß er sich wirklich mit mirbeschäftigte, fand ich darin, daß meine Haft allmählich milder wurde. In der Zwischenzeit wurde Caderousse im Ausland verhaftet und nach Frankreich zurückgebracht. Er gestand alles und warf die Schuld des Vorbedachts undbesonders der Anstiftung auf seine Frau. Er wurde zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt und mich setzte man in Freiheit.
Damals geschah es, daß Sie sich mit einemBriefe des AbbésBusonibei mir einfanden? fragte Monte Christo.
Ja, Exzellenz; er nahm sichtbar Anteil an mir, riet mir, mein Schmugglerhandwerk aufzugeben, und wollte mich an einenBekannten empfehlen.
Oh, mein Vater, rief ich, wieviel Güte! — Doch Sie schwören mir, daß ich es nie zubereuen haben werde?
Ich streckte die Hand aus, um zu schwören.
Unnötig, sagte er, ich kenne und liebe die Korsen; hier ist meine Empfehlung.
Und auf diese Empfehlung hin hatte Eure Exzellenz die Gnade, mich in seine Dienste zu nehmen. Nun frage ich Eure Exzellenz, hat sie sich je über mich zubeklagen gehabt?
Nein, erwiderte der Graf, und ich gestehe mit Vergnügen, Sie sind ein guter Diener, Bertuccio, obgleich es Ihnen an Vertrauen gebricht.
Mir, Herr Graf?
Ja, Ihnen. Wie kommt es, daß Sie eine Schwägerin und einen Adoptivsohn haben, und weder von der einen noch von dem andern mit mir sprachen?
Ach! Exzellenz, ich muß Ihnen noch den traurigsten Teil meines Lebens mitteilen. Nach meiner Freilassung reiste ich nach Korsika, denn es drängte mich, meine arme Schwägerin wiederzusehen. Als ich aber nach Rogliano kam, fand ich das Haus in Trauer; es war eine furchtbare Szene vorgefallen. Meinem Rate gemäß, widerstand meine Schwägerin den ForderungenBenedettos, der jeden Augenblick alles Geld verlangte, das im Hause war. Eines Morgensbedrohte er sie und verschwand dann einen ganzen Tag. Sie weinte, denn die liebe Assunta hatte ein Mutterherz für den Elenden. Es kam der Abend, sie wartete auf ihn, ohne sich niederzulegen. Als er um elf Uhr mit zweien seiner Freunde, den gewöhnlichen Genossen seiner tollen Streiche, zurückkehrte, streckte sie die Arme nach ihm aus; doch die Ruchlosen packten sie, und einer von den dreien, ich fürchte, es war das höllische Kind selbst, rief: Wir wollen sie auf die Folter spannen, sie muß gestehen, wo sie ihr Geld hat.
Der Nachbar Wasilio war gerade inBastia, und nur seine Frau allein zu Hause. Niemand außer ihr konnte sehen oder hören, wasbei meiner Schwägerin vorging. Zwei von ihnen hielten die arme Assunta, der dritte verrammelte Türen und Fenster, und alle drei hielten dann Assuntas nackte Füße, indem sie mit Tüchern ihr Geschrei erstickten, über die Kohlenglut, um ihr das Geständnis zu entreißen, wo unser kleiner Schatz verborgen liege. Doch dabei fingen ihre Kleider Feuer; da ließen sie die Unglückliche los, um nicht selbst verbrannt zu werden. Ganz in Flammen lief sie nach der Tür, aber die Tür war verschlossen; sie stürzte nach dem Fenster, doch das Fenster war verrammelt. Nun hörte die Nachbarin ein furchtbares Geschrei; es war Assunta, die um Hilfe rief. Bald dämpfte sich ihre Stimme; die Schreie verwandelten sich in ein Stöhnen, und als am andern Morgen, nach einer Nacht des Schreckens und der Angst, Wasilios Frau aus ihrer Wohnung herauszugehen wagte und von der Polizei unser Haus öffnen ließ, fand man Assunta halbverbrannt, aber noch atmend, die Schränke erbrochen, das Geld entwendet. Benedetto hatte Rogliano verlassen, um nie mehr dahin zurückzukehren. Seit jenem Tage habe ich ihn nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört. — Nachdem ich diese traurige Kunde vernommen, begabich mich zu Eurer Exzellenz. Ich konnte nicht vonBenedetto sprechen, weil er verschwunden, und nicht von meiner Schwägerin, weil sie tot war.
Und was dachten Sie von diesem Ereignis? sagte Monte Christo.
Es sei die Strafe für das Verbrechen, das ichbegangen hatte. Oh! diese Villefort waren ein verfluchtes Geschlecht.
Ich glaube es, murmelte der Graf finster.
Und nunbegreifen Eure Exzellenz wohl, daß dieses Haus, das ich seitdem nicht mehr gesehen, daß dieser Garten, in dem ich mich plötzlich wiederfand, daß dieser Platz, wo ich einen Menschen getötet habe, die Erschütterung in mir hervorbringen mußte, deren Veranlassung Sie erfahren wollten; denn ich weiß nicht gewiß, obnicht hier zu meinen Füßen Herr von Villefort in dem Grabe liegt, das er für sein Kind gegraben hatte.
Es ist in der Tat alles möglich, sagte Monte Christo, von derBank aufstehend, auf der er gesessen hatte, sogar, fügte er ganz leise hinzu, sogar, daß der Staatsanwalt nicht gestorben ist. Der AbbéBusoni hat wohl daran getan, Sie mir zuzuschicken. Sie haben ebenfalls wohl daran getan, mir Ihre Geschichte zu erzählen, denn ich werde nichts Schlimmes mehr von Ihnen denken. Doch was den verruchtenBenedettobetrifft, haben Sie nie seine Spur aufzufinden gesucht, haben Sie nie zu erfahren gesucht, was aus ihm geworden ist?
Nie. Hätte ich gewußt, wo er wäre, so würde ich, statt zu ihm zu gehen, vor ihm geflohen sein, wie vor einem Ungeheuer. Nein, glücklicherweise habe ich nie irgend einen Menschen der Welt von ihm sprechen hören, und ich hoffe, er ist tot.
Hoffen Sie das nicht, Bertuccio; die Schlechten sterben nicht so leicht, denn Gott scheint sie unter seine Obhut zu nehmen, um Werkzeuge seiner Rache aus ihnen zu machen.
Es mag sein, versetzteBertuccio. Ichbitte den Himmel nur, ihn nie mehr sehen zu dürfen. Und nun wissen Sie alles, Herr Graf, fügte der Intendant, sein Haupt neigend, hinzu, Sie sind mein Richter hienieden, wie dies Gott dort oben sein mag… Werden Sie mir nun nicht einige Worte des Trostes sagen?
Sie haben recht, ich kann Ihnen sagen, was der AbbéBusoni sagen würde: Der, welcher Sie mißhandelt hatte, Villefort, verdient eine Strafe für das, was er Ihnen getan, und vielleicht noch für etwas anderes. Benedetto aber wird, falls er lebt, zu einer göttlichen Rache dienen. Sie aber haben sich in Wahrheit nur einen Vorwurf zu machen: Fragen Sie sich, warum Sie das Kind, nachdem Sie es dem Tode entrissen, nicht seiner Mutter zurückgegeben haben! Hierin liegt Ihr Verbrechen, Bertuccio.
Ja, Herr Graf, das ist mein Verbrechen, denn ichbin hierbei feig gewesen; hatte ich das Kind einmal ins Leben zurückgerufen, sobliebnur eins zu tun: ich mußte es, wie Sie sagen, seiner Mutter zurückschicken. Aber zu diesemBehufe hätte ich auch Nachforschungen anstellen, die Aufmerksamkeit auf mich ziehen, mich vielleicht preisgeben müssen. Ich wollte aber nicht sterben, ich hing meiner Schwägerin wegen am Leben, vielleicht auch nur aus Liebe zu eben diesem Leben. Oh, ichbin kein Tapferer, wie mein armerBruder!
Bertuccio verbarg sein Gesicht in seinenbeiden Händen, und Monte Christo heftete einen langen, unbeschreiblichenBlick auf ihn.
Dann nach einem kurzen Stillschweigen, das durch die Stunde und den Ort noch feierlicher wurde, sagte der Graf mit einembei ihm ungewöhnlichen Tone der Schwermut:
HerrBertuccio, erinnern Sie sich stets folgender Worte, ich habe sie oft vom AbbéBusoni aussprechen hören: Für jedes Übel gibt es zwei Mittel, die Zeit und das Stillschweigen. Lassen Sie mich nur eine Minute im Garten spazierengehen. Was für Sie, die handelnde Person, bei dieser furchtbaren Szene eine schmerzhafte Erschütterung hervorbringen muß, wird für mich einebeinahe sanfte Empfindung sein und diesem Gute einen doppelten Wert verleihen. DieBäume gefallen mir, weil sie Schatten geben, und der Schatten gefällt mir, weil er voll von Träumen und Gesichten ist. Sehen Sie, ich habe einen Garten gekauft und glaubte nur einen von Mauern eingeschlossenen Raum zu kaufen; es findet sich aber, daß dieser Raum von Schreckbildernbevölkert ist, die gar nicht im Vertrage aufgeführt sind. Jedoch ich liebe diese Geister; meines Wissens haben die Toten in sechstausend Jahren nicht so vielBöses getan, wie die Lebenden an einem einzigen Tage. Kehren Sie also zurück und schlafen Sie in Frieden! Ist Ihr letzterBeichtiger minder nachsichtig, als es der AbbéBusoni war, so lassen Sie mich kommen, wenn ich noch auf der Weltbin, und ich werde Worte finden, die Ihre Seele in jeder Minute sanft einwiegen lassen, wo siebereit ist, sich auf die große Reise zu machen, die man die Ewigkeit nennt.
Bertuccio verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Grafen und entfernte sich nach einem tiefen Seufzer. Nach einem Gange durch den Garten kehrte der Graf zu seinem Wagen zurück. Bertuccio stieg, ohne ein Wort zu sagen, auf denBock neben den Kutscher. Der Wagen schlug wieder den Weg nach Paris ein.
Noch an demselben Abend, unmittelbar nach seiner Ankunft in dem Hause der Champs‑Elysées, besichtigte Monte Christo die ganze Wohnung, wie es nur ein seit langen Jahren damit vertrauter Mensch hätte tun können. Nicht ein einziges Mal öffnete er, obgleich er allein ging, eine Tür statt einer andern, wählte er eine Treppe oder eine Flur, die ihn nicht dahin führte, wohin er gehen wollte. Alibegleitete ihnbei dieser nächtlichen Schau. Der Graf gabBertuccio mehrereBefehle für die Verschönerung und Einteilung der Zimmer; dann zog er seine Uhr und sagte zu dem aufmerksamen Nubier: Es ist halbzwölf Uhr. Haydee mußbald kommen. Hat man die französischen Frauen davon in Kenntnis gesetzt?
Ali streckte die Hand nach der für die schöne Griechinbestimmten Wohnung aus, die so abgesondert und durch eine Tapetentür verborgen war, daß man das ganze Hausbesichtigen konnte, ohne zu vermuten, daß es hier noch einen Salon und zweibewohnte Zimmer gab. Ali streckte also die Hand nach dieser Wohnung aus, deutete die Zahl drei mit den Fingern seiner linken Hand an, legte dann den Kopf auf die wieder flach gemachte Hand und schloß die Augen, als schliefe er.
Oh! sagte Monte Christo, der an diese Sprache gewöhnt war, es sind ihrer drei, und sie warten im Schlafzimmer, nicht wahr?
Alibejahte, indem er mit dem Kopfe nickte.
Madame wird heute abend müde sein und ohne Zweifel schlafen wollen; veranlasse sie nicht zum Sprechen; die französischen Kammerfrauen sollen ihre neue Gebieterin nurbegrüßen und sich dann zurückziehen. Du wachst darüber, daß die griechische Kammerfrau nicht mit den französischen Frauen verkehrt.
Ali verbeugte sich.
Bald hörte man den Hausmeister anrufen; das Gitter öffnete sich, ein Wagen hielt vor der Freitreppe. Der Graf ging hinab; der Kutschenschlag warbereits offen; er reichte seine Hand einer Frau, die in einen großen, seidenen, ganz mit Gold gestickten, von ihrem Haupte herabfallenden Schleier gehüllt war. Die junge Frau nahm die ihr dargebotene Hand, küßte sie mit ehrfurchtsvoller Liebe und ließ ein paar zärtliche Worte laut werden, auf die der Graf mit sanftem Ernste antwortete. Dann wurde die junge Frau, eine junge Griechin, in ihre Gemächerbegleitet.
Der unbegrenzte Kredit
Am andern Tage, gegen zwei Uhr nachmittags, hielt eine mit zwei prächtigen Pferdenbespannte Kalesche vor der Tür des Grafen. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren inblauem Frack und weißer Weste mit ungeheurer goldener Uhrkette streckte seinen Kopf aus dem Coupé, auf dessen Füllung eineBaronenkrone gemalt war, und schickte seinen Diener zum Hausmeister, um zu fragen, obder Graf von Monte Christo zu Hause sei.
Inzwischenbetrachtete er mit großer Aufmerksamkeit das Äußere des Hauses und die Livree einigerBedienten, die hin und her gingen. Sein Auge war lebhaft, aber mehr verschmitzt als geistreich; seine Lippen waren so dünn, daß sie, statt gegen außen vorzuspringen, in den Mund zurücktraten; diebreiten und hervorragendenBackenknochen, die niedergedrückte Stirn, die Ausbuchtung des Hinterhauptes, die übermäßige Ohrmuschel trugen dazubei, für jeden Physiognomiker dem Gesichte dieser Person einen fast abstoßenden Charakter zu verleihen.
Der Diener klopfte an das Fenster des Hausmeisters und fragte: Wohnt hier nicht der Graf von Monte Christo?
Seine Exzellenz wohnt hier, antwortete der Hausmeister; aber… Erbefragte Ali mit einemBlicke. Ali machte ein verneinendes Zeichen.
Aber Seine Exzellenz ist nicht zu sprechen, sagte der Hausmeister.
Dann nehmen Sie diese Karte des HerrnBaron von Danglars und geben sie dem Herrn Grafen. Sagen Sie ihm, daß mein Herr, der jetzt zur Kammer fährt, einen Umweg macht, um sich die Ehre zu geben, ihm einenBesuch abzustatten.
Der Diener kehrte zum Wagen zurück und meldete, was man ihm gesagt.
Oh! oh! rief Danglars, dieser Herr ist also so vornehm, das; man ihn Exzellenz nennt, und daß nur sein Kammerdiener mit ihm sprechen darf; gleichviel, da er einen Kredit auf mich hat, muß ich ihnbesuchen, für den Fall, daß er Geld zu erheben wünscht.
Und er warf sich in seinen Wagen zurück und rief dem Kutscher so laut zu, daß man es auf der andern Seite der Straße hören konnte: In die Deputiertenkammer!
Durch eine Jalousie hatte Monte Christo denBaron gesehen und ihn mit derselben Aufmerksamkeit gemustert, mit der Danglars das Haus, den Garten und die Livreenbesichtigt hatte.
Dieser Mensch, sagte er, ist offenbar ein häßliches Geschöpf; erkennt man nicht sofort, wenn man ihn sieht, die Schlange an der platten Stirn, den Geier an dem gewölbten Schädel und den Habicht an dem scharfen Schnabel?
In demselben Augenblick trat der Intendant ein. Monte Christo wandte sich an ihn und sagte: Haben Sie die Pferde gesehen, die soeben vor meiner Tür hielten?
Allerdings, Exzellenz, sie sind sehr schön.
Wie kommt es, fragte Monte Christo, die Stirn faltend, daß es, wenn ich die zwei schönsten Pferde von Paris verlange, hier noch zwei andere Pferde gibt, die so schön sind, wie die meinigen, und daß diese Pferde nicht in meinem Stalle stehen?
Herr Graf, sagteBertuccio, die Pferde, von denen Sie sprechen, waren nicht käuflich.
Monte Christo zuckte die Achseln und erwiderte: Lassen Sie sich sagen, mein Herr Intendant, daß stets alles für den käuflich ist, der den Preis zu machen weiß.
Herr Danglars hat 16 000 Franken dafürbezahlt.
Dann hätte man ihm 32 000bieten müssen; er istBankier, und einBankier versäumt nie eine Gelegenheit, sein Kapital zu verdoppeln.
Spricht der Herr Graf im Ernste? fragteBertuccio.
Monte Christo schaute den Intendanten wie ein Mensch an, der darüber erstaunt, daß man eine solche Frage an ihn zu richten wagt, und sagte sodann: Ich habe heute abend einenBesuch zu erwidern, die zwei Pferde müssen dann mit neuem Geschirr an meinen Wagen gespannt sein.
Bertuccio verbeugte sich, um wegzugehen; an der Türblieber noch einmal stehen und fragte: Um wieviel Uhr gedenkt Exzellenz denBesuch zu machen? — Um fünf Uhr.
Ich erlaube mir, Eure Exzellenz zubemerken, daß es zwei Uhr ist, sagte der Intendant.
Ich weiß es, erwiderte Monte Christo mit trockenem Tone; dann fügte er, zu Ali gewendet, hinzu: Laß alle Pferde an Madame vorüberfahren, damit sie sich das Gespann auswählen kann, das ihr am meisten gefällt; will sie mit mir zu Mittag speisen, so mag sie es mir sagen lassen, man serviert dannbei ihr; geh und schicke mir den Kammerdiener.
Ali war kaum verschwunden, als der Kammerdiener ebenfalls eintrat.
HerrBaptistin, sagte der Graf, Sie sind seit einem Jahre in meinem Dienst; das ist die Probezeit, die ich gewöhnlich meinen Leuten auferlege. Sie sagen mir zu.
Baptistin verbeugte sich.
Nun fragt es sich nur noch, obich Ihnen zusage.
Oh! Herr Graf! riefBaptistin.
Hören Sie mich zu Ende! Sie erhalten im Jahr fünfzehnhundert Franken, Sie haben eine Tafel, wie sie sich viele wünschen würden. Ein Diener, haben Sie selbst wieder Diener, die für Ihr Weißzeug und Ihre andernBedürfnisse sorgen. Außer den fünfzehnhundert Franken Gehalt stehlen Sie mirbei den Ankäufen, die Sie für meine Toilette zu machen haben, noch ungefähr weitere fünfzehnhundert Franken jährlich.
Oh! Herr Graf.
Ichbeklage mich nicht, HerrBaptistin, denn ich finde dies nicht übermäßig; doch wünsche ich, daß es hierbeibleiben möge. Sie werden also nirgends einen Posten dem ähnlich finden, den Sie Ihr Glück finden ließ. Ich schlage meine Leute nie, ich fluche nie, ich gerate nie in Zorn, ich vergebe stets einen Irrtum, doch nie eine Nachlässigkeit oder Vergeßlichkeit. MeineBefehle sind gewöhnlich kurz, aber klar und genau; ich will sie lieber zwei- oder dreimal wiederholen, als falsch ausgelegt zu sehen. Ichbin reich genug, um alles zu erfahren, was ich erfahren will, und ichbin sehr neugierig, das sage ich Ihnen zum voraus. Erfahre ich nun, Sie hätten im Guten oder im Schlechten von mir gesprochen, meine Handlungenbeurteilt, mein Tun überwacht, so würden Sie auf der Stelle mein Haus verlassen. Ich warne meine Diener nur ein einziges Mal, Sie sind gewarnt, gehen Sie! Baptistin verbeugte sich und machte ein paar Schritte, um sich zu entfernen.
Doch halt, sagte der Graf, ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß ich jedes Jahr eine gewisse Summe auf den Kopf meiner Leute anlege. Die, welche ich wegschicke, verlieren natürlich dieses Geld, das denBleibenden zu gut kommt, die nach meinem Tode ein Recht darauf haben. Sie sind ein Jahrbei mir; die Ansammlung Ihres Vermögens hatbegonnen, sorgen Sie dafür, daß es zunimmt.
Diese in Gegenwart von Ali, der kein Wort Französisch verstand, gehaltene Redebrachte aufBaptistin eine große Wirkung hervor.
Es soll meinBestreben sein, mich in allen Punkten mit den Wünschen Eurer Exzellenz in Einklang zu setzen, sagte er; überdies werde ich mir Herrn Ali zum Vorbild nehmen. Oh! keineswegs, sagte der Graf eiskalt. Bei Ali sind viele Fehler mit guten Eigenschaften vermischt. Nehmen Sie sich keinBeispiel an ihm, denn Ali ist eine Ausnahme; er hat keinen Lohn, er ist kein Diener; er ist mein Sklave, mein Hund; verfehlt er sich gegen seine Pflicht, so jage ich ihn nicht fort, sondern töte ihn.
Baptistin riß die Augen weit auf.
Sie zweifeln? sagte Monte Christo.
Und er wiederholte arabisch die Worte, die er französisch zuBaptistin gesprochen hatte.
Ali hörte, lächelte, näherte sich seinem Herrn, setzte ein Knie auf die Erde und küßte ihm ehrfurchtsvoll die Hand. Diese kleine Zugabe zu der Lektion seines Gebieters machte das Maß des ErstaunensbeiBaptistin voll. Der Graf hieß ihn nun durch ein Zeichen weggehen und Ali ihm folgen. Beidebegaben sich in sein Kabinett, wo eine lange Unterredung stattfand.
Um fünf Uhr schlug der Graf dreimal auf sein Glöckchen. Ein Schlag rief Ali, zwei riefenBaptistin, dreiBertuccio.
Meine Pferde! sagte Monte Christo.
Sie sind angespannt, Exzellenz, erwiderteBertuccio. Habe ich den Herrn Grafen zubegleiten?
Nein, der Kutscher, Ali undBaptistin, sonst niemand.
Der Graf ging hinabund erblickte an seinem Wagen die Pferde, die er wenige Stunden zuvor an Danglars' Wagenbewundert hatte.
Diese Tiere sind in der Tat schön, sagte er, und Sie haben wohl daran getan, sie zu kaufen, nur war es ein wenig spät.
Exzellenz, entgegneteBertuccio, es hat mir viele Mühe gemacht, sie zu erhalten, und der Preis ist sehr hoch.
Kommen Ihnen die Pferde darum minder schön vor? fragte der Graf, die Achseln zuckend.
Dieses Gespräch fand oben auf der Freitreppe statt. Bertuccio tat einen Schritt, um die erste Stufe hinabzusteigen. Sacht, mein Herr, rief Monte Christo, ihn zurückhaltend. Ichbedarf eines Gutes an der Seeküste, sagen wir, in der Normandie, zwischen Havre undBoulogne. Ich gebe Ihnen Raum, wie Sie sehen. Bei diesem Ankauf müssen Sie auf einen kleinen Hafen, eine kleineBuchtbedacht sein, wo meine Korvette einlaufen und sich halten kann; ihr Tiefgangbeträgt nur fünfzehn Fuß. Das Schiff muß stetsbereit sein, in See zu gehen, zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht es mirbeliebt. Sie erkundigen sichbei allen Notaren nach einem Gute, das den von mir angegebenenBedingungen entspricht. Haben Sie ein solches in Erfahrung gebracht, sobesichtigen Sie es, und wenn Sie damit zufrieden sind, kaufen Sie es in meinem Namen. Die Korvette ist auf dem Wege nach Fécamp, nicht wahr?
An demselben Abend, an dem wir Marseille verließen, sah ich sie in See gehen.
Und die Jacht?
Die Jacht hatBefehl, in Martigues zubleiben.
Gut! Sie korrespondieren von Zeit zu Zeit mit den Patronen, welche die Schiffebefehligen, damit sie nicht einschlafen. Und dazu noch eins: Für das Dampfboot, das in Chalons ist, geben Sie dieselbenBefehle wie für die Segelschiffe.
Sehr wohl.
Sobald das Gut gekauft ist, muß ich auf der Straße nach dem Norden und auf der nach dem Süden frische Pferde haben von zehn zu zehn Stunden.
Eure Exzellenz kann auf michbauen.
Der Graf machte ein Zeichen der Zufriedenheit, stieg die Stufen hinabund sprang in seinen Wagen, der, von dem herrlichen Gespann im Trabe gezogen, erst vor dem Hotel desBankiers anhielt.
Danglars führte eben den Vorsitzbei einer für Eisenbahn‑Angelegenheiten ernannten Kommission, als man ihm denBesuch des Grafen von Monte Christo meldete. Die Sitzung war übrigens fast zu Ende. Bei dem Namen des Grafen stand er auf und sagte zu seinen Kollegen, von denen mehrere Kammermitglieder waren:
Meine Herren, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie verlasse, aber denken Sie sich, daß das Haus Thomson und French in Rom einen gewissen Grafen von Monte Christo an mich weist und ihm zugleich einen unbegrenzten Kreditbei mir eröffnet. Es ist der possierlichste Scherz, den sich je meine Korrespondenten im Ausland gegen mich erlaubt haben. Sie werdenbegreifen, die Neugierde hat mich gepackt und hält mich noch fest; ichbin auch heute frühbei dem angeblichen Grafen vorgefahren. Wäre er ein wirklicher Graf, so könnte er, wie Sie einsehen werden, nicht so reich sein. Der Herr war nicht sichtbar. Sind die Manieren, die sich der Herr von Monte Christo erlaubt, Ihrer Ansicht nach nicht die einer Hoheit oder einer hübschen Frau? Das Haus auf den Champs‑Elysées ist übrigens, wie ich erfahren habe, sein Eigentum und gar nicht zu verachten. Ich halte mich für mystifiziert. Aber sie wissen dort nicht, mit wem sie es zu tun haben; wer zuletzt lacht, lacht ambesten.
Nachdem er diese Worte von sich gegeben hatte, die er mit einem seine Nasenlöcher schwellenden Nachdruck sprach, verließ der HerrBaron seine Gäste und ging in einen weiß und goldenen Salon, der in der Chaussée d'Antin in hohem Ansehn stand. Er hatteBefehl gegeben, den Grafen hier einzuführen, um ihn mit dem ersten Schlage zublenden.
Monte Christobetrachtete ein paar Kopien von Albano und Fattore, die manbei demBankier für Originale ausgegeben hatte, aberbei dem Geräusch, das Danglars machte, wandte er sich um. Danglars grüßte leicht mit dem Kopfe undbedeutete dem Grafen durch ein Zeichen, er möge sich auf einen mit weißem, goldgesticktem Atlas überzogenen Polsterstuhl von vergoldetem Holze setzen.
Ich habe die Ehre, mit Herrn von Monte Christo zu sprechen?
Und ich, antwortete der Graf, mit dem HerrnBaron von Danglars, Ritter der Ehrenlegion, Mitglied der Kammer der Abgeordneten?
Monte Christo wiederholte alle Titel, die er auf der Karte desBarons gefunden hatte. Danglars fühlte den Stich, biß sich in die Lippen und antwortete:
Entschuldigen Sie mich, daß ich Ihnen nicht sogleich den Titel gegeben habe, unter dem Sie sich ankündigten; aber Sie wissen, wir leben unter einer volkstümlichen Regierung, und ichbin ein Vertreter der Rechte des Volkes.
So sehr, daß Sie zwar die Gewohnheit, sich selbstBaron nennen zu lassen, beibehielten, die, andere Graf zu nennen, aber vergessen haben!
Ah! ich halte auch für meine Person nichts darauf, mein Herr, entgegnete Danglars gleichgültig, man hat mich wegen einiger Dienste, die ich geleistet, zumBaron ernannt und zum Ritter der Ehrenlegion gemacht; daher…
Doch Sie entsagten Ihren Titeln und gaben ein schönesBeispiel!
Nicht ganz; Siebegreifen, für dieBedienten…
Ja, ja, für Ihre Leute heißen Sie gnädiger Herr, für die Journalisten Herr und für Ihre WählerBürger. Das sind unter einer konstitutionellen Regierung höchst praktische Abstufungen, wie ich vollkommenbegreife.
Danglars kniff sich abermals die Lippen; er sah, daß er auf diesem Gebiete Monte Christo nicht gewachsen war, und suchte auf ein anderes überzugehen, mit dem erbesser vertraut war.
Herr Graf, sagte er sich verbeugend, ich habe eine Mitteilung von dem Hause Thomson und French erhalten.
Ichbin darüber entzückt, HerrBaron, ich werde nicht nötig haben, mich selbst vorzustellen, was immer ein wenig peinlich ist. Sie haben alsobereits eine Mitteilung empfangen? Ja, aber ich gestehe, daß ich den Sinn derselben nicht vollkommenbegriff. — Bah!
DieserBrief, ich habe ihn, glaube ich, bei mir. Ja, hier ist er. DieserBrief eröffnet dem Herrn Grafen einen unbegrenzten Kredit auf mein Haus.
Nun, HerrBaron, was finden Sie hierin Dunkles?
Nichts, außer dem Worte unbegrenzt.
Wie, ist der Ausdruck nicht gut? Siebegreifen, derBrief ist von Engländern geschrieben.
Ah! ganz gewiß, hinsichtlich der Grammatik ist nichts dagegen einzuwenden, anders steht es geschäftlich.
Scheint Ihnen das Haus Thomson und French nicht vollkommen sicher, HerrBaron? sagte Monte Christo mit der naivsten Miene der Welt. Teufel! das wäre mir ärgerlich, denn ich habe einige Fonds dort angelegt.
Vollkommen sicher, erwiderte Danglars mitbeinahe spöttischem Lächeln; aber der Sinn des Wortes unbegrenzt istbei finanziellen Dingen so unbestimmt…
Daß er unbegrenzt ist, nicht wahr?
Das ist es gerade, was ich sagen wollte; das Unbestimmte aber ist der Zweifel, und im Zweifel enthalte dich, spricht der Weise.
Und dasbedeutet, daß, wenn das Haus Thomson und French geneigt ist, Tollheiten zubegehen, das Haus Danglars keine Lust hat, demBeispiel zu folgen.
Wieso, Herr Graf?
Ja gewiß, die Herren Thomson und French machen Geschäfte ohnebestimmte Zahlen, aber Herr Danglars hat eine Grenzebei den seinigen; er ist ein weiser Mann, wie er soebenbemerkte.
Mein Herr, sagte derBankier stolz, es hat noch niemand an meiner Kasse etwas auszusetzen gefunden.
Dann werde ich anfangen, wie es scheint, erwiderte Monte Christo.
Wer sagt Ihnen das?
Die Erläuterungen, die Sie von mir verlangen, denn sie sind Zögerungen sehr ähnlich.
Danglarsbiß sich in die Lippen; zum zweiten Male wurde er von diesem Manne geschlagen, und zwar diesmal auf dem Gebiete, das er als sein eigenstesbezeichnete. Seine spöttische Höflichkeit war nur geheuchelt undberührte jenes Extrem, das der Unverschämtheit so nahe steht. Monte Christo dagegen lächelte aufs anmutigste undbesaß, wenn er wollte, ein gewisses naives Wesen, das ihm sehr zum Vorteile gereichte.
Mein Herr, sagte Danglars nach kurzem Stillschweigen, ich will versuchen, mich dadurch verständlich zu machen, daß ich Siebitte, selbst die Summe zubestimmen, die Sie von mir zu erheben gedenken.
Mein Herr, antwortete Monte Christo, entschlossen, keinen Zollbreitbei dieser Verhandlung zurückzuweichen, wenn ich einen unbegrenzten Kredit auf Sie verlangt habe, so geschah dies, weil ich denBetrag der Summen, deren ich vielleichtbedarf, nicht kannte.
DerBankier glaubte, der Augenblick sei gekommen, den Meister zu zeigen, er warf sich in seinen Polsterstuhl zurück und sagte mit stolzem, plumpem Lächeln: Oh! mein Herr, scheuen Sie sich nicht, Ihren Wunsch auszudrücken, Sie werden sich überzeugen, daß die Kasse des Hauses Danglars, sobeschränkt sie auch ist, doch den ausgedehntesten Forderungen zu entsprechen vermag, und sollten Sie auch eine Million verlangen…
Wiebeliebt?
Ich sage eine Million, wiederholte Danglars mit dem Nachdruck der Gemeinheit.
Und was soll ich mit einer Million tun? entgegnete der Graf. Guter Gott! wenn ich nur eine Million gebraucht hätte,… einer solchen Erbärmlichkeit wegen würde ich mir nicht haben einen Kredit auf Sie eröffnen lassen! Eine Million habe ich stets in meinerBrieftasche. Hierbei zog Monte Christo aus einem kleinen Täschchen, das auch seine Visitenkarten enthielt, zwei Anweisungen auf die Staatsbank, je über 500 000 Franken.
Einen Menschen wie Danglars mußte man mit einem Keulenschlage niederstrecken, leichte Stiche taten ihm nichts. DerBankier wanktebetäubt und schaute Monte Christo mit verdutzten Augen an, deren Stern sich furchtbar erweiterte. Gestehen Sie mir, daß Sie dem Hause Thomson und French mißtrauen? sagte Monte Christo. Mein Gott, das ist ganz einfach, ich habe diesen Fall vorgesehen. Hier sind noch zweiBriefe, dem ähnlich, den Sie erhalten haben, der eine ist von Arnstein in Wien an den HerrnBaron Rothschild, der andere vonBaring in London an Herrn Laffitte. Sagen Sie ein Wort, und ich überhebe Sie jeder Unruhe, indem ich mich an eins von denbeiden Häusern wende.
Das wirkte, Danglars warbesiegt. Er öffnete sichtbar zitternd diebeidenBriefe von Wien und London, die ihm der Graf mit den Fingerspitzen reichte, und untersuchte die Echtheit der Unterschriften mit einer ängstlichen Aufmerksamkeit, die für Monte Christobeleidigend gewesen wäre, wenn er sie nicht der Verwirrung desBankiers zu gut gehalten hätte.
Oh! mein Herr, diese drei Unterschriften sind Millionen wert, sagte Danglars, indem er sich erhob, als wollte er in dem Manne, der vor ihm stand, die personifizierte Macht des Geldesbegrüßen. Drei unbegrenzte Kredite auf unsere größten Häuser! Verzeihen Sie, Herr Graf, aber wenn man auch aufhört, mißtrauisch zu sein, so kann man doch noch erstauntbleiben.
Oh! ein Haus wie das Ihrige dürfte wohl nicht staunen, erwiderte Monte Christo mit aller ihm zu Gebote stehenden Höflichkeit. Sie können mir also einiges Geld schicken?
Befehlen Sie, Herr Graf, ichbin zu Ihren Diensten.
Nun, da wir uns verstehen… nicht wahr, wir verstehen uns?
Danglars machte einbejahendes Zeichen mit dem Kopfe.
Und Sie haben kein Mißtrauen mehr? fuhr Monte Christo fort.
Oh! Herr Graf, rief derBankier, ich hatte es nie.
Nun also, da wir uns verstehen, wollen wir eine runde Summe für das erste Jahr feststellen, sechs Millionen etwa.
Sechs Millionen, gut! versetzte derBankier ganzbetäubt.
Brauche ich mehr, fuhr Monte Christo gleichgültig fort, so setzen wir mehr. Doch ich gedenke nur ein Jahr in Frankreich zubleiben, und während dieses Jahres überschreite ich diese Summe wohl nicht… übrigens werden wir sehen… Schicken Sie mir morgen zunächst 500 000 Franken, ich werdebis zur Mittagsstunde zu Hause sein; und wäre dies auch nicht der Fall, so fände sich ein Empfangsscheinbei meinem Intendanten.
Das Geld wird morgen vormittag um zehn Uhrbei Ihnen sein, Herr Graf, erwiderte Danglars.
Der Graf stand auf.
Ich muß Ihnen gestehen, Herr Graf, sagte Danglars, ich glaubte von allen großen Vermögen in Europa Kenntnis zu haben, aber das Ihre, das dochbeträchtlich zu sein scheint, war mir völlig unbekannt; ist es neu?
Nein, mein Herr, es ist von sehr altem Datum; es war eine Art Familienschatz, den man nichtberühren durfte, der Zuschlag der Zinsen hat das Kapital verdreifacht. Die vom Erblasser festgesetzte Frist ist erst vor ein paar Jahr en abgelaufen, und erst seitdembin ich im Genuß; somit ist es ganz natürlich, daß Ihnen von diesem Kapital nichtsbekannt ist. Übrigens werden Sie den Stand der Dinge in einiger Zeit genauer kennen lernen.
Der Grafbegleitete diese Worte mit jenembleichen Lächeln, das Franz d'Epinay sobange gemacht hatte.
Mit Ihrem Geschmack und Ihrer Gesinnung, mein Herr Graf, fuhr Danglars fort, werden Sie in der Hauptstadt einen Luxus entwickeln, der uns arme kleine Millionäre insgesamt in den Staubtreten muß. Doch dürfte ich um die Ehrebitten, Sie der FrauBaronin von Danglars vorstellen zu dürfen? Entschuldigen Sie meinen Eifer, Herr Graf, doch ein Kunde, wie Sie, gehörtbeinahe zur Familie.
Monte Christo verbeugte sich. Danglars läutete, und es erschien ein Lakai in auffallender Livree, den sein Herr fragte: Ist die FrauBaronin zu Hause?
Ja, HerrBaron. Die FrauBaronin hat Gesellschaft. Und wer istbei der FrauBaronin? Herr Debray? fragte Danglars mit einer Gelassenheit, die Monte Christo, derbereits von den durchsichtigen Geheimnissen im Hause des Finanzmannes unterrichtet war, innerlich lächeln ließ.
Ja, HerrBaron, Herr Debray, antwortete der Lakai.
Danglars machte ein Zeichen mit dem Kopfe. Dann, sich gegen Monte Christo wendend, sagte er: Herr Lucien Debray, ein alter Freund von uns, ist geheimer Sekretärbeim Minister des Innern. Was meine Fraubetrifft, so muß ich Ihnenbemerken, daß sie einer sehr alten Familie angehört; sie ist ein Fräulein von Servières, Witwe aus erster Ehe mit dem Obersten Marquis von Nargonne.
Ich habe nicht die Ehre, die FrauBaronin von Danglars zu kennen; aber Herrn Lucien Debray traf ich unmittelbar nach meiner Ankunftbei Herrn von Morcerf.
Ah! Sie kennen den kleinen Vicomte.
Wir waren miteinander zur Zeit des Karnevals in Rom.
Ah! ja; habe ich nicht so etwas wie von einem sonderbaren Abenteuer mitBanditen sprechen hören, deren Händen er auf eine wunderbare Weise entrissen wurde? Ich glaube, er hat meiner Frau und meiner Tochterbei seiner Rückkehr aus Italien dergleichen erzählt.
Die FrauBaronin erwartet die Herren, meldete der Lakai.
Die Apfelschimmel
Dem Grafen voran durchschritt derBaron eine Reihe von Zimmern, die durch ihre schwerfällige Pracht und den darin herrschenden übermäßig schlechten Geschmack auffielen, und gelangte in dasBoudoir der Frau Danglars, ein kleines achteckiges Gemach, mit einem von indischem Musselin überzogenen Atlas tapeziert. Die Polsterstühle waren von altem vergoldetem Holz und hatten alten Überzug; über den Türen hingen Gemälde, Schäferszenen nachBoucher darstellend; zwei mit der übrigen Ausstattung im Einklang stehende hübsche Pastelle in Medaillenform machten endlich aus diesem Zimmer das einzige einigermaßen stilvolle des ganzen Hauses, was nur die Folge davon war, daß sich dieBaronin mit Lucien Debray allein die Ausschmückung vorbehalten hatte.
Frau Danglars, die trotz ihrer sechsunddreißig Jahre noch schön genannt werden konnte, saß an ihrem Klavier, einem Meisterwerke von eingelegter Arbeit, während Lucien, an einem Tische sitzend, in einem Albumblätterte.
Lucien hatte schon vor der Erscheinung des Grafen Zeit gehabt, derBaronin allerlei Dinge inBeziehung auf dessen Person zu erzählen. Man weiß, welchen Eindruck Monte Christo während des Frühstücksbei Albert auf dessen Gäste hervorbrachte; dieser Eindruck, so wenig empfänglich im ganzen Debray war, hatte sichbei ihm noch nicht verwischt, und die Mitteilungen, die er derBaronin über den Grafen machte, waren ganz davon erfüllt. Durch die früheren Erzählungen Morcerfs und durch die neuenBerichte Debrays angeregt, hatte die Neugierde derBaronin den höchsten Grad erreicht. Sie empfing Herrn Danglars mit einem Lächeln, wie es ihm gewöhnlich nicht zuteil wurde, während sie dem Grafen auf seinen Gruß eine zeremoniöse, aber zugleich freundliche Verneigung gewährte.
Lucien wechselte mit dem Grafen einen halbvertrauten Gruß und nickte Danglars zu.
FrauBaronin, sagte Danglars, erlauben Sie mir, Ihnen den Herrn Grafen von Monte Christo vorzustellen, den mein Korrespondent in Rom mit den dringendsten Empfehlungen an mich gewiesen hat. Ich habe nur ein Wort zu sagen, das ihn im Augenblick zum Liebling aller unserer schönen Damen machen wird; er kommt nach Paris, um ein Jahr hier zubleiben und während dieses Jahres sechs Millionen auszugeben. Dies verspricht eine Reihe vonBällen, Diners und Soupers, wobei der Herr Graf, wie ich hoffe, uns ebensowenig vergessen wird, wie wir ihnbei unseren kleinen Festen!
Trotz der plumpen Art dieser Vorstellung ist doch ein Mensch, der nach Paris kommt, um in einem Jahre ein fürstliches Vermögen zu verbrauchen, etwas so Seltenes, daß Frau Danglars auf Monte Christo einen recht neugierigenBlick warf.
Wann sind Sie angelangt, mein Herr? fragte sie. — Gestern früh.
Und Sie kommen Ihrer Gewohnheit gemäß, wie man mir gesagt hat, vom Ende der Welt?
Diesmal nur von Cadix.
Oh! Sie erscheinen in einer abscheulichen Jahreszeit; Paris ist im Sommer fürchterlich; es gibt keineBälle, keine Gesellschaften, keine Feste. Die italienische Oper ist in London, die französische Oper überall, nur nicht in Paris; und was das Théâtre‑Françaisbetrifft, so wissen Sie, daß es nirgends mehr zu finden ist. Somitbleiben uns als einzige Zerstreuung nur noch ein paar unglückliche Wettrennen auf dem Marsfelde und in Satory. Werden Sie rennen lassen, Herr Graf?
Ich, erwiderte Monte Christo, werde in Paris alles mitmachen, wenn ich das Glück habe, jemand zu finden, der mich recht in das Pariser Leben einführt.
Sie sind Liebhaber von Pferden, Herr Graf?
Ich habe einen Teil meines Lebens im Orient zugebracht, gnädige Frau, und die Orientalen schätzen, wie Sie wissen, nur zwei Dinge in der Welt, den Adel der Pferde und die Schönheit der Frauen.
Ah! Herr Graf, entgegnete dieBaronin, Sie hätten, meine ich, die Frauen voransetzen können!
Sie sehen, FrauBaronin, daß ich recht hatte, wenn ich mir soeben einen Führer wünschte, der mir in den französischen Sitten Anleitung zu geben vermöchte.
In diesem Augenblick trat die Lieblingskammerfrau derBaronin Danglars ein, näherte sich ihrer Gebieterin und flüsterte ihr ein paar Worte ins Ohr. Frau Danglars entgegnete erbleichend: Es ist unmöglich!
Nein, es ist die genaue Wahrheit, sagte die Kammerfrau.
Frau Danglars fragte, sich an ihren Gatten wendend: Ist es wahr, mein Herr?
Was, FrauBaronin? erwiderte er, sichtbarbeunruhigt.
Man sagt mir, mein Kutscher habe, als er anspannen wollte, meine Pferde nicht mehr im Stalle gefunden. Ich frage Sie, was soll dasbedeuten?
FrauBaronin, hören Sie mich!
Oh! ich höre schon, denn ichbin neugierig, zu erfahren, was Sie mir sagen werden; ich mache diese Herren zu Richtern zwischen uns und will Ihnen zunächst mitteilen, wie sich die Sache verhält. DerBaron hat zehn Pferde im Stall; unter diesen zehn Pferden gehören mir zwei, reizende Tiere, die schönsten Pferde von Paris; Sie kennen sie, Herr Debray, meine Apfelschimmel. Nun, jetzt eben, als Frau von Villefort meinen Wagen von mir entlehnt, als ich ihr ihn für morgen zu einer Spazierfahrt zusage, finden sich meine zwei Pferde nicht mehr vor. Herr Danglars hat wahrscheinlich ein paar tausend Franken dabei verdient. Wie verhaßt ist mir doch dieser gemeine Krämergeist!
FrauBaronin, erwiderte Danglars, die Pferde waren zu lebhaft und kaum vier Jahre alt, ich werde ähnliche, sogar schönere für Sie finden, wenn es welche gibt, aber sanfte, ruhige Pferde, die mir keine solche Angst einflößen.
DieBaronin zuckte die Achseln mit der Miene tiefer Verachtung.
Danglars schien diese mehr als deutliche Gebärde nicht zubemerken und sagte, sich an Monte Christo wendend: In der Tat, ichbedaure, Sie nicht früher gekannt zu haben, Herr Graf; Sie richten Ihr Haus ein?
Ja wohl. Ich hätte Ihnen diese Tiere angetragen; denken Sie, ich habe sie um ein Nichts weggegeben; aber wie gesagt, ich wollte sie los sein, es waren zu feurige Tiere.
Mein Herr, sagte der Graf, ich danke Ihnen, ich habe heute morgen ziemlich gute und nicht zu teuer gekauft. Doch sehen Sie, Herr Debray! Sie sind, glaube ich, Kenner?
Während Debray ans Fenster trat, näherte sich Danglars seiner Frau und sagte ganz leise zu ihr: Stellen Sie sich vor, man kam undbot mir einen ungeheuren Preis für die Pferde. Ich weiß nicht, welcher Narr, der sich mit Gewalt zu Grunde richten will, heute seinen Intendanten zu mir schickte; nur so viel ist gewiß, daß ich sechzehntausend Frankenbei dem Handel gewinne. Schmollen Sie nicht, und ich gebe Ihnen viertausend davon und Eugenie ebenfalls viertausend.
Frau Danglars ließ einen niederschmetterndenBlick auf ihren Gatten fallen.
Wenn ich mich nicht täusche, sind Ihre Pferde, Ihre eigenen Pferde, an den Wagen des Grafen gespannt, rief Debray.
Meine Apfelschimmel! rief Frau Danglars und eilte ans Fenster. Danglars war ganz verblüfft.
Ist es möglich? rief Monte Christo, den Erstaunten spielend.
Es ist unglaublich, murmelte derBankier.
DieBaronin sagte Debray ein paar Worte ins Ohr, und dieser näherte sich Monte Christo.
DieBaronin läßt Sie fragen, um welchen Preis ihr Gatte sein Gespann an Sie verkauft hat?
Ich weiß es nicht genau; es ist eine Überraschung, die mir mein Intendant, ich glaube um dreißigtausend Franken, bereitet hat.
Debray überbrachte derBaronin die Antwort.
Danglars erwiderte nichts, er sah eine unheilvolle Szene voraus; bereits war die Stirn derBaronin gefaltet und weissagte Sturm. Debray fühlte dies, schützte ein Geschäft vor und entfernte sich, Monte Christo, der mit Genugtuung die Lage der Dingebemerkte, verbeugte sich vor Frau Danglars, ging ebenfalls weg und überließ denBaron dem Grimme seiner Gemahlin.
Gut, dachte Monte Christo, während er sich zurückzog; ich habe mein Ziel so ziemlich erreicht; ich halte den Frieden dieser Ehe in meinen Händen und kann mit einem Schlage das Herz des Mannes und das der Frau gewinnen; welches Glück! Aber ichbin Fräulein Eugenie Danglars nicht vorgestellt worden, während ich sie doch so gern hätte kennen lernen. Doch wir sind in Paris und haben Zeit vor uns. Es wird noch geschehen!
Zwei Stunden später erhielt Frau Danglars einenbestrickend liebenswürdigenBrief vom Grafen, worin er ihr schrieb, da er sein Erscheinen in der Pariser Welt nicht damit anfangen wolle, daß er eine hübsche Frau in Verzweiflungbringe, sobitte er sie, ihre Pferde zurückzunehmen. Als das Gespann wieder zurückgesandt wurde, trugen die Pferde das gleiche Geschirr, nur hatte der Graf in die Mitte jeder Rosette über dem Ohre einen Diamanten nähen lassen.
Danglars empfing auch einenBrief. Der Grafbat ihn um Erlaubnis, bei derBaronin dieser Millionärslaune entsprechen zu dürfen, und schriebihm zugleich, er möge die orientalische Manier entschuldigen, mit der die Zurücksendung der Pferde stattfinde.
Durch einen Schlag auf das Glöckchen gerufen, trat Ali am andern Morgen in das Kabinett des Grafen, der mit ihm am Abend vorher nach Auteuil gefahren war.
Ali, sagte Monte Christo, ich habe von deiner Geschicklichkeit im Werfen des Lassos gehört.
Ali machte einbejahendes Zeichen und richtete sich stolz auf.
Du könntest also mit dem Lasso einen Ochsen aufhalten?
Ali machte mit dem Kopfe einbejahendes Zeichen.
Einen Löwen?
Ali machte die Gebärde eines Menschen, der den Lasso schleudert, und ahmte ein ängstliches Gebrüll nach.
Ichbegreife, sagte der Graf, du hast den Löwen gejagt. Würdest du zwei toll gewordene Pferde in ihrem Laufe aufhalten?
Ali lächelte.
Wohl, so höre! sagte Monte Christo. Sogleich wird ein Wagen, fortgerissen von zwei Apfelschimmeln, denselben, die gestern noch mein waren, hier vorüberkommen. Dun mußt diesen Wagen vor meiner Tür anhalten, und sollten die Pferde dabei zu Grunde gehen.
Ali ging auf die Straße hinabund zog vor der Tür eine Linie auf dem Pflaster; dann kehrte er zurück und zeigte dem Grafen, der ihm mit den Augen gefolgt war, die Linie.
Der Graf schlug ihm sanft auf die Schulter… dies war seine Weise, Ali zu danken; dann ging der Nubier abermals hinabund rauchte seinen Tschibuk auf einem Randsteine, der die Ecke des Hauses und der Straßebildete, während Monte Christo sich mit anderen Dingenbeschäftigte.
Gegen fünf Uhr hörte man ein entferntes Rollen, das sich mit großer Geschwindigkeit näherte; es erschien eine Kalesche, deren Kutscher vergebens die Pferde zurückzuhalten suchte, die wütend, mit gesträubten Mähnen, in wahnsinnigen Sprüngen fortstürzten.
Eine junge Frau und ein Kind von sieben Jahren, die sich im Wagen eng umschlossen hielten, waren vor übergroßem Schrecken außer stande, einen Schrei auszustoßen; ein Stein unter einem Rad oder ein Anstreifen an einemBaume hätte genügt, den krachenden Wagen zu zerschmettern. Die Schreckensrufe der Vorübergehendenbegleiteten das dahinsausende Gefährt.
Plötzlich legte Ali seinen Tschibuk weg, zog den Lasso aus der Tasche, schleuderte ihn, daß er dreimal die Vorderbeine des linken Pferdes umwickelte, und ließ sich ein paar Schritte durch die Heftigkeit derBewegung fortreißen, aber dann stürzte das gefesselte Pferd nieder und lähmte die Anstrengungen des aufrecht gebliebenen, das mit aller Gewalt seinen Lauf fortzusetzen trachtete. Der Kutscherbenutzte diese Frist, um von seinem Sitze herabzuspringen; dochbereits hatte Ali das zweite Pferd mit eiserner Faust an den Nüstern gepackt, und vor Schmerz wiehernd, stand das Tier regungslos.
Dies alles spielte sich so schnell ab, wie die Kugel zum Ziel fliegt. Doch reichte es hin, daß ein Mann aus dem Hause, vor dem der Unfall sich ereignet hatte, mit mehreren Dienern herbeieilen konnte; in dem Augenblick, wo der Kutscher den Schlag öffnete, hober aus dem Wagen die Dame, die sich mit einer Hand an ein Kissen anklammerte, während sie mit der andern ihren ohnmächtigen Sohn an dieBrust drückte. Monte Christo trugbeide in den Salon und sagte, während er sie auf einen Diwan niederlegte: Seien Sie ruhig, gnädige Frau, Sie sind gerettet.
Die Frau kam zu sich und deutete auf ihren Sohn mit einemBlicke, beredter als alleBitten.
Ja, ichbegreife, sagte der Graf, das ohnmächtige Kind aufmerksambetrachtend; doch seien Sie unbesorgt, es ist ihm kein Unglück widerfahren, diebloße Angst hat den Kleinen in diesen Zustand versetzt.
Oh, mein Herr, rief die Mutter, sagen Sie mir das nicht, um mich zuberuhigen? Sehen Sie, wiebleich er ist! Mein Sohn! Mein Kind! Mein Eduard! Antworte doch deiner Mutter! Ach! mein Herr, lassen Sie einen Arzt rufen! Mein Vermögen dem, der mir meinen Sohn zurückgibt!
Monte Christo machte mit der Hand eine Gebärde, um die in Tränen zerfließende Mutter zuberuhigen, öffnete ein Kästchen, nahm daraus ein mit Gold verziertes Riechfläschchen vonböhmischem Kristall, das einenblutroten Saft enthielt, und ließ einen einzigen Tropfen auf die Lippen des Kindes fallen.
Obgleich immer nochbleich, schlug das Kind sogleich die Augen auf. Bei diesem Anblick ward die Mutterbeinahe wahnsinnig vor Freude.
Wobin ich? rief sie, und wem verdanke ich so viel Glück nach einer so grausamen Prüfung?
Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, Sie sindbei einem Manne, der sich äußerst glücklich fühlt, daß er Ihnen einen Kummer ersparen konnte.
Oh! fluchwürdige Neugierde, versetzte die Dame; ganz Paris sprach von den schönen Pferden der Frau Danglars, und ich hatte den tollen Gedanken, mit ihnen fahren zu wollen.
Wie? rief der Graf mit vortrefflich gespielter Verwunderung, es sind die Pferde derBaronin?
Ja, mein Herr, Sie kennen sie?
Frau Danglars?… Ich habe die Ehre, und es gewährt mir doppelte Freude, daß ich Sie der Gefahr entrissen habe, der Sie durch diese Pferde preisgegeben waren; denn Sie hätten diese Gefahr mir zuschreiben können; ich hatte die Pferde gestern demBaron abgekauft, dieBaronin schien dies jedoch sehr zubedauern, so daß ich sie ihr mit derBitte, sie von meiner Hand anzunehmen, zurückschickte.
Sie sind also der Graf von Monte Christo, von dem Hermine gestern so viel mit mir sprach?
Ja, gnädige Frau.
Und ich, mein Herr, bin Frau Heloise von Villefort.
Der Graf verbeugte sich wie ein Mensch, vor dem man einen Namen zum ersten Male ausspricht.
Oh! wie dankbar wird Herr von Villefort sein! fuhr Heloise fort, denn Sie haben ihm seine Frau und sein Kind wiedergegeben; ohne Ihren edelmütigen Diener wäre ich sicherlich mit meinem Kinde umgekommen.
Ach! gnädige Frau, ich zittre noch, wenn ich an die Gefahr denke, der Sie ausgesetzt waren.
Oh! ich hoffe, Sie werden mir erlauben, den aufopfernden Dienst dieses Menschen würdig zubelohnen.
Gnädige Frau, ichbitte Sie, verderben Sie mir Ali weder durch Lobeserhebungen, noch durchBelohnungen. Ali ist mein Sklave; dadurch, daß er Ihnen das Leben gerettet hat, dient er mir, und mir zu dienen, ist seine Pflicht.
Aber er hat sein Leben gewagt, sagte Frau von Villefort, auf welche dieser Gebieterton einen seltsamen Eindruck machte.
Ich habe ihm sein Leben gerettet, entgegnete Monte Christo, folglich gehört es mir.
Während des folgenden kurzen Stillschweigens konnte der Graf nach Gefallen das Kindbetrachten, das seine Mutter mit ihren Küssenbedeckte. Es war klein, schwächlich, hatte eine so feine weiße Haut, wie sie gewöhnlich nur rothaarige Kinderbesitzen, und dennochbedeckte ein Wald von schwarzen, starren Haaren seine gewölbte Stirn und ließ, anbeiden Seiten des Gesichtes auf die Schultern herabfallend, die Lebhaftigkeit seiner einen hohen Grad von Verschlagenheit undBosheit verratenden Augen noch mehr hervortreten. Sein nun wieder roter Mund war von seinen Lippen umrandet, aber die Mundspalte zu weit; im ganzen deuteten die Züge des kaum achtjährigen Kindes auf mehr als zwölf Jahre. Es war sein erstes, daß er sich mit ungestümerBewegung aus den Armen seiner Mutter losmachte und das Kästchen öffnete, woraus der Graf das Elixierfläschchen genommen hatte. Dann wollte er, ohne um Erlaubnis zu fragen, die Pfropfen aus den Phiolen ziehen.
Berühren Sie das nicht, sagte der Graf, einige von den Flüssigkeiten sind gefährlich, nicht nur, wenn man sie trinkt, sondern schon, wenn man ihren Geruch einatmet.
Frau von Villefort erbleichte, hielt den Arm ihres Sohnes zurück und zog ihn an sich. Sobald ihre Furchtbeschwichtigt war, warf sie auf das Kästchen einen kurzen, aber ausdrucksvollenBlick, der dem Grafen nicht entging.
In dieser Sekunde trat Ali ein.
Frau von Villefort machte eineBewegung der Freude und sagte, ihren Sohn noch näher an sich ziehend: Eduard, siehst du diesen guten Diener? Er hat sich sehr mutigbenommen, denn er setzte sein Leben ein, um die Pferde, die uns fortrissen, und den Wagen anzuhalten. Danke ihm, denn ohne ihn wären wir zu dieser Stunde wohlbeide tot.
Das Kind streckte seine Lippen vor, wandte verächtlich den Kopf abund rief: Er ist zu häßlich!
Der Graf lächelte, als hätte das Kind seine Hoffnung erfüllt; Frau von Villefort aber schalt ihren Sohn.
Siehst du, sagte der Graf arabisch zu Ali, diese Damebittet ihren Sohn, dir zu danken, daß du ihnen das Leben gerettet hast, und das Kind erwidert, du seiest zu häßlich.
Ali wandte einen Augenblick seinen gescheiten Kopf nach dem Kinde undbetrachtete es scheinbar ausdruckslos, aber aus demBeben seiner Nasenlöcher ersah Monte Christo, daß der Araber im Herzen verwundet war.
Mein Herr, fragte Frau von Villefort, während sie aufstand, um sich zu entfernen, wohnen Sie gewöhnlich in diesem Hause?
Nein, gnädige Frau, es ist ein Absteigequartier, das ich mir gekauft habe; ich wohne in der Avenue des Champs‑Elysées Nr. 30. Doch ich sehe, Sie haben sich wieder völlig erholt und wollen zurückkehren. Es istBefehl gegeben, Ihre Pferde an meinen Wagen zu spannen, und Ali, der häßlicheBursche, sagte er, dem Kinde zulächelnd, wird die Ehre haben, Sie nach Hause zu fahren, während Ihr Kutscher hierbleibt, um Ihren Wagen wieder instand setzen zu lassen. Sodannbringt ihn eines von meinen Gespannen unmittelbar zu Frau Danglars zurück.
Aber mit denselben Pferden zu fahren, werde ich nie wagen, entgegnete Frau von Villefort.
Oh! Sie sollen sehen, gnädige Frau, sagte Monte Christo, unter Alis Hand werden sie sanft wie die Lämmer.
Ali näherte sich in der Tat den Pferden, die man nur mit Mühe auf dieBeine gebracht hatte. Er hielt in der Hand einen kleinen mit aromatischem Essig getränkten Schwamm, riebdamit die mit Schaum und Schweißbedeckten Nüstern und Schläfen, und fast in demselben Augenblick fingen die Pferde an, heftig zu schnauben, und ihr ganzer Leibzitterte ein paar Sekunden lang.
Dann ließ Ali mitten unter einem Volkshaufen, den der Lärm und der Anblick des zertrümmerten Wagens vor das Haus gezogen hatte, die Pferde an das Coupé des Grafen spannen, faßte die Zügel, stieg auf denBock und war zum großen Erstaunen der Anwesenden, die den rasenden Lauf der Pferde angesehen hatten, genötigt, sich kräftig der Peitsche zubedienen, um sie von der Stelle und zu einem matten Trabe zubringen.
Kaum hatte Frau von Villefort in zwei Stunden ihr Haus im Faubourg Saint‑Honoré erreicht, so schriebsie folgendesBillett an Frau Danglars:
Liebe Hermine!
Ichbin auf wunderbare Weise mit meinem Sohne durch denselben Grafen von Monte Christo gerettet worden, von dem wir uns gestern abend unterhielten und den ich heute durchaus nicht zu sehen erwartet hatte. Sie sprachen gestern von ihm mit einerBegeisterung, die mit aller Macht meinen kleinen Witz zum Spotte reizte. Heute aber finde ich, daß dieseBegeisterung noch weit unter dem Werte des Mannesbleibt, der sie eingeflößt hat. Ihre Pferde waren wie wütend geworden und rissen den Wagen mit so unwiderstehlicher Gewalt fort, daß mein armer Eduard und ich ohne Zweifel am erstenBaume der Landstraße oder am ersten Randsteine des Dorfes die Hirnschale zerschmettert hätten, als ein Nubier, im Dienste des Grafen, ich glaube auf ein Zeichen des letzteren, die Pferde im Laufe aufhielt, auf die Gefahr, selbst in Stücke zerrissen zu werden, — und es ist ein Wunder, daß dies nicht der Fall war. Da eilte der Graf herbei, trug Eduard und mich in seine Wohnung und rief hier meinen Sohn wieder ins Leben. Ich wurde in seinem Wagen nach Hause geführt, den Ihrigen wird man Ihnen morgen zuschicken. Sie werden Ihre Pferde seit diesem Vorfalle sehr geschwächt finden: sie sind wiebetäubt, es ist, als könnten sie sich selbst nicht vergeben, daß sie sich von einem Menschen habenbändigen lassen. Der Grafbeauftragt mich, Ihnen zu sagen, zwei Tage Ruhe auf der Streu und als einziges Futter Gerste werden sie wieder so kräftig, das heißt, wieder so furchtbar machen, wie sie gestern gewesen sind.
Adieu! ich danke Ihnen nicht für meine Spazierfahrt, Und wenn ich es mir überlege, ist es unbillig, daß ich Ihnen wegen des Mißgeschicks mit Ihrem Gespann grolle, denn diesem Umstand verdanke ich es, daß ich den Grafen von Monte Christo gesehen habe, und dieser scheint mir, abgesehen von den Millionen, über die er verfügt, ein äußerst seltsames, ein interessantes Problem, das ich um jeden Preis studieren will, selbst um den Preis einer neuen Spazierfahrt mit Ihren Pferden.
Eduard hat den Unfall mit einem wunderbaren Mute ausgehalten. Er ist ohnmächtig geworden, hat jedoch zuvor keinen Schrei ausgestoßen und nachher keine Träne vergossen. Sie werden mir abermals sagen, meine Mutterliebe verblende mich; aber in diesem kleinen, so schwächlichen, so zarten Körper wohnt eine eiserne Seele.
Unsere kleine Valentine läßt Ihrer Eugenie viel Schönes sagen; und ich umarme Sie von ganzem Herzen.
Heloise von Villefort.
N. S. Machen Sie doch, daß ich auf irgend eine Art mit dem Grafen von Monte Christobei Ihnen zusammentreffe; ich will ihn durchaus wiedersehen. Übrigens hat mir Herr von Villefort versprochen, dem Grafen einenBesuch zu machen, und ich hoffe, er wird denBesuch erwidern.
Noch an demselben Abendbildete das Ereignis von Auteuil den Hauptgegenstand der Unterhaltung; Albert erzählte es seiner Mutter, Chateau‑Renaud im Jockey‑Klub, Debray im Salon des Ministers, Beauchamp sagte dem Grafen sogar in seinem Journal Artigkeiten in einem Artikel von zwanzig Zeilen, der den edlen Fremden zum Helden aller Damen der hohen Aristokratie erhob.
Viele Leute ließen sichbei Frau von Villefort einschreiben, um das Recht zu haben, ihrenBesuch zu geeigneter Zeit zu wiederholen und dann aus ihrem Munde alle Einzelheiten des Abenteuers zu vernehmen. Herr von Villefort aber zog, wie Heloise gesagt hatte, einen schwarzen Frack und gelbe Handschuhe an und fuhr noch an demselben Abend vor der Tür des Hauses Nr. 30 in den Champs‑Elysées vor.
Staatsanwalt und Kosmopolit
Hätte der Graf von Monte Christo seit langer Zeit in der Pariser Welt gelebt, so würde er den Schritt des Herrn von Villefort seinem ganzen Werte nach zu schätzen gewußt haben.
Wohlgelittenbei Hofe, überall wegen seiner Gewandtheit gerühmt, von vielen gehaßt, aber von einigen warmbeschützt, ohne jedoch von irgend jemand wirklich geliebt zu werden, nahm Herr von Villefort eine hohe Stellung in derBeamtenhierarchie ein. Kalte Höflichkeit undbedingungslose Unterwürfigkeit unter die Grundsätze der Regierung, dabei erbitterter Haß gegen die Idealisten, das waren diebezeichnendsten Eigenschaften dieser Säule des Staates.
SeineBeziehungen zu dem alten Hofe, von dem er stets mit Würde und Ehrfurcht sprach, machten ihnbei dem neuen geachtet, und er wußte so viele Dinge, daß man ihn nicht nurbeständig schonte, sondern auchbisweilen zu Rate zog. Vielleicht wäre dem nicht so gewesen, wenn man sich seiner hätte entledigen können, aber Herr von Villefort hauste, wie ehemals rebellische Lehnsträger, in einer unüberwindlichen Feste. Diese Feste war sein Amt als Staatsanwalt, dessen Vorteile er vortrefflich auszubeuten wußte.
Selten machte oder erwiderte erBesuche; seine Fraubesorgte dies für ihn, und die Gesellschaft nahm es geduldig hin, indem sie ernsten und zahlreichen Geschäften zuschrieb, was in Wirklichkeit nur eineBerechnung des Stolzes war.
Für seine Freunde war Herr von Villefort ein mächtigerBeschützer, für seine Feinde ein stummer, aber erbitterter Gegner, für die Gleichgültigen verkörperte er das starre Gesetz. Seine Physiognomie zeigte Gleichgültigkeit, sein Auge war matt und glanzlos oder unverschämt durchdringend und forschend. Herr von Villefort stand im Rufe des am wenigsten neugierigen Mannes in Paris. Seine Ungezwungenheit wurde von allen Seiten gerühmt; er gabjedes Jahr einenBall und erschien dabei nur eine Viertelstunde, das heißt drei Viertelstunden kürzere Zeit als der Königbei dem seinigen. Niemals sah man ihn im Theater oder Konzert, oder sonst an einem öffentlichen Orte.
So war der Mannbeschaffen, dessen Wagen vor der Tür des Grafen von Monte Christo hielt.
Der Kammerdiener meldete Herrn von Villefort in dem Augenblick, wo der Graf, über einen großen Tisch gebeugt, auf einer Landkarte den Weg von St. Petersburg nach China verfolgte.
Der Staatsanwalt trat mit demselben ernsten, abgemessenen Schritte ein, mit dem er im Tribunal erschien; es war derselbe Mensch oder vielmehr die Fortsetzung desselben Menschen, den wir einst als Staatsanwaltsgehilfen in Marseille gesehen haben. Seine tiefliegenden Augen waren hohl, und seineBrille mit der goldenen Fassung schien einen Teil seines Gesichtes zubilden; mit Ausnahme seiner weißen Halsbinde war sein ganzer Anzug schwarz, und diese Trauerfarbe wurde nur durch den Streifen eines rotenBandes unterbrochen, der durch sein Knopfloch ging.
So sehr Monte Christo seiner Herr war, so prüfte er doch mit sichtbarer Neugierde denBeamten, der, aus Gewohnheit mißtrauisch, mehr geneigt war, in dem edlen Fremden — so nannte manbereits Monte Christo — einen zur Ausbeutung eines neuen Schauplatzes nach Paris gekommenen Industrieritter oder einen verkappten Missetäter, als sonst etwas zu erblicken.
Mein Herr, sagte Villefort mit schnarrendemBeamtentone, der ausgezeichnete Dienst, den Sie gestern meiner Frau und meinem Sohne geleistet haben, macht es nur zur Pflicht, Ihnen zu danken. Ich komme daher, um mich dieser Pflicht zu entledigen und Ihnen meine ganze Erkenntlichkeit auszudrücken.
Während der Staatsbeamte sprach, verlor sein strenges Auge nichts von seiner gewöhnlichen Anmaßung. Erbrachte seine Worte scharf und deutlich mit unsympathischer Stimme hervor.
Mein Herr, erwiderte der Graf ebenfalls mit eisiger Kälte, ich fühle mich sehr glücklich, daß ich imstande gewesenbin, einen Sohn seiner Mutter zu erhalten, denn das mütterliche Gefühl ist das mächtigste und heiligste von allen. Das Glück, das mir dabei zuteil ward, überhebt Sie der Verbindlichkeit, einer Pflicht nachzukommen, deren Erfüllung mich allerdings ehrt, denn ich weiß, daß Herr von Villefort nicht verschwenderisch mit einer solchen Gunst ist, die aber trotzdem für mich nicht den Wert der innerenBefriedigung hat.
Erstaunt über diesen Ausfall, auf den er durchaus nicht gefaßt war, bebte Villefort, und ein verächtliches Zucken seiner Lippen deutete an, daß er den Grafen von Monte Christo nicht für einen sehr artigen Edelmann halte.
Er schaute umher, um an irgend einen Gegenstand das abgebrochene Gespräch anzuknüpfen, und sah die Karte, die Monte Christo im Augenblick seines Eintrittesbetrachtet hatte. Siebeschäftigen sich mit Geographie, sagte er. Das ist ein lohnendes Studium, für Siebesonders, der Sie, wie ich höre, so viele Länder gesehen haben, als sich im Atlas verzeichnet finden.
Ja, antwortete der Graf, ich wollte mit dem Menschengeschlechte im allgemeinen das vornehmen, was Sie täglich an Ausnahmen treiben, nämlich ein psychologisches Studium. Ich dachte, es würde mir dann leichter sein, vom Ganzen aus das Einzelne zubeurteilen. Ein algebraischer Grundsatz verlangt, daß man vomBekannten zum Unbekannten, und nicht vom Unbekannten zumBekannten fortschreite… Aber setzen Sie sich doch, Herr Staatsanwalt, ichbitte Sie.
Monte Christobezeichnete dem Staatsanwalt einen Polsterstuhl, den vorzurücken der Gast sich selbst die Mühe nehmen mußte. Der Graf war halbseinemBesuche zugewendet; mit dem Rücken lehnte er sich ans Fenster und mit dem Ellbogen auf die geographische Karte.
Ah! Sie philosophieren, versetzte Villefort nach einem kurzen Stillschweigen, währenddessen er, wie ein Athlet, der einen mächtigen Gegner trifft, Vorrat an Kräften gesammelt hatte. Nun, mein Herr, bei meinem Ehrenworte, wenn ich wie Sie, nichts zu tun hätte, so würde ich mir wenigstens eine minder ödeBeschäftigung suchen.
Es ist wahr, erwiderte Monte Christo, der Mensch ist eine häßliche Raupe für den, der ihn unter dem Mikroskopbetrachtet. Doch Sie sagten, ich hätte nichts zu tun;… denken Sie etwa, Sie hätten etwas zu tun? Oder, um deutlicher zu sprechen, wähnen Sie, was Sie tun, sei der Mühe wert, davon zu reden?
Herrn von Villeforts Erstaunen verdoppelte sichbei diesem zweiten scharfen Schlage des seltsamen Gegners; seit langer Zeit hatte er kein so starkes Wort anhören müssen. Er erwiderte sofort:
Mein Herr, Sie sind ein Fremder und haben nach Ihrer eigenen Äußerung einen Teil Ihres Lebens im Orient zugebracht, Sie wissen also nicht, welchen vorsichtigen, abgemessenen Gangbei uns die inbarbarischen Ländern so rasche undblutige Justiz hat.
Doch, mein Herr, doch; sie geht mit hinkendem Fuße. Ich weiß das alles, denn ich habe mich hauptsächlich mit der Justiz aller Länderbeschäftigt, ich habe das kriminelle Verfahren aller Nationen mit der natürlichen Justiz verglichen und hierbei gefunden, daß das Gesetz der Urvölker, das Gesetz der Wiedervergeltung, das ist, das dem Willen Gottes am meisten entspricht. Würde dieses Gesetz eingeführt, mein Herr, entgegnete der Staatsanwalt, so müßte es unsere Gesetzbücher ungemein vereinfachen, und dieBeamten hätten sodann, wie Sie soeben sagten, allerdings nicht mehr viel zu tun. Mittlerweile gelten unsere Gesetzbücher mit ihren den gallischen Sitten, den römischen Gesetzen, den fränkischen Gebräuchen entnommenenBestimmungen; aber die Kenntnis aller dieser Gesetze erwirbt man sich, wie Sie zugestehen werden, nicht ohne lange Arbeiten, und esbedarf zur Erringung dieser Kenntnis ausgedehnter Studien, und ist sie einmal errungen, großer Geisteskraft, sie festzuhalten.
Ichbin auch dieser Meinung; doch alles, was Sie inBeziehung auf das französische Gesetzbuch wissen, weiß ich nicht nur hinsichtlich des letzteren, sondern auch hinsichtlich der Gesetzbücher aller Nationen. Die englischen, die türkischen, die japanischen, die hindostanischen Gesetze sind mir ebenso genaubekannt, wie die französischen.
In welcher Absicht haben Sie dies alles gelernt? fragte Villefort erstaunt.
Monte Christo lächelte und sagte: Mein Herr, ich sehe, daß Sie, obgleich Sie im Rufe eines großen Mannes stehen, alles aus dem materiellen, gewöhnlichen Gesichtspunkte der Gesellschaftbetrachten, das heißt, aus dembeschränktesten Gesichtspunkte, den der menschliche Geist einnehmen kann.
Wollen Sie sich näher erklären, mein Herr, sagte Villefort, immer mehr erstaunt; ich verstehe Sie nicht ganz.
Ich sage, daß Sie, die Augen auf die gesellschaftliche Organisation der Nationen heftend, nur die Federn der Maschine sehen und nicht den erhabenen Werkmeister, der sie in Tätigkeit setzt; ich sage, daß Sie um sich her nur die Titelträger sehen, deren Patente von den Ministern oder vom König unterzeichnet sind, und daß die Menschen, die Gott über die Titelträger, die Minister und die Könige stellte, indem er ihnen einebesondere Sendung gab, Ihrer Kurzsichtigkeit entgehen. Tobias hielt auch den Engel, der ihm das Gesicht zurückgegeben hatte, für einen gewöhnlichen Menschen. Die Nationen hielten Attila, der sie vernichten sollte, für einen Eroberer, wie alle Eroberer, undbeide mußten ihre göttlichen Sendungen offenbaren, damit man sie erkannte; der eine mußte sagen: Ichbin der Engel des Herrn, und der andere: Ichbin der Hammer Gottes, ehe ihr wahres Wesen erkannt wurde.
Also, sagte Villefort, der, immer mehr erstaunt, mit einem Erleuchteten oder mit einem Narren zu sprechen glaubte, alsobetrachten Sie sich als eines von den außerordentlichen Wesen, von denen Sie soeben sprachen?
Warum nicht? entgegnete kalt Monte Christo.
Entschuldigen Sie, versetzte Villefort fastbestürzt, wenn ich nicht wußte, daß ich zu einem Manne kam, dessen Kenntnisse und geistige Fähigkeiten so weit das Gewöhnliche überragen. Bei uns, den unglücklichen verderbten Erzeugnissen der Zivilisation, ist es nicht gebräuchlich, daß Edelleute, wie Sie, die imBesitze eines unermeßlichen Vermögens sind oder wenigstens scheinen, ihre Zeit mit gesellschaftlichen Spekulationen, mit philosophischen Träumen verlieren, die höchstens geeignet sind, die Menschen zu trösten, die das Schicksal von den Gütern der Erde enterbt hat!
Ei! ei! versetzte der Graf, sind Sie denn zu Ihrer hohen Stellung gelangt, ohne Ausnahmen zuzulassen oder angetroffen zu haben? Üben Sie nie IhrenBlick, der doch der Schärfe und Sicherheit so sehrbedürfte, um mit einem Schlage den zu erkennen, auf den eben dieserBlick gefallen ist? Sollte nicht ein öffentlicherBeamter, derbeste Anwender des Gesetzes, der schlaueste Ausleger seiner Dunkelheiten, eine stählerne Sonde zur Prüfung der Herzen sein, ein Probierstein zur Untersuchung des Goldes, das sich in jeder Seele mit mehr oder weniger Legierung findet?
Mein Herr, Sie setzen mich ganz in Verwirrung; bei meinem Worte, ich habe nie jemand sprechen hören, wie Sie.
Dies ist der Fall, weil Sie stets in den Kreis der gewöhnlichenBedingungen gebannt geblieben sind und es nie wagten, sich mit einem Flügelschlage in die höheren Sphären zu erheben, die Gott mit unsichtbaren und ausnahmsweisen Wesenbevölkert hat.
Ah! rief Villefort lächelnd, ich gestehe, ich möchte es gern wissen, wenn ein solches Wesen mit mir inBerührung kommt.
Ihr Wunsch ist erfüllt; Sie haben soeben davon Kenntnis erhalten, und ich wiederhole es.
Also Sie selbst?…
Ichbin eines von diesen Ausnahmewesen… ja, mein Herr, und ich glaube, daß sichbis auf den heutigen Tag noch kein Mensch in einer Stellungbefunden hat, die der meinigen ähnlich gewesen wäre. Die Reiche der Könige sindbegrenzt, entweder durch Gebirge, oder durch Flüsse, durch die Schranken der Sitte oder Sprache. Mein Reich ist groß wie die Welt, denn ichbin weder Italiener, noch Franzose, noch Hindu, noch Amerikaner, noch Spanier: ichbin Kosmopolit. Kein Land kann sagen, ich gehöre ihm durch die Geburt an. Gott allein weiß, in welchem Lande ich sterben werde. Ichbefolge alle Gebräuche, rede alle Sprachen. Nicht wahr, Sie halten mich für einen Franzosen? Denn ich spreche Französisch mit derselben Leichtigkeit und derselben Reinheit, wie Sie. Wohl! Ali, mein Nubier, hält mich für einen Araber; Bertuccio, mein Intendant, für einen Römer und Haydee, meine Sklavin, für einen Griechen. Sie sehen also, da ich keinem Lande angehöre, von keiner Regierung Schutz verlange, keinen Menschen als meinenBruder anerkenne, so vermag auch keine von denBedenklichkeiten, welche die Mächtigen zurückhalten, oder keines von den Hindernissen, welche die Schwachen lähmen, mich zu lähmen oder zurückzuhalten. Ich habe nur drei Gegner, ich sage nichtBesieger, denn durchBeharrlichkeit unterwerfe ich sie: zwei sind die Entfernung und die Zeit. Der dritte und furchtbarste ist mein Zustand als sterblicher Mensch. Dieser allein kann mich auf dem Wege, auf dem ich fortschreite, und ehe ich das Ziel erreicht habe, nach dem ich strebe, aufhalten; alles übrige habe ichberechnet. Alles, was die Menschen die Wechselfälle des Schicksals nennen, habe ich vorhergesehen, und vermag mich auch einer zu treffen, so kann er mich doch nicht niederwerfen. Sterbe ich nicht, so werde ich immer das sein, was ichbin; deshalbsage ich Ihnen Dinge, die Sie nie gehört haben, selbst nicht einmal aus dem Munde der Könige, denn die Königebedürfen Ihrer, und die andern Menschen haben Furcht vor Ihnen. Wer sagt sich nicht in einer Gesellschaft, die so lächerlich organisiert ist, wie die unsere: Vielleicht werde ich eines Tages mit dem Staatsanwalt zu tun haben!
Aber können Sie dies nicht selbst sagen? Denn sobald Sie in Frankreich wohnen, sind Sie natürlich den französischen Gesetzen unterworfen.
Ich weiß es wohl, erwiderte Monte Christo, doch wenn ich in ein Land gehen muß, fange ich damit an, daß ich durch Mittel, die nur ichbesitze, alle Menschen prüfe, von denen ich etwas zu fürchten oder zu hoffen habe, und es gelingt mir, sie ebensogut oder vielleicht nochbesser zu kennen, als sie sich selbst kennen. Infolgedessen ist jeder Staatsanwalt mehr in Verlegenheit als ich.
Damit wollen Sie sagen, versetzte Villefort zögernd, daßbei der Schwäche der menschlichen Natur jeder Mensch, Ihrer Ansicht nach,… Fehlerbegangen hat?
Fehler oder Verbrechen, sagte Monte Christo gleichgültig.
Und daß Sie allein unter den Menschen, die Sie, wie Sie selbst sagten, nicht als IhreBrüder anerkennen, versetzte Villefort mit leichtbebender Stimme,… und daß Sie allein vollkommen sind?
Nein, nicht vollkommen, sondern nur undurchdringlich. Doch genug davon, mein Herr, wenn Ihnen das Gespräch mißfällt. Ichbin dann ebensowenig durch Ihre Justizbedroht, wie Sie durch mein doppeltes Gesicht.
Nein! nein! mein Herr, entgegnete rasch Herr von Villefort, der ohne Zweifelbefürchtete, es könnte scheinen, als wollte er das Terrain aufgeben. Durch Ihr glänzendes und erleuchtendes Gespräch haben Sie mich über den gewöhnlichen Standpunkt erhoben; wir unterhalten uns nicht mehr, wir philosophieren. Sie wissen ja, welche grausamen Wahrheiten sich oft die Theologen in der Sorbonne oder die Philosophenbei ihren Disputationen sagen; nehmen wir an, wir disputieren über soziale Theologie oder theologische Philosophie, sobemerke ich Ihnen ganz einfach: MeinBruder, du frönst dem Stolze, du stehst über andern, aber Gott steht über dir.
Über allen, erwiderte Monte Christo mit so tieferBewegung, daß Villefort unwillkürlich schauderte. Ich habe meinen Stolz für die Menschen, für diese Schlangen, die stetsbereit sind, sich gegen den zu erheben, der sie mit der Stirn überragt, ohne sie mit dem Fuße zu zertreten. Doch vor Gott, der mich aus dem Nichts hervorgezogen hat, um mich zu dem zu machen, was ichbin, lege ich diesen Stolz ab.
Dannbewundere ich Sie, Herr Graf, sagte Villefort, der sich zum ersten Malbei dieser seltsamen Unterredung dieser aristokratischen Anrede dem Fremden gegenüberbediente. Ja, ich sage Ihnen, wenn Sie wirklich stark, wirklich erhaben, wirklich heilig oder undurchdringlich sind, so seien Sie stolz darauf… aber Sie haben doch irgend einen Ehrgeiz?
Ich hatte einen. Auch ichbin, wie dies allen Menschen einmal im Lebenbegegnet, vom Satan auf den höchstenBerg der Erde geführt worden; hier zeigte er mir die ganze Welt und sagte zu mir, wie er einst zu Christus gesagt hatte: Sprich, Menschenkind, was willst du, wenn du mich anbetest? Ich sann lange nach, denn seit geraumer Zeit zehrte wirklich ein furchtbarer Ehrgeiz an meinem Herzen; dann antwortete ich ihm: Ich habe stets von der Vorsehung sprechen hören, und dennoch habe ich sie nie erschaut, noch irgend etwas, was ihr gleicht, und dasbringt mich auf den Glauben, siebestehe gar nicht. Ich will selbst die Vorsehung sein, denn das Schönste, das Größte, das Erhabenste, was ich kenne, ist zubelohnen und zubestrafen. Aber Satan neigte das Haupt, stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Du irrst dich, die Vorsehungbesteht; nur siehst du sie nicht, weil sie, eine Tochter Gottes, unsichtbar ist, wie ihr Vater. Du hast nichts gesehen, was ihr gleicht, weil sie mit verborgenen Federn wirkt und auf dunkeln, unbekannten Wegen wandelt. Alles, was ich für dich tun kann, besteht darin, daß ich dich zu einem der Werkzeuge der Vorsehung mache. Der Handel wurde abgeschlossen, ich verliere dabei vielleicht meine Seele; doch gleichviel, er reut mich nicht.
Villefort schaute Monte Christo mit dem höchsten Erstaunen an und fragte: Haben Sie Verwandte, Herr Graf?
Nein, ichbin allein auf der Welt.
Schade, Sie hätten ein Schauspiel sehen können, das Ihren Stolz wohl gebrochen hätte. Sie sagen, Sie fürchten nur den Tod?
Ich sage nicht, daß ich ihn fürchte, ich sage nur, er könne mich aufhalten.
Und das Alter?
Meine Sendung wird vollendet sein, ehe ich altbin.
Und der Wahnsinn?
Ichbinbeinahe wahnsinnig geworden, und Sie kennen den Satz nonbis in eodem (nie zweimal das gleiche); es ist ein strafrechtlicher Grundsatz und gehört folglich in Ihr Reich.
Mein Herr, versetzte Villefort, es gibt noch etwas anderes zu fürchten als den Tod, das Alter oder den Wahnsinn; zumBeispiel den Schlagfluß, diesen Wetterstrahl, der Sie trifft, ohne Sie zu zerstören, und der doch alles wertlos macht. Wenn Sie einmal Lust haben, dieses Gespräch in meinem Hause fortzusetzen, mit einem Gegner, der fähig ist, Sie zubegreifen, undbegierig, Sie zu widerlegen, so zeige ich Ihnen meinen Vater, Herrn Noirtier von Villefort, einen der heftigsten Jakobiner der französischen Revolution, einen Mann, der zwar nicht, wie Sie, alle Reiche der Erde gesehen, aber zum Umsturz eines der mächtigstenbeigetragen hat. Nun, mein Herr, das Zerspringen einesBlutgefäßes in einem Gehirnlappen hat dies alles zerstört, und zwar in einer Sekunde. Herr Noirtier, der mit Revolutionen spielte, der Frankreich nur noch als ein großes Schachbrettbetrachtete, von demBauern, Türme, Ritter und Königin verschwinden mußten, weil der König matt war; der furchtbare und gefürchtete Herr Noirtier war am andern Tage nur ein armer, schwacher Greis, dem Willen des schwächsten Wesens im ganzen Hause, seiner Enkelin Valentine, unterworfen.
Ah! dieses Schauspiel ist weder meinen Augen, noch meinem Geiste fremd, entgegnete Monte Christo, ichbin ein wenig Arzt und habe, wie meine Kollegen, wiederholt die Seele in der lebendigen oder in der toten Materie gesucht, und sie ist, wie die Vorsehung, obgleich meinem Herzen gegenwärtig, doch für meine Augen unsichtbar geblieben. Hundert Schriftsteller haben seit Sokrates, seit Seneca, seit dem heiligen Augustin, seit Gall den Vergleich gemacht, den Sie machen, aber dennochbegreife ich, daß die Leiden eines Vaters den Geist eines Sohnes starkbeeinflussen können. Da Sie mich dazu auffordern, so werde ich zur Förderung meiner Demut dieses furchtbare Schauspielbetrachten, das Trauer in Ihr Hausbringen muß.
Es wäre dies ohne Zweifel der Fall, hätte mich Gott nicht reich entschädigt. Während der Greis sich mühsam zum Grabe schleppt, treten zweiblühende Kinder frisch ins Leben: Valentine, eine Tochter aus meiner ersten Ehe mit Fräulein Renée von Saint‑Meran, und Eduard, der Sohn, dem Sie das Leben gerettet haben.
Und was schließen Sie daraus?
Ich schließe daraus, daß mein Vater, von Leidenschaften irregeführt, eines von jenen Versehenbegangen hat, die der menschlichen Gerechtigkeit entgehen, aber von der Gerechtigkeit Gottes gesühnt werden… und daß Gott, der nur eine Person treffen wollte, auch nur eine geschlagen hat.
Monte Christo konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Leben Sie wohl, mein Herr, sagte Villefort, der schon seit einiger Zeit aufgestanden war; indem ich Sie verlasse, trage ich ein Gefühl der Hochachtung mit mir fort, das Ihnen hoffentlich angenehm sein wird, wenn Sie mich näher kennen, denn ichbin nichts weniger als ein Mensch vom Alltagsschlage. Überdies haben Sie sich meine Frau zur ewigen Freundin gemacht.
Der Graf verbeugte sich undbegleitete Herrn von Villefort nurbis an die Tür seines Kabinetts; der Staatsanwalt kehrte zu seinem Wagen zurück, wobei zwei Lakaien vorauseilten, die ihm auf den Wink ihres Herrn den Schlag öffneten.
Als Villefort verschwunden war, sagte Monte Christo, einen schweren Seufzer aus seiner gepreßtenBrust ausstoßend: Genug des Giftes, und nun, da mein Herz voll davon ist, wollen wir das Gegengift suchen!
Und er schlug einmal auf das Glöckchen und sagte zu dem eintretenden Ali: Ich gehe zur gnädigen Frau hinauf; in einer halben Stunde muß der Wagenbereit sein.
Haydee
Die Hoffnung auf den angenehmenBesuch und auf ein paar glückliche Augenblicke verbreitete, sobald Villefort verschwunden war, einen heiteren Ausdruck über das Antlitz des Grafen, so daß Ali, derbei dem Klange des Glöckchens herbeigelaufen war, sich auf der Fußspitze und mit gehemmtem Atem zurückzog, als wollte er die guten Gedanken nicht verscheuchen, die seinen Gebieter zu umschweben schienen.
Die schöne Griechinbefand sich in einer Wohnung, die von der des Grafen völlig getrennt war. Ihre Gemächer hatte man ganz auf orientalische Weise ausgeschmückt, das heißt, dieBöden waren mit dicken türkischen Teppichenbelegt, Brokatstoffe fielen an den Wänden herab, und in jedem Zimmer lief an den Wänden ein großer Diwan mit vielen Kissen entlang. Haydee hatte drei französische Kammerfrauen und eine griechische. Die französischen Kammerfrauen verweilten im ersten Zimmer, bereit, auf den Ton eines goldenen Glöckchens herbeizulaufen und denBefehlen der griechischen Sklavin zu gehorchen, die hinreichend Französisch sprach, um ihnen den Willen ihrer Gebieterin zu verdolmetschen, und sollten nach der Vorschrift Monte Christos Haydee mit einer Rücksichtbehandeln, die man sonst nur einer Königin gegenüberbeobachtet.
Die Griechinbefand sich im hintersten Zimmer ihrer Wohnung, in einer Art von rundem, nur von obenbeleuchtetemBoudoir, worein das Licht durch Scheiben von rosenfarbigem Glase drang. Sie lag auf demBoden auf Kissen vonblauem, mit Silber durchwirktem Atlas, halbzurückgelehnt auf den Diwan, den Kopf mit ihrem weich gerundeten rechten Arme umschlingend, während sie mit der Linken die Korallenspitze einer persischen Pfeife an ihre Lippen hielt. Ihr Anzug war der der epirotischen Frauen; sie trugBeinkleider von weißem, mit rosenfarbigenBlumenbroschiertem Atlas, die zwei niedliche Füße entblößt ließen, an denen zwei kleine, mit Gold und Perlen gestickte Sandalen mit aufwärts gebogenen Spitzen sichtbar waren; ferner eineblau und weiß gestreifte Jacke mit weiten, unten geschlitzten Ärmeln, mit silbernen Knopflöchern und Knöpfen von Perlen; endlich eine Art von Leibchen, das durch einen herzförmigen Schnitt den Hals und den ganzen obern Teil derBrust offen ließ und unterhalbdesBusens mit zwei Diamantknöpfen geschlossen wurde. Der untere Teil des Leibchens und der obere desBeinkleides verschwanden unter einem Gürtel von lebhaften Farben und mit langen seidenen Fransen. Auf dem Kopfe hatte sie ein mit Gold und Perlen gesticktes, auf die Seite geneigtes Mützchen, unter dem sich eine schöne, natürliche, purpurrote Rose herabneigte.
Ihr Gesicht zeigte die griechische Schönheit in ihrer ganzen Vollendung, große schwarze, samtartige Augen, marmorne Stirn, gerade Nase, Korallenlippen, Perlenzähne und schwarze Haare. Über dieses reizende Ganze lag die Jugend mit all ihrem Schimmer, all ihrem Dufte ausgebreitet; Haydee mochte kaum neunzehn Jahre alt sein.
Monte Christo rief der griechischen Kammerfrau und ließ Haydee um Erlaubnisbitten, bei ihr eintreten zu dürfen. Statt jeder Antwort hieß Haydee ihre Zofe den Vorhang zurückschlagen, der an der Tür angebracht war, deren Simswerk das junge Mädchen wie ein reizendes Gemälde umrahmte.
Monte Christo trat ein.
Haydee erhobsich auf den Ellenbogen, reichte dem Grafen ihre Hand, lächelte ihm freundlich entgegen und sagte in der wohlklingenden Sprache der Töchter von Athen: Warum läßt du mich um Erlaubnisbitten, bei mir eintreten zu dürfen? Bist du nicht mein Gebieter, bin ich nicht mehr deine Sklavin?
Monte Christo lächelte ebenfalls und erwiderte: Haydee, Sie wissen…
Warum sagst du nicht mehr du zu mir, wie gewöhnlich? unterbrach ihn die junge Griechin; habe ich denn irgend ein Versehenbegangen? Dann mußt du michbestrafen und nicht Sie nennen.
Haydee, entgegnete der Graf, du weißt, daß wir in Frankreich sind, und daß du folglich freibist.
Frei, wozu? fragte das Mädchen.
Es steht dir frei, mich zu verlassen.
Dich verlassen?… Und warum sollte ich dich verlassen?
Was weiß ich? Wir werden andere Leutebei uns sehen.
Ich will niemand sehen.
Und wenn du unter den jungen Leuten, denen dubegegnen wirst, einen träfest, der dir gefiele, so wäre ich nicht so ungerecht…
Ich habe keinen schöneren Mann, als dubist, gesehen, und nie einen andern geliebt, als meinen Vater und dich.
Armes Kind, sagte Monte Christo, du hast kaum mit jemand anders gesprochen außer mit mir und deinem Vater.
Wohl! wasbrauche ich mit anderen zu sprechen? Mein Vater nannte mich seine Freude, du nennst mich deine Liebe, und Ihrbeide nennt mich Euer Kind.
Du erinnertst dich deines Vaters, Haydee?
Das junge Mädchen lächelte.
Er ist da und da, sagte die Griechin, ihre Hand auf ihre Augen und auf ihr Herz legend.
Und ich, wobin ich? fragte lächelnd Monte Christo.
Du, erwiderte sie, dubist überall.
Monte Christo nahm Haydees Hand, um sie zu küssen, aber das naive Kind entzog sie ihm undbot ihm die Stirn dar.
Nun weißt du, Haydee, sagte der Graf, daß du frei, daß du Gebieterin, daß du Königinbist; du kannst deine Trachtbeibehalten oder nach deiner Laune aufgeben. Dubleibst hier, wenn dubleiben willst, du fährst aus, wenn du ausfahren willst, es wird stets ein Wagen für dich angespannt sein, Ali und Myrthobegleiten dich überallhin und sind zu deinemBefehl; nurbitte ich dich um eines: Bewahre das Geheimnis deiner Geburt, sage kein Wort über deine Vergangenheit, nennebei keiner Veranlassung den Namen deines Vaters oder deiner armen Mutter!
Herr, ich habe dirbereits gesagt, daß ich niemand sehen werde.
Höre mich, Haydee, diese orientalische Abgeschlossenheit wird dir in Paris vielleicht unmöglich werden. Fahre fort, das Leben in unsern nördlichen Ländern kennen zu lernen, wie du dies in Rom, in Florenz, in Mailand und in Madrid getan hast; dies wird dir immerhin nützlich sein, magst du nunbeständig hier leben oder nach dem Orient zurückkehren.
Das Mädchen schlug seine großen, feuchten Augen zu dem Grafen auf und erwiderte: Oder obwir nach dem Orient zurückkehren, willst du sagen, nicht wahr, Herr?
Ja, meine Tochter, du weißt wohl, daß ich dich nie verlassen werde. Nicht derBaum verläßt dieBlüte, sondern dieBlüte trennt sich vomBaume. Ich werde dich auch nie verlassen, Herr, denn ich weiß, daß ich ohne dich nicht leben könnte.
Armes Kind! In zehn Jahrenbin ich alt, und in zehn Jahrenbist du noch ganz jung.
Mein Vater hatte einen langen, weißenBart; das hinderte mich nicht, ihn zu lieben; mein Vater zählte sechzig Jahre, und er kam mir schöner vor, als alle jungen Leute, die ich sah.
Doch sage mir, glaubst du, daß es dir hier gefallen wird? — Werde ich dich sehen? — Jeden Tag. Nun, Herr, warum fragst du mich dann? — Ichbefürchte, du langweilst dich.
Nein, Herr, denn am Morgen denke ich, daß du kommen wirst, und am Abend erinnere ich mich, daß du gekommenbist; dann habe ich im Herzen drei Gefühle, mit denen man sich nie langweilt: die Traurigkeit, die Liebe und die Dankbarkeit.
Dubist eine würdige Tochter des Epirus, Haydee, du Anmutige, du Poetische, und man sieht, daß du von der in deinem Lande geborenen Familie von Göttinnen abstammst. Sei also unbesorgt, meine Tochter, ich werde es so machen, daß deine Schönheit nicht verloren geht, denn wenn du mich wie deinen Vater liebst, so liebe ich dich wie mein Kind.
Du täuschest dich, Herr, ich liebte meinen Vater nicht, wie ich dich liebe, meine Liebe für dich ist eine andere Liebe; mein Vater ist tot, und ichbin nicht tot, während ich sterben müßte, wenn du sterben würdest.
Der Graf reichte Haydee die Hand mit einem Lächeln voll tiefer Zärtlichkeit; sie drückte wie gewöhnlich ihre Lippen darauf.
Und so in der rechten Stimmung für die Zusammenkunft, die er mit Morel und seiner Familie haben sollte, entfernte er sich, folgende Verse von Pindar murmelnd:
Die Jugend ist eineBlüte, deren Frucht die Liebe ist… Glücklich ist der Gärtner, der sie pflückt, nachdem er sie langsam hat reifen sehen.
Der Wagen stand seinenBefehlen gemäßbereit. Er stieg ein, und die Pferde führten ihn wie immer im Galopp fort.
Die Familie Morel
Der Graf gelangte in wenigen Minuten in die Rue Mesla Nr. 7. Das Haus war weiß, freundlich und davor ein Hof, in dem man zwei kleine Gartenstücke mit schönenBlumen erblickte.
In dem Hausmeister, der ihm die Tür öffnete, erkannte der Graf den alten Cocles, der jedoch den Grafen nicht wiedererkannte. Den ganzen zweiten Stock des freundlichen Hausesbewohnte Maximilian. Dieser überwachte soeben die Wartung seiner Pferde und rauchte eine Zigarre am Eingang des Gartens, als der Wagen des Grafen vor der Tür anhielt.
Cocles öffnete, wie gesagt; Baptistin sprang von seinemBocke und fragte, obHerr und Frau Herbault und Herr Maximilian Morel für den Grafen von Monte Christo zu sprechen seien.
Für den Grafen von Monte Christo! rief Morel, seine Zigarre wegwerfend und demBesuche entgegeneilend, ich glaube wohl, ich glaube wohl! Ah! Dank, tausendmal Dank, Herr Graf, daß Sie Ihr Versprechen nicht vergessen haben. Und der junge Offizier drückte dem Grafen so innig die Hand, daß dieser sich über die Treuherzigkeit seiner Kundgebung nicht täuschen konnte und mit dem erstenBlicke sah, daß er mit Ungeduld erwartet worden war.
Kommen Sie, sagte Maximilian. Meine Schwester ist im Garten undbricht ihre verwelkten Rosen ab; mein Schwager liest seine Zeitungenbei ihr, denn wo Frau Herbault ist, pflegt auch Herr Emanuel zu sein.
Bei dem Geräusch der Tritte hobeine junge Frau von dreißig Jahren in einem seidenen Hauskleide den Kopf. Diese Frau, die sorgfältig von einem herrlichen Rosenstock die welkenBlumen pflückte, war unsere kleine Julie, nunmehr, wie es der Vertreter des Hauses Thomson und French vorhergesagt hatte, Frau Emanuel Herbault. Sie stieß einen leichten Schrei aus, als sie einen Fremden erblickte, Maximilian aber sagte lachend: Laß dich nicht stören, Schwester; der Herr Grafbefindet sich erst seit zweibis drei Tagen in Paris, weiß aberbereits, was eine Rentière des Marais ist, und wenn er es nicht weiß, so wirst du es ihn lehren.
Ah! mein Herr, sagte Julie, Sie so hierher zu führen ist ein Verrat von meinemBruder, der nicht die geringste Eitelkeit für seine arme Schwesterbesitzt… Penelon!.. Penelon!..
Ein Greis, der eine Rabatte umgrub, steckte seinen Spaten in die Erde und näherte sich mit der Mütze in der Hand, während er so gut wie möglich den Kautabak verbarg, den er schleunigst in die Tiefen seinerBacken zurückgeschoben hatte. Einige weißeBüschel versilberten sein noch dichtes Haupthaar, indes seinebronzefarbige Gesichtshaut und sein kühnes, lebhaftes Auge den alten, unter der Sonne des Äquators gebräunten und vom Hauche der Stürme gestählten Seemann verrieten.
Ich glaube, Sie haben mich gerufen, Fräulein Julie, sagte er, hierbin ich.
Penelon hatte die Gewohnheitbeibehalten, die Tochter seines Patrons Fräulein Julie zu nennen, und war nie imstande gewesen, sich daran zu gewöhnen, sie als Frau Herbault anzureden.
Penelon, sagte Julie, melde Herrn Emanuel den angenehmenBesuch, der uns zuteil wird, während Maximilian den Herrn Grafen in den Salon führt. Dann, sich an Monte Christo wendend, fuhr sie fort: Sie werden mir wohl erlauben, auf eine Minute zu entfliehen?
Und ohne die Einwilligung des Grafen abzuwarten, eilte sie hinter eineBaumgruppe und erreichte das Haus durch eine Seitenallee.
Ah! mein lieber Herr Morel, sagte Monte Christo, ichbemerke zu meinem Schmerze, daß ich einen Aufruhr in Ihrer Familie veranlasse.
Sehen Sie, erwiderte Maximilian lachend, sehen Sie dort unten den Mann, der ebenfalls sein Wams gegen einen Oberrock zu vertauschen imBegriffe ist? Oh! man kennt Sie, glauben Sie mir, Sie waren angekündigt.
Es scheint hier eine glückliche Familie zu wohnen, Herr Morel, sagte der Graf, seinen eigenen Gedankenbeantwortend.
Oh ja! dafür stehe ich Ihnen, Herr Graf; es fehlt ihnen nichts zu ihrem Glücke, sie sind jung, sie sind heiter, sie lieben sich, und mit ihren 25 000 Franken Rentebilden sie sich ein, den Reichtum Rothschilds zubesitzen.
25 000 Franken Rente ist übrigens wenig, sagte Monte Christo mit einer Weichheit, welche in Maximilians Herz wie die Stimme eines zärtlichen Vaters drang; doch sie werden hierbei nicht stehenbleiben, unsere jungen Leute, sie werden ebenfalls Millionäre werden. Ihr Herr Schwager ist Advokat… Arzt?…
Er war Kaufmann, Herr Graf, und hatte das Haus meines armen Vaters übernommen. Herr Morel starbmit Hinterlassung eines Vermögens von 500 000 Franken; ichbekam die eine Hälfte und meine Schwester die andere, denn wir waren nur zwei Kinder. Ihr Gatte, der sie ohne ein anderes Erbgut, als seine Redlichkeit, seinen scharfen Verstand und seinen fleckenlosen Ruf geheiratet hatte, wollte ebensovielbesitzen wie seine Frau. Er arbeitete, bis er 250 000 Franken zusammengebracht hatte; hierzu genügten sechs Jahre. Eines Tages suchte Emanuel seine Frau auf und sagte zu ihr: Julie, Cocles hat mir soeben eine Rolle von hundert Franken zugestellt, welche die Summe von 250 000 Franken vollmacht. Wirst du mit dem wenigen, womit wir uns fortanbegnügen müssen, zufrieden sein? Höre, das Haus macht jährlich Geschäfte für eine Million und kann einen Nutzen von 40 000 Franken abwerfen. Wir verkaufen, wenn wir wollen, die Kundschaft in einer Stunde für 300 000 Franken an Herrn Delaunay, der uns diese Summe anbietet. Was meinst du?
Mein Freund, erwiderte meine Schwester, das Haus Morel kann nur durch einen Morel gehalten werden. Ist es nicht 300 000 Franken wert, den Namen unseres Vaters für immer vor schlimmem Schicksalswechsel zu schützen?
Ich meinte dasselbe, erwiderte Emanuel, wollte jedoch deine Ansicht wissen.
Gut, mein Freund. Alle unsere Ausstände sind eingezogen, alle unsere Wechsel sindbezahlt; wir können einen Strich unter den letzten des Monats ziehen und unsere Kontore schließen; ziehen wir diesen Strich und schließen wir sie! — Und dies wurde auch auf der Stelle ausgeführt. Es war drei Uhr; um ein Viertel auf vier zeigte sich ein Kunde, der die Fahrt zweier Schiffe versichern lassen wollte. Diesbrachte voraussichtlich einen Geschäftsgewinn von 15 000 Franken.
Mein Herr, sagte Emanuel, wollen Sie sich wegen dieser Versicherung an Herrn Delaunay wenden. Wir haben das Geschäft aufgegeben.
Seit wann? fragte der erstaunte Kunde.
Seit einer Viertelstunde.
Und auf diese Art haben meine Schwester und mein Schwager nur 25 000 Franken Rente, schloß Maximilian seine Rede lächelnd.
Kaum hatte er geendet, als Emanuel wieder erschien; er grüßte wie ein Mann, der den Wert des Gastes zu schätzen weiß, ließ den Grafen das kleine Anwesen sehen und führte ihn in das Hans.
Der Salon warbereits vonBlumen durchduftet, die in einer ungeheuren japanischen Vase zusammengehalten wurden. Hübsch gekleidet und zierlich frisiert, trat Julie hervor, um den Grafenbei seinem Eintritt zu empfangen. Alles atmete hier Ruhe, vom Gesange des Vogelsbis zum Lächeln derBewohner. Der Graf hatte seit dem Eintritte in das Haus die ganze Fülle dieses ruhigen Familienglücks auf sich wirken lassen. Erbliebstumm und träumerisch und vergaß, daß man ihn anschaute und von ihm die Wiederaufnahme des nach den ersten Komplimenten unterbrochenen Gespräches zu erwarten schien.
Endlichbemerkte er das eingetretene Stillschweigen, entriß sich seiner Träumerei und sagte: Gnädige Frau, verzeihen Sie mir meine Gemütsbewegung, die Sie, da Sie an den Frieden und an das Glück gewöhnt sind, in Erstaunen setzen muß; doch für mich ist die Zufriedenheit auf einem menschlichen Antlitz etwas so Neues, daß ich nicht müde werden kann, Sie und Ihren Gatten anzuschauen.
Wir sind in der Tat sehr glücklich, versetzte Julie; aber wir hatten lange zu leiden, und wenige Menschen mußten ihr Glück so teuer erkaufen, wie wir.
Die Neugierde prägte sich in den Zügen des Grafen aus.
Oh! das ist eine ganze Familiengeschichte, wie Ihnen neulich Chateau‑Renaud sagte, erklärte Maximilian; für Sie, Herr Graf, der Sie an großartigere und glänzendere Verhältnisse gewöhnt sind, dürfte dieses häusliche Gemälde wenig Interessebieten. Jedenfalls haben wir, wie Ihnen Julie soeben sagte, heftige Schmerzen ausgestanden, wenn sie auch in diesen kleinen Rahmen eingeschlossen waren.
Und Gott hat Ihnen, wie er esbei allen tut, denBalsam des Trostes auf das Leiden gegossen? fragte Monte Christo.
Ja, Herr Graf, antwortete Julie; wir können dies wohl sagen, denn er hat für uns getan, was er nur für seine Auserwählten tut; er schickte uns einen von seinen Engeln.
Die Röte stieg dem Grafen in die Wangen; er stand auf und schritt, ohne etwas zu erwidern, langsam durch den Salon.
Sie lächeln über uns, Herr Graf, sagte Maximilian, der ihm mit dem Auge folgte.
Nein, nein, entgegnete Monte Christo, äußerstbleich und mit einer Hand die Schläge seines Herzens zurückdrängend, während er mit der andern auf eine kristallene Kugel deutete. unter der eine seideneBörse, kostbar gelagert auf einem Kissen von schwarzem Samt, ruhte. Ich fragte mich nur, wozu dieseBörse diene, die, wie mir scheint, auf der einen Seite ein Papier und auf der andern einen ziemlich schönen Diamanten enthält.
Maximilian nahm eine ernste Miene an und erwiderte: Das, Herr Graf, ist unser köstlichster Familienschatz.
In der Tat, der Diamant ist ziemlich hübsch, wiederholte Monte Christo.
Oh! meinBruder spricht nicht von dem Werte des Steines, obgleich er zu 100 000 Franken geschätzt wird, er will Ihnen nur sagen, daß die Gegenstände, die dieseBörse enthält, Reliquien von dem Engel sind, von dem vorhin die Rede war.
Ichbegreife das nicht und darf auch nicht fragen, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, sich verbeugend; verzeihen Sie mir, ich wollte nicht indiskret sein.
Indiskret, sagen Sie? Oh! wie glücklich machen Sie uns im Gegenteil, wenn Sie uns Gelegenheit geben, uns des weiteren über diesen Gegenstand auszusprechen. Wie gern möchten wir es der ganzen Welt mitteilen, damit wir dadurch etwas über unsern unbekannten Wohltäter erfahren.
Maximilian hobdie Kristallkugel auf, zog denBrief aus derBörse und reichte ihn dem Grafen. DieserBrief, sagte er, wurde an einem Tage geschrieben, wo mein Vater einen verzweiflungsvollen Entschluß gefaßt hatte, diesen Diamanten gabder edelmütige Unbekannte meiner Schwester als Mitgift.
Monte Christo nahm denBrief und las ihn mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke von Glück; es war das unsern Lesernbekannte, an Julie gerichtete und von Simbad dem Seefahrer unterzeichnete Schreiben.
Der Unbekannte, sagen Sie? Also ist der Mann, der Ihnen diesen Dienst geleistet hat, für Sie unbekannt geblieben?
Ja, nie haben wir das Glück gehabt, ihm die Hand zu drücken, obwohl wir Gott flehend um diese Gunstbaten, sagte Maximilian. In dieser ganzen wunderbarenBegebenheit waltete eine geheimnisvolle Leitung, die wir noch nichtbegreifen können.
Oh! rief Julie, ich habe noch nicht jede Hoffnung verloren, eines Tags die Hand unseres Wohltäters zu küssen. Vor vier Jahren war Penelon in Triest. Penelon, Herr Graf, ist derbrave Seemann, den Sie mit dem Spaten gesehen haben; früher Hochbootsmann ist er nun Gärtner geworden. Penelon war also in Triest und sah auf dem Kai einen Engländer, der sich in einer Jacht einschiffte; sogleich erkannte er den, der am 5. Juni 1823 meinen Vater aufgesucht und mir am 5. September diesesBillett geschrieben hatte. Es war, wie er versichert, derselbe Mann; doch er wagte ihn nicht anzureden.
Ein Engländer? versetzte Monte Christo träumerisch und unruhig JuliesBlicken folgend, ein Engländer sagen Sie?
Ja, erwiderte Maximilian, ein Engländer, derbei uns als Vertreter des Hauses Thomson und French in Rom erschien. Deshalbsahen Sie michbeben, als Sie neulichbei Herrn von Morcerfbemerkten, Thomson und French in Rom seien IhreBankiers. Dies ereignete sich im Jahre 1829, wie wir Ihnen sagten, und ich frage Sie im Namen des Himmels, haben Sie diesen Engländer gekannt?
Doch sagten Sie mir nicht, es sei von dem Hause Thomson und Frenchbeständig in Abrede gestellt worden, daß es Ihnen diesen Dienst geleistet? Sollte dieser Engländer vielleicht aus Dankbarkeit für irgend eine gute Handlung Ihres Vaters diesen Vorwand ergriffen haben, um ihm einen Dienst zu leisten?
Unter solchen Umständen ist alles zu vermuten, selbst ein Wunder.
Wie hieß er? fragte Monte Christo.
Er hat keinen andern Namen hinterlassen, sagte Julie, den Grafen mit großer Aufmerksamkeitbetrachtend, als den, womit er dasBillett unterzeichnete: Simbad der Seefahrer.
Was offenbar kein Name, sondern ein Pseudonym ist.
Und als ihn Julie immer aufmerksamer anschaute und die Töne seiner Stimme aufzufangen und zu sammeln schien, fuhr er fort: Sagen Sie, ist es nicht ein Mann etwa von meinem Wuchse, vielleicht etwas größer, etwas schlanker, in eine hohe Halsbinde eingezwängt, gegürtet undbeständig einenBleistift in der Hand haltend?
Oh! Sie kennen ihn also? rief Julie mit freudestrahlenden Augen.
Nein, ich habe nur eine Vermutung. Ich kannte einen Lord Wilmore, der edle Handlungen der Art auszuführen pflegte.
Ohne sich zu erkennen zu geben?
Es war ein wunderlicher Mensch, er glaubte nicht an Dankbarkeit.
Oh, mein Gott! rief Julie mit einem erhabenen Ausdruck die Hände faltend, woran glaubt denn der Unglückliche?
Er glaubte wenigstens nicht daran zur Zeit, wo ich ihn kannte, sagte Monte Christo, den diese aus der Tiefe der Seele kommende Stimmebis in die letzte Fiber erschüttert hatte; seit jener Zeit hat er jedoch vielleicht einenBeweis erhalten, daß es eine Dankbarkeit gibt.
Und Sie kennen diesen Mann? fragte Emanuel.
Oh! wenn Sie ihn kennen, rief Julie, sprechen Sie, vermögen Sie ihn zu uns zu führen, ihn uns zu zeigen, uns zu offenbaren, wo er ist? Wie, Maximilian, wie, Emanuel, wenn wir ihn je wieder finden würden, würde er nicht an dankbare Herzen glauben müssen?
Monte Christo fühlte, wie zwei Tränen in seine Augen traten; er machte noch ein paar Schritte im Salon.
Im Namen des Himmels, sagte Maximilian, wenn Sie etwas von diesem Manne wissen, so teilen Sie es uns mit.
Ach! erwiderte Monte Christo, die Erschütterung seiner Stimmebewältigend, ach! wenn Lord Wilmore Ihr Wohltäter ist, sobefürchte ich, daß Sie ihn nie finden werden. Ich habe ihn vor zwei oder drei Jahren in Palermo verlassen; er reiste damals nach weit entfernten Ländern, und ich zweifle sehr an seiner Rückkehr.
Ah! mein Herr, Sie sind grausam, rief Julie voll Schrecken.
Und es entstürzten Tränen den Augen der jungen Frau.
Gnädige Frau, sagte mit ernstem Tone Monte Christo, während er mit seinenBlicken diebeiden Tränenperlen verschlang, die über Julies Wangen herabrollten, wenn Lord Wilmore gesehen hätte, was ich hier sehe, so würde er das Leben noch lieben, denn die Tränen, die Sie vergießen, müßten ihn mit dem Menschengeschlechte aussöhnen. Und er reichte Julie die Hand, und diese gabihm die ihre, hingezogen vonBlick und Ton des Grafen.
Doch dieser Lord Wilmore, sagte sie, sich an eine letzte Hoffnung klammernd, hatte er kein Vaterland, Verwandte, Familie, war erbekannt? Könnten wir nicht…
Oh! suchen Sie nicht, Madame, bauen Sie keine leeren Hoffnungen auf das Wort, das mir entschlüpft ist! Nein, Lord Wilmore ist wahrscheinlich nicht der Mann, den Sie suchen, er war mein Freund, ich kannte seine Geheimnisse, er hätte mir auch dieses mitgeteilt.
Und er sagte Ihnen nichts davon? rief Julie.
Nichts.
Sie nannten ihn aber doch sogleich?
Sie wissen, in solchen Fällen ergeht man sich leicht in Mutmaßungen.
Meine Schwester, sagte Maximilian, Monte Christo zu Hilfe kommend, der Herr Graf hat recht. Erinnere dich dessen, was unser guter Vater uns so oft sagte: Der Mann, der unser Glück machte, war kein Engländer.
Monte Christo zitterte und sagte lebhaft: Ihr Vater sagte Ihnen dies, Herr Morel?
Mein Vater, Herr Graf, erblickte in dieser Handlung ein Wunder. Mein Vater glaubte an einen für uns aus dem Grabe erstandenen Wohltäter. Oh! welch ein rührender Aberglaube, mein Herr!.. Während ich selbst ihm nichtbeipflichtete, war ich doch weit entfernt, diesen Glauben in seinem Herzen zerstören zu wollen. Wie oft träumte er davon und sprach ganz leise den Namen eines geliebten Freundes, eines verlorenen Freundes aus, und als er nur noch einen Schritt vom Tode entfernt war und das Herannahen der Ewigkeit seinem Geiste etwas von der Erleuchtung des Grabes gegeben hatte, da wurde dieser Gedanke, derbis dahin eine dunkle Vermutung gewesen war, zur Überzeugung, und die letzten Worte, die er sterbend aussprach, lauteten: Maximilian, es war Edmond Dantes.
Die immer mehr zunehmendeBlässe des Grafen wurdebei diesen Worten furchtbar. Er konnte kaum mehr sprechen, zog seine Uhr, als hätte er die Stunde vergessen, nahm seinen Hut, machte eine ungestüme, verlegene Verbeugung vor Frau Herbault, drückte Emanuel und Maximilian die Hand und stammelte: Gnädige Frau, erlauben Sie mir, Ihnen zuweilen meine Achtung zubezeigen. Ich liebe Ihr Haus undbin Ihnen dankbar für Ihren Empfang, denn es ist das erste Mal seit Jahren, daß ich mich vergessen habe.
Und er entfernte sich mit großen Schritten.
Das ist ein seltsamer Mensch… dieser Graf von Monte Christo, sagte Emanuel.
Ja, erwiderte Maximilian, aber ich glaube, er hat ein vortreffliches Herz, und ichbin überzeugt, daß er uns liebt.
Und mir, sagte Julie, mir war es, als erinnerte sich mein Inneres seiner Stimme, und wiederholt kam es mir vor, als hörte ich sie nicht zum erstenmal.
Pyramos und Thisbe
Auf dem Faubourg Saint‑Honoré hinter einem schönen Palast dehnte sich damals ein weiter Garten aus, dessenblätterreiche Kastanienbäume die ungeheuren, wallhohen Mauern überragten, und wenn der Frühling kam, ihre rosenfarbigen und weißenBlüten in zwei Vasen von gerieftem Stein fallen ließen, die auf zwei viereckigen Pfeilern einander gegenüberstanden, zwischen die ein eisernes Gitter aus der Zeit Ludwigs XIII gefügt war.
Dieser großartigste Eingang war trotz der herrlichen Geranien, die in den Vasen wuchsen, der Öde verfallen, seitdem sich die Eigentümer auf denBesitz des Hauses, des mitBäumenbepflanzten und nach dem Faubourg gehenden Hofes und des Gartensbeschränkten, den dieses Gitter schloß. Da aber der Dämon der Spekulation eine Straße am Ende dieses Küchengartens gezogen, so glaubte man dieses Stück alsBauplatz verkaufen zu können.
Jedoch die Spekulation schlug fehl, und der Käufer des Küchengartens verpachtete den Platz an einen Gemüsegärtner, der nur Luzernen darauf wachsen ließ. Eine kleine niedrige Tür, die sich nach der noch im Plane schlummernden Straße öffnete, gewährte Eingang in dieses von Mauern umschlossene Gebiet.
Nach dem vornehmen Hause oder, wie man in Paris sagt, nach dem Hotel zubekränzten Kastanienbäume die Mauer. Auf einer Ecke, wo dasBlätterwerk so dicht war, daß das Licht kaum durchzudringen vermochte, deuteten eine steinerneBank und Gartensitze auf einen Lieblingswinkel für irgend einenBewohner des hundert Schritte davon entlegenen Hotels, das wegen des grünen, umhüllenden Walles kaum wahrzunehmen war. Die Wahl dieses geheimnisvollen Asyls rechtfertigte sich durch die Abwesenheit der Sonne, durch die angenehme Frische, durch das Gezwitscher der Vögel und durch die Entfernung des Hauses und der Straße.
Gegen Abend an einem der heißesten Tage des Frühjahrs lagen auf dieser Steinbank einBuch, ein Sonnenschirm, ein Arbeitskorbund einBatisttaschentuch, dessen Stickerei angefangen war; und nicht weit von dieserBank stand am Gitter vor denBrettern, das Auge an den durchsichtigen Verschlag haltend, eine junge Frau, derenBlick durch eine Spalte den noch öden Raum überlief.
Fast in demselben Augenblick schloß sich geräuschlos die Tür dieser kleinen Wüste, und ein junger Mann, groß, kräftig, in einerBluse von roher Leinwand, eine Samtmütze auf dem Kopf, dessen schwarzerBart und schwarze, sorgfältig gepflegte Haare jedoch ein wenig mit dieser Volkstracht im Widerspruch standen, trat, nachdem er einen raschenBlick umhergeworfen hatte, um sich zu versichern, daß ihn niemandbeobachte, herein und wandte sich mit raschen Schritten nach dem Gitter.
Bei dem Anblicke dessen, den sie erwartete, aber wahrscheinlich nicht in dieser Tracht, erschrak das Mädchen und wich ein wenig zurück.
Aber der junge Mann hatte durch die Spalte der Tür mit jenemBlicke, der nur Liebenden eigen ist, das weiße Kleid und das langeblaue Gürtelband flattern sehen; er eilte nach dem Verschlage, legte seinen Mund an eine Öffnung und sagte mit halblauter Stimme: Fürchten Sie sich nicht, Valentine, ichbin es.
Die Genannte näherte sich und sagte: Oh, warum sind Sie heute so spät gekommen? Wissen Sie, daß wirbald zu Mittag essen, und daß es großer Täuschungskunst und Hurtigkeitbedurfte, um von meiner Stiefmutter, die michbelauert, meiner Kammerfrau, die michbespäht, meinemBruder, der mich quält, freizukommen und hier an dieser Stickerei zu arbeiten? Sobald Sie sich für Ihr Zögern entschuldigt haben, werden Sie mir sagen, was dieses neue Kostüm, in dem ich Siebeinahe nicht erkannt hätte, bedeuten soll.
Teure Valentine, erwiderte der junge Mann, meine Liebe zu Ihnen ist zu groß, als daß ich hiervon noch sprechen sollte, und dennoch fühle ich, so oft ich Sie sehe, dasBedürfnis, Ihnen zu sagen, daß ich Sie anbete, damit das Echo meiner eigenen Worte Ihr Herz liebkosen möge, wenn ich Sie nicht mehr sehe. Nun danke ich Ihnen für Ihr Schmälen; es ist ganzbezaubernd, denn esbeweist mir, daß Sie mich erwarteten und an mich dachten. Sie wollen die Ursache meiner Zögerung und denBeweggrund meiner Verkleidung wissen, ich werde Ihnenbeides sagen und hoffe, Sie entschuldigen mich: ich habe mir einen Stand erwählt.
Einen Stand?… Was wollen Sie damit sagen, Maximilian? Sind wir denn so glücklich, daß Sie über unsere Lage scherzen?
Oh! Gott soll michbewahren, daß ich mit dem, was mein Leben ausmacht, Scherz treibe. Aber des Mauerkletterns überdrüssig und ernstlich erschrocken über den eines Abends von Ihnen ausgesprochenen Gedanken, Ihr Vater würde mich früher oder später als Diebvor Gericht ziehen, was die Ehre der ganzen französischen Armee verletzen müßte, dazu erwägend, daß man sich wundern könnte, in dieser Gegend, wo es nicht die geringste Zitadelle zubelagern oder das kleinsteBlockhaus zu verteidigen gibt, einen Kapitän der Spahis sich herumtreiben zu sehen, bin ich Gemüsegärtner geworden und habe natürlich die Tracht meines Gewerbes angenommen.
Welch eine Tollheit!
Im Gegenteil, es ist, wie ich glaube, das vernünftigste, was ich in meinem ganzen Leben getan habe, denn es verleiht uns vollkommene Sicherheit.
Erklären Sie sich deutlicher!
Wohl, ich habe den Eigentümer dieses Platzes aufgesucht; der Vertrag mit den ehemaligen Pächtern war abgelaufen, und ich pachtete den Garten für mich. Alle diese Luzernen gehören mir, Valentine, und nichts hindert mich, mir eine Hütte unter diesem Gebüschbauen zu lassen und fortan zwanzig Schritte von Ihnen zu leben. Oh! diese Freude, dieses Glück, ich weiß mich nicht zu fassen! Scheint Ihnen, Valentine, dies nicht unbezahlbar? Und diese ganze Seligkeit, dieses ganze Glück, diese ganze Freude, wofür ich zehn Jahre meines Lebens gegeben hätte, kosten mich, erraten Sie wieviel?… Fünfhundert Franken jährlich, zahlbar in vierteljährlichen Raten. Sie sehen also, es ist in Zukunft nichts mehr zubefürchten. Ichbefinde mich hier auf meinem eigenen Grund undBoden, kann Leitern an meine Mauer stellen und hinüberschauen undbinberechtigt, Ihnen zu sagen, daß ich Sie liebe, solange sich Ihr Stolz nicht verwundet fühlt, wenn er dieses Wort aus dem Munde eines armen Tagelöhners mitBluse und Mütze vernimmt.
Valentine stieß einen leichten Schrei freudigen Erstaunens aus, erwiderte aberbald traurig, und als hätte eine eifersüchtige Wolke plötzlich den Sonnenstrahl verschleiert, der ihr Herz erleuchtete: Ach! Maximilian, wir sind nun frei; unser Herz wird uns Gott versuchen lassen; wir werden unsere Sicherheit mißbrauchen, und unsere Sicherheit wird uns zu Grunde richten.
Können Sie mir das sagen, liebe Freundin, mir, der ich Ihnen, seitdem ich Sie kenne, jeden Tagbeweise, daß ich meine Gedanken und mein Leben Ihren Gedanken und Ihrem Leben untergeordnet habe? Wer hat Ihnen Zutrauen zu mir gegeben? Nicht wahr, meine Ehre. Als Sie mir sagten, ein unbestimmter Instinkt versichere Ihnen, Sie liefen irgend eine große Gefahr, stellte ich meine Ergebenheit zu Ihren Diensten, ohne eine andereBelohnung von Ihnen zu verlangen, als das Glück, Ihnen dienen zu dürfen. Habe ich Ihnen seitdem durch ein Wort, durch ein Zeichen Veranlassung gegeben, zubereuen, daß Sie mich unter denen auszeichnen, die glücklich gewesen wären, für Sie zu sterben? Armes Kind, Sie sagten mir, Sie seien mit Herrn d'Epinay verlobt, Ihr Vater habe diese Verbindung geschlossen, das heißt, sie wäre gewiß, denn alles, was Herr von Villefort wolle, geschehe unfehlbar. Nun, ichbin im Schatten geblieben und habe alles, nicht von meinem Willen, nicht von dem Ihrigen, sondern von den Ereignissen, von der Vorsehung Gottes erwartet, und dennoch liebten Sie mich, hatten Sie Mitleid mit mir und sagten mir dies. Ich danke Ihnen für dieses süße Wort, das ich Sie von Zeit zu Zeit zu wiederholenbitte, denn es wird mich alles vergessen lassen.
Das ist es, was Sie kühn gemacht hat, Maximilian, das ist es, was mir ein sehr süßes und zugleich sehr unglückliches Lebenbereitet, so daß ich mich oft frage, was für michbesser sei, der Kummer, den mir einst die Strenge meiner Stiefmutter und dieblindeBevorzugung ihres Kindes verursachten, oder das gefahrvolle Glück, das ichbei Ihrem Anblick genieße.
Gefahrvoll! rief Maximilian; können Sie ein so hartes und ungerechtes Wort aussprechen! Sie erlaubten mir zuweilen, ein Wort an Sie zu richten, Valentine, aber Sie verboten mir, Ihnen zu folgen; ich gehorchte. Habe ich, seitdem ich Gelegenheit fand, in dieses Gehege zu schlüpfen, durch diese Tür mit Ihnen zu plaudern, so nahebei Ihnen zu sein, ohne Sie zu sehen, — sprechen Sie, habe ich je um Erlaubnis gebeten, den Saum Ihres Kleides durch dieses Gitterberühren zu dürfen? Habe ich je einen Schritt getan, um über diese Mauer — bei meiner Jugend und meiner Kraft ein lächerliches Hindernis — zu gelangen? Nie vernahmen Sie von mir einen Vorwurf über Ihre Strenge, nie einen lauten Wunsch; ich hieltblindlings fest an meinem Wort, wie ein Ritter in den alten Zeiten. Gestehen Sie dies wenigstens zu, damit ich Sie nicht für ungerecht halte.
Das ist wahr, sagte Valentine, ihm zwischen zweiBrettern hindurch die Spitze eines ihrer zarten Fingerbietend, auf die Maximilian seine Lippen drückte; es ist wahr, Sie sind ein redlicher Freund. Aber Sie haben am Ende nur ausBerechnung so gehandelt, mein lieber Maximilian; Sie wußten, daß der Sklave von dem Tage an, wo erbegehrlich würde, alles verlieren müßte. Sie haben mir die Freundschaft einesBruders versprochen, mir, die keine Freundebesitzt, mir, die vom Vater vergessen, von der Stiefmutter verfolgt wird; mir, die als einzigen Trost nur den unbeweglichen, stummen, eisigen Greis hat, dessen Hand meine Hand nicht drücken kann, dessen Auge allein zu mir spricht und dessen Herz ohne Zweifel mit einem Überreste von Wärme für mich schlägt. Bitterer Hohn des Geschicks, das mich zur Feindin und zum Opfer aller derer macht, die stärker sind als ich, und mir einen Leichnam zur Stütze und zum Freunde gibt! Oh wahrlich, Maximilian, ich wiederhole Ihnen, ichbin sehr unglücklich, und Sie haben recht, wenn Sie mich um meiner selbst willen und nicht um Ihretwillen lieben.
Valentine, sagte der junge Mann, mit tiefer Rührung, ich sage nicht, daß ich Sie allein auf der Welt liebe, denn ich liebe auch meine Schwester und meinen Schwager, aber mit einer sanften, ruhigen Liebe, die in keiner Hinsicht dem Gefühle gleicht, das ich für Sie hege: Wenn ich an Sie denke, wallt meinBlut, schwillt meineBrust, strömt mein Herz über; doch diese Kraft, diese Glut, diese übermenschliche Macht, ich werde sie anwenden, um Siebis zu dem Tage zu lieben, wo Sie mir sagen, ich solle sie in Ihrem Dienste verwenden. Herr Franz d'Epinay wird, wie ich höre, noch ein Jahr abwesend sein; wie viele günstige Wechselfälle können in einem Jahre zu unsern Gunsten eintreten! Wie viele Ereignisse können uns unterstützen! Hoffen wir also, es ist so schön und süß, zu hoffen! Doch mittlerweile, Valentine, was sind Sie, die Sie mir meine Selbstsucht zum Vorwurf machen, was sind Sie für mich gewesen? Die schöne und kalteBildsäule der züchtigen Venus. Was haben Sie mir im Austausch für diese Ergebenheit, für diesen Gehorsam, für diese Zurückhaltung versprochen? Nichts; was haben Sie mirbewilligt? Sehr wenig. Sie erwähnen gegen mich des Herrn d'Epinay als Ihres Verlobten und seufzenbei dem Gedanken, eines Tages ihm zu gehören. Sprechen Sie, Valentine, ist das alles, was Sie im Gemüte tragen? Wie! ich verpfände Ihnen mein Leben, ich gebe Ihnen meine Seele, ich widme Ihnen auch den unbedeutendsten Schlag meines Herzens, und während ich Ihnen ganz gehöre, während ich mir ganz leise sage, daß ich sterben werde, wenn ich Sie verliere, erschrecken Sie nicht schonbei deinbloßen Gedanken, eines andern Gattin zu sein? Oh Valentine! Wenn ich wäre, was Sie sind, wenn ich mich geliebt fühlte, wie Sie sich zweifellos geliebt fühlen müssen, so hätte ich schon hundertmal meine Hand zwischen den Stangen dieses Gitters durchgestreckt, die Hand des armen Maximilian gedrückt und ihm gesagt: Dir allein, Maximilian, in dieser und in der andern Welt.
Valentine antwortete nicht, aber der junge Mann hörte sie seufzen und weinen.
Rasch tratbei ihm die Gegenwirkung ein.
Oh, Valentine, Valentine! rief er, vergessen Sie meine Worte, wenn darin etwas für SieBeleidigendes liegt!
Nein, sagte sie, Sie haben recht; aber sehen Sie nicht, daß ich ein armes Geschöpfbin, das so gut wie in einem fremden Hause leben muß? Mein Vater ist mir wirklich fast fremd, und mein Wille wird seit zehn Jahren, Tag für Tag, Minute für Minute durch den eisernen Willen von Gebietern gebrochen, deren Hand unendlich schwer auf mir liegt. Niemand sieht, was ich leide, und ich habe es auch außer Ihnen niemand gesagt. Scheinbar und in den Augen der Welt ist alles gut, ist alles liebevoll gegen mich, in Wirklichkeit aber ist mir alles feindselig. Die Welt sagt: Herr von Villefort ist zu ernst und zu streng, um sehr zärtlich gegen seine Tochter zu sein; aber sie hat wenigstens das Glück, in Frau von Villefort eine zweite Mutter zu finden. Die Welt täuscht sich, mein Vater ist völlig gleichgültig gegen mich, meine Stiefmutter haßt mich mit um so größerer Erbitterung, als sie diese durch einbeständiges Lächeln glaubt verschleiern zu müssen.
Sie hassen? Sie, Valentine! Und wie kann man Sie hassen?
Ach! mein Freund, ich muß gestehen, daß dieser Haß gegen mich von einem an sich sehr natürlichen Gefühle herrührt. Siebetet ihren Sohn, meinenBruder Eduard, an. — Nun?
Es kommt mir zwar sonderbar vor, daß ich eine Geldfrage in unser Gespräch mischen soll; aber ich glaube, mein Freund, daß ihr Haß davon herrührt. Da sie kein eigenes Vermögen hat, da ichbereits durch die Erbschaft meiner Mutter reichbin und sich dieses Vermögen noch durch das, welches mir eines Tages von Herrn und Frau von Saint‑Meran zukommen muß, mehr als verdoppeln wird, so glaube ich, daß sie neidisch ist. Oh, mein Gott! wenn ich ihr die Hälfte dieses Vermögens geben und mich dannbei Herrn Villefort wie eine Tochter im Hause ihres Vatersbefinden könnte, ich würde es auf der Stelle tun.
Arme Valentine!
Ja, ich fühle mich gekettet und fühle mich zugleich so schwach, daß es mir vorkommt, als stützten mich meine Fesseln, so daß ich mich davor fürchte, sie zu zerbrechen. Überdies ist mein Vater nicht der Mann, dessenBefehle man ungestraft übertreten dürfte; er ist mächtig gegen mich, er wäre mächtig gegen Sie, er wäre sogar mächtig gegen den König, beschützt durch eine vorwurfsfreie Vergangenheit und einebeinahe unangreifbare Stellung. Oh! Maximilian, ich schwöre Ihnen, ich kämpfe nicht, weil ich Sie nicht minder als mich in diesem Kampf zu Grunde zu richtenbefürchte.
Aber Valentine, versetzte Maximilian, warum auf diese Art verzweifeln, warum die Zukunft stets so düster sehen?
Ah! mein Freund, weil ich nach der Vergangenheit urteile.
Aber vergessen Sie nicht, daß ich auch Ihrem Vater kein unwillkommener Freier sein kann. Ich habe gute Aussichten in der Armee, ichbesitze einbeschränktes, aber unabhängiges Vermögen; das Andenken an meinen Vater endlich wirdbei uns als das eines der ehrlichsten Kaufleute, die je gelebt haben, verehrt. Ich sage, bei uns, Valentine, weil Sie halbund halbvon Marseille sind.
Sprechen Sie mir nicht von Marseille, Maximilian, dieses einzige Wort erinnert mich an meine gute Mutter, an diesen guten, von der ganzen Weltbeklagten Engel; an diese herrliche Frau, die, nachdem sie während ihres kurzen Aufenthaltes auf Erden über ihre Tochter gewacht, jetzt, so glaube ich sicher, im Himmel über sie wacht. Oh! wenn meine Mutter noch lebte, Maximilian, so hätte ich nichts mehr zu fürchten! Ich würde ihr sagen, daß ich Sie liebe, und sie würde unsbeschützen.
Ach! Valentine, entgegnete Maximilian, wenn sie noch lebte, würde ich Sie ohne Zweifel nicht kennen; denn Sie wären dann, wie Sie sagen, glücklich, und die glückliche Valentine hätte mich von ihrer Größe herabverächtlich angeschaut.
Ah! mein Freund! rief Valentine. Sie sind ebenfalls ungerecht… Doch, sagen Sie mir…
Was soll ich Ihnen sagen? versetzte Maximilian, als er Valentine zögern sah.
Sagen Sie mir, fuhr das Mädchen fort, waltete in Marseille nicht ein Mißverständnis zwischen Ihrem Vater und dem meinigen ob?
Nicht, daß ich wüßte, erwiderte Maximilian, wenn nicht dadurch, daß Ihr Vater ein mehr als eifriger Parteigänger derBourbonen und der meinige ein dem Kaiser ergebener Mann war; das ist, glaube ich, die einzige Uneinigkeit, die zwischen ihnen stattgefunden hat. Doch warum diese Frage, Valentine?
Ich will es Ihnen gestehen, versetzte das Mädchen, denn Sie müssen es wissen. Es war an dem Tage, an dem Ihre Ernennung zum Offizier der Ehrenlegion in der Zeitungbekannt gemacht wurde. Wirbefanden uns allebei meinem Großvater, Herrn Noirtier; außerdem war noch Herr Danglars zugegen, Sie wissen, derBankier, dessen Pferde vorgestern meiner Mutter und meinemBruderbeinahe den Tod gebracht hätten. Ich las die Zeitung meinem Großvater laut vor, während die Herren von der wahrscheinlichen Verheiratung des Herrn von Morcerf mit Fräulein Danglars sprachen. Als ich zu der Siebetreffenden Mitteilung kam, die mirbereitsbekannt war, denn Sie hatten mir am Tage vorher die frohe Kunde mitgeteilt, — war ich sehr glücklich, zitterte jedoch, daß ich Ihren Namen laut aussprechen sollte, und ich würde ihn gewiß übergangen haben, hätte ich nichtbefürchtet, man könnte mein Stillschweigen übel auslegen; ich raffte also meinen ganzen Mut zusammen und las.
Teure Valentine!
Nun wohl, sobald Ihr Name erklang, drehte mein Vater seinen Kopf; ich war so überzeugt — sehen Sie, wie töricht ichbin! — alle Welt würde von diesem Namen wie vom Donner gerührt werden, daß ich meinen Vater und sogar Danglars, bei dem es sicher eine Täuschung war, beben zu sehen glaubte.
Morel, sagte mein Vater mit gerunzelter Stirn. Sollte es einer von den Morels aus Marseille sein, einer von den wütendenBonapartisten, die uns im Jahre 1815 so übel mitgespielt haben?
Ja, erwiderte Herr Danglars, ich glaube sogar, daß es der Sohn des ehemaligen Reeders ist.
Wirklich? versetzte Maximilian; und was antwortete Ihr Vater, Valentine?
Oh! etwas Abscheuliches, das ich nicht wiederholen kann.
Sagen Sie es immerhin! sagte Maximilian lächelnd.
Ihr Kaiser wußte alle diese Fanatiker an ihren Platz zu stellen, fuhr er mit immer düstererer Stirn fort, er nannte sie Kanonenfutter, und das war der einzige Name, den sie verdienen; ich freue mich, daß die gegenwärtige Regierung dieses heilsame Prinzip wieder zur Ausübungbringt. Behielte sie Algerien auch nur aus diesem einzigen Grunde, so würde ich ihr Glück wünschen, obgleich es uns etwas viel kostet.
Das ist in der Tat eine ziemlich rohe Politik, sagte Maximilian; doch, meine teure Freundin, erröten Sie nicht über das, was Herr von Villefort gesagt hat. Meinbraver Vater gabinBezug auf diesen Punkt dem Ihrigen in keinerBeziehung nach, denn er wiederholte unablässig: Warumbildet der Kaiser, der so viel Schönes tut, nicht ein Regiment aus lauter Richtern und Advokaten und schickt sie immer ins erste Feuer? Sie sehen, die Parteien geben sich in der Wahl des Ausdrucks und der Feinheit des Gefühls nichts nach. Doch was sagte Herr Danglars zu diesem Ausfalle des Staatsanwaltes?
Oh! erbrach in jenes ihm eigentümliche, widerwärtige Gelächter aus; einen Augenblick nachher standen sie auf und gingen weg. Mein Großvater war sehr ergriffen. Ich muß Ihnen sagen, Maximilian, daß ich allein dieBewegungen im Innern dieses armen Gelähmten errate, und ich vermute, daß das Gespräch einen sehr starken Eindruck auf ihn hervorgebracht hatte, da er ein fanatischer Anhänger des Kaisers gewesen zu sein scheint.
Er ist wirklich einer derbekanntestenbonapartistischen Parteigänger, sagte Maximilian; er ist Senator gewesen und hat, wie Sie wissen, oder wie Sie nicht wissen, Valentine, fast an allen Verschwörungen unter der Restauration teilgenommen.
Ja, ich höre zuweilen ganz leise von diesen Dingen sprechen, die mir seltsam vorkommen; der GroßvaterBonapartist, der Vater Royalist… Kurz, ich wandte mich also zu ihm. Er deutete mit demBlicke auf die Zeitung.
Was haben Sie, guter Papa? sagte ich. Sind Sie zufrieden? — Er machte mit dem Kopfe einbejahendes Zeichen. — Mit dem, was mein Vater soeben gesagt hat? — Er machte ein verneinendes Zeichen. — Mit dem, was Herr Danglars gesagt hat? — Er machte abermals ein verneinendes Zeichen. — Damit also, daß Herr Morel zum Offizier der Ehrenlegion ernannt worden ist? — Er machte einbejahendes Zeichen.
Sollten Sie es glauben, Maximilian? Er freute sich darüber, daß Sie zum Offizier der Ehrenlegion ernannt wurden, er, der Sie nicht kennt; es ist vielleicht etwas Narrheitbei ihm, denn er fängt an kindisch zu werden, wie man sagt; doch ich liebe ihn wegen dieserBejahung.
Das ist seltsam, sagte Maximilian; Ihr Vater würde mich also hassen, während Ihr Großvater… Es ist doch etwas Sonderbares um die Liebe und den Haß der Parteien!
Still! rief plötzlich Valentine. Verbergen Sie sich, fliehen Sie, man kommt!
Maximilian eilte nach seinem Spaten und fing an, die Luzernen unbarmherzig umzugraben.
Mein Fräulein! mein Fräulein! rief eine Stimme hinter denBäumen; Frau von Villefort ruft und sucht sie überall, es istBesuch im Salon. Ein vornehmer Herr, ein Prinz, wie ich höre, der Graf von Monte Christo.
Ich komme, rief Valentine.
Sieh da! sagte Maximilian, nachdenkend auf seinen Spaten gestützt, zu sich selbst, woher kennt der Graf von Monte Christo Herrn von Villefort?
Giftkunde
Es war wirklich der Graf von Monte Christo, derbei Frau von Villefort in der Absicht erschien, denBesuch des Staatsanwalts zu erwidern, und es wurde, wie sich leicht denken läßt, durch seinen Namen das ganze Haus inBewegung gesetzt.
Frau von Villefortbefand sich allein im Salon, als man den Grafen meldete, und sie ließ sogleich ihren Sohn kommen, damit das Kind seine Danksagungbei Monte Christo wiederhole. Eduard, der seit zwei Tagen unablässig von dieser hohen Person hatte sprechen hören, lief eilig herbei, nicht aus Gehorsam gegen die Mutter und ebensowenig, um dem Grafen zu danken, sondern aus Neugierde und um irgend eine Wahrnehmung zu machen, mit deren Hilfe er einen Streich ausführen könnte, der seine Mutter stets zu der Äußerung veranlaßte: Oh! dasböse Kind; doch ich muß ihm verzeihen, es hat so viel Witz!
Nach dem ersten Austausche der gewöhnlichen Höflichkeiten erkundigte sich der Graf nach Herrn von Villefort.
Mein Gatte speistbeim Herrn Kanzler, antwortete die junge Frau; er ist soeben weggefahren und wird gewiß sehrbedauern, nicht das Glück zu haben, Sie zu sehen. Wo ist denn deine Schwester Valentine! sagte Frau von Villefort zu Eduard; manbenachrichtige sie, damit ich die Ehre haben kann, sie dem Herrn Grafen vorzustellen.
Sie haben eine Tochter, gnädige Frau? fragte der Graf; das muß noch ein Kind sein?
Es ist die Tochter des Herrn von Villefort, erwiderte die junge Frau; eine Tochter aus erster Ehe, eine hübsche, große Person.
Aber schwermütig, unterbrach sie Eduard.
Dieser junge Naseweis hat ziemlich recht und wiederholt nur, was er mich sehr oft mit Kummer hat sagen hören; denn Fräulein von Villefort ist, trotz allem, was wir zu ihrer Zerstreuung tun, von einem traurigen Charakter und von einer Schweigsamkeit, die häufig der Wirkung ihrer Schönheit Eintrag tut. In diesem Augenblick trat Valentine ein. Sie schien in der Tat traurig zu sein, undbei aufmerksamerBetrachtung hätte man in ihren Augen Spuren von Tränen wahrnehmen können.
Valentine war groß, schlank, achtzehn Jahre alt, hatte hell kastanienbraune Haare, dunkelblaue Augen und zeichnete sich durch den würdevollen Gang und durch die Haltung aus, die auch ihrer Mutter eigen gewesen war. Ihre weißen, zarten Hände, ihr Perlmutterhals, ihre rosig gefärbten Wangen verliehen ihrbeim ersten Anblick das Aussehen einer von den schönen Engländerinnen, die man so poetisch mit Schwänen verglichen hat, welche sich auf der Fläche des Wassers spiegeln.
Sie trat also ein und grüßte, als siebei ihrer Mutter den Fremden erblickte, von dem sie so viel hatte sprechen hören, ohne mädchenhafte Ziererei und ohne die Augen niederzuschlagen, mit einer Anmut, welche die Aufmerksamkeit des Grafen verdoppelte.
Fräulein von Villefort, meine Stieftochter, stellte Frau von Villefort vor.
Und der Herr Graf von Monte Christo, König von China, Kaiser von Cochinchina, rief der Knabe, seiner Schwester einen verstecktenBlick zuwerfend.
Diesmal erbleichte Frau von Villefort und war nahe daran, auf diese häusliche Geißel wirklich ärgerlich zu werden. Doch der Graf lächelte im Gegenteil und schien das Kind mit Wohlgefallen zubetrachten, was die Freude undBegeisterung seiner Mutter auf den höchsten Grad steigerte.
Aber, gnädige Frau, sagte der Graf, das Gespräch wieder anknüpfend und abwechselnd Frau von Villefort und Valentine anschauend, habe ich nichtbereits die Ehre gehabt, Sie irgendwo zu sehen, Sie und das Fräulein? Ich dachte soeben daran, und als das Fräulein eintrat, warf sein Anblick einen neuen Schimmer auf eine verworrene Erinnerung… verzeihen Sie mir diesen Ausdruck.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, Fräulein von Villefort liebt die Gesellschaft nur wenig, und wir gehen selten aus, sagte die junge Frau.
Auch habe ich das Fräulein, sowie Sie, gnädige Frau, und diesen reizenden Jungen nicht in der Gesellschaft gesehen. Die Pariser Gesellschaft ist mir übrigens völlig unbekannt, denn ich habe, wie ich glaube, bereits die Ehre gehabt, Ihnen zubemerken, daß ich erst seit ein paar Tagen in Parisbin. Nein, wenn Sie mir erlauben, einen Augenblick nachzudenken… Warten Sie…
Der Graf legte seine Hand an seine Stirn, als wollte er seine Erinnerungen zusammendrängen: Nein, es ist außerhalb… es ist… ich weiß nicht… aber es scheint mir, diese Erinnerung ist unzertrennlich von einer schönen Sonne und einem religiösen Feste… Das Fräulein hieltBlumen in der Hand; das Kind lief im Garten einem prächtigen Pfau nach, und Sie, gnädige Frau, saßen unter einer Weinlaube. Helfen Sie mir doch, gnädige Frau! Erinnern Sie sich an nichts?
In der Tat, nein, erwiderte Frau von Villefort.
Der Herr Graf hat uns vielleicht in Italien gesehen, bemerkte Valentine schüchtern.
In der Tat, in Italien… das ist möglich, sagte Monte Christo. Sie haben Italienbereist, mein Fräulein?
Frau von Villefort und ich waren vor zwei Jahren dort. Die Ärzte fürchteten für meineBrust und empfahlen mir die Luft in Neapel. Wir reisten nachBologna, Perugia und Rom.
Ah! so ist es, mein Fräulein, rief Monte Christo, als genüge diese einfache Andeutung, um seine Erinnerungen festzustellen. Es war in Perugia am Tage des Fronleichnamsfestes, im Garten des Gasthauses zur Post, wo der Zufall uns zusammenführte, und wo ich, wie ich mich nun entsinne, Sie zu sehen die Ehre gehabt habe.
Ich erinnere mich der Stadt Perugia vollkommen, mein Herr, und ebenso des Gasthauses zur Post und des Festes, von dem Sie sprechen, sagte Fran von Villefort; aber ich entsinne mich ganz und gar nicht, die Ehre gehabt zu haben, Sie dort zu sehen.
Ich will Ihnen helfen, versetzte der Graf. Der Tag war glühend heiß; Sie erwarteten Pferde, die wegen der Feierlichkeit nicht kamen. Das Fräulein ging in den Garten, und Ihr Sohn lief einem Vogel nach. Sie, gnädige Frau, verweilten unter der Weinlaube; erinnern Sie sich nicht, daß Sie, auf einer Steinbank sitzend, ziemlich lange mit jemand plauderten?
Ja, wahrhaftig ja, sagte die junge Frau errötend, ich entsinne mich dessen, mit einem Manne, der in einen langen wollenen Mantel gehüllt war… mit einem Arzte, glaube ich.
Ganz richtig, dieser Mann war ich; ich wohnte in dem Gasthofe und hatte meinen Kammerdiener vom Fieber geheilt, weshalbman mich für einen Arzt hielt. Wir plauderten lange von gleichgültigen Dingen, von Perugino, von Raphael, von Sitten und Gebräuchen, von jenerberüchtigten Aqua Tofana, von der man Ihnen, glaube ich, gesagt hatte, daß noch einige Personen in Perugia das Geheimnisbewahrten.
Ah! es ist wahr, sagte Frau von Villefort mit einer gewissen Unruhe, ich erinnere mich dessen.
Ich kann mich auf die Einzelheiten unserer Unterhaltung nicht mehrbesinnen, versetzte der Graf mit vollkommener Ruhe, doch weiß ich noch, daß Sie, den allgemeinen Irrtum über meine Person teilend, mich über die Gesundheit von Fräulein von Villefort um Rat fragten.
Aber Sie waren wirklich Arzt, da Sie Kranke heilten?
Molière oderBeaumarchais würden Ihnen antworten, gnädige Frau, daß ich, gerade weil ich es nicht war, meine Kranken zwar nicht geheilt habe, aber sie nicht gehindert habe zu genesen; ichbegnüge mich, Ihnen zubemerken, daß ich ziemlich gründlich die Chemie und die Naturwissenschaften studiert habe, aber nur als Liebhaber.
In diesem Augenblick schlug es sechs Uhr.
Es ist sechs Uhr, sagte Frau von Villefort sichtbar erregt; willst du nicht sehen, Valentine, obdein Großvater zur Mahlzeitbereit ist?
Valentine stand auf, verbeugte sich vor dem Grafen und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sprechen.
Oh! mein Gott, sollten Sie Fräulein von Villefort meinetwegen entfernt haben? sagte der Graf, als Valentine weggegangen war.
Durchaus nicht, erwiderte lebhaft die junge Frau; es ist die Stunde, wo wir Herrn Noirtier das traurige Mahl einnehmen lassen, das sein unglückliches Dasein fristet. Sie wissen, mein Herr, in welch einembeklagenswerten Zustande sich der Vater meines Gattenbefindet?
Ja, gnädige Frau, Herr von Villefort hat mir davon gesagt; eine Lähmung, glaube ich.
Ach! ja, der arme Greis ist jederBewegung unfähig, die Seele allein wacht in dieser menschlichen Maschine, aber ebenfallsbleich und zitternd, und wie eine Lampe, die dem Erlöschen nahe ist. Doch verzeihen Sie, mein Herr, daß ich Sie mit unserem häuslichen Unglück unterhalte. Ich unterbrach Sie in dem Augenblick, wo Sie mir sagten, Sie seien ein geschickter Chemiker.
Oh! das sagte ich nicht, gnädige Frau, entgegnete lächelnd der Graf; im Gegenteil, ich studierte die Chemie, weil ich, entschlossen, im Orient zu leben, dasBeispiel des Königs Mithridatesbefolgen wollte.
Mithridates, rex Ponticus, rief der junge Naseweis, während er Silhouetten aus einem herrlichen Album schnitt, derselbe, der jeden Morgen eine Tasse Gift mit Rahm frühstückte.
Eduard, abscheuliches Kind, laß uns allein! rief Frau von Villefort, das verstümmelteBuch den Händen des Knaben entreißend, und führte ihn zur Tür. Suche deine Schwesterbei dem guten Papa Noirtier auf.
Der Graf folgte ihr mit den Augen und murmelte: Ich will doch sehen, obsie die Tür hinter ihm schließt.
Frau von Villefort schloß die Tür mit der größtenBehutsamkeit hinter ihrem Sohne, der Graf gabsich den Anschein, alsbemerkte er es nicht. Dann schaute die junge Frau noch einmal aufmerksam umher und setzte sich wieder.
Erlauben Sie mir, Ihnen zubemerken, gnädige Frau, sagte der Graf mit gutmütigem Tone, erlauben Sie mir, Ihnen zubemerken, daß Sie sehr streng gegen diesen reizenden Jungen sind.
Ich muß wohl, Herr Graf, erwiderte Frau von Villefort mit einem wahrhaft mütterlichen Ausdrucke.
Herr Eduard rezitierte seinen Cornelius Nepos, als er vom König Mithridates sprach, und Sie unterbrachen ihnbei Anführung einer Stelle, wodurch erbewies, daß sein Lehrer die Zeit nicht mit ihm verloren hat.
Es ist nicht zu leugnen, Herr Graf, sagte die Mutter geschmeichelt, daß er alles lernt, was er lernen will. Er hat nur den Fehler, daß er zu eigensinnig ist. Doch um auf das zu kommen, was er vorhin sagte, glauben Sie, Herr Graf, daß sich Mithridates dieser Vorsichtsmaßregelnbediente, und daß dieselben wirksam sind?
Ich glaube so sehr daran, gnädige Frau, daß ich selbst, der ich mit Ihnen spreche, in Neapel, in Palermo und in Smyrna, das heißt, bei drei Veranlassungen, wo ich ohne diese Vorsichtsmaßregeln mein Leben hätte lassen können, davon Gebrauch gemacht habe.
Ja, es ist wahr; ich erinnere mich, daß Sie mirbereits etwas Ähnliches in Perugia erzählten.
Wirklich? rief der Graf mit einembewunderungswürdig gespielten Erstaunen; ich entsinne mich dessen nicht. Es ist wahr, ich habe Russen, ohne im geringsten dadurchbelästigt zu werden, vegetabilische Substanzen verschlingen sehen, die unfehlbar einen Neapolitaner oder einen Araber umgebracht hätten.
Sie glauben also, der Erfolg seibei uns noch sicherer, als im Orient, und in unserm nebeligen und regnerischen Klima gewöhne sich ein Mensch leichter an diese stufenweise Einsaugung des Giftes als in der heißen Zone?
Allerdings: doch wohl verstanden, man wird nur gegen das Gift geschützt sein, an das man sich gewöhnt hat?
Ichbegreife; und wie würden Sie sich daran gewöhnen oder vielmehr, wie haben Sie sich daran gewöhnt?
Das ist ganz leicht. Nehmen Sie an, Sie wüßten zum voraus, welches Giftes man sich gegen Siebedienen will, nehmen Sie an, dieses Gift sei…Brucin zumBeispiel.
DasBrucin zieht man, glaube ich, aus der falschen Angosturarinde, sagte Frau von Villefort.
Ganz richtig, gnädige Frau; aber ich sehe, ichbrauche Sie nicht mehr viel zu lehren, und mache Ihnen mein Kompliment; solche Kenntnisse sind seltenbei Frauen.
Oh! ich gestehe, erwiderte Frau von Villefort, ich habe die heftigste Leidenschaft für die verborgenen Wissenschaften, die wie Poesie zur Einbildungskraft sprechen und sich wie eine algebraische Gleichung in Ziffern auflösen; ichbitte Sie, fahren Sie fort! Was Sie mir sagen, interessiert mich im höchsten Grade.
Nun wohl, fuhr Monte Christo fort, nehmen Sie an, dieses Gift seiBrucin, und Sie nehmen am ersten Tage ein Milligramm, am zweiten zwei Milligramm, so haben Sie nach Verlauf von zehn Tagen ein Zentigramm, nach Verlauf von weiteren zwanzig Tagen drei Zentigramm, das heißt eine Dosis, diebereits für eine nicht ebenso vorbereitete Person sehr gefährlich wäre. Nach Verlauf eines Monats endlich werden Sie, wenn Sie Wasser aus derselben Flasche trinken, die Person töten, die zugleich mit Ihnen von diesem Wasser getrunken hat, ohne an etwas anderem als an einer leichten Unbehaglichkeit wahrzunehmen, daß irgend eine giftige Substanz mit dem Wasser vermischt gewesen ist.
Sie kennen kein anderes Gegengift?
Ich kenne keines.
Ich habe oft Mithridates' Geschichte gelesen, hielt sie aber stets für eine Fabel, sagte Frau von Villefort nachdenkend.
Nein, es ist ausnahmsweise eine Wahrheit; doch was Sie mich da fragen, gnädige Frau, ist nicht das Resultat einerbloßen Laune, denn Sie richtetenbereits vor zwei Jahren ähnliche Fragen an mich, und Sie sagen mir soeben, seit langer Zeitbeschäftige Sie Mithridates' Geschichte.
Es ist wahr, die Lieblingsstudien meiner Jugend warenBotanik und Mineralogie, und als ich später erfuhr, die Anwendung einfacher Heilmittel erkläre häufig die ganze Geschichte der Völker und das ganze Leben der Menschen des Orients, sobedauerte ich, daß ich kein Mannbin, um ein Fontana oder ein Cabanis zu werden.
Um so mehr, versetzte Monte Christo, als die Orientalen sich, nicht, wie Mithridates, damitbegnügen, sich aus den Giften einen Panzer zu machen, sondern sich auch einen Dolch darausbilden. Die Wissenschaft wird in ihren Händen nicht allein eine Verteidigungs-, sondern häufig auch eine Angriffswaffe, die eine dient gegen die physischen Leiden, die andere gegen ihre Feinde; mit dem Opium, mit derBelladonna, mit dem Haschisch verschaffen sie sich im Traume das Glück, das ihnen Gott in Wirklichkeit verweigert hat; mit dem Schlangenholz, mit dem Kirschlorbeer schläfern sie die ein, die sie gern stumm machen wollen.
Wirklich! rief Frau von Villefort, deren Augenbei diesem Gespräche von einem seltsamen Feuer erglänzten.
Ei, mein Gott! ja, gnädige Frau, fuhr Monte Christo fort, die geheimen Dramen des Orients entstehen und entwickeln sich so: von der Pflanze, die Liebe erregt, bis zur Pflanze, die den Todbringt; von dem Tranke, der den Himmel öffnet, bis zu dem, der einen Menschen in die Hölle versenkt; und die Kunst dieser Chemiker versteht esbewundernswert, das Mittel und das Übel den Liebesbedürfnissen und dem Verlangen der Rache anzupassen.
Aber, mein Herr, die orientalische Gesellschaft, in deren Mitte Sie einen Teil Ihres Lebens zugebracht haben, ist also wirklich phantastisch wie die Märchen, die aus Ihrem schönen Lande zu uns kommen? Ein Mensch kann dort ungestraft aus dem Wege geschafft werden? Die Sultane sind in der Tat Harun al Raschids, die nicht nur einem Giftmischer vergeben, sondern ihn sogar zum ersten Minister machen, wenn das Verbrechen geistreich ist?
Nein, gnädige Frau, das Phantastischebesteht nicht einmal mehr im Orient, es gibt auch dort, unter anderen Namen und unter anderen Kostümen Polizeikommissare, Untersuchungsrichter, Staatsanwälte und Sachverständige. Man hängt, man köpft, man spießt dort die Verbrecher nach Herzenslust; aber als gewandteBetrüger wußten diese Leute die menschliche Gerechtigkeit zu vereiteln und sich den Erfolg ihrer Unternehmungen durch geschickteBerechnungen zu sichern. Willbei uns der vombösen Geist des Hasses oder der HabgierBesessene einen Feind vernichten oder einen Verwandten auf die Seite schaffen, so geht er zum Apotheker, gibt einen falschen Namen an, durch den er leichter entdeckt wird, als durch seinen wahren, und kauft, unter dem Vorwande, Ratten störten ihn im Schlafe, fünfbis sechs Gramm Arsenik. Ist er sehr geschickt, so geht er zu fünfbis sechs Apothekern und wird nun fünf‑bis sechsmal leichter erkannt. Besitzt er dann sein spezifisches Mittel, so flößt er seinem Feinde, seinem Verwandten eine Dosis Arsenik ein, wovon ein Mammut umkommen würde, so daß das Opfer ohne alles weitere ein Gebrüll ausstößt, worüber die ganze Gegend in Aufruhr gerät. Dann kommt eine ganze Heerschar von Polizeiagenten und Gendarmen; man schickt nach einem Arzte, der den Toten öffnet und in seinen Eingeweiden das Arsenik mit Löffeln sammelt. Am andern Tag erzählen hundert Zeitungen dieBegebenheit, samt dem Namen des Opfers und des Mörders. Schon an demselben Abend kommen die Apotheker und sagen: Ich habe das Arsenik an den Herrn verkauft; und dann wird der einfältige Verbrecher verhaftet, eingekerkert, verhört, konfrontiert, verurteilt und guillotiniert; ist es aber eine Frau von einigerBedeutung, so wird sie auf Lebenszeit eingesperrt. So verstehen Ihre Nordländer die Chemie, gnädige Frau.
Was wollen Sie! rief lachend die junge Frau, man tut, was man kann. Nicht alle Weltbesitzt das Geheimnis der Medici oder derBorgia.
Wie ist es aber im Orient, gnädige Frau? Kommen Sie nach Aleppo oder auch nur nach Neapel und Rom, und Sie sehen durch die Straßen aufrechte, frische Menschen schreiten, von denen ihnen der hinkende Teufel sagen könnte: Dieser Herr ist seit drei Wochen vergiftet und wird in einem Monat völlig tot sein.
Sie haben also das Geheimnis derberüchtigten Aqua Tofana wiedergefunden, von dem man mir in Perugia sagte, es sei verloren gegangen?
Ei, mein Gott! verliert sich etwasbei den Menschen, gnädige Frau? Die Künste rücken von der Stelle und wandern durch die Welt; die Dinge verändern nur ihren Namen, und der gemeine Haufe läßt sich dadurch täuschen; aber es ist immer dasselbe Resultat. Jedes Gift wirktbesonders auf dieses oder jenes Organ, das eine auf den Magen, das andere auf das Gehirn, und wieder ein anderes auf die Eingeweide. Gut, das Giftbewirkt einen Husten, dieser Husten eineBrustentzündung oder irgend eine andere Krankheit, die imBuche der Wissenschaft eingetragen ist, was sie aber nicht abhält, vollkommen tödlich zu sein. Wäre sie es nicht, so würde sie es durch die Mittel, welche die naiven Ärzte, gewöhnlich sehr schlechte Chemiker, anwenden; und so ist ein Mensch mit Kunst und nach allen Regeln getötet, wogegen die Justiz nichts einzuwenden hat, wie einer meiner Freunde, ein furchtbarer Chemiker, der ausgezeichnete Abbé Adelmonte von Taormina in Sizilien, sagte.
Das ist schrecklich, aberbewunderungswürdig, ich muß gestehen, ich hielt alle diese Geschichten für Erfindungen des Mittelalters. Es ist ein Glück, sagte Frau von Villefort, daß solche Substanzen nur von Chemikernbereitet werden können, denn, in der Tat, die eine Hälfte der Welt würde die andere vergiften.
Durch Chemiker oder durch Personen, die sich mit der Chemiebeschäftigen, erwiderte mit gleichgültigem Tone Monte Christo.
Und dann, sagte Frau von Villefort, sich mit aller Gewalt ihren Gedanken entreißend, so geistreich es auch ausgeführt sein mag, sobleibt das Verbrechen doch immer Verbrechen, und wenn es der menschlichen Nachforschung entgeht, so entgeht es nicht dem Auge Gottes. Die Orientalen sind gewissenloser als wir; sie kennen keine Hölle. Bei uns aberbleibt immer das Gewissen noch übrig.
Ja, ja, erwiderte Monte Christo, zum Glückbleibt das Gewissen noch übrig, sonst wären wir sehr unglücklich. Nach jeder etwas kräftigen Handlung rettet uns das Gewissen, denn es liefert uns tausend gute Entschuldigungen, über die wir allein zu Gericht sitzen, und diese Gründe, so vortrefflich sie auch sein mögen, um uns den Schlaf zu gestatten, wären doch vielleicht nicht viel wert, wenn sie uns vor einem Tribunal das Leben retten sollten. So mußte Richard III. vortrefflich von seinem Gewissenbedient sein, nachdem er die Kinder Eduards IV. auf die Seite geschafft hatte. Er konnte sich in der Tat sagen: Diese Kinder eines grausamen und rachsüchtigen Königs hatten alle Laster ihres Vaters geerbt, was ich allein in ihren jugendlichen Neigungen zu erkennen imstande war, diese Kinder hinderten mich, das englische Volk glücklich zu machen, das sie unfehlbar unglücklich gemacht hätten. So wurde Lady Macbeth von ihrem Gewissenbedient, denn sie wollte, was auch Shakespeare gesagt hat, nicht ihrem Gemahle, sondern ihrem Sohne einen Thron geben. Ah! die mütterliche Liebe ist eine große Tugend, eine so mächtige Triebfeder, daß sie gar viele Dinge entschuldigt; Lady Macbeth wäre auch nach dem Tode Duncans ohne ihr Gewissen eine sehr unglückliche Frau gewesen.
Frau von Villefort nahm mit größter Gier diese furchtbaren Grundsätze, diese schauderhaftenBehauptungen in sich auf, die der Graf mit der ihm eigentümlichen naiven Ironie aussprach.
Nach einem Augenblick des Stillschweigens sagte sie: Wissen Sie, Herr Graf, daß Sie ein furchtbarer Geist sind, und daß Sie die Welt unter einem etwas leichenfarbigen Lichte ansehen? Haben Sie dieses Urteil über die Menschheit gewonnen, indem Sie sie durch Destillierkolben und Retortenbetrachteten? Denn Sie hatten recht, Sie sind ein großer Chemiker, und das Elixier, das Sie meinen Sohn nehmen ließen, rief ihn so schnell zum Leben zurück…
Oh! trauen Sie ihm nicht, sagte Monte Christo, ein Tropfen von diesem Elixier genügte, um den sterbenden Knaben ins Leben zurückzurufen; aber drei Tropfen hätten dasBlut so nach seiner Lunge getrieben, daß sein Herz gar gewaltig geschlagen hätte; sechs hätten ihm den Atem versetzt und eine viel ernstere Ohnmacht verursacht, als die war, in der Sie ihn erblickten, und zehn würden ihn getötet haben. Sie wissen, gnädige Frau, wie rasch ich ihn von den Flaschen entfernte, die er unklugerweiseberührte?
Es ist also ein furchtbares Gift?
Oh, mein Gott! nein! Räumen wir vor allem das Wort Giftbeiseite, denn manbedient sich in der Medizin der stärksten Gifte, die durch die Art, wie man sie anwendet, sehr heilsame Arzneimittel werden.
Was war es denn?
Ein geistreiches Präparat von meinem Freunde, dem vortrefflichen Adelmonte, dessen Anwendung er mich gelehrt hat.
Das muß ein vortreffliches Mittel gegen Krämpfe sein!
Ausgezeichnet, gnädige Frau, ich mache häufig Gebrauch davon; versteht sich mit aller möglichen Vorsicht, fügte der Graf lachend hinzu.
Ich glaube es wohl, versetzte Frau von Villefort in demselben Tone. Ich meinesteils, die so sehr zu Ohnmächten geneigt ist, könnte wohl einen Doktor Adelmontebrauchen, der mir Mittel ersänne, daß ich frei atmen und mich über die Gefahr, eines Tags an Erstickung zu sterben, beruhigen könnte. Da jedoch die Sache in Frankreich schwer zu finden ist und Ihr Abbé mir zuliebe wohl nicht geneigt sein wird, die Reise nach Paris zu machen, so halte ich mich an die krampfstillenden Mittel des HerrnBlanche; auch Minze und Hoffmannsche Tropfen spielen eine große Rollebei mir. Sehen Sie die Pastillen, die ich mirbesonders machen lasse, sind von doppelter Dosis.
Monte Christo eröffnete die Schildpattbüchse, die ihm die junge Frau reichte, und zog den Geruch der Pastillen als ein würdiger Kenner dieses Präparates ein.
Sie sind ausgezeichnet, sagte er, aber sie müssen verschluckt werden, wozu die ohnmächtige Person oft nicht mehr imstande ist. Mein Spezifikum ist mir lieber.
Nach der Wirkung, die ich davon gesehen habe, würde ich es gewiß auch vorziehen, doch es ist ohne Zweifel ein Geheimnis, und ichbin nicht unbescheiden genug, Sie darum zubitten.
Aber ich, gnädige Frau, sagte Monte Christo, gestatte mir, es Ihnen anzubieten.
Oh, mein Herr…
Nur erinnern Sie sich, daß eine kleine Dosis ein Heilmittel, eine große Gift ist. Ein Tropfenbringt wieder zum Leben, fünf oder sechs müßten unfehlbar töten, und zwar auf eine um so schrecklichere Weise, als sie in einem Glase Wein nicht im geringsten den Geschmack verändern. Doch ich schweige, gnädige Frau, denn es siehtbald so aus, als wollte ich Ihnen raten.
Es hatte halbsieben Uhr geschlagen; man meldete eine Freundin der Frau von Villefort, die mit ihr zu Mittag speisen sollte.
Wenn ich die Ehre hätte, Sie zum dritten oder vierten Male, statt zum zweiten Male zu sehen, Herr Graf, sagte Frau von Villefort, wenn ich die Ehre hätte, mich Ihre Freundin nennen zu dürfen, statt nur einfach das Glück zu haben, Ihnen verbunden zu sein, so würde ich daraufbestehen, Siebeim Mittagsessen zubehalten, und ließe mich nicht durch eine Weigerung abweisen.
Tausend Dank, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, ich habe selbst eine Verbindlichkeit, der ich mich nicht entziehen kann. Ich versprach einer mirbefreundeten griechischen Fürstin, die noch nie die große Oper gesehen hat und in dieser Hinsicht auf mich zählt, sie ins Theater zu führen.
Gehen Sie, Herr Graf, aber vergessen Sie mein Rezept nicht!
Wie, gnädige Frau, dazu müßte ich die Stunde vergessen, die ich mit Ihnen im Gespräche zugebracht habe, und das ist völlig unmöglich. Der Graf von Monte Christo verbeugte sich und verließ den Salon.
Frau von Villefortbliebin Träume versunken.
Wahrlich, ein seltsamer Mann! sagte sie, er sieht mir ganz aus, als hieße er mit seinem wirklichen Namen Adelmonte.
Was Monte Christobetrifft, so hatte der Erfolg seine Erwartungen übertroffen.
Das ist ein guterBoden, sagte er im Weggehen zu sich selbst, ichbin überzeugt, daß das Korn, das man daraus fallen läßt, nicht unfruchtbarbleibt.
Und am andern Tage schickte er seinem Versprechen getreu das verlangte Elixier.
Robert der Teufel
Der Vorwand des Opernbesuchs war um so näherliegend, als am Abend eine Feierlichkeit in der Akademie royale de Musique stattfinden sollte.
Morcerf hatte, wie die meisten reichen jungen Leute, seinen Orchestersperrsitz und konnte außerdem in zehn Logen von Personen seinerBekanntschaft einen Platz haben. Chateau‑Renaud hatte seinen Sperrsitz zunächstbei ihm. Beauchamp hatte als Journalist seinen Platz überall.
Lucien Debray war an diesem Tage die Loge des Ministers zur Verfügung gestellt, und er hatte sie dem Grafen von Morcerf angeboten, der auf Mercedes' Ablehnung zu Danglars schickte und ihm sagen ließ, er würde wahrscheinlich am Abend derBaronin und ihrer Tochter einenBesuch machen, wenn die Damen die Loge, die er ihnen antrage, annehmen wollten. Die Damen hüteten sich wohl, die Einladung auszuschlagen. Niemand ist so lüstern nach Logen, die nichts kosten, als ein Millionär. Was Danglarsbetrifft, so erklärte dieser, seine politischen Grundsätze und seine Eigenschaft als oppositioneller Abgeordneter erlaubten ihm nicht, in die Loge des Ministers zu gehen. DieBaronin schriebsogleich Lucien, er möge sie abholen, da sie nicht allein mit Eugenie in die Oper fahren könnte.
In der Tat, wären diebeiden Frauen allein gekommen, so hätte man das sicherlich sehr anstößig gefunden. Wenn aber Fräulein Danglars mit ihrer Mutter und deren Liebhaber erschien, so war dagegen nichts einzuwenden; man muß die Welt nehmen, wie sie ist.
Ah! ah! sagte Chateau‑Renaud, dort sind Personen IhrerBekanntschaft, Vicomte. Was zum Teufel schauen Sie denn rechts! Man sieht Sie.
Albert wandte sich um, und seine Augenbegegneten wirklich denen derBaronin Danglars, die ihn leicht mit dem Fächerbegrüßte. Was Fräulein Eugeniebetrifft, so senkten sich ihre großen, schwarzen Augen kaumbis zum Orchester.
In der Tat, mein Lieber, fuhr Chateau‑Renaud fort, ichbegreife nicht, was Sie, abgesehen von der Mesalliance, gegen Fräulein Danglars einzuwenden haben; es ist wirklich eine sehr hübsche Person.
Allerdings sehr hübsch, erwiderte Albert; doch ich muß Ihnen gestehen, daß ich inBeziehung auf Schönheit etwas Milderes, Zarteres, Weiblicheres vorziehen würde.
So sind die jungen Leute, versetzte Chateau‑Renaud, der sich als ein Mann von dreißig Jahren Morcerf gegenüber ein väterliches Ansehen gab; Sie sind nie zufrieden. Wie, mein Lieber, man findet für Sie eineBraut, die nach dem Muster Dianas geschaffen scheint, und Sie fühlen sich dadurch nichtbefriedigt!
Das ist es gerade, ich hätte mir lieber etwas in der Art der Venus von Milo gewünscht. Stets mitten unter ihren Nymphen, erschreckt mich diese Diana ein wenig; ich fürchte, sie könnte mich als Actäonbehandeln.
In der Tat, einBlick auf das Mädchen erklärte zum Teil Morcerfs Gefühl. Fräulein Danglars war schön, aber von einer etwas starren Schönheit. Ihre Haare waren sehr schwarz, doch in ihren natürlichen Wellenbemerkte man einen gewissen Widerstand gegen die Hand, die ihnen ihren Willen aufnötigen wollte; ihre Augen, schwarz wie die Haare, überwölbt von herrlichenBrauen, die nur den Fehler hatten, daß sie sich zuweilen zusammenzogen, warenbesonders merkwürdig durch einen Ausdruck von Festigkeit, den man in demBlicke eines Mädchens erstaunlich finden mußte. Ihr Mund war etwas groß, aber mit schönen Zähnen geschmückt, welche ihre Lippen nochbedeutend hervorhoben, deren zu lebhaftes Rot von derBlässe ihrer Gesichtsfarbe stark abstach. Ein schwarzes Mal endlich an der Ecke des Mundes verlieh vollends dieser Physiognomie den entschiedenen Charakter, der Morcerf ein wenig erschreckte. Alles übrige an ihr stand indessen im Einklang mit dem Kopf. Sie war, wie Chateau‑Renaud sagte, die jagende Diana, nur mit etwas noch Festerem, noch Muskulöserem in ihrer Schönheit.
Ihre Erziehung schien, wie gewisse Züge ihrer Physiognomie, einen mehr männlichen Charakter zu tragen. Sie sprach mehrere Sprachen, zeichnete sehr leicht, machte Verse und komponierte; besonders leidenschaftlich war sie für die Musik eingenommen, die sie mit einer ihrer Freundinnen aus der Pension studierte, einer jungen Person ohne Vermögen, die jedoch alle Anlagen hatte, eine vortreffliche Sängerin zu werden. Ein großer Komponist hegte, wie man sagte, für sie eine mehr als väterliche Teilnahme, und hatte ihr die Hoffnung eingeflößt, sie würde eines Tags ein Kapital in ihrer Stimme finden.
Die Möglichkeit, daß Fräulein Lucie d'Armilly, so hieß die junge Künstlerin, später einmal auf derBühne auftrat, veranlaßte Fräulein Danglars, wenn sie auch das junge Mädchenbei sich empfing, sich doch nie öffentlich in seiner Gesellschaft zu zeigen. Ohne indessen in dem Hause desBankiers die unabhängige Stellung einer Freundin der Tochter des Hauses zu haben, nahm Lucie immerhin einen höheren Rang ein, als den einer gewöhnlichen Lehrerin.
Einige Sekunden nach dem Eintritt derBaronin Danglars sahen die jungen Leute, daß das Parterre sich erhoben hatte und aller Augen sich auf einen Punkt richteten; ihreBlicke folgten der allgemeinen Richtung und hafteten an der Loge des ehemaligen russischenBotschafters. Ein Mann in schwarzer Kleidung von etwa vierzig Jahren war mit einer Frau in orientalischem Kostüm eingetreten. Die Frau war von der höchsten Schönheit und das Kostüm auffallend reich.
Ah! rief Albert, es ist Monte Christo mit seiner Griechin.
Es waren wirklich der Graf und Haydee. Nach weniger als einer Minute war die junge Frau der Gegenstand der Aufmerksamkeit des ganzen Saales; die Frauen neigten sich aus ihren Logen heraus, um unter dem Feuer des Kronenleuchters diese Kaskade von Diamanten funkeln zu sehen.
Der zweite Akt ging unter dem dumpfen Geräusche vorüber, dasbei versammelten Massen ein großes Ereignis andeutet. Niemand dachte daran, Stillschweigen zu fordern. Diese junge, schöne, blendende Frau war das seltsamste Schauspiel, das man sehen konnte.
Diesmal deutete ein Zeichen von Frau Danglars Albert unzweideutig an, daß er erwartet werde. Sobald der Aktbeendigt war, eilte er auf die Vorbühne. Erbegrüßte diebeiden Frauen und reichte Debray die Hand.
DieBaronin empfing ihn mit reizendem Lächeln und Eugenie mit ihrer gewöhnlichen Kälte.
Meiner Treu, Freund, sagte Debray, Sie sehen in mir einen ganz erschöpften Menschen, der Sie um Hilfe ruft, um wieder zu Kräften zu kommen. Die FrauBaronin drückt mich zuBoden mit Fragen über den Grafen, und ich soll wissen, von wo er ist, woher er kommt und wohin er geht; ichbin, bei Gott, kein Cagliostro, und um mich aus der Klemme zu ziehen, sagte ich: Fragen Sie Morcerf, er kennt seinen Monte Christo an den Fingern auswendig. Hierauf machte man Ihnen ein Zeichen.
Ist es denn glaublich, sagte dieBaronin, daß man, wenn man eine halbe Million geheime Fonds zur Verfügung hat, nichtbesser unterrichtet ist?
Gnädige Frau, entgegnete Lucien, ichbitte Sie, zu glauben, daß ich, wenn ich eine halbe Million zu meiner Verfügung hätte, sie zu etwas anderem verwenden würde, als über Herrn Monte Christo Erkundigungen einzuziehen, denn in meinen Augen hat er kein anderes Verdienst, als daß er zweimal so reich ist, als ein Nabob. Ich habe meinem Freunde Morcerf das Wort abgetreten, besprechen Sie sich mit ihm… mich geht es nichts mehr an.
Ein Nabobhätte mir sicherlich nicht ein Paar Pferde von dreißigtausend Franken, nebst vier Diamanten an den Ohren, von denen jeder fünftausend Franken wert ist, zugeschickt!
Oh! was die Diamantenbetrifft, erwiderte lachend Morcerf, das ist seine Manie. Ich glaube, daß er, wie Potemkin, stets Diamanten in seinen Taschen trägt und sie auf seinem Wege ausstreut, wie es der kleine Däumling mit seinen Kieselsteinen machte.
Er wird eine Mine gefunden haben, sagte Frau Danglars. Sie wissen, daß er einen unumschränkten Kredit auf das Haus desBarons hat.
Nein, das wußte ich nicht, aber es muß so sein, versetzte Albert.
Und daß er Herrn Danglars ankündigte, er gedenke, ein Jahr in Paris zubleiben und hier sechs Millionen auszugeben!
Er ist der Schah von Persien, der inkognito reist.
Und diese Frau, Herr Lucien, fragte Eugenie, haben Siebemerkt, wie schön sie ist?
In der Tat, mein Fräulein, ich kenne niemand, der den Personen Ihres Geschlechts so volle Gerechtigkeit widerfahren läßt, wie Sie.
Lucien hielt sein Lorgnon an das Auge und rief: Reizend, in der Tat, reizend!
Und weiß Herr von Morcerf, wer sie ist?
Mein Fräulein, sagte Albert, auf diese fast unmittelbare Aufforderung erwidernd; ich weiß es so ungefähr, wie alles, was die geheimnisvolle Personbetrifft, mit der wir unsbeschäftigen. Diese Frau ist eine Griechin.
Das sieht man leicht an ihrer Tracht, und Sie sagen mir nichts, was nichtbereits der ganze Saal so gut wüßte, wie wir.
Es tut mir leid, daß ich ein so unwissender Ciceronebin, entgegnete Morcerf; doch ich muß gestehen, daß sich meine Kenntnisse hieraufbeschränken. Ich weiß überdies nur noch, daß sie vortrefflich musikalisch ist, denn als ich eines Tagesbei dem Grafen frühstückte, hörte ich die Töne einer Guzla, die nur von ihr kommen konnten.
Ihr Graf empfängt also? fragte Frau Danglars.
Und zwar auf eine glänzende Weise, das schwöre ich Ihnen.
Ich muß Herrn Danglarsbewegen, ihn zum Diner und zumBall einzuladen, damit er uns ähnlichesbietet.
Wie! Sie wollen ihnbesuchen? sagte Debray lachend.
Warum nicht? Mit meinem Manne!
Aber der geheimnisvolle Graf ist Junggeselle.
Sie sehen, daß dies nicht der Fall ist, entgegnete dieBaronin, ebenfalls lachend und auf die schöne Griechin deutend.
Diese Frau ist eine Sklavin, wie er uns, Sie erinnern sich, Morcerf, bei Ihrem Frühstück selbst gesagt hat?
Gestehen Sie, mein lieber Lucien, sagte dieBaronin, daß sie vielmehr das Aussehen einer Prinzessin hat.
Aus Tausendundeiner Nacht.
Aus Tausendundeiner Nacht, das sage ich nicht; doch was macht eine Prinzessin aus, mein Lieber? Die Diamanten, und damit ist sie zur Genügebedeckt.
Sie hat sogar zu viele Diamanten an sich, sagte Eugenie; sie wäre schöner ohnedies, denn man würde ihren Hals und ihre reizend geformten Handgelenke sehen. Oh, die Künstlerin! Sehen Sie, wie leidenschaftlich sie wird! sagte Frau Danglars.
Ich liebe alles, was schön ist, sagte Eugenie.
Aber was sagen Sie denn zu dem Grafen? fragte Debray, es scheint mir, er ist auch nicht übel.
Der Graf, entgegnete Eugenie, als wäre es ihr noch nicht eingefallen, ihn anzuschauen, der Graf ist sehrbleich.
Gerade in dieserBlässe liegt das Geheimnis, das wir suchen, sagte Morcerf. Die Ihnenbekannte Gräfin die dort in der Seitenloge sitzt, behauptet, wie Sie wissen, er sei ein Vampir.
Morcerf, Sie sollten Ihrem Grafen von Monte Christo einenBesuch machen und ihn zu unsbringen, sagte Frau Danglars.
Warum? fragte Eugenie.
Damit wir mit ihm sprechen könnten; bist du nichtbegierig, ihn zu sehen?
Nicht im geringsten.
Seltsames Kind! murmelte dieBaronin.
Oh! er wird wohl von selbst kommen, sagte Morcerf. Er hat Sie gesehen, gnädige Frau, und grüßt Sie soeben.
DieBaronin gabdem Grafen seinen Gruß mit einem reizenden Lächeln zurück.
Wohl, ich opfere mich, sagte Morcerf; ich verlasse Sie und will sehen, obes nicht möglich ist, mit ihm zu sprechen.
Das ist ganz einfach, gehen Sie in seine Loge.
Ichbin nicht vorgestellt.
Wem?
Der schönen Griechin.
Es ist eine Sklavin, sagen Sie.
Doch Siebehaupten, es sei eine Prinzessin… Nein!.. ich hoffe, wenn er mich hinausgehen sieht, wird er auch hinausgehen.
Es ist möglich. Gehen Sie!
Ich gehe, sagte Morcerf und ging hinaus. In dem Augenblick, wo er an der Loge des Grafen vorüberkam, öffnete sich wirklich die Tür; der Graf sagte einige arabische Worte zu Ali, der im Flur stand, und nahm Morcerf am Arme.
Ali schloß die Tür wieder und stellte sich davor; esbildete sich im Gange eine ganze Versammlung um den Nubier.
In der Tat, sagte Monte Christo, Ihr Paris ist eine seltsame Stadt, und Ihre Pariser sind ein seltsames Volk. Schauen Sie, wie sie sich um Ali drängen, der nicht weiß, was dasbedeuten soll.
Glauben Sie mir, daß sich Ali dieser Popularität nur erfreut, weil er Ihnen gehört und Sie in diesem Augenblick der Mann der Mode sind.
Wirklich? Und was erwirbt mir diese Gunst?
Bei Gott! Sie selbst. Sie verschenken Gespanne von tausend Louisd'or; Sie retten Staatsanwaltsfrauen das Leben; Sie lassen unter dem Namen MajorBlack Vollblutpferde mit Jockeys so groß wie Quistitis rennen.
Und wer zum Teufel hat Ihnen alle diese Tollheiten erzählt?
Zuerst, Frau Danglars, die vor Verlangen stirbt, Sie in Ihrer Loge zu sehen; sodann das Journal vonBeauchamp und endlich meine eigene Einbildungskraft. Warum nennen Sie Ihr Rennpferd Vampa, wenn Sie das Inkognitobehaupten wollen?
Ah! Sie haben recht, das war eine Unklugheit. Doch sagen Sie mir, kommt der Graf von Morcerf nicht auch zuweilen in die Oper? Ich habe ihn überall mit den Augen gesucht und nirgendsbemerkt.
Ich glaube, er wird heute abend in die Loge derBaronin kommen.
Die reizende Person, welchebei ihr sitzt, ist ihre Tochter?
Ja.
Ich mache Ihnen mein Kompliment. Doch mein lieber Graf, wir sprechen später hiervon. Was sagen Sie aber zu der Musik? Morcerf lächelte und erwiderte: Zu welcher Musik?
Zu der, die Sie soeben gehört haben.
In diesem Augenblick ertönte das Glöckchen.
Sie werden mich entschuldigen, sagte der Graf, nach seiner Loge zurückkehrend.
Wie, Sie gehen?
Sagen Sie der Gräfin G…, wenn Sie sie sprechen, viel Schönes von ihrem Vampir.
Und derBaronin?
Ich werde die Ehre haben, wenn sie es mir erlaubt, ihr heute abend meine Aufwartung zu machen.
Während des dritten Aktes fand sich der Graf von Morcerf, wie er versprochen hatte, bei Frau Danglars ein. Der Graf war keiner von den Menschen, die in einem Saale einen Aufruhr hervorbringen; auchbemerkte niemand seine Ankunft außer den Personen in seiner Loge.
Monte Christo sah ihn indessen, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
Haydee sah nichts, solange der Vorhang ausgezogen war; wie jede Urnaturbetete sie alles an, was zum Ohr und zum Gesicht spricht.
Nach dem dritten Akt verließ der Graf seine Loge und erschien einen Augenblick nachher in der derBaronin Danglars.
DieBaronin konnte sich nicht enthalten, einen Schrei freudigen Erstaunens auszustoßen.
Ah! Sie kommen, Herr Graf, rief sie; es drängte mich in der Tat, meinen mündlichen Dank dem schriftlichen hinzuzufügen, den ichbereitsbei Ihnen abgestattet habe.
Oh! gnädige Frau! Sie erinnern sich noch dieser Kleinigkeit? Ich hatte siebereits vergessen, sagte der Graf.
Ja; aber das vergißt man nicht, Herr Graf, daß Sie am andern Tage meine arme Freundin aus der Gefahr errettet haben, der sie durch eben diese Pferde preisgegeben war.
Auch diesmal, gnädige Frau, verdiene ich Ihren Dank nicht; es war Ali, mein Nubier, der das Glück hatte, Frau von Villefort diesen ausgezeichneten Dienst zu leisten.
War es auch Ali, der meinen Sohn den Händen der römischenBanditen entriß? sagte der Graf von Morcerf.
Nein, Herr Graf, sagte Monte Christo, die Hand drückend, die ihm der General reichte, nein, diesmal nehme ich den Dank für meine Rechnung an; aber Sie haben mir diesen Dankbereits abgestattet, und ich habe ihn angenommen, und esbeschämt mich in der Tat, daß ich Sie noch erkenntlich finde. Ichbitte Sie, erweisen Sie mir die Ehre, FrauBaronin, mich Ihrer Fräulein Tochter vorzustellen.
Oh! Sie sind schon vorgestellt, wenigstens dem Namen nach, denn seit einigen Tagen sprechen wir nur von Ihnen. Eugenie, fuhr dieBaronin, sich gegen ihre Tochter umwendend, fort, der Herr Graf von Monte Christo.
Der Graf verbeugte sich; Fräulein Danglars machte eine leichteBewegung mit dem Kopfe.
Sie haben einebewunderungswürdige Personbei sich, sagte Eugenie, ist es Ihre Tochter?
Nein, mein Fräulein, erwiderte Monte Christo, erstaunt über diese außerordentliche Offenherzigkeit oder diese merkwürdige Entschiedenheit, es ist eine arme Griechin, deren Vormund ichbin.
Und sie heißt?
Haydee, antwortete Monte Christo.
Eine Griechin! murmelte der Graf von Morcerf.
Ja, Graf, sagte Frau Danglars, sagen Sie mir, obSie je an dem Hofe von Ali Pascha Tependelini, dem Sie so glorreich dienten, eine so herrliche Tracht gesehen haben, wie die, welche wir hier vor Augen haben?
Ah! Sie haben in Janina gedient, Herr Graf?
Ich war Generalinstruktor der Truppen des Paschas, antwortete Morcerf, und ich mache kein Geheimnis daraus, daß mein geringes Vermögen von der Freigebigkeit dieses erhabenen albanesischen Heerführers herrührt.
Sehen Sie nur! sagte Frau Danglars.
Wo denn? stammelte Morcerf.
Dort! sagte Monte Christo.
Und den Grafen mit seinem Arme umfassend, neigte er sich mit ihm zur Loge hinaus.
In diesem Augenblicke gewahrte Haydee, die den Grafen mit den Augen suchte, seinenbleichen Kopf neben dem Morcerfs, den er umfaßt hielt.
Dieser Anblickbrachte auf die Griechin die Wirkung eines Medusenhauptes hervor; sie machte eineBewegung vorwärts, als wollte siebeide mit den Augen verschlingen; dann warf sie sich fast in derselben Sekunde wieder zurück und stieß einen schwachen Schrei aus, der jedoch von den Personen, die ihr zunächst waren, und von Ali gehört wurde, der sogleich die Tür öffnete.
Was ist denn Ihrem Mündelbegegnet, Herr Graf? fragte Eugenie, man sollte glauben, sie sei unwohl.
In der Tat, es scheint so zu sein, sagte der Graf, doch erschrecken Sie nicht darüber. Haydee ist sehr nervös und daher sehr empfindlich gegen Gerüche; ein Geruch, der ihr zuwider ist, kann ihr eine Ohnmacht zuziehen; aber ich habe hier ein Gegenmittel, sagte der Graf, ein Fläschchen aus der Tasche ziehend.
Nachdem er dieBaronin und ihre Tochter mit einer einzigen Verbeugung gegrüßt und einen letzten Händedruck mit dem Grafen und mit Debray ausgetauscht hatte, verließ er die Loge.
Als er in die seinige zurückkehrte, war Haydee noch sehrbleich; sobald er erschien, nahm sie ihnbei der Hand.
Monte Christobemerkte, daß die Hände des Mädchens zugleich feucht und eisig kalt waren.
Mit wem sprachst du denn, Herr? fragte das Mädchen.
Mit dem Grafen von Morcerf, der im Dienste deines erhabenen Vaters stand und, wie er selbstbekennt, ihm sein Vermögen zu verdanken hat.
Ha, der Elende! rief Haydee, er ist es, der ihn an die Türken verkauft hat, und dieses Vermögen ist nur der Preis seines Verrates. Wußtest du das nicht, lieber Herr?
Ich habe wohl so etwas in Epirus gehört, sagte Monte Christo, aber ich kenne die einzelnen Umstände nicht. Komm, meine Tochter, du wirst sie mir erzählen, sie müssen sehr seltsamer Art sein.
Oh ja, komm, komm! Es ist mir, als müßte ich umkommen, wenn ich diesem Menschen länger gegenüberbleibe.
Und Haydee stand rasch auf, hüllte sich in ihren mit Perlen und Korallen geschmücktenBurnus von weißem Kaschmir und verließ die Loge in dem Augenblick. wo der Vorhang aufgezogen wurde.
Sehen Sie, obdieser Mensch auch nur irgend etwas tut, wie ein anderer! sagte die Gräfin zu Albert, der sich in ihre Logebegeben hatte. Er hört ganz andächtig den dritten Akt an und geht in der Minute, wo der viertebeginnen soll, fort.
Steigen und Fallen
Einige Tage nach diesem Zusammentreffen machte Albert von Morcerf dem Grafen von Monte Christo einenBesuch in seinem Hause in den Champs‑Elyées, dasbereits das Aussehen eines Palastes gewonnen hatte. Er gabaufs neue dem Dank der Frau Danglars Ausdruck, den sie dem Grafen schon vorher in einemBrief mit der UnterschriftBaronin Danglars, geborene Hermine von Servieux, abgestattet hatte.
In AlbertsBegleitung war Lucien Debray, der den Worten seines Freundes einige Komplimente hinzufügte, über deren Quelle jedoch der Grafbei seinem Scharfblicke sich nicht täuschen ließ. Er konnte in der Tat, ohne einen Irrtumbefürchten zu müssen, voraussetzen, daß Frau Danglars, da sie sich außer stande fühlte, mit eigenen Augen in die Geheimnisse eines Mannes zu dringen, der Pferde für dreißigtausend Franken verschenkte und in die Oper mit einer Sklavin ging, die für eine Million Diamanten trug, Debraybeauftragt hatte, ihr so viel wie möglich Auskunft zu verschaffen.
Aber der Graf gabsich den Anschein, als vermute er nicht im geringsten einen Zusammenhang zwischen LuciensBesuche und der Neugierde derBaronin. Sie stehen in fast ununterbrochenem Verkehr mit demBaron Danglars? fragte er Albert von Morcerf.
Ja, Herr Graf, Sie wissen, was ich Ihnen gesagt habe.
Der Planbesteht also noch immer?
Mehr als je, es ist eine abgemachte Sache, sagte Lucien.
Und indem er meinte, mit diesem einen ins Gespräch geworfenen Wort habe er sich das Recht erkauft, sich nun schweigend zu verhalten, klemmte Lucien sein Lorgnon ins Auge, biß auf den goldenen Knopf seines Stöckchens und schritt, mit aller Aufmerksamkeit die Waffen und Gemäldebetrachtend, im Zimmer umher.
Ah! rief Monte Christo, nach Ihren Worten hätte ich nicht an eine so schnelle Lösung geglaubt.
Was wollen Sie? Die Dinge entwickeln sich, ohne daß man's merkt. Wenn wir auch nicht an sie denken, denken sie an uns, und wenn wir uns umdrehen, sind wir erstaunt darüber, wie sie vorgeschritten sind. Mein Vater und Herr Danglars haben miteinander in Spanien gedient, mein Vaterbei der eigentlichen Armee, Herr Danglarsbeim Train. Mein Vater, den die Revolution zu Grunde gerichtet hatte, und Herr Danglars, der von Haus aus vermögenslos war, legten dort den Grund, mein Vater zu seinem großen politischen und militärischen Glück, Herr Danglars zu seinembewunderungswürdigen politischen und finanziellen Glück.
Ja, in der Tat, erwiderte Monte Christo, ich glaube, Herr Danglars erzählte mir davon während desBesuches, den ich ihm machte; und, sagte er, einen Seitenblick auf Lucien werfend, der in einem Albumblätterte, und ist Fräulein Eugenie hübsch?
Sehr hübsch; aber von einer Schönheit, die ich nicht zu schätzen weiß, ich Unwürdiger.
Sie sprechen, als obSiebereits ihr Gatte wären.
Oh! rief Albert, und sah sich dabei ebenfalls nach seinem Freunde um.
Wissen Sie, sagte Monte Christo, die Stimme dämpfend, wissen Sie, daß Sie mir nicht eben sehrbegeistert für diese Heirat zu sein scheinen.
Fräulein Danglars ist zu reich für mich, und das erschreckt mich, erwiderte Morcerf.
Bah! versetzte Monte Christo, ein schöner Grund; sind Sie nicht selbst reich?
Mein Vater hat etwa fünfzigtausend Franken Rente und wird mir vielleicht zehnbis zwölfbei meiner Verheiratung geben.
Das sieht allerdingsbescheiden aus, besonders in Paris, sagte der Graf; aber das Vermögen ist nicht alles auf dieser Welt, ein schöner Name und eine hohe gesellschaftliche Stellung haben auch ihren Wert. Ihr Name istberühmt. Ihre Stellung glänzend, der Graf von Morcerf ist ein Soldat, und man sieht gern die Unantastbarkeit eines Ritters ohne Furcht und Tadel mit der Armut eines Kreuzritters vereinigt. Die Uneigennützigkeit ist der schönste Sonnenstrahl, in dem ein edler Degen erglänzen kann. Ich finde im Gegenteil diese Verbindung im höchsten Grade passend; Fräulein Danglarsbereichert Sie, und Sie adeln das Fräulein!
Albert schüttelte den Kopf undbliebnachdenklich. Es ist dabei noch etwas anderes, sagte er.
Ich gestehe, daß ich diesen Widerwillen gegen ein junges, reiches und schönes Mädchen nichtbegreifen kann, sagte der Graf.
Oh, mein Gott! rief Morcerf, dieser Widerwille, wenn wirklich ein Widerwille stattfindet, kommt nicht ganz von meiner Seite.
Von welcher Seite denn? Sagten Sie mir nicht, Ihr Vater wünschte diese Heirat?
Er kommt von meiner Mutter, und meine Mutter hat ein sicheres Auge. Sie lächelt nicht zu dieser Verbindung, sie hat ein Vorurteil gegen die Danglars.
Oh! das läßt sichbegreifen, sagte der Graf mit etwas gezwungenem Tone; die Frau Gräfin von Morcerf, welche die Vornehmheit, der Adel, die Feinheit in der Person ist, scheut sich, eine gemeinbürgerliche, plumpe, rohe Hand zuberühren, und das ist natürlich.
Ich weiß nicht, obdies der Fall ist, entgegnete Albert, weiß jedoch, daß diese Heirat, wenn sie wirklich stattfindet, meine Mutter unglücklich machen wird. Schon vor sechs Wochen sollte eine Familienversammlung zurBesprechung des Heiratsvertrages stattfinden, aber meine Mutter wurde dergestalt von der Migränebefallen, ohne Zweifel infolge ihrer Abneigung dagegen, daß man die Zusammenkunft auf zwei Monate verschob. Siebegreifen, es eilt nicht, ichbin noch nicht einundzwanzig Jahre alt und Eugenie erst siebzehn; doch die zwei Monate sind in der nächsten Woche abgelaufen, und man muß sich am Ende entscheiden. Sie können sich nicht vorstellen, mein lieber Graf, in welcher Verlegenheit ich michbefinde… Ah! wie glücklich sind Sie doch, Sie freier Mann!
Nun so seien Sie auch frei, wer hindert Sie daran?
Oh, es würde meinem Vater einen so großen Verdrußbereiten, wenn ich Fräulein Danglars nicht heiratete.
So heiraten Sie das Fräulein, sagte der Graf mit einer seltsamenBewegung der Achsel.
Ja, aber meiner Mutter würde diese Verbindung nicht Verdruß, sondern Schmerzbereiten.
Dann heiraten Sie das Fräulein nicht, sagte der Graf.
Ich werde es versuchen; nicht wahr, Sie geben mir Ihren Rat, und wenn es Ihnen möglich ist, entziehen Sie mich dieser Verlegenheit? Oh! um meiner vortrefflichen Mutter keinen Kummer zubereiten, würde ich es, glaube ich, sogar auf einen Konflikt mit meinem Vater ankommen lassen.
Monte Christo wandte sich ab, er schienbewegt.
Ei! sagte er zu Debray, der auf einem weichen Polsterstuhl am Ende des Salons saß und in der rechten Hand einenBleistift, in der linken ein Notizbuch hielt, ei! was machen Sie denn? Eine Skizze nach Poussin?
Ich? Nein, ich mache ganz das Gegenteil davon, ich mache Zahlen und zwar solche, die Sie unmittelbar angehen, Vicomte. Ichberechne, was das Haus Danglarsbei dem letzten Steigen der Hayti‑Papiere gewinnen mußte; von 206 stiegen sie in drei Tagen auf 499, und der klugeBankier hatte viel um 206 gekauft. Er muß 300 000 Franken gewonnen haben.
Das ist noch nicht seinbester Treffer, sagte Morcerf; hat er nicht in diesem Jahre eine Million mit spanischenBons gewonnen?
Sie sprechen von Hayti? fragte Monte Christo.
Oh! Hayti, das ist das Wunderland der französischenBörsenspieler. So hat Herr Danglars gestern zu 409 verkauft und steckt 300 000 Franken ein, hätte erbis heute gewartet, so würde er, da die Papiere wieder auf 205 gesunken sind, statt 300 000 Franken zu gewinnen, 25 000 Franken verloren haben.
Und warum sind diese Papiere von 409 auf 205 gefallen? fragte Monte Christo. Entschuldigen Sie, ich verstehe von allen diesenBörsengeschäften nicht das geringste.
Weil die Nachrichten sich folgen, aber nicht sich gleichen, antwortete Albert lachend.
Ah Teufel! rief der Graf, Herr Danglars spielt also so hoch, daß er an einem Tage 300 000 Franken gewinnen oder verlieren kann! Da muß er ja ungeheuer reich sein?
Er selbst spielt gar nicht, rief Lucien lebhaft, Frau Danglars tut es; sie riskiert wahrhaftig alles.
Aber Sie, der Sie ein vernünftiger Mann sind, Lucien, Sie, der Sie wissen, wie unzuverlässig die Nachrichten sind, der Sie an der Quelle sitzen, Sie sollten sie davon abhalten, sagte Morcerf lächelnd.
Wie vermöchte ich dies, da es ihrem Manne nicht gelingt? fragte Lucien. Sie kennen den Charakter derBaronin; niemand hat Einfluß auf sie, und sie tut durchaus nur, was sie will.
Oh! wenn ich an Ihrer Stelle wäre, sagte Albert, ich wollte sie heilen; das hieße ihrem künftigen Schwiegersohne einen Dienst leisten.
Wieso?
Ah, bei Gott! das ist sehr einfach. Ich würde ihr eine Lektion geben. Ihre Stellung als Sekretär des Ministers verleiht Ihren Äußerungen großes Gewicht; Sie dürfen nur den Mund öffnen, und die Wechselagenten stenographieren so schnell als möglich Ihre Worte. Lassen Sie nun dieBaronin hunderttausend Franken Schlag auf Schlag verlieren, und sie wird klug werden.
Ichbegreife nicht, stammelte Lucien.
Es ist doch ganz klar, erwiderte der junge Mann mit durchaus echter Naivität. Teilen Sie ihr an einem schönen Morgen irgend etwas Unerhörtes mit, eine telegraphische Nachricht, die nur Sie allein wissen können, zumBeispiel: Heinrich IV. sei gesternbei Gabrielle gesehen worden; das läßt die Fonds steigen, sie richtet ihrenBörsenhandel danach ein und verliert sicherlich, wennBeauchamp den andern Tag in seiner Zeitung schreibt: Mit Unrechtbehaupten wohlunterrichtete Leute, König Heinrich IV. sei gesternbei Gabrielle gesehen worden; dies ist völlig unrichtig; König Heinrich IV. hat den Pont‑Neuf nicht verlassen.
Lucien spitzte den Mund zu einem Lächeln. Obgleich scheinbar gleichgültig, hatte Monte Christo doch kein Wort von dieser Unterhaltung verloren, und sein durchdringendes Auge hatte sogar hinter der Verlegenheit des Sekretärs ein Geheimnis zu entdecken geglaubt.
Es war eine Folge dieser Verlegenheit, von der Albert nicht das geringste wahrnahm, daß Lucien seinenBesuch abkürzte; er fühlte sich offenbar unbehaglich. Der Graf sagte ihm, während er ihnbis zur Tür geleitete, mit leiser Stimme ein paar Worte, worauf er erwiderte: Sehr gern, Herr Graf, ich nehme es an.
Der Graf kehrte zu Albert von Morcerf zurück und sagte:
Denken Sie nicht, wenn Sie sich die Sache überlegen, daß Sie unrecht gehabt haben, so über Ihre Schwiegermutter in Gegenwart des Herrn Debray zu reden?
Ichbitte, Graf, versetzte Morcerf, sagen Sie dieses Wort nicht mehr.
Wahrhaftig und ohne Übertreibung, ist die Gräfin in diesem Grade gegen die Heirat eingenommen?
Dergestalt, daß dieBaronin nur selten in unser Haus kommt, und daß meine Mutter, glaube ich, nicht zweimal in ihrem ganzen Lebenbei Fran Danglars gewesen ist.
Das ermutigt mich, offenherzig mit Ihnen zu sprechen, sagte der Graf. Herr Danglars ist meinBankier, Herr von Villefort hat mich mit Höflichkeiten überhäuft, indem er mir seinen Dank für einen Dienst aussprach, den ich ihm zufällig zu leisten imstande war. Ich mache mich nach alledem auf eine Lawine von Einladungen zu Mittagessen und Abendunterhaltungen gefaßt. Um aber den Anschein prunkhafter Vorbereitung zu vermeiden, und wenn Sie wollen, um mir das Verdienst der Zuvorkommenheit zu wahren, gedenke ich, Herrn und Frau, sowie Fräulein Danglars und Herrn und Frau von Villefort in mein Landhaus in Auteuil zubitten. Wenn ich nun Sie, sowie den Herrn Grafen und die Frau Gräfin von Morcerf, ebenfalls zu diesem Mittagessen einlade, wird es da nicht aussehen, wie wenn ich Siebeide absichtlich zusammenbringen wollte, oder wird nicht wenigstens die Frau Gräfin von Morcerf die Sache sobetrachten, besonders wenn der HerrBaron von Danglars mir die Ehre erweist, seine Tochter mitzubringen? Dann wird Ihre Mutter eine Abneigung gegen mich fassen, und das möchte ich durchaus nicht, denn es ist mir alles daran gelegen, sagen Sie ihr dies, so oft sich Gelegenheit dazubietet, in gutem Andenkenbei ihr zu stehen.
Herr Graf, ich danke Ihnen, daß Sie mit so viel Offenherzigkeit mit mir sprechen, und ichbleibe gern dem Mahle fern, wie Sie es mir scheinen vorschlagen zu wollen. Sie sagen, es sei Ihnen daran gelegen, in gutem Andenkenbei meiner Mutter zubleiben; Sie stehenbereits in voller Wertschätzungbei ihr.
Sie glauben? sagte Monte Christo mit Teilnahme.
Oh! ichbin dessen gewiß. Als Sie uns neulich verließen, plauderten wir noch eine ganze Stunde von Ihnen. Doch ich komme auf das zurück, worüber wir soeben sprachen. Wenn meine Mutter von dieser Aufmerksamkeit Ihrerseits erführe, und ich es wagte, sie ihr mitzuteilen, ichbin überzeugt, sie wüßte Ihnen den innigsten Dank dafür; mein Vater würde allerdings in nicht geringe Wut geraten.
Der Graf erwiderte lachend: Sie sind nun in Kenntnis gesetzt. Doch ich denke, Ihr Vater wird keinen Anlaß haben, wütend zu werden; Herr und Frau Danglars werden mich für einen Menschen von sehr schlechter Lebensart halten. Sie wissen, daß ich mit Ihnen vertraut verkehre, daß Sie sogar mein ältester PariserBekannter sind und werden mich, wenn sie Sie nichtbei mir finden, fragen, warum ich Sie nicht eingeladen habe. Suchen Sie es wenigstens so einzurichten, daß Sie vorher schon eine wertvolle Einladung annehmen, und teilen mir dies schriftlich mit. Sie wissen, bei denBankiers gilt nur das Geschriebene.
Ich gedenke, etwasBesseres zu tun, Herr Graf, erwiderte Albert; meine Mutter wünscht wieder einmal Seeluft zu atmen. Auf welchen Tag ist Ihr Mittagessenbestimmt?
Auf Sonnabend.
Wir haben heute Dienstag, morgen abend reisen wir ab, übermorgen früh sind wir in Treport. Sie sind einbezaubernder Mann, Herr Graf, daß Sie den Leuten die Dinge so nach ihrerBequemlichkeit und zu ihrer Zufriedenheit einrichten.
Sie überschätzen mein Verdienst weit; ich wünsche Ihnen nur angenehm zu sein.
Auf welchen Tag wollen Sie einladen?
Heute.
Gut! ich gehe zu Herrn Danglars und kündige ihm an, daß ich morgen mit meiner Mutter Paris verlasse und nicht Ihr Gast sein könne.
Recht; die Sache ist abgemacht.
Hätten Sie nicht Lust, Herr Graf, heute mit uns zu Mittag zu speisen? Wir sind nur in kleiner ausgewählter Gesellschaft, Sie, meine Mutter und ich. Sie haben meine Mutter kaumbemerkt; doch Sie werden sie in der Nähe sehen. Es ist eine merkwürdige Frau, und ichbedaure nur, daß nicht ihresgleichen im Alter von zwanzig Jahren lebt; dann würde esbald eine Gräfin und eine Vicomtesse von Morcerf geben. Meinen Vater finden Sie nicht, er hat Kommissionssitzung und speistbeim Großreferendar. Kommen Sie, wir plaudern von Reisen! Sie, der Sie die ganze Welt gesehen haben, erzählen uns von Ihren Abenteuern; Sie teilen uns die Geschichte der schönen Griechin mit, die kürzlich mit Ihnen in der Oper war und von Ihnen Ihre Sklavin genannt wird, während Sie sie wie eine Prinzessinbehandeln. Wir sprechen Italienisch und Spanisch! Kommen Sie, meine Mutter wird Ihnen dankbar sein.
Tausend Dank, erwiderte der Graf, Ihre Einladung ist äußerst liebenswürdig, und ichbedaure lebhaft, daß ich sie nicht annehmen kann. Ichbin nicht frei, wie Sie wähnten, sondern ich habe im Gegenteil ein höchst wichtiges Zusammentreffen.
Ah! nehmen Sie sich in acht, Sie haben mich soeben gelehrt, wie man sich klüglich einer unerwünschten Einladung zum Mittagessen entziehen kann. Ichbedarf einesBeweises. Glücklicherweisebin ich nichtBankier wie Herr Danglars, wohl aber ebenso neugierig wie er.
Ich werde Ihnen auch denBeweis geben, erwiderte der Graf und läutete.
Baptistin trat ein undbliebwartend an der Tür stehen.
Baptistin, was sagte ich Ihnen, als ich Sie heute morgen in mein Arbeitszimmer rief?
Siebefahlen mir, die Tür des Herrn Grafen schließen zu lassen, sobald es fünf Uhr geschlagen hätte, antwortete der Diener. Hernach hießen Sie mich nur den Herrn MajorBartolomeo Cavalcanti empfangen.
Sie hören, den Herrn MajorBartolomeo Cavalcanti, einen Mann vom ältesten Adel Italiens, dessen Namen Dante zu verherrlichenbemüht war; ferner seinen Sohn, einen reizenden jungen Mann, ungefähr von Ihrem Alter, Vicomte, der denselben Titel führt wie Sie und in die Pariser Welt mit den Millionen seines Vaters eintritt. Der Majorbringt mir heute abend seinen Sohn Andrea, den Contino, wie wir in Italien sagen. Er will ihn mir anvertrauen, und ich werde sein Glück zu fördern suchen, wenn er einiges Verdienstbesitzt. Nicht wahr, Sie helfen mir?
Ganz gewiß! Dieser Major Cavalcanti ist wohl ein alter Freund von Ihnen? fragte Albert.
Keineswegs, er ist ein würdiger, sehr höflicher, sehrbescheidener, sehr diskreter Herr, wie es in Italien eine Menge gibt. Ich habe ihn wiederholt in Florenz, inBologna, in Lucca gesehen, und er teilte mir seine Ankunft mit. Die Reisebekanntschaften sind anspruchsvoll; sie verlangen überall von uns die Freundschaft, die wir ihnen zufällig einmal erzeigt haben. Dieser gute Major Cavalcantibesucht Paris wieder, das er nur einmal im Vorübergehen unter der Kaiserherrschaft gesehen hat. Ich gebe ihm ein gutes Diner, er läßt mir seinen Sohn hier, ich verspreche, ihn zu überwachen, lasse ihn alle Torheitenbegehen, und wir sind quitt.
Vortrefflich! rief Albert, ich sehe, Sie sind ein kostbarer Mentor. Gottbefohlen, bis Sonntag sind wir zurück. Doch ich habe Nachricht von Franz erhalten.
Ah! wirklich? Gefällt es ihm immer noch in Italien.
Ich denke ja; erbedauert indessen, daß Sie nicht mehr dort sind, denn er sagt, Sie seien die Sonne von Rom, und ohne Sie herrsche dort trübes Wetter.
Er ist also von seiner Ansicht über mich zurückgekommen?
Im Gegenteil, erbeharrt daraus, Sie für höchst phantastisch zu halten; darumbedauert er Ihre Abwesenheit.
Ein liebenswürdiger junger Mann, versetzte Monte Christo; ich fühlte für ihn schon eine lebhafte Sympathie am ersten Abend, als ich ihn auf der Insel Monte Christo nach irgend einem Abendessen Ausschau halten sah und ihm Gastfreundschaft erweisen durfte. Er ist, glaube ich, ein Sohn des Generals d'Epinay, der im Jahre 1815 auf eine so erbärmliche Weise von denBonapartisten ermordet wurde?
Ganz richtig.
Liegt für ihn nicht auch ein Heiratsplan vor?
Ja, er soll sich mit Fräulein von Villefort vermählen, wie ich Fräulein Danglars heiraten soll, erwiderte Albert lachend.
Sie lachen?
Ich lache, weil es mir vorkommt, alsbesitze er ebensoviel Sympathie für die Heirat, wie ich für eine Verbindung zwischen mir und Fräulein Danglars. Aber wahrhaftig, lieber Graf, wir plaudern von Frauen, wie die Frauen von Männern plaudern. Das ist unverzeihlich! Albert stand auf.
Sie gehen?
Die Frage ist gut! Seit zwei Stunden quäle ich Sie, und Sie haben die Höflichkeit, mich zu fragen, obich gehe! In der Tat, Graf, Sie sind der artigste Mann der Erde! Und IhreBedienten, wie sind sie dressiert, besonders HerrBaptistin! Ich konnte nie einen solchen Menschenbekommen.
Er wandte sich zum Gehen und rief: Welchen Dienst würden Sie mir leisten, und wie wollte ich Sie noch hundertmal mehr lieben, wenn ich mit Ihrer Hilfe Junggesellebliebe, und wäre es nur noch zehn Jahre lang!
Alles ist möglich, erwiderte Monte Christo mit ernstem Tone. Er verabschiedete sich von Albert und trat in sein Arbeitszimmer, wo erBertuccio fand.
HerrBertuccio, sagte der Graf, wissen Sie, daß ich am Sonnabend in meinem Hause in Auteuil eine Gesellschaft gebe?
Bertuccio erwiderte leicht schaudernd: Gut, gnädiger Herr.
Ichbedarf Ihrer, fuhr der Graf fort, damit alles aufsbeste vorbereitet wird. Das Haus ist sehr schön oder kann wenigstens sehr schön sein.
Man müßte zu diesem Zwecke alles verändern, Herr Graf, denn die Tapeten sehen recht alt aus.
Verändern Sie alles, mit Ausnahme des roten Schlafzimmers, dies lassen Sie ganz, wie es ist! Den Garten lassen Sie ebenfalls unberührt, aber aus dem Hofe, zumBeispiel, machen Sie alles, was Sie wollen! Es wird mir sogar angenehm sein, wenn man ihn nicht wiedererkennen kann.
Ich werde tun, was in meinen Kräften liegt, um den Herrn Grafen zufrieden zu stellen.
Der Major Cavalcanti
Es schlug sieben Uhr, undBertuccio war seit zwei Stunden nach Auteuil abgereist, als ein Fiaker vor der Tür des Hotels hielt und an dem Gitter einen Mann von etwa zweiundfünfzig Jahren absetzte, der einen von jenen Röcken mit schwarzenBorten trug, deren Geschlecht in Europa unvergänglich zu sein scheint. Eine weite Hose, ziemlich reinliche Stiefel, hirschlederne Handschuhe, eine schwarze Halsbinde mit einem schmalen weißen Streifen, die man, wenn sie ihr Eigentümer nicht freiwillig getragen haben würde, für ein Halseisen hätte halten können, das war die malerische Tracht, in welcher der Mensch erschien, der an dem Gitter läutete, hier fragte, obnicht in Nr. 30 der Avenue der Champs‑Elysees der Graf von Monte Christo wohne, und auf diebejahende Antwort des Portiers eintrat.
Der kleine, eckige Kopf dieses Menschen, seine weißlichen Haare und sein dicker, grauer Schnurrbart machten ihn fürBaptistin erkenntlich, denn dieserbesaß das genaue Signalement des Gastes und erwartete ihn im untern Hausflur. Kaum hatte er seinen Namen vor dem Diener ausgesprochen, als Monte Christo von seiner Ankunftbenachrichtigt wurde.
Man führte den Fremden in den einfachsten Salon. Der Graf erwartete ihn daselbst und ging ihm mit lachender Miene entgegen. Ah! lieber Herr, sagte er, seien Sie willkommen! Ich erwartete Sie.
Wirklich? erwiderte der Lukkeser, Eure Exzellenz erwartete mich?
Ja, ich war von Ihrer Ankunft auf heute um sieben Uhrbenachrichtigt.
Sie waren von meiner Ankunftbenachrichtigt?
Vollkommen.
Ah! destobesser, ichbefürchtete, man hätte diese Vorsichtsmaßregel vergessen.
Welche?
Sie in Kenntnis zu setzen.
Oh, nein!
Sind Sie dessen gewiß, täuschen Sie sich nicht?
Ichbin dessen gewiß.
Mich erwartete Eure Exzellenz heute abend um sieben Uhr?
Allerdings Sie. Ich will Ihnen denBeweis geben.
Oh, wenn Sie mich erwarteten, so ist es nicht der Mühe wert.
Doch! doch! rief Monte Christo.
Der Lukkeser schien etwasbeunruhigt.
Sprechen Sie, sind Sie nicht der MarquisBartolomeo Cavalcanti?
Bartolomeo Cavalcanti, wiederholte freudig der Lukkeser, so ist es.
Exmajor in österreichischen Diensten?
War ich Major? fragte schüchtern der alte Soldat.
Ja, sagte Monte Christo, Major. Das ist der Name, den man in Frankreich dem Grade gibt, den Sie in Italien einnahmen.
Gut, versetzte der Lukkeser, Siebegreifen, mir ist es ganz lieb…
Übrigens, kommen Sie nicht aus eigenem Antriebe hierher?
Allerdings.
Sie sind durch den vortrefflichen AbbéBusoni an mich gewiesen worden?
So ist es, rief der Major.
Und Sie haben einenBrief?
Hier ist er.
Monte Christo nahm denBrief, öffnete und las ihn.
Der Major schaute den Grafen mit großen, erstaunten Augen an, die zwar neugierig in allen Teilen des Gemaches umherliefen, jedoch immer wieder zu dessen Eigentümer zurückkehrten.
So ist es… der liebe Abbé… Der Major Cavalcanti, ein würdiger Patricier aus Lucca, von den Cavalcanti in Florenz abstammend, fuhr Monte Christo lesend fort, imBesitze eines Vermögens, das jährlich eine halbe Million abwirft.
Monte Christo schlug die Augen vom Papier auf und verbeugte sich.
Eine halbe Million, sagte er, Teufel! mein lieber Herr Cavalcanti.
Steht eine halbe Million da? fragte der Lukkeser.
Mit allenBuchstaben, und das muß so sein, der AbbéBusoni ist ein Mann, der ganz genau die großen Vermögen in Europa kennt!
Es mag wohl richtig sein mit der halben Million; doch auf mein Ehrenwort, ich glaubte nicht, daß es sich so hochbeliefe.
Weil Sie einen Intendanten haben, der Siebestiehlt; was wollen Sie, mein lieber Herr Cavalcanti, man muß sich das gefallen lassen!
Und da Sie mir hierüber Aufklärung gegeben haben, so werde ich denBurschen vor die Tür werfen, sagte mit ernstem Tone der Lukkeser.
Monte Christo fuhr fort zu lesen: Und dem nur eines zu seinem Glücke fehlte.
Oh, mein Gott! ja, nur eines, sagte der Lukkeser mit einem Seufzer.
Einen angebeteten Sohn wiederzufinden.
Einen angebeteten Sohn?
Der in seiner Jugend entweder durch einen Feind seiner Familie oder durch Zigeuner geraubt wurde.
Im Alter von fünf Jahren, mein Herr! sagte der Lukkeser mit einem tiefen Seufzer und die Augen zum Himmel aufschlagend.
Armer Vater! sagte Monte Christo.
Der Graf las weiter: Ich gebe ihm die Hoffnung, ich gebe ihm das Leben, Herr Graf, indem ich ihm verkündige, daß Sie ihm diesen Sohn, den er seit fünfzehn Jahren umsonst suchte, wiederfinden können.
Der Lukkeser schaute Monte Christo mit einem Ausdrucke voll unsäglicher Unruhe an.
Ich kann es, sagte Monte Christo.
Der Major richtete sich hoch auf und rief: Ah! ah! derBrief ist alsobis zum Ende wahr?
Zweifelten Sie daran, mein lieber HerrBartolomeo?
Nein, niemals! Ein ernster, eine religiöse Würdebekleidender Mann, wie der AbbéBusoni, hätte sich nie einen solchen Scherz erlaubt; doch Sie haben nicht alles gelesen, Exzellenz!
Ah! das ist wahr, es findet sich hier noch eine Nachschrift.
Ja, erwiderte der Lukkeser, es findet sich… eine… Nachschrift.
Um den Major Cavalcanti nicht in die Verlegenheit zu setzen, Papiere verkaufen zu müssen, schicke ich ihm einen Wechsel von zweitausend Franken für seine Reiseunkosten und akkreditiere ihnbei Ihnen mit der Summe von achtundvierzigtausend Franken, die ichbei Ihnen gut habe.
Der Major verfolgte in sichtbarer Angst diese Nachschrift mit den Augen.
Gut! begnügte sich der Graf zubemerken.
Er hat gut gesagt, murmelte der Lukkeser. Also die Nachschrift wird von Ihnen ebenso günstig aufgenommen, wie der übrigeBrief?
Der AbbéBusoni und ich stehen miteinander in Abrechnung; ich weiß nicht genau, ober achtundvierzigtausend Frankenbei mir gut hat, aber es kommt zwischen uns auf ein paarBanknoten nicht an. Ah! Sie legten also einen großen Wert auf diese Nachschrift, mein lieber Cavalcanti?
Ich muß Ihnen gestehen, antwortete der Lukkeser, daß ich mich, voll Zutrauen zu der Unterschrift des AbbéBusoni, nicht mit andern Geldern versehen hatte; wäre mir diese Quelle entgangen, so würde ich mich in Paris in großer Verlegenheitbefunden haben.
Setzen Sie sich doch, sagte Monte Christo; in der Tat, ich weiß nicht, was ich mache… ich lasse Sie seit einer Viertelstunde stehen.
Der Major zog einen Stuhl an sich und setzte sich.
Nun sagen Sie, sagte der Graf, wollen Sie etwas zu sich nehmen? Ein Glas Xeres, Porto, Alicante?
Alicante, wenn Sie erlauben, das ist mein Lieblingswein.
Monte Christo läutete; Baptistin erschien. Der Graf ging auf ihn zu und fragte leise: Nun…?
Der junge Mensch ist imblauen Salon, antwortete der Kammerdiener.
Vortrefflich. Bringen Sie Alicantewein und Zwiebacke.
Baptistinbrachte das Verlangte.
Der GrafbefahlBaptistin, die Platte in denBereich der Hand seines Gastes zu stellen, der zuerst den Alicante mit dem Rande seiner Lippen kostete, sodann eine Miene der Zufriedenheit annahm und endlich den Zwieback zart in das Glas tauchte.
Sie wohnten also in Lucca? sagte Monte Christo, Sie waren reich, Sie waren vornehmer Abkunft, Sie genossen die allgemeine Achtung, Sie hatten alles, was einen Menschen glücklich machen kann?
Alles, Exzellenz, erwiderte der Major, seinen Zwieback verschlingend, durchaus alles.
Und es fehlte nur zu Ihrem Glück, Ihr Kind wiederzufinden? Dies fehlte mir sehr, rief der würdige Major, schlug die Augen zum Himmel auf und suchte zu seufzen.
Nun reden Sie, mein lieber Herr Cavalcanti, wie verhält es sich mit diesem so sehrbeklagten Sohne? Denn man sagte mir, Sie seien Junggeselle geblieben.
Man glaubte es, mein Herr, und ich selbst…
Ja, versetzte Monte Christo, und Sie selbst suchten diesem Gerüchte Glauben zu verschaffen. Eine Jugendsünde, die Sie vor aller Augen verbergen wollten.
Der Lukkeser richtete sich auf, nahm seine ruhigste und würdigste Haltung an, schlug aber zugleichbescheiden die Augen nieder, sei es, um seine Haltung zu sichern, sei es, um seine Einbildungskraft zu unterstützen, während er von unten herauf den Grafen anschaute, dessen auf seine Lippen festgebanntes Lächeln stets dieselbe wohlwollende Neugierde andeutete. Ja, mein Herr, sagte er, ich wollte diesen Fehler vor der ganzen Welt verbergen.
Nicht Ihretwegen, versetzte Monte Christo, denn ein Mann steht über dergleichen Dingen!
Oh! nein, gewiß nicht meinetwegen, erwiderte der Major, lächelnd und die Achseln zuckend.
Sondern seiner Mutter wegen?
Seiner Mutter wegen, rief der Lukkeser, seiner armen Mutter wegen!
Trinken Sie doch, lieber Herr Cavalcanti, sagte Monte Christo, dem Lukkeser ein zweites Glas Alcante einschenkend; die Erinnerung überwältigt Sie.
Seiner armen Mutter wegen, murmelte der Lukkeser, indem er einen Versuch machte, obnicht die Kraft des Willens den Winkel seines Auges mit einer falschen Zähre zubefeuchten vermöchte.
Welche, glaube ich, einer der ersten Familien Italiens angehörte?
Eine Patrizierin von Fiesole.
Namens?
Marchesa Oliva Corsinari!
Und Sie heirateten sie am Ende, trotz des Widerstrebens der Familie?
Mein Gott! ja, das tat ich am Ende.
Und Ihre Papiere, die Sie mitbringen, sind ganz in Ordnung?
Was für Papiere? fragte der Lukkeser.
Nun, Ihr Trauschein mit Oliva Corsinari und der Taufschein von Andrea Cavalcanti, Ihrem Sohne; heißt er nicht Andrea?
Ganz richtig, Herr Graf, doch mitBedauern muß ich Ihnenbemerken, nicht darauf aufmerksam gemacht, daß ich mich mit diesen Papieren versehen sollte, versäumte ich, sie mitzunehmen.
Ah! Teufel! rief Monte Christo.
Sind Sie denn durchaus nötig?
Unerläßlich, rief Monte Christo; wenn man hier irgend einen Zweifel über die Gültigkeit Ihrer Ehe und die Rechtmäßigkeit Ihres Kindes erhöbe!
Es ist richtig, man könnte Zweifel erheben.
Das wäre sehr unangenehm.
Es könnte ihm dadurch eine glänzende Heirat entgehen.
O peccato!
Siebegreifen, in Frankreich ist man streng. Es genügt nicht, wie in Italien, einen Priester aufzusuchen und ihm zu sagen: Wir lieben einander, verbinden Sie uns! In Frankreich gibt es einebürgerliche Ehe, und um sichbürgerlich zu verheiraten, braucht man Papiere, durch welche die Identität nachgewiesen wird.
Das ist ein Unglück, ich habe diese Papiere nicht.
Zum Glücke habe ich sie.
Ah! mein Herr, rief der Lukkeser, der, als er das Ziel seiner Reise durch den Mangel seiner Papiere verfehlt sah, befürchtete, dieses Vergessen könnte einige Schwierigkeiten inBeziehung auf die achtundvierzigtausend Franken zur Folge haben, ah! mein Herr, das ist ein Glück. Ja, wiederholte er, das ist ein Glück, denn ich hätte nicht daran gedacht.
Bei Gott! ich glaube wohl, man denkt nicht an alles. Glücklicherweise dachte der AbbéBusoni für Sie daran.
Einbewunderungswürdiger Mann; und er schickte Ihnen die Papiere?
Hier sind sie.
Der Lukkeser legte die Hände als Zeichen derBewunderung zusammen. Sie heirateten Oliva Corsinari in der St. Paulskirche in Monte Cattini, hier ist der Trauschein des Priesters.
Ja, meiner Treu, sagte der Major, den Schein mit Erstaunen anschauend.
Und hier der Taufschein von Andrea Cavalcanti, ausgefertigt von dem Pfarrer von Saravezza.
Alles ist in Ordnung, sagte der Major.
So nehmen Sie diese Papiere, mit denen ich nichts zu tun habe, geben Sie sie Ihrem Sohne, der sie sorgfältig aufbewahren wird.
Ich glaube wohl!.. Wenn er sie verlieren würde!..
Was nun die Mutter des jungen Mannesbetrifft…
Mein Gott, sagte der Lukkeser, unter dessen Füßen die Schwierigkeiten immer neu emporzuwachsen schienen, sollte man ihrerbedürfen?
Nein, mein Herr, versetzte Monte Christo, hat sie übrigens nicht…
Doch, doch! rief der Major, sie hat…
Der Natur ihren Tributbezahlt…
Ach, ja! sagte rasch der Lukkeser.
Ich habe das erfahren, sagte Monte Christo, sie ist vor zehn Jahren gestorben.
Und ichbeweine noch ihren Tod, mein Herr, versetzte der Major, ein Taschentuch aus seiner Tasche ziehend.
Was wollen Sie, sagte Monte Christo, wir sind alle sterblich. Siebegreifen, lieber Herr Cavaleanti, manbraucht in Frankreich nicht zu wissen, daß Sie seit fünfzehn Jahren von Ihrem Sohne getrennt sind. Alle diese Geschichten von kinderstehlenden Zigeunern findenbei uns keinen Anklang mehr. Sie haben ihn zur Erziehung in ein Kolleg in der Provinz geschickt, und er soll nun nach Ihrem Willen diese Erziehung in der Pariser Welt vollenden. Deshalbverließen Sie Via Reggio, wo Sie seit dem Tode Ihrer Frau wohnen. Das wird genügen.
Sie glauben?
Gewiß.
Gut also.
Wenn man etwas von dieser Trennung erführe…
Ah! ja. Was würde ich sagen?
Ein ungetreuer Lehrer, von den Feinden Ihrer Familie erkauft, habe dieses Kind geraubt, damit Ihr Name erlösche.
Ganz richtig, da es der einzige Sohn ist…
Nun da alles festgestellt ist, da Ihre Erinnerungen, wieder aufgefrischt, Sie nicht verraten werden, müssen Sie wohl geahnt haben, daß Ihnen eine Überraschungbevorsteht.
Eine angenehme? fragte der Lukkeser.
Ah! ich sehe wohl, daß man ebensowenig das Auge, als das Herz eines Vaters täuscht.
Hm! machte der Major.
Ist Ihnen irgend eine indiskrete Enthüllung zuteil geworden, oder haben Sie vielmehr erraten, er sei da?
Wer?
Ihr Kind, Ihr Sohn, Ihr Andrea!
Ich habe es erraten, erwiderte der Lukkeser mit dem größten Phlegma der Welt; er ist also hier?
Er ist hier, sagte Monte Christo, mein Kammerdiener hat mich soeben von seiner Ankunftbenachrichtigt.
Ah! sehr gut! sagte der Major, indem er dabei die Schnüre seiner Polonaise zusammenzog.
Mein Herr, ichbegreife Ihre Erschütterung, man muß Ihnen Zeit lassen, sich zu erholen; auch will ich den jungen Menschen auf die so sehr ersehnte Zusammenkunft vorbereiten, denn ich setze voraus, er ist nicht minder ungeduldig als Sie.
Ich glaube es wohl, sagte Cavalcanti.
Gut! in einer kleinen Viertelstunde gehören wir Ihnen.
Siebringen mir ihn? Sie treiben also Ihre Güte so weit, daß Sie mir meinen Jungen selbst vorstellen?
Nein, ich will mich keineswegs zwischen einen Vater und seinen Sohn stellen; Sie werden allein sein, Herr Major; doch seien Sie unbesorgt, selbst dann, falls die Stimme desBlutes stummbliebe, könnten Sie sich nicht täuschen, er wird durch diese Tür eintreten. Es ist ein hübscher, blonder, junger Mann, vielleicht etwas zublond, und von äußerst einnehmenden Manieren, wie Sie sehen werden.
Doch Sie wissen, sagte der Major, ich nahm nur die zweitausend Franken mit, die mir der AbbéBusoni zu geben die Güte hatte. Damit machte ich die Reise, und…
Und Siebrauchen Geld, das ist nur zubillig, mein lieber Herr Cavalcanti. Hier sind auf Abschlag acht Tausendfranknoten.
Die Augen des Majors glänzten wie Karfunkel.
Somitbin ich Ihnen noch vierzigtausend Franken schuldig, sagte Monte Christo.
Will Eure Exzellenz einen Empfangschein? fragte der Major, die Scheine in die innere Tasche seiner Polonaise steckend.
Wozu?
AlsBelege dem AbbéBusoni gegenüber.
Sie geben mir einen allgemeinen Schein, wenn Sie die letzten vierzigtausend Franken in Empfang genommen haben. Unter ehrlichen Leuten sind solche Vorsichtsmaßregeln unnötig.
Ah! ja, das ist wahr, sagte der Major, unter ehrlichen Leuten.
Nun noch ein letztes Wort, Marquis. Sie erlauben mir eine kleine, unmaßgeblicheBemerkung, nicht wahr?
Ichbitte darum.
Es wäre wirklich nicht übel, wenn Sie diese Polonaise ablegen würden.
Wirklich? sagte der Major, sein Kleid mit einem gewissen Wohlgefallen anschauend.
Ja, das trägt man noch in Via Reggio, aber in Paris ist dieses Kostüm, so elegant es auch sein mag, längst aus der Mode.
Das ist ärgerlich.
Oh! wenn Sie viel darauf halten, so ziehen Sie esbei Ihrer Abreise wieder an.
Aber was soll ich dafür nehmen?
Was Sie in Ihren Koffern finden.
Wie, in meinen Koffern! Ich habe nur einen Mantelsack.
Bei sich, allerdings. Wozu sichbeschweren? Überdies liebt es ein alter Soldat, mit leichter Ausrüstung zu marschieren.
Gerade deshalb…
Sie sind ein vorsichtiger Mann und haben Ihre Koffer vorausgeschickt. Diese sind gestern im Hotel des Princes, Rue de Richelieu, angelangt. Dort ist Ihre Wohnungbestellt.
In diesen Koffern also?…
Ich setze voraus, Sie sind so vorsichtig gewesen, durch Ihren Kammerdiener alles, was Siebrauchen, einpacken zu lassen: Röcke zu gewöhnlichen Ausgängen, Uniformen. Bei großen Veranlassungen ziehen Sie Ihre Uniform an, das tut gut. Vergessen Sie Ihre Kreuze nicht. Man spottet darüber in Frankreich, trägt sie aber dennoch immer.
Sehr gut! sehr gut! sehr gut! sagte der Major, von dem, was er hörte, immer mehr geblendet.
Und nun, da Ihr Herz gegen zu lebhafte Empfindungen gewappnet ist, bereiten Sie sich vor, lieber Cavalcanti, Ihren Sohn Andrea wiederzusehen.
Und sich freundlich vor dem entzückten Lukkeser verbeugend, verschwand Monte Christo hinter dem Türvorhange.
Andrea Cavalcanti
Monte Christo trat in den anstoßenden Salon, denBaptistin unter dem Namen derblaue Salonbezeichnet hatte, und in den schon vor ihm ein ziemlich elegant gekleideter junger Mann von ungezwungenen Manieren eingetreten war. Dieser lag auf dem Sofa und klopfte mit zerstreuter Miene seine Stiefel mit einem goldknöpfigen Röhrchen. Sobald er Monte Christo wahrnahm, stand er rasch auf.
Der Herr Graf von Monte Christo? fragte er.
Ja, antwortete dieser, und ich habe wohl die Ehre, mit dem, Herrn Grafen Cavalcanti zu sprechen?
Der Graf Andrea Cavalcanti, wiederholte der junge Mann, indem er diese Worte mit einer äußerst freien Verbeugungbegleitete.
Sie müssen einBeglaubigungsschreiben für mich haben?
Ja, unterzeichnet seltsamerweise von Simbad dem Seefahrer. Da ich aber diesen Simbad nur aus Tausendundeiner Nacht kannte, so…
Wohl, es ist ein Abkömmling von ihm, ein sehr reicher Freund von mir, ein mehr als origineller, fast närrischer Engländer, der mit seinem wahren Namen Lord Wilmore heißt.
Ah! das erklärt mir die Sache, versetzte Andrea. Dann geht es vortrefflich. Es ist derselbe Engländer, den ich kennen gelernt habe… in… ja, sehr gut!.. Mein Herr Graf, ichbin Ihr Diener.
Wenn das, was Sie mir zu sagen die Güte haben, wahr ist, sagte lächelnd der Graf, so hoffe ich, daß Sie so gefällig sein werden, mir etwas Näheres über Sie und Ihre Familie mitzuteilen.
Sehr gern, Herr Graf, antwortete der junge Mann mit einer Zungenfertigkeit, diebewies, daß er ein gutes Gedächtnisbesaß. Ichbin, wie Sie sagten, der Graf Andrea Cavalcanti, Sohn des MajorsBartolomeo Cavalcanti, Abkömmling der in das goldeneBuch von Florenz eingetragenen Cavalcanti. Obgleich noch sehr reich, denn mein Vaterbesitzt ein Zinseneinkommen von einer halben Million, hat unsere Familie doch viel Unglück erfahren, und ich selbst, mein Herr, bin in einem Alter von fünf Jahren durch einen ungetreuen Hofmeister geraubt worden und habe deshalbseit fünfzehn Jahren den Urheber meiner Tage nicht gesehen. Seitdem ich das Alter der Vernunft erreicht und Herr meiner selbstbin, suche ich ihn vergebens. Endlich meldet mir dieserBrief Ihres Freundes Simbad, daß er sich in Parisbefindet, und erteilt mir Vollmacht, mich an Sie zu wenden, um weitere Auskunft zu erhalten.
In der Tat, mein Herr, alles, was Sie mir da erzählen, ist sehr interessant, sagte der Graf, der mit ingrimmiger Zufriedenheit die dreiste Miene des Sprechersbetrachtete, und Sie werden wohl daran tun, wenn Sie in allen Stücken der Aufforderung meines Freundes Simbad entsprechen, denn Ihr Vater ist in der Tat hier und sucht Sie.
Der Graf hatte seit seinem Eintritt in den Salon den jungen Mann nicht aus dem Gesichte verloren; erbewunderte die Festigkeit seinesBlickes und die Sicherheit seiner Stimme. Dochbei den Worten: Ihr Vater ist in der Tat hier und sucht Sie, machte der junge Andrea einen Sprung und rief entsetzt: Mein Vater? Mein Vater hier?
Allerdings, erwiderte Monte Christo, Ihr Vater, der MajorBartolomeo Cavalcanti.
Der Ausdruck des Schreckens, der sich über die Züge des jungen Mannes verbreitet hatte, verschwand fast in demselben Augenblick wieder.
Ah! ja, es ist wahr, rief er, der Major Cavalcanti. Und Sie sagen, dieser liebe Vater sei hier?
Ja, mein Herr. Ich sage noch mehr. Soeben habe ich ihn verlassen; die Geschichte, die er mir von seinem geliebten, einst verlorenen Sohn erzählte, ergriff mich ungemein; seine Schmerzen, seineBefürchtungen, seine Hoffnungen wegen dieses Sohnes klingen wie ein rührendes Gedicht. Endlich hört er eines Tags, die Räuber seines Sohnes seienbereit, den Geraubten gegen eine sehrbedeutende Summe zurückzugeben oder ihm mitzuteilen, wo er sei. Nichts hielt den guten Vater zurück. Die Summe wurde an die Grenze von Piemont geschickt… Siebefanden sich, glaube ich, im Süden Frankreichs? Ja, mein Herr, antwortete Andrea mit einer ziemlich verlegenen Miene; ja, ichbefand mich im Süden Frankreichs.
Ein Wagen sollte Sie in Nizza erwarten?
So ist es, er führte mich von Nizza nach Genua und über Turin nach Paris.
Vortrefflich; er hoffte immer, Ihnen unterwegs zubegegnen, denn dies war die Straße, die er selbst verfolgte.
Aber wenn er mirbegegnet wäre, dieser liebe Vater, sagte Andrea, ich zweifle, ober mich erkannt haben würde; es ist eine ziemliche Veränderung mit mir vorgegangen, seitdem er mich aus dem Gesichte verloren hat.
Ah! die Stimme desBlutes, sagte Monte Christo.
Ah! ja, das ist wahr, erwiderte der junge Mann, ich dachte nicht an die Stimme desBlutes.
Nunbeunruhigt nur ein Gedanke den Marquis Cavalcanti, versetzte Monte Christo; was Sie wohl getan haben, während Sie von ihm entfernt waren; wie Sie von Ihren Verfolgernbehandelt worden sind; obman Ihrer Abkunft die schuldige Rücksicht hat zu teil werden lassen, obnicht die Fähigkeiten, mit denen Sie die Natur so reichbegabte, in jener Umgebung vernachlässigt worden sind, und obSie selbst meinen, den Ihnen gebührenden Rang wieder einnehmen und würdigbehaupten zu können.
Mein Herr, stammelte der junge Mann verwirrt, ich hoffe, es wird kein falscherBericht…, übrigens, er kann ruhig sein. Die Räuber, die mich von meinem Vater entfernten und ohne Zweifel, wie sie es später getan, mich an ihn zu verkaufenbeabsichtigten, berechneten, daß man mir, um einen guten Nutzen aus mir zu ziehen, meinen ganzen persönlichen Wert lassen und ihn sogar, wenn es möglich wäre, steigern müßte. Ich erhielt daher eine ziemlich gute Erziehung und wurde von den Kinderdieben ungefähr sobehandelt, wie einst in Kleinasien die Sklaven, aus denen ihre Herren Grammatiker, Mediziner und Philosophen machten, um sie teuer auf dem Markte zu Rom zu verkaufen. Monte Christo lächelte zufrieden; er hatte, wie es scheint, nicht so viel von Andrea Cavalcanti gehofft.
Wenn sich übrigens, versetzte der junge Mann, bei mir ein Mangel an Erziehung, oder vielmehr an Weltgewandtheit zeigen sollte, so wird man wohl die Nachsicht haben, dies zu entschuldigen, inBetracht der Unglücksfälle, die mich seit meiner Jugend verfolgten.
Nun, Graf, Sie werden daraus machen, was Sie wollen, sagte mit gleichgültigem Tone Monte Christo; denn Sie sind der Herr, und es geht nur Sie an; doch auf mein Wort, ich würde im Gegenteil nicht eine Silbe von all diesen Abenteuern sprechen, denn Ihre Geschichte ist ein Roman, und kaum haben Sie irgend jemand davon erzählt, so wird sie völlig entstellt in der Welt umlaufen. Sie werden nicht mehr ein wiedergefundenes Kind, sondern ein Findelkind sein. Vielleicht wird Ihnen der Erfolg zuteil, daß Sie Neugierde erregen; doch nicht jeder liebt es, der Mittelpunkt vonBeobachtungen und die Zielscheibe von Kommentaren zu sein. Das wird Ihnen etwas unangenehm werden.
Ich glaube, Sie haben recht, Herr Graf, sagte der junge Mann, unter Monte Christos unbeugsamemBlicke unwillkürlich erbleichend; es ist dies eine große Unannehmlichkeit.
Oh! Sie müssen sich andererseits die Sache nicht übertrieben vorstellen, entgegnete Monte Christo; denn das hieße, um einen Fehler zu vermeiden, in eine Torheit verfallen. Nein, es gilt nur, einen Plan des Vorgehens festzustellen, und von einem gescheiten Manne, wie Sie sind, läßt sich dieser Plan um so eher durchführen, als er mit Ihren Interessen im Einklang steht; Sie müssen eben durch Zeugnisse und ehrenwerte Verbindungen allesbekämpfen, was Ihre Vergangenheit etwa Dunkles hat.
Andrea verlor sichtbar seine Haltung.
Gern würde ich mich Ihnen alsBürge anbieten, sagte Monte Christo; doch es istbei mir oberster Grundsatz, stets an meinenbesten Freunden zu zweifeln, und einBedürfnis, auch die andern zum Zweifel anzuregen. So würde ich hier eine Rolle spielen, die nicht in meinem Fache läge, wie die Schauspieler sagen, und ich liefe Gefahr, mich auspfeifen zu lassen!
Herr Graf, versetzte Andrea mit kaltem Tone, ich denke jedoch, in Rücksicht auf Lord Wilmore, der mich Ihnen empfohlen hat…
Ja, gewiß; doch Lord Wilmore verhehlt mir nicht, mein lieber Herr Andrea, daß Sie eine etwas stürmische Jugend hinter sich haben. Oh! sagte der Graf, als er AndreasBewegung sah, ich verlange keineBeichte von Ihnen. Dazu hat man zu IhrerBeruhigung den Herrn Marquis Cavalcanti, Ihren Vater, von Lucca kommen lassen. Sie werden sehen, er ist ein wenig steif, etwas geschraubt; doch das ist schließlich eine Uniformfrage, und wenn man erfährt, daß er seit seinem achtzehnten Jahre in österreichischen Diensten steht, ist alles entschuldigt. Doch, ich versichere Ihnen, er genügt als Vater völlig.
Ah! Sieberuhigen mich, mein Herr, ich verließ ihn vor so langer Zeit, daß ich keine Erinnerung mehr an ihn habe.
Und Sie wissen, ein großes Vermögen läßt über vieles hinwegsehen.
Mein Vater ist also wirklich reich, mein Herr?
Millionär… 500 000 Franken Rente.
Ich werde mich also in einer angenehmen Lagebefinden? fragte ängstlich der junge Mann.
In einer äußerst angenehmen, mein lieber Herr; er gibt Ihnen fünfzigtausend Franken jährlich, solange Sie in Parisbleiben.
Dann werde ich immer hierbleiben.
Ei! wer kann für die Umständebürgen? Der Mensch denkt, Gott lenkt.
Andrea stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Aber solange ich in Parisbleibe und kein Umstand mich zwingt, wegzugehen, ist mir das Geld, von dem Sie soeben sprachen, sicher? Ganz gewiß.
Durch meinen Vater? fragte Andrea mit einer gewissen Unruhe.
Ja, aber garantiert durch Lord Wilmore, der Ihnen auf dieBitte Ihres Vaters einen Kredit von fünftausend Franken monatlichbei Herrn Danglars, einem der sicherstenBankiers von Paris, eröffnet hat.
Und mein Vater gedenkt, lange in Paris zubleiben? fragte Andrea mit derselben Unruhe.
Nur einige Tage, antwortete Monte Christo. Sein Dienst erlaubt ihm nicht, länger als zweibis drei Wochen abwesend zu sein.
Oh, der liebe Vater! rief Andrea, sichtbar entzückt über diese schnelle Abreise.
Auch will ich, versetzte Monte Christo, der sich stellte, als täuschte er sich über das in den Worten des jungen Mannes zum Ausdruck gekommene Gefühl, auch will ich die Stunde Ihrer Wiedervereinigung keinen Augenblick mehr verzögern. Sind Sie vorbereitet, den würdigen Herrn Cavalcanti zu umarmen?
Sie zweifeln hoffentlich nicht daran?
Nun, so treten Sie in diesen Salon, mein junger Freund, und Sie werden Ihren Vater finden, der Sie erwartet.
Andrea machte eine tiefe Verbeugung vor dem Grafen und trat in den Salon.
Der Graf folgte ihm mit den Augen und drückte, sobald er ihn verschwinden sah, an einer Feder, die mit einem Gemälde in Verbindung stand, das sich aus dem Rahmen schobund so durch einen geschickt angebrachten Zwischenraum denBlick in den Salon dringen ließ.
Andrea machte die Tür hinter sich zu und näherte sich dem Major, der sich erhob, sobald er das Geräusch seiner Tritte hörte.
Ah! mein Herr und lieber Vater, sagte Andrea mit lauter Stimme und so, daß es der Graf durch die geschlossene Tür hören konnte, sind Sie es wirklich?
Guten Tag, mein lieber Sohn, sagte der Major mit ernstem Tone.
Nach so vielen Jahren der Trennung, fuhr Andrea, nach der Tür schielend fort, welch ein Glück, uns wiederzusehen!
In der Tat, die Trennung hat lange gedauert.
Umarmen wir uns nicht, mein Herr? fragte Andrea.
Und diebeiden umarmten sich, wie man sich auf derBühne umarmt, das heißt, sie streckten sich den Kopf über die Schulter.
So sind wir also wieder vereinigt? sagte Andrea.
Wir sind wiedervereinigt, wiederholte der Major.
Um uns nie mehr zu trennen?
In der Tat; ich glaube, mein lieber Sohn, Siebetrachten Frankreich nunmehr als ein zweites Vaterland?
Ich wäre allerdings in Verzweiflung, wenn ich Paris verlassen müßte.
Und ich vermöchte, wie Siebegreifen, nicht außerhalbLuccas zu leben. Ich werde daher sobald als möglich nach Italien zurückkehren.
Doch ehe Sie abreisen, mein geliebter Vater, stellen Sie mir ohne Zweifel die Papiere zu, mit deren Hilfe ich imstandebin, leicht nachzuweisen, von welchemBlute ich abstamme.
Allerdings, denn ich komme ausdrücklich deshalbund habe es mich so viel Mühe kosten lassen, Sie zu treffen, um sie Ihnen zustellen zu können.
Andrea griff gierig nach dem Trauscheine seines Vaters, nach seinem eigenen Taufscheine und durchlief, nachdem er das Ganze mit einembei einem guten Sohn erklärlichen Ungestüm geöffnet hatte, die Papiere mit einer Hast und Gewandtheit, die zugleich das geübte Auge und das lebhafteste Interesse verrieten.
Als er damit zu Ende war, erglänzte ein unbeschreiblicher Ausdruck von Freude auf seiner Stirn, und er sagte, den Major mit einem seltsamen Lächeln anschauend, in vortrefflichem Toskanisch: Ah! es gibt also keine Galeeren in Italien?
Der Major warf sich zurück und rief: Was meinen Sie?
Daß man ungestraft solche Dokumente fabriziert? Für die Hälfte davon, mein vielgeliebter Vater, würde man Sie in Frankreich auf fünf Jahre die Luft von Toulon einatmen lassen.
Wiebeliebt? sagte der Lukkeser, der eine majestätische Miene zu erlangen suchte.
Mein lieber Herr Cavalcanti, sagte Andrea, den Major am Arme fassend, wieviel gibt man Ihnen dafür, daß Sie mein Vater sind?
Der Major wollte sprechen.
Stille! sagte Andrea, die Stimme dämpfend, ich will Ihnen zuerst Vertrauen schenken; manbezahlt mir fünfzigtausend Franken jährlich dafür, daß ich Ihr Sohnbin; Siebegreifen folglich, daß ich nie geneigt sein werde, zu leugnen, Sie seien mein Vater.
Der Major schaute unruhig umher.
Oh! seien Sie unbesorgt, wir sind allein, versetzte Andrea; überdies sprechen wir Italienisch.
Nun wohl, mir gibt man ein für alle Mal fünfzigtausend Franken, sprach der Lukkeser.
Herr Cavalcanti, glauben Sie an Feenmärchen?
Nein, früher nicht; aber jetzt muß ich daran glauben.
Sie haben alsoBeweise erhalten?
Der Major zog eine Handvoll Gold aus seiner Tasche.
Handgreifliche, wie Sie sehen.
Sie denken, ich könne den Versprechungen trauen, die man mir gemacht hat?
Ich glaube es.
Und dieserbrave Mann von einem Grafen werde sie halten?
Punkt für Punkt; doch Siebegreifen, um zu diesem Ziele zu gelangen, müssen wir unsere Rollen spielen.
Wie denn? Ich als zärtlicher Vater.
Und ich als ehrfurchtsvoller Sohn.
Da sie verlangen, daß Sie von mir abstammen.
Welche sie?
Verdammt, ich weiß es nicht, die, welche uns schrieben; haben Sie nicht auch einenBriefbekommen?
Doch wohl.
Von wem?
Von einem gewissen AbbéBusoni.
Den Sie nicht kennen?
Ich habe ihn nie gesehen. Was sagte Ihnen derBrief, den Sie erhielten?
Sie werden mich nicht verraten?
Ich werde mich wohl hüten, unsere Interessen sind dieselben.
So lesen Sie.
Und der Major gabdem jungen Mann einenBrief.
Andrea las mit leiser Stimme:
Sie sind arm, ein unglückliches Alter erwartet Sie. Wollen Sie, wenn nicht reich, doch wenigstens unabhängig werden?
Reisen Sie auf der Stelle nach Paris und fordern Siebei dem Herrn Grafen von Monte Christo, Avenue des Champs Elysées, Nr. 30, den Sohn zurück, den Sie von der Marchesa Corsinari gehabt haben und der Ihnen in einem Alter von fünf Jahren gestohlen worden ist.
Dieser Sohn heißt Andrea Cavalcanti.
Damit Sie die Absicht des Unterzeichneten, Ihnen angenehm zu sein, nicht in Zweifel ziehen, finden Sie anbei:
Eine Anweisung von zweitausend vierhundert toskanischen Lire, zahlbarbei Herrn Gozzi in Florenz.
EinenBrief zum Zweck der Einführungbei dem Herrn Grafen von Monte Christo, auf den ich Sie mit einer Summe von achtundvierzigtausend Franken akkreditiere.
Finden Sie sich am 26. Mai abends um sieben Uhrbei dem Grafen ein.
AbbéBusoni.
So ist es.
Wie, so ist es? Was wollen Sie damit sagen? fragte der Major.
Ich sage, daß ich einen ungefähr ähnlichenBrief erhalten habe.
Sie? Von dem AbbéBusoni?
Von einem Engländer, von einem gewissen Lord Wilmore, der den Namen Simbad der Seefahrer annahm.
Und den Sie ebensowenig kennen, wie ich den AbbéBusoni?
Doch; ichbin weiter vorgerückt als Sie.
Sie haben ihn gesehen?
Ja, einmal.
Wo?
Ah! das ist es gerade, was ich Ihnen nicht sagen kann; sonst wüßten Sie so viel wie ich, und das ist nicht nötig.
DieserBrief sagte Ihnen?
Lesen Sie!
Sie sind arm und sehen nur einer elenden Zukunft entgegen; wollen Sie einen Namen haben, frei sein, reich sein?
Nehmen Sie den Postwagen, den Siebespannt finden, wenn Sie von Nizza durch das Genueser Tor weggehen. Reisen Sie durch Turin, Chambéry und Pont‑de‑Beauvoisin. Begeben Sie sich zu dem Grafen von Monte Christo, Avenue des Champs Elysées, am 26. Mai um sieben Uhr abends, und fordern Sie Ihren Vater von ihm.
Sie sind der Sohn des MarquisBartolomeo Cavalvanti und der Marchesa Oliva Corsinari, wie dies die Ihnen von dem Marquis zu übergebenden Papierebestätigen werden, die Ihnen unter diesem Namen in der Pariser Welt zu erscheinen gestatten.
Was Ihren Rangbetrifft, so wird Sie eine Rente von fünfzigtausend Lire in den Stand setzen, denselben zubehaupten.
Sie erhalten anbei eine Anweisung auf fünftausend Lire an Herrn Ferrea, Bankier zu Nizza, und einen Einführungsbrief für den Grafen von Monte Christo, der von mirbeauftragt ist, für dieBefriedigung aller IhrerBedürfnisse zu sorgen.
Simbad der Seefahrer.
Hm, sagte der Major, das ist sehr schön!
Nicht wahr?
Sie haben den Grafen gesehen? Hat er anerkannt? Alles.
Begreifen Sie etwas hiervon?
Meiner Treu, nein.
In dieser ganzen Geschichte ist einer der Tor.
Auf jeden Fall weder Sie noch ich.
Nein, gewiß nicht.
Wohl, aber wer sonst?
Daran ist wenig gelegen, nicht wahr?
Allerdings, das wollte ich eben sagen; setzen wir unsere Rollen fort und spielen ein gemeinschaftliches Spiel. Gut; Sie werden mich würdig finden, Ihr Partner zu sein. Ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt, mein lieber Vater.
Sie erweisen mir viel Ehre, mein lieber Sohn.
Monte Christo wählte diesen Augenblick, um in den Salon zurückzukehren. Als sie das Geräusch seiner Tritte hörten, warfen sie sich in die Arme; der Graf fand sie eng umschlossen.
Nun, Herr Marquis, es scheint, Sie haben einen Sohn nach Ihrem Herzen wiedergefunden?
Ah! Herr Graf, die Freude erstickt mich fast.
Und Sie, junger Mann?
Ah! Herr Graf, das Glück erstickt mich.
Glücklicher Vater! glückliches Kind! rief der Graf. Nur einesbetrübt mich, sagte der Major; die Notwendigkeit, in der ich michbefinde, Paris so schnell zu verlassen. Oh! lieber Herr Cavalcanti, Sie werden hoffentlich nicht eher abreisen, alsbis ich Sie einigen Freunden vorgestellt habe, entgegnete Monte Christo.
Ich stehe dem Herrn Grafen zuBefehl, sagte der Major. Nunbeichten Sie, junger Mann, sagte Monte Christo.
Wem?
Ihrem Herrn Vater, sagen Sie ihm ein paar Worte von dem Zustand Ihrer Finanzen.
Ah! Teufel! rief Andrea; Sieberühren die empfindlichste Seite.
Hören Sie, Major? sagte Monte Christo.
Allerdings höre ich.
Das gute Kind sagt, esbrauche Geld!
Was soll ich tun?
Bei Gott, Sie müssen ihm geben!
Ich?
Ja Sie.
Monte Christo trat zwischenbeide.
Nehmen Sie, sagte er zu Andrea und drückte ihm ein Päckchen mitBanknoten in die Hand.
Was ist das?
Die Antwort Ihres Vaters.
Meines Vaters?
Gaben Sie ihm nicht zu verstehen, Sie hätten Geld nötig? Ja. Nun?
Erbeauftragt mich, Ihnen dies zuzustellen. Auf Abschlag von meiner Rente?
Nein, zur Deckung Ihrer Einrichtungskosten.
Oh, teurer Vater!
Still, sagte Monte Christo, Sie sehen, ich soll Ihnen nicht sagen, daß es von ihm kommt.
Ich weiß diese Zartheit zu würdigen, versetzte Andrea und steckte dieBanknoten in seine Tasche.
Es ist gut, gehen Sie nun! sagte Monte Christo. Und wann werden wir die Ehre haben, den Herrn Grafen wiederzusehen? fragte Cavalcanti
Ah! ja, wiederholte Andrea; wann werden wir diese Ehre haben?
Sonnabend, wenn Sie wollen… ja… Sonnabend. Ich habe in meinem Hause in Auteuil, Rue de la Fontaine, Nr. 30, mehrere Personenbei Tische, und unter anderen Herrn Danglars, IhrenBankier; ich werde Sie ihm vorstellen, denn er muß Siebeide kennen, um Ihnen Ihr Geld auszuzahlen.
In Gala? fragte mit heller Stimme der Major.
In Gala: Uniform, Kreuze, kurze Hose.
Und ich? fragte Andrea.
Oh! Sie, sehr einfach. SchwarzeBeinkleider, lackierte Stiefel, weiße Weste, schwarzer Frack, lange Halsbinde; lassen Sie sichbeiBlin oderbei Veronique kleiden. Baptistin wird Ihnen die Adresse dieser Herrn geben. Je weniger anspruchsvoll Sie sich kleiden, destobesser wirdbei Ihrem Reichtum die Wirkung sein. Kaufen Sie Pferde, so nehmen Sie siebei Dedeveux; brauchen Sie einen Wagen, so gehen Sie zuBaptiste.
Um welche Stunde dürfen wir uns einfinden?
Gegen halbsieben Uhr.
Es ist gut, man wird nicht verfehlen, sagte der Major, nach seinem Hute greifend.
Diebeiden Cavalcanti verbeugten sich und verließen das Zimmer.
Der Graf näherte sich dem Fenster und sah sie Arm in Arm durch den Hof schreiten.
In der Tat, sagte er, das sind zwei große Schufte! Wie schade, daß sie einander nicht wirklich als Vater und Sohn angehören!
Dann fügte er nach einem Augenblick düsteren Nachdenkens hinzu: Wir wollen zu den Morels gehen; ich glaube, der Ekel greift mein Herz noch mehr an, als der Haß.
Unsere Leser müssen uns nun erlauben, sie zu dem an das Haus des Herrn von Villefort grenzenden Luzernengehege zu führen, wo wir hinter dem von Kastanienbäumen überschatteten Gitter unsbefreundete Personen finden.
Das Luzernengehege
Diesmal hat sich Maximilian zuerst eingefunden. Er lauert in dem tiefgelegenen Garten auf eine Erscheinung zwischen denBäumen und auf das Knistern eines seidenen Schuhes auf dem Sande der Allee.
Endlich läßt sich das so lang ersehnte Knistern hören, aber statt einer Gestalt erscheinen zwei. Die Zögerung Valentines war durch einenBesuch der Frau Danglars und Eugenies, der sich über die Stunde, wo Valentine erwartet wurde, ausgedehnt hatte, veranlaßt worden. Um das Stelldichein nicht ganz zu versäumen, schlug Valentine Fräulein Danglars einen Spaziergang im Garten vor, denn sie wollte Maximilian zeigen, daß sie nicht schuld an dem Verzuge sei, unter dem er ohne Zweifel gelitten.
Der junge Mannbegriff alles mit der den Liebenden eigenen schnellen Auffassung, und sein Herz war erleichtert. Ohnebis in denBereich der Stimme zu kommen, richtete Valentine doch ihren Spaziergang so ein, daß Maximilian sie hin und her gehen sehen konnte, und jeder dem jungen Mann zugeworfeneBlick sagte ihm: Fassen Sie Mut, Freund, Sie sehen, daß es nicht meine Schuld ist.
Und Maximilian faßte in der Tat Mut, während er den Kontrast zwischen denbeiden Mädchenbewunderte, zwischen derBlonden mit schmachtenden Augen und vorgebeugter Gestalt, gleich einer schönen Weide, und derBraunen mit den stolzen Augen und dem pappelartig geraden Wuchse. Es versteht sich von selbst, daßbei dieser Vergleichung zwischen zwei so entgegengesetzten Naturen der Vorzug, wenigstens von dem jungen Manne, Valentine eingeräumt wurde.
Nach einem halbstündigen Spaziergang entfernten sich diebeiden Mädchen. Maximilianbegriff, daß Frau Danglars'Besuch zu Ende war.
Eine Minute nachher erschien Valentine wirklich wieder allein. Aus Furcht, ein neugierigerBlick könne ihr folgen, kam sie langsam; und statt unmittelbar auf das Gitter zuzuschreiten, setzte sie sich auf eineBank, während sie scheinbar absichtslos jedes Gebüsch untersuchte und das Auge in die Tiefe der Allee hinabsandte. Nach diesen Vorsichtsmaßregeln lief sie zu dem Gitter.
Guten Morgen, Valentine, sagte eine Stimme.
Guten Morgen Maximilian; ich ließ Sie warten, aber Sie haben wohl die Ursache gesehen?
Ja, ich erkannte Fräulein Danglars; doch ich glaubte nicht, daß Sie in so enger Verbindung mit dieser Dame ständen.
Wir plauderten miteinander, und sie gestand mir ihren Widerwillen gegen eine Verbindung mit Herrn von Morcerf, und ich gestand ihr, daß ich es als ein Unglückbetrachte, Herrn d'Epinay heiraten zu sollen.
Teure Valentine!
Deshalb, mein Freund, sahen Sie diese scheinbare Harmonie zwischen mir und Eugenie! Während ich aber von dem Manne sprach, den ich nicht lieben kann, dachte ich an den Mann, den ich liebe.
Sie sind gut in allen Dingen, Sie haben etwas an sich, was Fräulein Danglars nie haben wird: den unerklärlichen Zauber, derbei der Frau das ist, was der Wohlgeruchbei derBlume, der Wohlgeschmackbei der Frucht; dennbei derBlume wiebei der Frucht ist mit der Schönheit nicht alles getan.
Ihre Liebe läßt Sie mich so anschauen!
Nein, Valentine, das schwöre ich Ihnen. Ichbetrachtete Siebeide vorhin, undbei meiner Ehre, während ich der Schönheit Fräulein Danglars' Gerechtigkeit widerfahren ließ, begriff ich doch nicht, wie sich ein Mann in sie verlieben könnte — doch gestatten Sie eine Frage derbloßen Neugierde: Liebt Fräulein Danglars einen andern, daß sie sich einer Verheiratung mit Herrn von Morcerf scheut?
Sie sagte mir, sie liebe niemand, sagte Valentine; sie verabscheue die Ehe; ihre größte Freude wäre es gewesen, ein freies und unabhängiges Leben zu führen, und sie wünschtebeinahe, ihr Vater möchte sein Vermögen verlieren, daß sie wie ihre Freundin, Fräulein Luise d'Armilly, Künstlerin werden könnte.
Ah, das ist interessant, doch ich wollte Ihnen sagen, daß ich kürzlich Herrn von Morcerf getroffen habe. Franz ist sein Freund, wie Sie wissen; er kündigte mir seine nahebevorstehende Rückkehr an.
Valentine erbleichte und hielt sich am Gitter.
Ah, mein Gott! sagte sie, wenn dies so wäre! Frau von Villefort ließ mich vorhin wissen, ich sollte in zehn Minutenbei ihr sein; sie habe mir eine für mich äußerst wichtige Nachricht mitzuteilen. ObSie wohl diese Nachricht meint? Doch nein, diese Mitteilung käme nicht von Frau von Villefort.
Warum nicht?
Warum… ich weiß es nicht… doch es scheint mir, wenn sich Frau von Villefort auch nicht offen widersetzt, so ist sie doch nicht für diese Heirat eingenommen.
Ah! Valentine, ich glaube, ich werde Frau von Villefort anbeten.
Oh! nicht zu eilig, Maximilian, sagte Valentine mit einem traurigen Lächeln.
Wenn sie aber gegen diese Heirat aus irgend einem Grunde eingenommen ist, würde ihr Ohr nicht vielleicht für einen andern Antrag offen sein?
Glauben Sie dies nicht, Maximilian! Nicht die Ehesucher verwirft Frau von Villefort, sondern die Ehe.
Wie, die Ehe? Wenn sie die Ehe so sehr haßt, warum hat sie sich verheiratet?
Sie verstehen mich nicht, Maximilian. Als ich vor einem Jahre den Gedanken äußerte, mich in ein Kloster zurückzuziehen, nahm sie trotz derBemerkungen, die sie dagegen machen zu müssen glaubte, meinen Vorschlag mit Freuden an, und ichbin fest überzeugt, auch mein Vater gabauf ihren Antriebseine Einwilligung dazu; nur mein armer Großvater hielt mich zurück. Sie können sich nicht vorstellen, Maximilian, welcher Ausdruck in den Augen dieses armen Greises liegt, der nur mich allein in der Welt liebt und, Gott verzeihe mir, wenn dies eine Lästerung ist, nur von mir allein in der Welt geliebt wird. Wenn Sie wüßten, wie er mich anschaute, wieviel Vorwurf in diesemBlicke, wieviel Verzweiflung in diesen Tränen lag, die ohne Klagen, ohne Seufzer an seinen unbeweglichen Wangen herabrollten! Ah, Maximilian, ich fühlte etwas wie einen Gewissensbiß, warf mich ihm zu Füßen und rief: Verzeihung! Verzeihung! mein Vater, man mag mit mir machen, was man will, ich werde Sie nie verlassen. Dann schlug er die Augen zum Himmel auf! Maximilian, ich kann viel erdulden; dieserBlick meines guten, alten Großvaters hat mich zum voraus für dasbelohnt, was ich leiden werde.
Teure Valentine! Sie sind ein Engel.
Hören Sie weiter! Ich habe als Erbteil von meiner Mutter gegen 50 000 Franken Rente; mein Großvater und meine Großmutter, der Marquis und die Marquise von Saint‑Meran, müssen mir ebensoviel hinterlassen; Herr Noirtier hat offenbar die Absicht, mich zu seiner einzigen Erbin einzusetzen. Daraus geht hervor, daß meinBruder Eduard im Vergleiche mit mir, da er kein Vermögen von Frau von Villefort zu erwarten hat, arm ist. Frau von Villefort aber liebt dieses Kind, und hätte ich den Schleier genommen, so wäre mein ganzes Vermögen von meinem Vater, der alles von dem Marquis, der Marquise und mir erbte, ihrem Sohne zugekommen.
Oh, wie sonderbar ist eine solche Habgierbei einer jungen und hübschen Frau!
Bemerken Sie wohl, daß sie nicht für sich, sondern für ihren Sohn danach trachtet, und daß das, was Sie ihr als einen Fehler vorwerfen, aus dem Gesichtspunkte der mütterlichen Liebebetrachtet, fast eine Tugend ist.
Wie wäre es aber, Valentine, wenn Sie einen Teil Ihres Vermögens diesem Sohne abtreten wollten?
Aber wie einen solchen Vorschlag machen, undbesonders einer Frau gegenüber, diebeständig das Wort Uneigennützigkeit auf der Zunge führt?
Valentine, meine Liebe ist mir stets heilig geblieben, und wie jede heilige Sache, habe ich sie mit dem Schleier meiner Achtungbedeckt und in meinem Herzen eingeschlossen. Niemand in der Welt, nicht einmal meine Schwester, hat eine Ahnung von dieser Liebe, Valentine, erlauben Sie mir, mit einem Freunde über diese Liebe zu sprechen?
Valentinebebte und erwiderte: Mit einem Freunde? Oh, mein Gott! Maximilian, ich zittere, wenn ich Sie nur so reden höre! Mit einem Freunde, und wer ist denn dieser Freund?
Teure Freundin, Sie kennen ihn, er hat Ihrer Stiefmutter und ihrem Sohne das Leben gerettet.
Der Graf von Monte Christo? Oh! er kann nie mein Freund sein, denn er ist zu sehr der meiner Stiefmutter.
Der Graf der Freund Ihrer Stiefmutter, Valentine? Ichbin überzeugt, daß Sie sich täuschen, sagte Maximilian.
Oh! wenn Sie wüßten, nicht Eduard regiert mehr im Hause, sondern der Graf: hochgeschätzt von Frau von Villefort, die in ihm den Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse erblickt, bewundert von meinem Vater, derbehauptet, er habe nie mit mehrBeredsamkeit erhabene Gedanken aussprechen hören, und vergöttert von Eduard, der ihm, trotz seiner Furcht vor seinen großen, schwarzen Augen, entgegenläuft, sobald er ihn kommen sieht, und ihm die Hand öffnet, wo er stets einbewunderungswürdiges Spielzeug findet. Auf diese Art ist der Graf Monte Christo Herr in unserm Hause.
Gut, Valentine, wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, so müssen Siebereits die Wirkungen seiner Gegenwart fühlen oder werden sie wenigstensbald fühlen. Er trifft Albert von Morcerf in Italien, um ihn den Händen von Räubern zu entreißen; er erblickt Frau Danglars, um ihr ein königliches Geschenk zu machen; Ihre Stiefmutter und IhrBruder fahren vor seiner Tür vorüber, damit sein Nubier ihnen das Leben rettet. Dieser Mannbesitzt offenbar die Macht, auf die Ereignisse, auf die Menschen und auf die Dinge einen Einfluß zu üben. Ich sah nie einen einfacheren Geschmack in Verbindung mit größerer Pracht. Sein Lächeln ist so süß, wenn er es mir zuwendet, daß ich vergesse, wiebitter die andern sein Lächeln finden. Oh! sagen Sie mir, Valentine, hat er Ihnen so zugelächelt? Wenn er dies getan, so werden Sie glücklich sein.
Mir! rief das junge Mädchen; oh, mein Gott! Maximilian, er schaut mich nicht einmal an, oder er wendet vielmehr das Auge ab, wenn ich zufällig in seine Nähe komme. Nein, er ist nicht edelmütig, oder erbesitzt nicht den scharfenBlick, der in der Tiefe der Herzen liest und den Sie mit Unrechtbei ihm voraussetzen. Besäße er diesenBlick, so würde er gesehen haben, daß ich unglücklichbin; wäre er edelmütig, so würde er seinen Einfluß zu meinem Schutze angewendet haben, und spielte er, wie Sie sagen, die Rolle der Sonne, so hätte sich mein Herz an einem ihrer Strahlen erwärmt. Siebehaupten, er sei Ihr Freund, Maximilian; ei, mein Gott! woher wissen Sie dies?
Es ist gut, Valentine, erwiderte Morel seufzend; sprechen wir nicht mehr davon, ich werde ihm nichts sagen!
Ach! mein Freund, ichbetrübe Sie. Oh, warum kann ich Ihnen nicht die Hand drücken, um mir Verzeihung von Ihnen zu erbitten! Doch mir wäre nichts lieber, als wenn ich überzeugt würde; sagen Sie mir, was hat denn dieser Graf von Monte Christo für Sie getan?
Ich gestehe, Sie setzen mich sehr in Verlegenheit, Valentine, wenn Sie mich fragen, was er für mich getan habe; ich weiß wohl, es ist nichts Auffallendes. Auch entspringt meine Zuneigung für ihn rein dem Zuge des Herzens, und ich kann sie nicht verstandesgemäßbegründen. Hat die Sonne etwas für mich getan? Nein; sie erwärmt mich, und ihr Licht läßt mich Sie erblicken. Hat dieser oder jener Wohlgeruch etwas für mich getan? Nein; sein Duft erquickt auf eine angenehme Weise meine Sinne; ich kann nichts weiter sagen, wenn man mich fragt, warum ich diesen Wohlgeruch rühme. Meine Freundschaft für den Grafen ist unerklärlich, wie die seinige für mich. Eine geheime Stimme offenbart mir, daß diese unvorhergesehene und gegenseitige Freundschaft mehr als Zufall ist. Ich finde in seinen einfachsten Handlungen, in seinen geheimsten Gedanken einen Zusammenhang mit meinen Handlungen und meinen Gedanken. Sie werden abermals über mich lachen, Valentine; aber seitdem ich diesen Mann kenne, ist mir der törichte Gedanke gekommen, alles, was mir Gutesbegegne, entströme ihm. Und dennoch habe ich dreißig Jahre gelebt, ohne diesesBeschützers zubedürfen… nicht wahr? Gleichviel, hören Sie einBeispiel: Er hat mich auf Sonnabend zum Mittagessen eingeladen, das istbei unserem Verhältnis zu einander ganz natürlich, nicht wahr? Nun, was habe ich seitdem erfahren? Ihr Vater ist zu diesem Mittagessen eingeladen, Ihre Mutter wird kommen. Ich werde mit ihnen zusammentreffen, und wer weiß, was in der Zukunft hieraus entspringt? Das sind scheinbar ganz einfache Umstände. Ich aber sage mir, der Graf, dieser sonderbare Mann, der alles errät, habe mich mit Herrn und Frau von Villefort zusammenbringen wollen, und ich suchebisweilen, das schwöre ich Ihnen, in seinen Augen zu lesen, ober nicht meine Liebe erraten hat.
Guter Freund, entgegnete Valentine, ich müßte Sie für einen Träumer und Schwärmer halten und an Ihrem Verstande zweifeln, wenn ich von Ihnen nur solcheBemerkungen hörte. Wie, Sie sehen in diesem Zusammentreffen etwas anderes als einen Zufall? Bedenken Sie doch! Mein Vater, der nie ausgeht, war zehnmal auf dem Punkte, diese Einladung abzuschlagen, trotz derBitte der Frau von Villefort, die im Gegenteil vor Verlangenbrennt, den wunderbaren Nabobin seinem Hause zu sehen, und nur mit großer Mühe hat sie es dahin gebracht, daß er siebegleite. Nein, nein, glauben Sie mir, Maximilian, abgesehen von Ihnen, habe ich von niemand auf dieser Welt Hilfe zu erwarten, als von meinem Großvater, einem Leichnam.
Ich fühle, daß Sie recht haben, Valentine, und daß die Logik auf Ihrer Seite ist! Doch Ihre sanfte, stets für mich so mächtige Stimme überzeugt mich heute nicht.
Die Ihrige mich auch nicht, und ich gestehe, wenn Sie keinen weiteren Grund anzuführen wissen…
Ich weiß einen, sagte Maximilian zögernd; doch in der Tat, Valentine, ich muß selbstbekennen, er ist noch törichter als der erste.
Desto schlimmer, versetzte lächelnd Valentine.
Nun, so schauen Sie durch dieBretter, und sehen Sie dort an einemBaume das neue Pferd, mit dem ich gekommenbin.
Oh! ein herrliches Tier! rief Valentine, warum haben Sie es nicht zum Gitter geführt? Ich hätte mit ihm gesprochen, und es würde mich verstanden haben.
Es ist in der Tat ein sehr wertvolles Tier; Sie wissen aber, daß mein Vermögenbeschränkt ist, Valentine, und daß ich dasbin, was man einen vernünftigen Menschen nennt. Nun, ich hatte diese herrliche Medea, so nenne ich sie, bei einem Pferdehändler gesehen; ich fragte nach dem Preise; man antwortete mir: 4500 Franken. Ich mußte mich, wie Siebegreifen, enthalten, sie länger schön zu finden, und entfernte mich mit schwerem Herzen, denn das Pferd hatte mich zärtlich angeschaut, mich mit seinem Kopfe geliebkost und, als ich auf ihm saß, auf die anziehendste Weise unter mir getanzt. An demselben Abend sah ich einige Freundebei mir, Herrn Debray und fünfbis sechs andere Taugenichtse, die Sie nicht einmal dem Namen nach kennen. Man schlug ein Hazardspiel vor; ich spiele nie, denn ichbin nicht reich genug, um verlieren zu können, und nicht arm genug, um einen Gewinn zu wünschen. Doch Siebegreifen, ich war Wirt und konnte nichts anderes tun, als Karten holen lassen. Als man sich zur Tafel setzte, kam Herr von Monte Christo. Man spielte, und ich gewann; kaum wage ich es zu gestehen, Valentine, ich gewann fünftausend Franken. Wir trennten uns um Mitternacht. Ich konnte mich nicht halten, nahm einen Wagen und ließ mich zu meinem Pferdehändler führen. Ich stürzte durch die Tür, trat in den Stall und schaute nach der Raufe. Oh Glück! Medea knaupelte an ihrem Haber. Ich ergreife einen Sattel, befestige ihn selbst auf dem Rücken, lege den Zaum an, und Medea zeigt sich mit meinem Tun durchaus einverstanden. Dann händige ich dem erstaunten Kaufmann die 4500 Franken ein und reite die ganze Nacht auf den Champs‑Elysées spazieren. Ich sah Licht an den Fenstern des Grafen, und es kam mir sogar vor, als erblickte ich seinen Schatten hinter den Vorhängen. Nun wollte ich schwören, Valentine, der Graf wußte, daß ich dieses Pferd wünschte, und verlor absichtlich, um mich gewinnen zu lassen.
Mein lieber Maximilian, Sie sind in der Tat zu phantastisch… und werden mich nicht lange lieben… ein Mann, der so poetische Anschauungen hat, wird eine eintönige Liebe wie die unsrigebald sattbekommen. Doch hören Sie, großer Gott, man ruft mich.
Oh! Valentine, durch die kleine Öffnung des Verschlags Ihren kleinsten Finger… daß ich ihn küssen kann.
Maximilian, wir sagten, wir wollten füreinander nichts als zwei Stimmen, zwei Schattenbleiben.
Nach IhremBelieben, Valentine.
Werden Sie glücklich sein, wenn ich tue, was Sie wollen?
Ganz gewiß!
Valentine stieg auf eineBank und streckte, nicht ihren kleinen Finger durch die Öffnung, sondern ihre ganze Hand über den Verschlag.
Maximilian stieß einen Schrei aus, sprang auf einen Stein, ergriff die teure Hand und drückte seine glühenden Lippen darauf; doch sogleich entschlüpfte die Hand wieder der seinigen, und der junge Mann hörte Valentine, die vielleicht über die Empfindung erschrocken war, die sich ihrerbemächtigt hatte, rasch entfliehen.
Noirtier von Villefort
Während der eben mitgeteilten Unterredung zwischen Valentine und Maximilian trug sich im Hause des Staatsanwalts folgendes zu. Herr von Villefort trat mit Frau von Villefortbei dem Vater des ersteren ein. Beide setzten sich an die Seite des Greises, nachdem sie ihnbegrüßt undBarrois, einen alten Diener, der schon 25 Jahre in seinem Dienste stand, weggeschickt hatten.
Herr Noirtier saß in seinem großen Rollstuhle, auf den man ihn jeden Morgen setzte, einem Spiegel gegenüber, in dem das ganze Zimmer sichtbar war und der dem Greise, ohne daß er eineBewegung machte, zeigte, wer in sein Zimmer eintrat, wer es verließ und was man um ihn her machte. Unbeweglich wie ein Leichnam, schaute Herr Noirtier mit gescheiten, lebhaften Augen seine Kinder an, deren umständlicheBegrüßung ihm irgend einen feierlichen und unerwarteten Schritt verkündigte.
Das Gesicht und das Gehör waren noch die einzigen Sinne, die wie zwei Funken diesesbereits zu drei Vierteln dem Grabe angehörige menschliche Gebildebelebten; und von diesen zwei Sinnen vermochte nur einer nach außen das innere Leben des starren Körpers zu enthüllen, das Auge. Und dieses Auge, welches das innere Leben offenbarte, war einem von jenen fernen Lichtern ähnlich, die in finsterer Nacht dem in der Wüste verirrten Reisenden anzeigen, daß es noch ein Wesen gibt, welches in dieser Stille und in dieser Dunkelheit wacht.
In dem schwarzen Auge des alten Noirtier, das eine schwarzeBraue überragte, während all sein Haar, das er lang und auf die Schultern herabhängend trug, weiß war, — in diesem Auge waren die ganze Tätigkeit, die ganze Gewandtheit, die ganze Kraft, der ganze Verstand, die einst in diesem Körper und in diesem Geiste weilten, nunmehr konzentriert. Fehlten auch dieBewegungen des Armes, die Gebärden des Antlitzes, der Ton der Stimme, die Haltung des Körpers, dieses mächtige Auge ersetzte alles; erbefahl mit den Augen, er dankte mit den Augen; es war ein Leichnam mit lebendigen Augen, und nichts war ergreifender anzuschauen, als wenn sich zuweilen in diesem Marmorgesichte ein Zorn entzündete oder eine Freude glänzte. Nur drei Personen verstanden die Sprache des armen Gelähmten: Villefort, Valentine und der alte Diener. Da jedoch Villefort nur selten und eigentlich nur, wenn er es nicht umgehen konnte, seinen Vater sah, soberuhte das ganze Glück des Greises auf seiner Enkelin, und Valentine war durch Ergebenheit, Liebe und Geduld dahin gelangt, daß sie alle Gedanken Noirtiers von seinen Augen ablas. Auf seine stumme, für jeden andern unverständliche Sprache antwortete sie mit ihrer ganzen Stimme, mit ihrer ganzen Physiognomie, mit ihrer ganzen Seele, so daß sogar lebensvolle Gespräche zwischen dem Mädchen und dem Mann mit dem ungeheuren Wissen, dem unerhörten Scharfsinne und dem mächtigen Willen stattfinden konnten.
Valentine hatte also das seltsame Problem gelöst, die Gedanken des Greises zu verstehen und ihm ihre Gedanken verständlich zu machen; und infolgedessen kam es nur selten vor, daß siebei den gewöhnlichen Vorkommnissen des Lebens nicht genau das Verlangen dieser lebendigen Seele oder dasBedürfnis dieses halbunempfindlichen Körpers erraten hätte. Der DienerBarrois kannte alle Gewohnheiten seines Herrn, und Noirtierbrauchte nur ausnahmsweise etwas von ihm zu verlangen.
Villefortbedurfte keiner Unterstützung, um mit seinem Vater das seltsame Gespräch anzuknüpfen, das er mit ihm zu führen gedachte, denn auch er kannte, wie gesagt, vollkommen das Wörterbuch des Greises, und wenn er sich desselben nicht häufigerbediente, so geschah dies aus Überdruß oder Gleichgültigkeit. Er ließ also vorher Valentine in den Garten hinabgehen, entfernteBarrois, setzte sich rechts von seinem Vater, während Frau von Villefort ihren Platz zu seiner Linken nahm, undbegann: Mein Herr, wundern Sie sich nicht, daß Valentine nicht mit uns heraufgekommen ist, und daß ichBarrois entfernte, denn die Unterredung, die wir untereinander haben werden, kann nicht in Gegenwart eines jungen Mädchens oder eines Dieners stattfinden; Frau von Villefort und ich haben Ihnen eine Mitteilung zu machen.
Noirtiers Gesichtbliebunempfindlich, während Villeforts Augebis in die tiefste Seele des Greises dringen zu wollen schien.
Diese Mitteilung, fuhr der Staatsanwalt mit dem eisigen Tone fort, der nie einen Widerspruch zuzulassen schien, diese Mitteilung, Frau von Villefort und ich sind fest davon überzeugt, wird Sie erfreuen.
Das Auge des Greisesbliebteilnahmlos, er hörte nur.
Mein Herr, sagte Villefort, wir verheiraten Valentine.
Ein Gesicht von Wachs wärebei dieser Kunde nicht kälter geblieben, als das Gesicht des Greises.
Die Heirat wirdbinnen drei Monaten stattfinden, fügte Villefort hinzu.
Das Auge des Greisesbliebimmer gleich leblos.
Frau von Villefort nahm ebenfalls das Wort und sagte hastig:
Wir dachten, diese Mitteilung hätte Interesse für Sie, mein Herr; überdies schien Valentine sich stets Ihrer Zuneigung zu erfreuen; wir haben Ihnen also nur noch den Namen des für siebestimmten jungen Mannes zu sagen. Es ist eine von den ehrenvollsten Partien, auf die Valentine Anspruch machen kann. Der junge Mannbesitzt Vermögen, einen schönen Namen, und seinBenehmen und sein Geschmackbieten die vollkommene Gewähr, daß sie glücklich sein wird. Sein Name kann Ihnen nicht unbekannt sein: es handelt sich um Franz von Quesnel, Baron d'Epinay.
Während der kurzen Rede seiner Frau heftete Villefort einen noch aufmerksamerenBlick als zuvor auf den Greis. Sobald Frau von Villefort den Namen Franz aussprach, bebte Noirtiers Auge, das sein Sohn so gut kannte, und ließ einenBlitz hervorleuchten.
Der Staatsanwalt, der mit der früheren politischen Feindschaft, die zwischen seinem Vater und Franzens Vaterbestanden hatte, vertraut war, begriff diesen Feuerblick und diese Aufregung; doch er ließbeides scheinbar unbemerkt vorübergehen und nahm die Rede da wieder auf, wo seine Frau abgebrochen hatte.
Mein Herr, sagte er, Siebegreifen, es ist von Wichtigkeit, daß Valentine, die nunmehr ihrem neunzehnten Jahre nahe steht, ihre häusliche Versorgung findet. Nichtsdestoweniger haben wir Siebei unseren Konferenzen nicht vergessen, und wir haben uns zum voraus vergewissert, daß Valentines Gatte einwilligen würde, wenn nichtbei uns zu leben, was für ein junges Ehepaar vielleicht lästig wäre, wenigstens Sie, den Valentine ganzbesonders liebt, und der die gleiche Zuneigung für sie zubesitzen scheint, bei sich aufzunehmen. Dann würden Sie keine von Ihren Gewohnheiten aufzugebenbrauchen und statt eines zwei Kinder haben, die über Ihre alten Tage wachten.
Noirtiers Augenblitz wurde gleichsamblutig. Es ging offenbar etwas Furchtbares im Innern des Greises vor, sicherlich stieg ihm der Schrei des Schmerzes und der Wut in die Kehle und erstickte ihnbeinahe, da er nicht ausbrechen konnte, denn sein Gesicht wurde purpurrot, und seine Lippen erbleichten.
Villefort öffnete ruhig ein Fenster und sagte: Es ist sehr warm hier, die Wärmebekommt Herrn Noirtier schlecht.
Dann kam er zurück, jedoch ohne sich zu setzen.
Die erwähnte Heirat, fügte Frau von Villefort hinzu, ist Herrn d'Epinay und seiner Familie sehr angenehm; übrigensbesteht diese Familie nur aus einem Oheim und einer Tante. Seine Mutter starbin dem Augenblick, wo sie ihn zur Weltbrachte, und da sein Vater 1815, das heißt, als das Kind kaum zwei Jahre alt war, ermordet wurde, sobraucht er nur dem eigenen Willen zu folgen.
Ein geheimnisvoller Mord, dessen Urheber unbekannt geblieben sind, obgleich der Verdacht sich auf verschiedene lenkte, sagte Villefort.
Noirtier machte eine solche Anstrengung, daß seine Lippen sich wie zu einem Lächeln zusammenzogen.
Die wahren Schuldigen aber, fuhr Villefort fort, diejenigen, die da wissen, daß sie das Verbrechenbegangen haben; diejenigen, welche die Gerechtigkeit der Menschen während ihres Lebens und die Gerechtigkeit Gottes nach ihrem Tode treffen kann, sollten glücklich sein, wenn sie sich an unserem Platzebefänden und Herrn Franz d'Epinay eine Tochterbieten könnten, um auch den Schein des Verdachtes zu ersticken.
Noirtier hatte sich mit einer Gewaltberuhigt, die manbei dieser gebrochenen Organisation nicht hätte erwarten sollen.
Ja, ichbegreife, antwortete er Villefort mit einemBlicke, der zugleich tiefe Verachtung und sittlichen Zorn ausdrückte.
Villefort erwiderte diesenBlick, dessen Inhalt er gelesen hatte, mit einem leichten Achselzucken. Dannbedeutete er seiner Frau durch ein Zeichen, sie möge aufstehen.
Mein Herr, genehmigen Sie nun den Ausdruck meiner Achtung, sagte Frau von Villefort. Erlauben Sie, daß Eduard Ihnen seine Ehrfurchtbezeugt?
Verabredetermaßen drückte der Greis durch ein Schließen der Augen seineBilligung, seine Weigerung durch ein wiederholtesBlinzeln, und irgend einen Wunsch dadurch aus, daß er seine Augen zum Himmel aufschlug. Verlangte er nach Valentine, so schloß er nur das rechte Auge, verlangte er nachBarrois, so schloß er das linke Auge.
Auf Frau von Villeforts Frageblinzelte er heftig.
Als Frau von Villefort den Vorschlag mit einer offenbaren Weigerung aufgenommen sah, kniff sie die Lippen zusammen.
Ich werde Ihnen also Valentine schicken? sagte sie.
Ja, antwortete der Greis, rasch die Augen schließend.
Herr und Frau von Villefort grüßten und entfernten sich mit demBefehle, Valentine zu rufen, der indessen schon gesagt worden war, sie sollte sich im Verlaufe des Tagesbei Herrn Noirtier einfinden.
Kaum hatten sich die Eltern entfernt, so trat Valentine, noch ganz rosig vor Aufregung, bei dem Greise ein. EinBlick sagte ihr, wie sehr ihr Großvater litt, und wieviel er ihr zu sagen hatte.
Ah, guter Papa, rief sie, was ist denn geschehen? Nicht wahr, man hat dich geärgert, und dubist aufgebracht?
Ja, erwiderte er, die Augen schließend.
Gegen wen? Gegen meinen Vater? Nein. Gegen Frau von Villefort? Nein. Gegen mich?
Der Greis machte einbejahendes Zeichen.
Gegen mich! versetzte Valentine erstaunt.
Der Greis wiederholte das Zeichen.
Was habe ich dir denn getan, lieber, guter Papa? rief Valentine. — Keine Antwort; sie fuhr fort: Ich habe dich den ganzen Tag nicht gesehen, man hat dir irgend etwas über mich gesagt.
Ja, sagte mit Heftigkeit derBlick des Greises.
Vergebens suche ich zu erraten. Mein Gott! ich schwöre dir, guter Vater… Ah! nicht wahr, Herr und Frau Villefort gingen soeben von hier weg?
Ja.
Und sie sind es, welche dir Dinge gesagt haben, die dich ärgern? Was ist es denn? Mein Gott! Was konnten sie dir sagen? Und sie suchte, endlich sagte sie, die Stimme dämpfend und sich dem Greise nähernd. Oh! ich habe es, sie sprachen vielleicht von meiner Verheiratung?
Ja, antwortete der zornigeBlick.
Ichbegreife, du grollst mir wegen meines Stillschweigens. Oh! siehst du, sie hatten mir so oft eingeschärft, dir nichts davon zu sagen! Sie hätten mir selbst nichts davon gesagt, würde ich es nicht durch einen Zufall selbst erfahren haben; deshalbwar ich so zurückhaltend gegen dich. Vergibmir, guter Papa Noirtier!
Wieder starr und ausdruckslos geworden, schien derBlick zu antworten: Es ist nicht allein dein Stillschweigen, was michbetrübt.
Was ist es denn? fragte das junge Mädchen; du glaubst vielleicht, ich würde dich verlassen, guter Vater, meine Heirat könnte mich vergeßlich machen?
Nein, erwiderte der Greis.
Warumbist du dann ärgerlich? Die Augen des Greises nahmen einen Ausdruck von unendlicher Sanftmut an.
Ja, ichbegreife, sagte Valentine, weil du mich liebst.
Der Greis machte einbejahendes Zeichen.
Und du fürchtest, ich könnte unglücklich werden?
Ja.
Du liebst Herrn Franz nicht?
Seine Augen wiederholten drei- oder viermal: Nein.
Dannbist du wohl sehrbekümmert, lieber Vater?
Ja.
Wohl, so höre, sagte Valentine, vor Noirtier niederknieend und ihre Arme um seinen Hals schlingend. Ichbin auch sehrbekümmert, denn ich liebe Herrn Franz d'Epinay ebenfalls nicht.
EinBlitz der Freude erleuchtete die Augen des Greises.
Als ich mich ins Kloster zurückziehen wollte, warst du so sehr aufgebracht gegen mich.
Eine Tränebefeuchtete das trockene Augenlid Noirtiers.
Nun wohl, fuhr Valentine fort, ich dachte hieran, um dieser Heirat zu entgehen, die mich in Verzweiflungbringt.
Noirtiers Atem wurde keuchend.
Diese Heirat macht dir also großen Kummer, guter Vater? Oh, mein Gott! wenn du mirbeistehen könntest, wenn wirbeide diesen Plan zu vereiteln vermöchten! Aber dubist ohne Kraft gegen sie, du, dessen Geist doch so lebhaft, dessen Wille noch so fest ist; wenn es sich aber darum handelt, zu kämpfen, sobist du schwach und sogar noch schwächer als ich. Ach! du wärest in den Tagen deiner Kraft und deiner Gesundheit ein so mächtigerBeschützer für mich gewesen; aber heute vermagst du nur noch mich zubegreifen und dich mit mir zu freuen oder zubetrüben; es ist dies ein letztes Glück, das mir Gott mit den andern zu nehmen vergessen hat.
In Noirtiers Augen lag ein solcher Ausdruck von Kraft und Tiefe, daß das junge Mädchen darin die Worte zu lesen glaubte: Du täuschest dich, ich vermag noch viel für dich.
Du vermagst noch etwas für mich, lieber, guter Papa?
Ja.
Noirtier schlug die Augen zum Himmel auf. Dies war das zwischen ihm und Valentine verabredete Zeichen, wenn er etwas wünschte.
Was willst du, lieber, guter Papa?
Valentine suchte einen Augenblick in ihrem Geiste, drückte laut ihre Gedanken aus, wie sie ihr hintereinander kamen, und als sie sah, daß der Greis auf alles, was sie sagen mochte, beständig: Nein! antwortete, rief sie: Wohl, wir müssen zu den großen Mitteln greifen, da ich so dummbin.
Dann sagte sie hintereinander alleBuchstaben des Alphabets her vom Abis zum N, während ihr Lächeln das Auge des Gelähmtenbefragte; beim N machte Herr Noirtier einbejahendes Zeichen.
Ah! sagte Valentine, die Sache, die dubegehrst, fängt mit demBuchstaben N an; laß einmal sehen, na, ne, ni, no…
Ja, ja, ja, machte der Greis.
Ah, es ist no.
Valentine holte ein Wörterbuch, das sie vor Noirtier legte; sie öffnete es, und während das Auge des Greises auf dieBlätter geheftet war, lief ihr Finger rasch auf den Seiten herab.
Die Übung seit den sechs Jahren, da Noirtier in seinenbetrübten Zustand verfallen, machten ihr die Proben so leicht, daß sie so rasch den Gedanken des Greises erriet, als hätte dieser selbst in dem Wörterbuch suchen können.
Bei dem Worte Notar gabihr Noirtier ein Zeichen, einzuhalten.
Notar? sagte sie; du willst einen Notar, guter Papa?
Der Greis machte ein Zeichen, daß er wirklich einen Notar verlange.
Darf es mein Vater wissen?
Ja.
Dann wird man dir ihn sogleich holen!
Valentine lief nach der Glocke, rief einenBedienten undbat ihn, Herrn oder Frau von Villefort zu dem Großvater zubitten.
Bist du zufrieden? sagte Valentine und lächelte ihrem Großvater zu, wie eine Mutter ihrem Kinde.
Herr von Villefort trat, vonBarrois gerufen, wieder ein.
Was wollen Sie, mein Herr? fragte er den Gelähmten.
Mein Großvater verlangt nach einem Notar, sagte Valentine.
Bei diesem seltsamen und so unerwarteten Verlangen wechselte Herr von Villefort einenBlick mit dem Gelähmten.
Ja, machte der letztere mit einer Festigkeit, die ausdrücken wollte, er sei mit Hilfe von Valentine und seinem alten Diener, der nun wußte, was er haben wollte, bereit, den Kampf aufzunehmen.
Warum? fragte Villefort.
DerBlick des Gelähmtenbliebunbeweglich und folglich stumm, wasbesagen wollte: Ichbeharre auf meinem Willen.
Um uns einen schlimmen Streich zu spielen? versetzte Villefort, lohnt sich das der Mühe?
Wenn der gnädige Herr einen Notar haben will, sobedarf er seiner offenbar, sagteBarrois mit der, altenBedienten eigentümlichen Hartnäckigkeit. Also werde ich einen Notar holen.
Barrois erkannte keinen andern Herrn an, als Noirtier, und gabnie zu, daß seinem Willen in irgend einerBeziehung widersprochen wurde.
Ja, ich will einen Notar, machte der Greis und schloß die Augen mit einer Miene des Trotzes, und als wollte er sagen: Wir wollen doch sehen, obman es wagt, mir zu verweigern, was ich verlange.
Es wird ein Notar kommen, da Sie es durchaus so haben wollen, mein Herr; doch ich werde mich und Siebei ihm entschuldigen, denn die Szene wird sehr lächerlich sein.
In dem Augenblick, woBarrois wegging, schaute Noirtier Valentine mit einer herausfordernden Teilnahme an, die mehr sagte als Worte. Das Mädchenbegriff diesenBlick und Villefort ebenfalls, denn seine Stirn verdüsterte sich, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Er nahm einen Stuhl, setzte sich in dem Zimmer des Gelähmten fest und wartete.
Noirtier ließ ihn mit vollkommener Gleichgültigkeit gewähren, forderte aber mit einem kurzen Seitenblick Valentine auf, sich durchaus nicht zubeunruhigen und ebenfalls zubleiben.
Drei Viertelstunden nachher kam der Diener mit dem Notar zurück.
Mein Herr, sagte Villefort nach den erstenBegrüßungen, Sie sind von Herrn Noirtier von Villefort hierherberufen worden; eine allgemeine Lähmung hat ihm den Gebrauch der Glieder und der Stimme geraubt, und uns allein gelingt es mit großer Mühe, einige Fetzen seiner Gedanken aufzufassen.
Noirtier ließ mit dem Auge eine so ernste und gebieterische Mahnung an Valentine ergehen, daß Sie auf der Stelle hinzufügte: Ich, mein Herr, verstehe alles, was mein Großvater sagen will.
Es ist wahr, bestätigteBarrois, alles, durchaus alles, wie ich dem Herrn unterwegs sagte.
Erlauben Sie mir, mein Herr, und Sie, mein Fräulein, sagte der Notar, sich an Villefort und Valentine wendend, es ist dies einer von den Fällen, wo der öffentlicheBeamte nicht unbedachtsam zu Werke gehen darf, ohne eine gefährliche Verantwortlichkeit zu übernehmen. Wenn ein Akt gültig sein soll, so muß der Notar notwendigerweise vor allem davon überzeugt sein, daß er den Willen dessen, der ihm denselben diktiert, genau aufgefaßt und getreu ausgelegt hat. Ich kann aber unmöglich derBilligung oder der Mißbilligung eines Klienten, der nicht spricht, sicher sein, und da mir der Gegenstand seiner Wünsche oder seines Widerstrebens infolge seiner Stummheit nicht klar dargetan werden kann, so ist meine Tätigkeit hier mehr als unnütz und wäre sogar ungesetzlich ausgeübt.
Der Notar tat einen Schritt, um sich zu entfernen. Ein unmerkliches Lächeln des Triumphes zeigte sich auf den Lippen des Staatsanwaltes. Noirtier aber schaute Valentine mit einem so schmerzlichen Ausdrucke an, daß sie sich dem Notar in den Weg stellte.
Mein Herr, sagte sie, die Sprache, welche ich mit meinem Großvater spreche, läßt sich sehr leicht erlernen; und ich will sie Ihnen in wenigen Minutenbegreiflich machen. Wasbrauchen Sie, mein Herr, um zur vollkommenenBeruhigung Ihres Gewissens zu gelangen?
Sie fragen, was zur Gültigkeit unserer Akte nötig sei? erwiderte der Notar; die Gewißheit derBilligung oder Mißbilligung. Wenn man testieren will, kann man zwar körperlich krank, aber geistig muß man gesund sein.
Wohl, mein Herr, mit zwei Zeichen werden Sie die Gewißheit erlangen, daß sich mein Großvater nie mehr, als jetzt, der Fülle seines Verstandes erfreut. Der Stimme und derBeweglichkeit der Gliedmaßenberaubt, schließt Herr Noirtier die Augen, wenn er ja sagen will, undblinzelt wiederholt, wenn er nein sagen will. Sie wissen nun genug, um mit Herrn Noirtier zu sprechen; versuchen Sie es!
DerBlick, den der Greis Valentine zuwarf, war so voll Zärtlichkeit und Dankbarkeit, daß ihn selbst der Notarbegriff.
Sie haben gehört und verstanden, mein Herr, was Ihre Enkelin soeben sagte? fragte der Notar.
Noirtier schloß sacht die Augen und öffnete sie dannbald wieder.
Und Siebilligen, was sie sagte, nämlich, daß die von ihr angegebenen Zeichen wirklich die sind, mit deren Hilfe Sie Ihre Gedankenbegreiflich machen?
Ja, machte der Greis.
Sie ließen mich rufen, um Ihr Testament zu machen?
Ja.
Und ich soll mich nicht entfernen, ohne dieses Testament gemacht zu haben?
Der Gelähmteblinzelte lebhaft und wiederholt mit den Augen.
Begreifen Sie nun, fragte das Mädchen, und ist Ihr Gewissenberuhigt?
Doch ehe der Notar antworten konnte, zog ihn Villefortbeiseite und sagte zu ihm: Mein Herr, glauben Sie, daß ein Mensch ungestraft einen so furchtbaren körperlichen Schlag, wie ihn Herr Noirtier von Villefort erfahren hat, ertragen könne, ohne daß sein Geist ebenfallsbedenklich angegriffen sein muß.
Dasbeunruhigt mich nicht so sehr, Herr von Villefort, antwortete der Notar, aber ich frage mich, wie wir dazu gelangen, die Gedanken zu erraten, um Antworten hervorzurufen.
Sie sehen also, daß es unmöglich ist, sagte Villefort.
Valentine und der Greis hörten diese Unterredung mit an. Noirtier heftete seinenBlick so starr und fest auf Valentine, daß er offenbar eine Erwiderung veranlassen wollte.
Mein Herr, sagte sie, lassen Sie sich dadurch nichtbeunruhigen! So schwierig es auch ist oder vielmehr scheinen mag, die Gedanken meines Großvaters zu entdecken, so werde ich sie Ihnen doch in einer Weise offenbaren, die jeden Zweifel in dieser Hinsichtbenehmen muß. Seit sechs Jahrenbin ichbei Herrn von Noirtier, und er mag selbst sagen, obim Verlauf dieser sechs Jahre einer von seinen Wünschen, weil er ihn mir nicht hätte verständlich machen können, in seinem Herzenbegraben geblieben ist.
Nein, bezeichnete der Greis.
Versuchen wir es! sagte der Notar. Sie nehmen das Fräulein zu Ihrem Dolmetscher an?
Der Gelähmte machte einbejahendes Zeichen.
Wohl; was wünschen Sie, mein Herr, und welcher Akt soll vorgenommen werden?
Valentins! nannte alleBuchstaben des Alphabetsbis zumBuchstaben T.
Bei dem T hielt NoirtiersberedterBlick an.
Der Herr verlangt denBuchsraben T, sagte der Notar; das ist offenbar.
Valentine nahm nun das Wörterbuch undblätterte vor den Augen des aufmerksamen Notars. Testamentbezeichnetebald ihr Finger, durch NoirtiersBlick festgehalten.
Testament! rief der Notar, die Sache ist klar, der Herr will testieren.
Ja, machte Noirtier wiederholt.
Mein Herr, das ist wunderbar, Sie müssen es selbst gestehen, sagte der Notar erstaunt zu Villefort.
In der Tat, versetzte dieser, und noch wunderbarer wäre das Testament; denn ich kann nicht denken, daß Sie dieBestimmungen Wort für Wort ohne die geistreiche Mithilfe meiner Tochter zu Papierebringen wollen. Valentine ist aber etwas zu sehrbei diesem Testamente interessiert, um als eine entsprechende Dolmetscherin des dunkeln Willens des Herrn Noirtier von Villefort gelten zu können.
Nein, nein, nein! machte der Gelähmte.
Wie! entgegnete Herr von Villefort, Valentine ist nicht interessiertbei Ihrem Testament?
Nein, bezeichnete Noirtier.
Mein Herr, sagte der Notar, der, entzückt über ein solches Erlebnis, in der Gesellschaft die einzelnen Umstände dieser malerischen Episode wiederzuerzählen gedachte, — mein Herr, nichts scheint mir jetzt leichter als das, was ich soeben noch für etwas Unmögliches hielt, und dieses Testament wird ganz einfach ein sogenanntes mystisches Testament sein, das heißt von dem Gesetze vorhergesehen und als rechtsgültig anerkannt, vorausgesetzt, daß es in Gegenwart von sieben Zeugen vorgelesen, von dem Testator in ihrer Anwesenheit gebilligt und durch den Notar, ebenfalls in ihrer Anwesenheit, geschlossen wird. Was die Zeitbetrifft, so wird es nicht länger dauern, als ein gewöhnliches Testament. Vor allem kommen die ehrwürdigen Formeln inBetracht, die sich immer gleichbleiben, und was die Einzelheitenbetrifft, so werden diese sich zum größten Teil nach Lage der Sache und mit Ihrer Hilfe, der Sie die Geschäfte für den Erblasserbesorgt haben, von selbst ergeben. Damit übrigens der Akt unangreifbarbleibt, werden wir ihm die vollständige Rechtsgültigkeit geben; einer von meinen Kollegen wird mir als Gehilfe dienen und gegen die Gewohnheit dem Diktierenbeiwohnen. Sind Sie zufrieden, mein Herr? fügte der Notar, sich an den Greis wendend, hinzu.
Ja, erwiderte Noirtier, strahlend vor Freude, daß man ihnbegriff.
Was hat er nur vor? fragte sich Villefort, dem seine hohe Stellung so viel Zurückhaltung aufnötigte, während er nicht zu erraten vermochte, worauf sein Vater abzielte.
Das Testament.
Nach einer Viertelstunde war die ganze Familie im Zimmer des Gelähmten versammelt, und der zweite Notar hatte sich ebenfalls eingefunden.
Mit wenigen Worten verständigten sich diebeidenBeamten. Man las Noirtier eine allgemeine herkömmliche Testamentsformel vor; dann sagte der erste Notar, sich nach dem Greise umwendend, um gleichsam die Untersuchung seines Verstandes zubeginnen: Wenn man sein Testament macht, mein Herr, so geschieht es zu Gunsten oder zum Nachteil irgend einer Person.
Ja, bezeichnete Noirtier.
Haben Sie einen Gedanken, wie hoch sich Ihr Vermögenbelaufen mag?
Ja.
Ich will Ihnen, aufwärts gehend, verschiedene Zahlen nennen; Sie werden mich anhalten, wenn ich diejenige erreicht habe, welche Sie als die Ihrigebetrachten.
Ja.
Es war ein eigentümlich feierliches und ergreifendes Schauspiel, bei dem der Kampf des Geistes gegen die Materie auf das packendste in Erscheinung trat.
Die Anwesenden schlossen einen Kreis um Noirtier; der zweite Notar saß an einem Tische, bereit zu schreiben; der erste stand vor ihm und fragte: Nicht wahr, Ihr Vermögen übersteigt 300 000 Franken?
Noirtier machte einbejahendes Zeichen.
Besitzen Sie 400 000 Franken? fragte der Notar.
Noirtierbliebunbeweglich. 600 000? 700 000? 900 000?
Noirtier machte einbejahendes Zeichen.
In unbeweglichen Gütern? fragte der Notar.
Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.
In Renteneinschreibungen?
Noirtier machte einbejahendes Zeichen.
Diese Einschreibungen sind in Ihren Händen?
Auf einenBlick Noirtiers anBarrois ging der alte Diener hinaus und kehrte einen Augenblick nachher mit einer kleinen Kassette zurück.
Man öffnete die Kassette und fand für 900 000 Franken Einschreibungen.
Der erste Notar überreichte die Einschreibungen eine nach der andern seinem Kollegen; die Sache stimmte.
Es ist so, der Verstand des Erblassers erfreut sich offenbar noch seiner vollkommenen Kraft, sagte der Notar. Dann fuhr er, an den Gelähmten sich wendend, fort: Siebesitzen also in Kapitalien 900 000 Franken. Wem wollen Sie dieses Vermögen hinterlassen?
Oh! sagte Frau von Villefort, das ist nicht zweifelhaft. Herr Noirtier liebt einzig und allein seine Enkelin, Fräulein Valentine von Villefort; sie ist es, die ihn seit sechs Jahren pflegt und durch ihrebeständige Fürsorge die Zuneigung ihres Großvaters, ich möchtebeinahe sagen, seine Dankbarkeit zu fesseln wußte; es ist also gerecht undbillig, daß sie den Preis ihrer Ergebenheit erntet.
Noirtiers Auge schleuderte einenBlitz, als würde er durch das falsche Ziel nichtbetört, das Frau von Villefort seinen vermeintlichen Absichten setzte.
Wollen Sie Fräulein Valentine von Villefort diese 900 000 Franken vermachen? fragte der Notar, der dieseBestimmung nur noch eintragen zu müssen glaubte.
Valentine hatte einen Schritt rückwärts gemacht und weinte mit niedergeschlagenen Augen; der Greis schaute sie eine Sekunde lang mit dem Ausdrucke einer tiefen Zärtlichkeit an, dann wandte er sich gegen den Notar undblinzelte mit den Augen auf diebezeichnete Weise.
Nein? sagte der Notar; wie, Sie setzen Fräulein Valentine von Villefort nicht zur Universalerbin ein?
Noirtier machte ein verneinendes Zeichen.
Täuschen Sie sich nicht? rief der Notar ganz verwundert; Sie sagen nein?
Nein, wiederholte Noirtier, nein!
Valentine hobdas Haupt wieder empor; sie war erstaunt, nicht über ihre Enterbung, sondern darüber, daß ihr Großvater ihr gegenüber das seinem Tun entsprechende Gefühl hegen sollte.
Doch Herr Noirtier schaute sie mit so tiefer Zärtlichkeit an, daß sie ausrief: Oh! mein guter Vater, ich sehe wohl, Sie entziehen mir nur Ihr Vermögen, lassen mir aber Ihr Herz?
Oh! ja, gewiß, sagten die Augen des Gelähmten mit einem Ausdruck, in dem sich Valentine nicht täuschen konnte.
Dank! Dank! murmelte das Mädchen.
Diese Weigerung hatte indessen in Frau von Villeforts Herzen eine unerwartete Hoffnung erzeugt; sie näherte sich dem Greise.
Sie hinterlassen also Ihr Vermögen Ihrem Enkel Eduard von Villefort, mein lieber Herr Noirtier? fragte die Mutter.
DasBlinzeln war furchtbar; es prägtebeinahe Haß aus.
Nein, sagte der Notar; also Ihrem Sohne?
Nein! entgegnete der Greis.
Die zwei Notare schauten sich erstaunt an; Villefort und seine Frau fühlten, wie sie aus Scham und Verdruß rot wurden.
Aber was haben wir Ihnen denn getan, Vater, sagte Valentine; Sie lieben uns also nicht mehr?
DerBlick des Greises flog rasch über seinen Sohn und über seine Schwiegertochter hin undbliebmit einem Ausdruck inniger Zärtlichkeit an Valentine haften.
Nun, sagte sie, wenn du mich liebst, guter Vater, so suche diese Liebe mit dem, was du in diesem Augenblick tust, in Einklang zubringen. Du kennst mich und weißt daher, daß ich nie an dein Vermögen gedacht habe. Überdies sagt man, ich sei von meiner Mutter Seite reich, zu reich; erkläre dich doch!
Noirtier heftete einen glühendenBlick aus Valentines Hand.
Meine Hand? sagte sie.
Ja, bezeichnete Noirtier.
Ihre Hand! wiederholten die Anwesenden.
Ah! meine Herren, Sie sehen wohl, daß alles vergeblich, und daß mein armer Vater ein Narr ist, sprach Villefort.
Oh! ichbegreife! rief plötzlich Valentine; nicht wahr, meine Heirat, guter Vater?
Ja, ja, ja, wiederholte dreimal der Gelähmte und schleuderte dabei einenBlitz, so oft sich sein Augenlid hob.
Nicht wahr, du grollst uns wegen der Heirat?
Ja.
Das ist albern, sagte Villefort.
Verzeihen Sie, mein Herr, sagte der Notar, alles dies ist im Gegenteil sehr logisch und scheint mir durchaus wohlbegründet zu sein.
Du willst nicht, daß ich Herrn Franz d'Epinay heirate?
Nein, ich will nicht, drückte das Auge des Greises aus.
Und Sie enterben Ihre Enkelin, weil sie eine Heirat wider Ihren Willen macht? rief der Notar.
Ja, antwortete Noirtier.
Ohne diese Heirat wäre sie also Ihre Erbin?
Ja.
Es trat nun ein tiefes Stillschweigen um den Greis ein. Diebeiden Notareberieten sich; Valentine schaute mit gefalteten Händen und einem dankbaren Lächeln ihren Großvater an: Villefortbiß sich auf seine dünnen Lippen; Frau von Villefort war außer stande, ein freudiges Gefühl zurückzudrängen, das sich unwillkürlich über ihr Antlitz verbreitete.
Aber es scheint mir, sagte endlich Villefort, das Stillschweigenbrechend, es scheint mir, daß ich alleinbefugtbin, über diese Angelegenheit zu urteilen und zu verfügen. Ich, als alleiniger Herr der Hand meiner Tochter, will, daß sie Herrn Franz d'Epinay heiratet, und sie wird ihn heiraten.
Valentine fiel weinend auf einen Stuhl.
Mein Herr, sagte der Notar, sich an den Greis wendend, was gedenken Sie mit Ihrem Vermögen zu tun, wenn Fräulein Valentine Herrn Franz d'Epinay heiratet? Sie gedenken doch darüber zu verfügen?
Ja, bezeichnete Noirtier.
Zu Gunsten irgend eines Mitgliedes Ihrer Familie?
Nein.
Also zu Gunsten der Armen?
Ja.
Sie wissen doch, daß das Gesetz dem widerstrebt, daß Sie Ihren Sohn völlig ausschließen?
Ja.
Sie werden also nur über den Teil verfügen, den Sie nach dem Gesetz das Recht haben ihm zu entziehen.
Noirtierbliebunbeweglich.
Sie wollen immer noch über das Ganze verfügen?
Ja.
Man wird das Testament nach Ihrem Tode angreifen.
Nein.
Mein Vater kennt mich, sagte Herr von Villefort, er weiß, daß sein Wille mir heilig sein wird; übrigens erkennt er recht gut, daß ich in meiner Stellung nicht gegen die Armen prozessieren kann.
Noirtiers Auge drückte einen Triumph aus.
Wasbestimmen Sie, mein Herr? fragte der Notar Villefort.
Nichts, mein Herr, es ist ein im Herzen meines Vaters feststehender Entschluß, und ich weiß, daß er nie etwas an seinen Entschließungen ändert, sagte Villefort. Ich füge mich also. Diese 900 000 Franken werden der Familie verloren gehen, um Hospitäler zubereichern; aber ich gebe der Laune eines Greises nicht nach und werde nach meinem Gewissen handeln.
Hiernach entfernte sich Villefort mit seiner Frau und überließ es seinem Vater, nach Gutdünken zu testieren.
Noch an demselben Tage wurde das Testament gemacht; man holte Zeugen, es wurde von dem Greise gebilligt, in Gegenwart der Zeugen geschlossen undbei Herrn Deschamps, dem Notar der Familie, niedergelegt.
Der Telegraph
Herr und Frau von Villefort erfuhren, als sie in ihre Wohnung zurückkehrten, Herr von Monte Christo sei gekommen, ihnen einenBesuch zu machen, und warte auf sie im Salon. Zu aufgeregt, um sogleich einzutreten, ging Frau von Villefort durch ihr Schlafzimmer, während der Staatsanwalt, mehr seiner Herr, gerade auf den Salon zuschritt.
Doch so sehr er auch Herr seiner Empfindungen war, so gut er sein Gesicht zu formen wußte, so vermochte Herr von Villefort die Wolke doch nicht so völlig von seiner Stirn zu entfernen, daß der Graf, der ihm mit einem strahlenden Lächeln entgegentrat, nicht die düstere, brütende Mienebemerkt hätte.
Oh! mein Gott! rief Monte Christo nach den erstenBegrüßungen, was haben Sie denn, Herr von Villefort? Bin ich in dem Augenblick gekommen, wo Sie vielleicht eine hochnotpeinliche Anklage abfaßten?
Herr von Villefort suchte zu lächeln und erwiderte: Nein, mein Herr Graf, es ist hier kein anderes Opfer, als ich selbst. Ichbin es, der den Prozeß verliert; der Zufall, die Halsstarrigkeit, die Narrheit haben die Anklageschrift abgefaßt.
Was wollen Sie damit sagen? fragte Monte Christo mit einer vortrefflich gespielten Teilnahme. Ist Ihnen in der Tat ein ernstes Unglück widerfahren?
Oh! Herr Graf, versetzte Villefort mit ingrimmiger Ruhe, es ist nicht der Mühe wert, davon zu sprechen; es ist so gut wie nichts, nur ein Geldverlust.
In der Tat, erwiderte Monte Christo, ein Geldverlust ist etwas Geringesbei einem Vermögen, wie Sie esbesitzen, undbei Ihrem philosophischen, erhabenen Geiste.
Auch ist es nicht die Geldfrage, was mich kümmert, obschon 900 000 Franken immerhin wohl einBedauern oder wenigstens eine Regung des Ärgers wert sind, sondern ich fühle mich getroffen durch die Fügung des Schicksals, des Zufalls, des Verhängnisses, ich weiß nicht, wie ich die Macht nennen soll, die den Schlag lenkt, der mich trifft, meine Hoffnungen niederstürzt und vielleicht die Zukunft meiner Tochter durch die Laune eines kindisch gewordenen Greises zerstört.
Ei, mein Gott! rief der Graf. 900 000 Franken, sagten Sie? In der Tat, diese Summe verdient wohl einBedauern, selbst für einen Philosophen. Und werbereitete Ihnen diesen Verdruß?
Mein Vater, von dem ich mit Ihnen sprach.
Herr Noirtier? Sie sagten mir doch, er sei völlig gelähmt, und alle seine Fähigkeiten seien vernichtet?
Ja, seine körperlichen Fähigkeiten, denn er kann sich nicht rühren, er kann nicht sprechen, undbei alledem denkt er, will er, handelt er, wie Sie sehen. Ich habe ihn vor fünf Minuten verlassen, und er ist in diesem Augenblick damitbeschäftigt, zwei Notaren ein Testament zu diktieren.
Er hat also doch gesprochen?
Nein, aber er hat sich mit Hilfe desBlickes verständlich gemacht; die Augen haben zu leben fortgefahren und töten, wie Sie sehen.
Mein Freund, sagte Frau von Villefort, welche nun ebenfalls eintrat, Sie übertreiben wohl die Lage der Dinge.
Gnädige Frau… sagte der Graf sich verbeugend.
Frau von Villefort grüßte mit ihrem freundlichsten Lächeln.
Was sagt mir denn Herr von Villefort? sagte Monte Christo; und welche unbegreifliche Ungnade…
Unbegreiflich, das ist das richtige Wort, versetzte der Staatsanwalt, die Achseln zuckend; die Laune eines Greises!
Gibt es denn kein Mittel, ihn von dieser Entscheidung abzubringen?
Doch, sagte Frau von Villefort, und es hängt nur von meinem Manne ab, daß dieses Testament statt zum Nachteil für Valentine, gerade zu ihren Gunsten gemacht wird.
Als der Graf sah, daß diebeiden Ehegatten in Rätseln zu sprechen anfingen, nahm er eine zerstreute Miene an und sah mit größter Aufmerksamkeit und der augenscheinlichstenBilligung Eduard zu, der Tinte in das Trinkgeschirr der Vögel goß.
Meine Teure, sagte Villefort, seiner Frau antwortend, Sie wissen, daß ich es nicht liebe, in meinem Hause als Tyrann aufzutreten. Es ist mir indessen daran gelegen, daß meine Entscheidungen in meiner Familie geachtet werden und die Narrheit eines Greises und die Laune eines Kindes nicht einen seit langen Jahren festgestellten Plan umwerfen. DerBaron d'Epinay war mein Freund, wie Sie wissen, und eine Verbindung mit seinem Sohne mußte mir in jederBeziehung entsprechend erscheinen.
Glauben Sie, Valentine sei mit ihm einverstanden? sagte Frau von Villefort; sie widersetzte sich in der Tat von jeher dieser Heirat, und es würde mich nicht wundern, wenn alles, was wir soeben gehört und gesehen haben, die Ausführung eines zwischen ihnen verabredeten Planes wäre.
Gnädige Frau, entgegnete Villefort, glauben Sie mir, man verzichtet nicht so leicht auf ein Vermögen.
Sie verzichtete doch auf die Welt, als sie vor einem Jahre in ein Kloster gehen wollte.
Gleichviel, rief Villefort, ich sage, daß diese Heirat geschlossen werden muß, gnädige Frau.
Gegen den Willen Ihres Vaters! sagte Frau von Villefort, eine andere Seite angreifend, das ist sehr ernst!
Monte Christo stellte sich, als hörte er nichts, verlor aber kein Wort von dem, was gesprochen wurde.
Ich kann wohl sagen, fuhr Villefort fort, daß ich stets meinen Vater geachtet habe, weil sich mit dem natürlichen Gefühle der Abkunftbei mir dasBewußtsein seiner moralischen Überlegenheit verband; doch diesmal muß ich darauf Verzicht leisten, verständige Überlegung in dem Greise anzuerkennen, der nur wegen seines Hasses gegen den Vater auf diese Art den Sohn verfolgt. Es wäre also lächerlich von mir, wenn ich mich in meinemBenehmen nach seinen Launen richtete. Ich werde nicht aufhören, die größte Achtung für Herrn Noirtier zu hegen; ich werde, ohne zu klagen, mich der Geldstrafe unterziehen, die er über mich verhängt; aber ichbleibe unerschütterlich in meinem Willen, und die Welt mag richten, auf welcher Seite die gesunde Vernunft ist. Ich verheirate folglich meine Tochter mit demBaron Franz d'Epinay, weil diese Verbindung meinen Ansichten nach gut und ehrenvoll ist, und ich meine Tochter verheiraten kann, mit wem es mirbeliebt.
Ei! sagte der Graf, dessenBilligung der Staatsanwaltbeständig mit demBlicke nachgesucht hatte; ei! Herr Noirtier enterbt, wie Sie sagen, Fräulein Valentine, weil sie den HerrnBaron Franz d'Epinay heiraten soll?
Mein Gott! ja, mein Herr; das ist der Grund, rief Villefort, die Achseln zuckend.
Läßt sich diesbegreifen? entgegnete die junge Frau, ich frage Sie, in welcher Hinsicht mißfällt Herr d'Epinay Herrn Noirtier mehr als ein anderer?
In der Tat, sagte der Graf. Ich habe Herrn Franz d'Epinay kennen gelernt; er ist doch der Sohn des Generals von Quesnel, der von König Karl X. zumBaron d'Epinay gemacht wurde?
Ganz richtig! erwiderte Villefort.
Ei! mir scheint, das ist ein reizender junger Mann.
Ichbin fest überzeugt, es ist auch nur ein Vorwand, sagte Frau von Villefort; die Greise sind Tyrannen in ihren Zuneigungen; Herr Noirtier will nicht, daß seine Enkelin heiratet.
Können Sie sich nicht diesen Haß irgendwie sonst erklären? Vielleicht stammt er von irgend einer politischen Antipathie?
In der Tat, mein Vater und der Vater des Herrn d'Epinay lebten in stürmischen Zeiten, von denen ich nur noch die letzten Tage gesehen habe, sprach Villefort.
War Ihr Vater nichtBonapartist? Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir etwas dergleichen sagten.
Mein Vater war vor allem Jakobiner, erwiderte Villefort, durch die Aufregung über die Grenzen der Klugheit fortgerissen, und das Gewand des Senators, das ihm Napoleon um die Schultern warf, gabihm nur eine andere Hülle, ohne etwas an ihm zu ändern. Konspirierte mein Vater, so geschah es nicht für den Kaiser, sondern gegen dieBourbonen, denn mein Vater hatte das Furchtbare an sich, daß er nie für Hirngespinste, sondern stets für mögliche Dinge kämpfte, und daß er zur Durchsetzung seiner Ideen vor keinem Mittel zurückwich.
Sie sehen, sagte Monte Christo, Herr Noirtier und Herr d'Epinay werden sich auf politischemBoden entgegengetreten sein. Hatte der General d'Epinay, obgleich er unter Napoleon diente, nicht im Grunde seines Herzens eine royalistische Gesinnungbewahrt, und ist es nicht derselbe, der eines Abends, als er einen napoleonistischen Klubverließ, zu dem man ihn in der Hoffnung desBeitritts eingeladen hatte, ermordet wurde?
Villefort schaute den Grafenbeinahe mit Schrecken an.
Täusche ich mich? fragte Monte Christo.
Nein, mein Herr, antwortete Frau von Villefort, im Gegenteil, es ist genau so, und eben, um einen alten Haß zu ersticken, hatte Herr von Villefort den Gedanken, zwei Kinder sich lieben zu lassen, deren Väter sich gehaßt hatten.
Erhabener Gedanke! rief Monte Christo, ein Gedanke voll milder Menschenliebe, dem die ganze Welt ihrenBeifall zollen müßte. In der Tat, es wäre schön gewesen, Fräulein Noirtier von Villefort sich Frau Franz d'Epinay nennen zu sehen.
Villefortbebte und schaute Monte Christo an, als wollte er im Grunde seines Herzens die Absicht lesen, welche den soeben ausgesprochenen Worten zu Grunde lag.
Da aber der Graf das wohlwollende Lächeln, an das seine Lippen gewöhnt waren, beibehielt, so vermochte der Staatsanwalt trotz der Schärfe seinesBlickes nicht, hinter die Maske Monte Christos zublicken.
Obgleich es ein großes Unglück für Valentine ist, das Vermögen ihres Großvaters zu verlieren, sagte Villefort, so glaube ich doch nicht, daß die Heirat deshalbscheitert; ich glaube nicht, daß Herr d'Epinay vor diesem pekuniären Verlust zurückweicht. Er wird sehen, daß ich wohl mehr wertbin, als diese Summe, die ich dem Wunsche, ihm mein Wort zu halten, opfere; er wird sich zudem sagen, daß Valentine schon durch das Vermögen ihrer Mutter reich ist, das von Herrn und Frau von Saint Meran verwaltet wird, die siebeide zärtlich lieben.
Und wohl würdig sind, daß man sie liebt und pflegt, wie dies Valentinebei Herrn Noirtier getan hat, fügte Frau von Villefort hinzu. Sie kommen spätestens in einem Monat nach Paris, und Valentine wird nach einer solchenBeleidigung nicht mehr gebunden sein, sich, wie sie es jetzt getan, bei Herrn Noirtierbegraben zu lassen.
Der Graf hörte mit Wohlgefallen die disharmonische Stimme verletzter Eitelkeit und in den Staubgetretener Interessen und sagte nach kurzem Stillschweigen: Mir scheint, und ichbitte Sie im voraus wegen dessen, was ich sagen werde, um Verzeihung, daß Herr Noirtier, wenn er Fräulein von Villefort, nur weil sie einen jungen Mann heiraten wollte, dessen Vater er gehaßt hat, enterbt, daß Herr Noirtier, sage ich, dem lieben Eduard nicht dasselbe Unrecht vorwerfen kann.
Nicht wahr? rief Frau von Villefort mit einem unbeschreiblichen Tone, nicht wahr, das ist ungerecht, abscheulich ungerecht. Dieser arme Eduard ist ebensogut der Enkel des Herrn Noirtier, und dennoch würde er Valentine sein ganzes Vermögen hinterlassen haben, wenn sie nicht Franz hätte heiraten sollen, und Eduard führt überdies den Namen der Familie, abgesehen davon, daß Valentine, wenn sie auch wirklich ihr Großvater enterbt, immer noch dreimal reicher sein wird, als er.
Nach diesem kräftigen Ausfall hörte der Graf nur noch zu und sparte sich selbst weitere Anregungen.
Nun genug, sagte Villefort. Wir wollen uns nicht länger über diese kleinlichen Familienangelegenheiten unterhalten! Ja, es ist richtig, mein Vermögen wird die Einkünfte der Armen vermehren, die heutzutage die wahren Reichen sind. Ja, mein Vater wird mich um eine gesetzliche Hoffnung gebracht haben, und das ohne Grund; ich aber habe dann als Mann von Verstand, als Mann von Herz gehandelt. Herr d'Epinay, dem ich die Rente von dieser Summe versprach, wird siebekommen, und sollte ich mir die größten Entbehrungen auferlegen.
Es wäre doch vielleichtbesser, sagte Frau von Villefort, auf den einzigen Gedanken zurückkommend, der unablässig in der Tiefe ihres Herzens auftauchte; es wäre doch vielleichtbesser, man machte Herrn d'Epinay Mitteilung, damit er in der Lage wäre, selbst sich darüber zu entscheiden und sein Wort zurückzugeben!
Oh! das wäre ein großes Unglück, rief Villefort.
Ein großes Unglück? wiederholte Monte Christo.
Allerdings, erwiderte Villefort, sichbesänftigend, eine gescheiterte Heirat, und scheitert sie auch aus Geldgründen, wirft ein schlechtes Licht auf ein junges Mädchen. Dann würden auch alte Gerüchte, die ich ersticken wollte, wieder laut werden. Doch nein, dem wird nicht so sein, Herr d'Epinay, der ein ehrenhafter Mann ist, wird sich durch Valentines Enterbung noch mehr für gebunden erachten, als zuvor, sonst würde er ja nur aus Habsucht um unser Kind gefreit haben; nein, das ist nicht möglich.
Ich denke wie Herr von Villefort, sagte Monte Christo, seinenBlick auf Frau von Villefort heftend, und wenn ich ihm einen Rat geben dürfte, so würde ich ihn auffordern, jetzt, wo Herr d'Epinay, wie ich höre, zurückkehrt, dasBand so fest zu knüpfen, daß es sich nicht mehr lösen läßt. Ich würde unter allen Umständen eine Verbindung zustandebringen, die Herrn von Villefort nur zur Ehre gereichen kann.
Villefort erhobsich, von sichtbarer Freude ergriffen, während seine Frau leicht erbleichte.
Gut, sagte er, das ist alles, was ich haben wollte, und ich werde mir die Meinung eines Ratgebers, wie Sie sind, zu nutze machen, fügte er, Monte Christo die Hand reichend, hinzu. Hiernach ist alles, was sich hier ereignet hat, als nicht geschehen zubetrachten, und an unsern Plänen hat sich nichts geändert.
Mein Herr, sagte Monte Christo, so ungerecht die Welt ist, so wird sie Ihnen doch Dank für diesen Entschluß wissen, dafür stehe ich Ihnen. Ihre Freunde werden stolz darauf sein, und Herr d'Epinay, müßte er auch Fräulein von Villefort ohne Mitgift nehmen, was schwerlich der Fall sein wird, ist sicherlich entzückt über seinen Eintritt in eine Familie, in der man sich auf die Höhe solcher Opfer zu erheben weiß, um sein Wort zu halten und seine Pflicht zu erfüllen.
Während der Graf so sprach, stand er auf und schickte sich an, wegzugehen.
Sie verlassen uns? sagte Frau von Villefort.
Ichbin genötigt, gnädige Frau; ich kam nur, um Sie an Ihr Versprechen für Sonnabend zu erinnern.
Befürchten Sie, wir würden es vergessen?
Sie sind zu gütig, gnädige Frau; doch Herr von Villefort hat so ernste und zuweilen so dringende Geschäfte…
Mein Mann hat sein Wort gegeben, Herr Graf, und Sie konnten soeben sehen, daß er es hält, wenn alles dabei verloren gehen kann; er wird es umsomehr tun, wenn alles dabei zu gewinnen ist.
Findet die Gesellschaft in Ihrem Hause in den Champs‑Elysées statt? fragte Villefort.
Nein, sagte Monte Christo, und das macht Ihr Opfer noch verdienstlicher… auf dem Lande.
In der Nähe von Paris?
Vor dem Tore, eine halbe Stunde vor dem Tore, in Auteuil.
In Auteuil! rief Villefort. Ah! es ist wahr, Frau von Villefort sagte mir, Sie wohnten in Auteuil, wo man sie in Ihr Hausbrachte. Und wo in Auteuil?
Rue de la Fontaine.
Rue de la Fontaine? versetzte Villefort mit gepreßter Stimme; Nummer?
Nummer 30.
Man hat also an Sie das Haus des Herrn von Saint‑Meran verkauft? rief Villefort.
Des Herrn von Saint‑Meran? fragte Monte Christo. Dieses Haus gehörte Herrn von Saint‑Meran?
Ja, erwiderte Frau von Villefort; nicht wahr, es ist eine schöneBesitzung?
Reizend.
Und denken Sie sich, mein Mann wollte nie darin wohnen.
In der Tat, mein Herr? Das ist ein Vorurteil, von dem ich mir keine Rechenschaft geben kann.
Ich liebe Auteuil nicht, sagte der Staatsanwalt, sich selbstbezwingend.
Es würde mich jedoch sehr unglücklich machen, sollte mich diese Antipathie des Vergnügensberauben, Siebei mir zu empfangen! versetzte Monte Christo.
Nein, Herr Graf, ich hoffe wohl… glauben Sie mir, daß ich alles tun werde, was ich vermag…, stammelte Villefort.
Oh! ich nehme keine Entschuldigung an, entgegnete Monte Christo. Sonnabend um sechs Uhr erwarte ich Sie, und wenn Sie nicht kämen, so würde ich glauben müssen, es ruhe auf diesem seit zwanzig Jahren unbewohnten Hause irgend eine finstere Überlieferung, irgend eineblutige Legende.
Ich werde kommen, sagte Villefort rasch.
Meinen Dank. Nun aber müssen Sie mir erlauben, mich von Ihnen zu verabschieden.
In der Tat, Sie sagten, Sie müssen uns verlassen, Herr Graf, versetzte Frau von Villefort, und Sie wollten uns sogar mitteilen, warum, als Sie sich unterbrachen, um zu einem andern Gedanken überzugehen.
Wahrhaftig, gnädige Frau, ich weiß nicht, obich Ihnen sagen soll, wohin ich gehe.
Warum nicht? Sagen Sie es nur!
Ich will mir etwas ansehen, worüber ich oft stundenlang geträumt habe.
Was?
Einen Telegraphen.
Einen Telegraphen? wiederholte Frau von Villefort.
Ei, mein Gott! ja, einen Telegraphen. Zuweilen sah ich am Ende einer Straße auf einem Hügelbei schönem Sonnenscheine die schwarzen, wie die Füße eines ungeheuren Käfers sichbiegenden Arme, und dieses Schauspiel hat mich immer merkwürdig ergriffen, das versichere ich Ihnen, denn ich dachte, diese Zeichen, welche die Luft mit unfehlbarer Sicherheit durchschneiden und auf Hunderte von Meilen den unbekannten Willen eines vor einem Tische sitzenden Menschen einem andern am Ende der Liniebefindlichen Menschen verkünden, verdanken ihr Dasein nur der Energie des sonderbaren Insektenkörpers. Geister, Sylphen, Gnomen schienen mir dabei im Spiele zu sein. Niemals aber triebes mich, diese großen Insekten mit den weißenBäuchen und den schwarzen mageren Füßen von nahem zu sehen; denn ich fürchtete, ich würde unter ihrem steinernen Flügel den kleinen Menschenwitz, sehr ernst und würdig, sehr gründlich und steifleinen, triefend von Wissenschaft, von kleinlicher Eifersüchtelei, vielleicht auch von Aberglauben finden. Eines Morgens erfuhr ich aber, diebewegende Kraft jedes Telegraphen sei ein armer Teufel von einem Angestellten mit einem jährlichen Gehalt von zwölfhundert Franken, der nur mechanische Handgriffe verstehe und so wenig von der wunderbaren elektrischen Kraft wisse, wie ein Nachtwächter von der Poesie der göttlichen Nacht. Da erfaßte mich ein seltsames Verlangen, diese lebendige Puppe einmal näher anzuschauen.
Und Sie wollen nun dahin?
Ja, gnädige Frau!
Und zu welchem Telegraphen wollen Sie gehen? Zu dem im Ministerium des Innern oder zu dem im Observatorium?
Oh, nein, ich könnte dort Leute antreffen, die mich nötigen wollten, etwas zubegreifen, das ich gar nichtbegreifen will, und die mir wider meinen Willen ein Geheimnis zu enthüllen versuchen, das ihnen im Grunde selbst verborgen ist. Zum Teufel! Ich will wenigstens die Illusionen mir erhalten, die ich noch über die Insekten hege; es ist genug, daß ich die, welche ich über die Menschen hatte, verlieren mußte. Ich werde also zu keinem derbeiden Pariser Telegraphen gehen, weder zu dem auf dem Observatorium noch dem im Ministerium des Innern. Ichbrauche einen Telegraphen im freien Felde.
So gehen Sie, denn in zwei Stunden ist es Nacht, und Sie sehen dann nichts mehr.
Teufel! Sie erschrecken mich! Wo ist der nächste auf der Straße nachBayonne?
In Chatillon.
Und nach dem in Chatillon?
Ich glaube, der auf dem Turme von Monthléry.
Ich danke; auf Wiedersehen! Sonnabend werde ich Ihnen meine Eindrücke erzählen.
Vor der Tür traf der Graf mit den zwei Notaren zusammen, die soeben Valentine enterbt hatten und sich nun wegbegaben… äußerst entzückt, daß sie einen Akt aufgesetzt hatten, der ihnen unfehlbar große Ehre machen mußte.
Vierter Band
Wie man einen Gärtner von den Murmeltierenbefreit, die seine Pfirsiche fressen
Nicht an demselben Abend, wie er gesagt hatte, aber am andern Morgen verließ der Graf von Monte Christo Paris und zwar durch das Höllentor, schlug den Weg nach Orléans ein, fuhr durch das Dorf Linas, ohnebei der Telegraphenstation anzuhalten, und erreichte den Turm von Monthléry.
Am Fuße des Hügels sprang er aus dem Wagen und erstieg dann auf einem ringsherum führenden, achtzehn Zollbreiten Fußpfade die Anhöhe, sah sich aber auf dem Gipfel durch eine Hecke aufgehalten.
Monte Christo suchte die Tür des kleinen Geheges und fand sie auch sogleich. Es war ein hölzernes Gatter, das statt durch Angeln mit Weidenrutenbefestigt war und mittelst eines Nagels und einesBindfadens geschlossen wurde. Der Grafbegriff im Nu den Mechanismus, und die Tür öffnete sich.
Der Eindringlingbefand sich nun in einem kleinen, zwanzig Fuß langen und zwölf Fußbreiten Garten, der auf der einen Seite durch den alten, ganz mit Efeu umgürteten und von Mauernelken übersäten Turmbegrenzt war. Man ging durch diesen Garten, indem man einem vielfach geschlängelten, mit rotem Sandebestreuten Wege folgte, an dem sich eine mehrere Jahre alteBuchsbaumeinfassung hinzog. Nie ist Flora durch einen so sorglichen und reinen Kultus geehrt worden, wie man ihr ihn in diesem kleinen Gehege angedeihen ließ.
In der Tat, keiner von den zwanzig Rosenstöcken, die auf demBlumenbeet standen, zeigte auf einem seinerBlätter die Spur von Käfern oderBlattläusen, welche sonst die auf feuchtemBoden wachsenden Pflanzen zernagen. Und dennoch fehlte es dem Garten nicht an Feuchtigkeit; die rußschwarze Erde, das undurchsichtige Laubwerk derBäume ließen daran nicht zweifeln. Aus den Wegen war sorgsam jedes Gräslein entfernt und jedes Unkraut von denBeeten.
Monte Christobliebstehen, nachdem er die Tür, denBindfaden am Nagelbefestigend, wieder geschlossen hatte. Es scheint, der Telegraphist hält sich einen eigenen Gärtner, sagte der Graf, oder er widmet sich selbst leidenschaftlich der Gärtnerei. Plötzlich stieß er an einen Gegenstand, der hinter einem mitBlätterwerkbeladenen Schubkarren kauerte; dieser Gegenstand erhobsich, es entschlüpfte ihm ein Ausruf des Erstaunens, und Monte Christo stand einem Manne von etwa fünfzig Jahren gegenüber, der Erdbeeren pflückte und diese auf Weinblätter legte.
Er hatte zwölf Weinblätter undbeinahe ebensoviele Erdbeeren.
Sie halten Ihre Ernte, mein Herr? sagte Monte Christo lächelnd.
Verzeihen Sie, mein Herr, erwiderte der gute Mann, mit der Hand nach seiner Mütze greifend, ichbin allerdings nicht oben an meinem Posten, komme aber in diesem Augenblicke erst herab.
Ich will Sie durchaus nicht in IhrerBeschäftigung stören, erwiderte der Graf, pflücken Sie ruhig Ihre Erdbeeren.
Ichbitte noch einmal um Vergebung, mein Herr; ich lasse vielleicht einen Vorgesetzten warten? sagte der Mann undbetrachtete mit ängstlichemBlicke den Grafen und seinenblauen Frack.
Seien Sie unbesorgt, mein Freund, entgegnete Monte Christo mit jenem Lächeln, das einen so wohlwollenden, aber, wenn er wollte, auch einen so furchtbaren Eindruck machte, und das diesmal nur Wohlwollen ausdrückte, ichbin kein Vorgesetzter, der hier erscheint, um Sie zu inspizieren, sondern ein einfacher Reisender, der, von der Neugierde zu Ihnen geführt, es sich zum Vorwurfe macht, daß er Ihnen Ihre kostbare Zeit raubt.
Oh! meine Zeit ist nicht kostbar, versetzte der gute Mann mit schwermütigem Lächeln. Doch gehört meine Zeit der Regierung, und ich sollte sie nicht verlieren; doch kann ich, bis ein Signal ertönt, ruhig im Gartenbleiben… Würden Sie übrigens glauben, mein Herr, daß die Murmeltiere mir meine Erdbeeren wegfressen? fügte er mit sonderbarem Gedankensprunge hinzu.
Meiner Treu, nein, das hätte ich nicht geglaubt, erwiderte mit ernstem Ton Monte Christo; diese Murmeltiere sind schlimme Nachbarn für uns, die wir sie nicht essen, wie dies die Römer taten.
Ah! die Römer aßen sie, rief der Gärtner, sie aßen Murmeltiere?
Das erzählen uns die alten Schriftsteller, sagte der Graf.
Wirklich? Das kann nichts Gutes sein, obgleich man sagt: Fett wie ein Murmeltier. Und man darf sich nicht wundern, daß die Murmeltiere fett sind, denn sie schlafen den lieben langen Tag und wachen nur auf, um die ganze Nacht hindurch zu nagen. Sehen Sie, im letzten Jahre hatte ich vier Aprikosen; sie stahlen mir eine von den vieren. Ich hatte einenBlutpfirsich, einen einzigen, es ist gewiß eine seltene Frucht; nun, mein Herr, sie fraßen mir die Hälfte weg, auf der Mauerseite; es war ein herrlicher vortrefflicherBlutpfirsich; ich habe nie einenbesseren gegessen.
Sie haben ihn gegessen? fragte der Graf.
Das heißt, Sie verstehen, die übrig gebliebene Hälfte. Ah! verdammt, diese Spitzbuben wählen sich nicht die schlechtesten Stücke. Doch in diesem Jahr, fuhr der Gartenfreund fort, wird mir das nicht wiederbegegnen, und sollte ich die Früchte, bis sie vollends reif sind, die ganze Nacht hindurch hüten müssen.
Monte Christo hatte genug gesehen. Jeder Mensch hat seine Leidenschaft, die sich in seinem Herzen festsetzt, wie der Wurm in der Frucht; die des Telegraphisten war die Gärtnerei.
Er fing an, die Weinblätter abzupflücken, welche die Trauben vor der Sonne verbargen, und gewann sich dadurch das Herz des Gärtners.
Der Herr ist wohl gekommen, um den Telegraphen zu sehen? fragte dieser.
Ja, mein Herr, wenn es nicht durch die Vorschriften verboten ist?
Oh! nicht im geringsten, da ja keine Gefahr dabei ist und auch niemand weiß oder wissen kann, was wir telegraphieren. Ist es Ihnen gefällig, mit mir hinaufzugehen?
Ich folge Ihnen.
Monte Christo trat in den in drei Stockwerke abgeteilten Turm; der unterste enthielt einiges Gartengerät, wie Spaten, Rechen, Gießkannen. Der zweite diente dem Angestellten als Wohn- und Schlafraum; er enthielt einen armseligen Hausrat, einBett, einen Tisch, zwei Stühle, ein steinernes Waschbecken und an der Decke getrocknete Kräuter, in denen der Graf spanischeBohnen und wohlriechende Erbsen erkannte. Es war alles so sorgfältig mit Etiketten versehen, wie im PariserBotanischen Garten.
Braucht man viel Zeit, um telegraphieren zu lernen? fragte Monte Christo.
Das Studium dauert nicht lange, wohl aber die Zeit, die man als überzählig zu dienen hat.
Und wieviel erhält man Gehalt?
Tausend Franken, mein Herr.
Das ist nicht viel.
Nein, aber man hat freie Wohnung, wie Sie sehen.
Monte Christobetrachtete sich das Zimmer.
Wenn er nur nicht zu große Stücke auf seine Wohnung hält, murmelte er.
Sie gingen in den dritten Stock, wo sich das Telegraphenzimmerbefand. Monte Christo schaute den zierlichen Apparat an. Das ist sehr interessant, sagte er, aber in der Länge der Zeit muß Ihnen ein solches Leben etwas einförmig erscheinen.
Ja, am Anfang, doch nach Verlauf von ein paar Jahren ist man daran gewöhnt, und während meiner freien Zeit gehe ich meiner Lieblingsbeschäftigung, der Gärtnerei, nach, pflanze, schneide, raupe, und sobleibe ich vor Langeweilebewahrt.
Seit wie lange sind Sie hier?
Seit zehn Jahren, und fünf Jahre als Überzähliger, das macht fünfzehn.
Wie lange müssen Sie dienen, um Ruhegehalt zubekommen?
Oh! Herr, fünfundzwanzig Jahre.
Und wievielbeträgt dieser Ruhegehalt?
Hundert Taler.
Arme Menschheit! murmelte Monte Christo.
Was sagen Sie, mein Herr? fragte der Mann.
Ich sage, es sei alles sehr interessant, was Sie mir zeigen… setzt sich nicht soeben die Mechanik Ihres Apparates inBewegung?
Ah! es ist wahr, mein Herr.
Und was sagt Ihnen Ihr Korrespondent?
Er fragt mich, obichbereit sei, und wird sogleich eine Nachricht telegraphieren, die ich an die nächste Station weiterzubefördern habe.
Mein lieber Herr, sagte Monte Christo, Sie lieben die Gärtnerei?
Leidenschaftlich.
Und Sie wären glücklich, wenn Sie statt einer Terrasse von zwanzig Fuß ein Grundstück von zwei Morgen hätten?
Mein Herr, ich würde ein irdisches Paradies daraus machen.
Mit Ihren tausend Franken leben Sie schlecht?
Ziemlich schlecht; doch ich lebe.
Ja; aber Sie haben einen elenden Garten.
Es ist wahr, der Garten ist nicht groß.
Und dabei noch voll von Murmeltieren, die alles auffressen. — Sagen Sie mir, wenn Sie das Unglück hätten, ein Telegramm zu übersehen, was geschähe dann?
Ich würde wegen Nachlässigkeit um Geld gestraft.
Um wieviel?
Um hundert Franken, den zehnten Teil meines Einkommens.
Ist Ihnen das schonbegegnet? fragte Monte Christo.
Einmal, mein Herr, während ich einen Rosenstock pfropfte.
Gut. Wenn es Ihnen nun einfiele, etwas an dem Texte zu ändern oder ein anderes Telegramm dafür einzusetzen?
Dann würde ich entlassen und verlöre mein Ruhegehalt. Siebegreifen daher, mein Herr, daß ich nie etwas dergleichen tun würde.
Nicht einmal für fünfzehn Jahre Ihres Gehaltes?
Für 15 000 Franken? Mein Herr, Sie erschrecken mich.
Bah!
Mein Herr, Sie wollen mich in Versuchung führen?
Ganz richtig! Für 15 000 Franken, begreifen Sie?
Mein Herr, lassen Sie mich nach meinem Apparat schauen!
Im Gegenteil schauen Sie nicht nach ihm, sondern schauen Sie dies an. Kennen Sie diese Papierchen nicht?
Banknoten!
Ja, Tausender; es sind fünfzehn.
Wem gehören sie?
Ihnen, wenn Sie wollen.
Mir! rief der Telegraphist zitternd.
Mein Gott! ja, Ihnen, als freies Eigentum.
Mein Herr, sehen Sie, mein Apparat arbeitet.
Lassen Sie ihn arbeiten.
Mein Herr, Sie haben mich aufgehalten, und ich werde gestraft.
Das kostet Sie hundert Franken; Siebegreifen, Sie haben alles Interesse daran, meine fünfzehnBanknoten zu nehmen. Der Graf legte das Päckchen in die Hand des Angestellten. Doch das ist noch nicht alles, sagte er; mit Ihren 15 000 Franken können Sie nicht leben.
Ich werde immerhin noch meinen Platz haben.
Nein, Sie werden ihn verlieren; denn Siebefördern ein anderes Telegramm, als das Ihres Korrespondenten.
Oh! mein Herr, was verlangen Sie von mir?
Monte Christo zog aus seiner Tasche ein zweites Päckchen und sagte: Hier sind noch weitere 10 000 Franken; mit denen, die Sie in der Tasche haben, macht das 25 000 Franken; mit 5000 Franken kaufen Sie ein hübsches Häuschen und zwei Morgen Land, aus den weiteren 20 000 Franken ziehen Sie eine Rente von 1000 Franken.
Einen Garten von zwei Morgen?
Und tausend Franken Rente.
Mein Gott! mein Gott!
So nehmen Sie doch! Und Monte Christo steckte mit Gewalt die zehntausend Franken in die Hand des Angestellten.
Was soll ich tun?
Dieses Telegramm weiterbefördern. Monte Christo zog aus seiner Tasche ein Papier, auf dem sich in deutlicher Schrift der Textbefand. Das ist schnell getan, wie Sie sehen.
Ja, aber…
Dafür haben Sie sodannBlutpfirsiche und Gott weiß was.
Dieser Streich wirkte. Rot vor fieberhafter Aufregung und dicke Tropfen schwitzend, beförderte der gute Mann das Telegramm, das für das Ministerium des Innernbestimmt war.
Nun sind Sie reich, sagte Monte Christo.
Ja, erwiderte der Gartenfreund, aber um welchen Preis?
Hören Sie, mein Freund, Sie sollen keine Gewissensbisse haben; glauben Sie mir, ich schwöre Ihnen, Sie haben niemand geschadet.
Der Angestelltebetrachtete dieBanknoten, befühlte und zählte sie; er wurdebleich, er wurde rot; endlich stürzte er halbohnmächtig in sein Zimmer, um ein Glas Wasser zu trinken.
Fünf Minuten, nachdem die telegraphische Nachricht im Ministerium des Innern angelangt war, ließ Debray anspannen und eilte zu Danglars. Ihr Gatte hat spanische Anleihwerte? sagte er zurBaronin.
Ich glaube wohl! Er hat für sechs Millionen.
Er soll sie um jeden Preis verkaufen; Don Carlos ist ausBourges entflohen und nach Spanien zurückgekehrt.
Woher wissen Sie dies?
Bei Gott! Wie man Nachrichten erfährt, erwiderte Debray, die Achseln zuckend.
DieBaronin ließ sich das nicht zweimal sagen; sie lief zu ihrem Manne, der seinerseits zu seinem Wechselagenten eilte und ihm den Auftrag gab, um jeden Preis zu verkaufen.
Als man sah, daß Danglars verkaufte, fielen die spanischen Papiere sogleich. Danglars verlor dabei 500 000 Franken, doch er entäußerte sich aller seiner spanischen Papiere.
Am Abend las man im Messager:
Telegraphische Depesche.
Don Carlos ist der Überwachung, unter der er stand, inBourges entgangen und über die katalonische Grenze nach Spanien zurückgekehrt. Barcelona hat sich für ihn erhoben.
Den ganzen Abend hindurch war nur von der Vorsicht Danglars', der seine Spanier verkauft hatte, und von seinem Glücke alsBörsenhändler die Rede, weil erbei einem solchen Schlage nur fünfmalhunderttausend Franken verlor.
Diejenigen, die ihre Papierebehalten oder die Danglars' gekauft hatten, wähnten sich ruiniert undbrachten eine sehr schlimme Nacht zu.
Am andern Morgen las man im Moniteur:
Ohne allen Grund hat der Messager gestern die Flucht des Don Carlos und den Ausstand inBarcelona gemeldet. Eine falsche telegraphische Depesche veranlaßte die irrtümliche Nachricht.
Die Fonds stiegen wieder um das Doppelte.
Dies machte an Verlust und entgangenem Gewinn für Danglars eine Ziffer von einer Million.
Gut! sagte Monte Christo zu Morel, der sich in dem Augenblickbei ihmbefand, wo man ihm den seltsamenBörsenumschlag meldete, dessen Opfer Danglars geworden war, ich habe für fünfundzwanzigtausend Franken eine Entdeckung gemacht, für die ich hunderttausendbezahlt hätte.
Was haben Sie denn entdeckt? fragte Morel.
Das Mittel, wie man einen Gärtner von den Murmeltierenbefreit, die seine Pfirsiche fressen.
Gespenster
Beim ersten Anblick und von außenbetrachtet, hatte das Haus in Auteuil nichts Glänzendes, nicht was man von einer Wohnung des prachtliebenden Grafen von Monte Christo erwartete. Jedoch diese Einfachheit lag in dem Willen desBesitzers, der den strengenBefehl gegeben hatte, nichts an dem Äußeren zu ändern. Sobald aber die Tür geöffnet war, änderte sich das Schauspiel.
Herr Bertuccio hatte sich inBezug auf geschmackvolle Ausstattung und schnelle Ausführung selbst übertroffen. So hatte er in drei Tagen einen völlig nackten Hofbepflanzt, und schöne Pappelbäume und Sykomoren, welche mit ihren ungeheuren Wurzelblöcken angekommen waren, beschatteten die Hauptfassade des Hauses, vor der, statt eines halbunter Gras verborgenen Pflasters, ein frischgrüner Rasen sich ausbreitete und einen großen das Auge erquickenden Teppichbildete.
Die Befehle rührten übrigensbis ins einzelne vom Grafen her; er selbst hatteBertuccio einen Plan eingehändigt, worauf die Zahl und die Stelle derBäume, sowie die Form und der Umfang des Rasens angegeben waren.
So war das Innere des Hauses ganz unkenntlich geworden. Dem Intendanten wäre es nicht unangenehm gewesen, wenn er den Garten ebenfalls einigen Veränderungen hätte unterwerfen dürfen, aber der Graf hatte es aufsbestimmteste verboten, irgend etwas darin zuberühren. Bertuccio entschädigte sich dadurch, daß er die Vorzimmer, die Treppen und die Kamine mitBlumen überlud.
Die außerordentliche Gewandtheit des Intendanten und die große Umsicht desBesitzers zeigten sich darin, daß das seit zwanzig Jahren verlassene Haus in einem Tage den Anblick frischen Lebens gewonnen hatte. Der Graf fand zu seinem freudigen Erstaunen seineBücher und seine Waffenbei der Hand, seine Lieblingsgemälde an günstigen Plätzen aufgehängt; in den Vorzimmern traf er die Hunde, deren Liebkosungen ihn erfreuten, und die Vögel, deren Gesang ihn ergötzte. Kurz das Haus war wie Dornröschens Schloß aus seinem langen Schlafe wiedererweckt; in allen Teilen lebte, sang, blühte es, wie in unserer Phantasie die von uns seit langem geliebten Häuser, in denen wirbeim Scheiden einen Teil unserer Seele zurücklassen.
Die Diener gingen freudig in dem schönen Hofe hin und her, die einenbesorgten Küche und Keller und schlüpften, als wären sie hier stets zu Hause gewesen, über die am Tage zuvor wiederhergestellten Treppen hin; die andern tummelten sich in den Stallungen, wo die numerierten Equipagen schon seit fünfzig Jahren aufgestellt zu sein schienen, und die Pferde ließen an der Raufe ein frohes Wiehern hören, als wollten sie auf den Zuruf der Knechte antworten, die mit unendlich mehr Achtung mit ihnen sprachen, als viele Diener mit ihren Herren.
Die Bibliothek war in einem Flügel aufgestellt und enthielt ungefähr zweitausendBände; eine ganze Abteilung war für die moderne Novellistikbestimmt, und der am Tage zuvor erschienene Roman prunktebereits an seiner Stelle in rotem Einband mit Goldschnitt.
Auf der andern Seite des Hauses fand sich, als Gegenstück zurBibliothek, das Treibhaus, geschmückt mit den seltensten Pflanzen, die hier in großen japanischen Gefäßenblühten; und mitten in dem Treibhause, einem Wunder an Farbenpracht und Wohlgeruch, stand einBillard, das aussah, als wäre es erst eine Stunde zuvor von den Spielern verlassen worden.
An einem einzigen Zimmer hatte HerrBertuccio keine Veränderungen vorgenommen. Vor diesem Zimmer, das in der linken Ecke des ersten Stockes lag, und zu dem man auf der großen Treppe hinaufsteigen konnte, während eine geheime Treppe von dort herabführte, gingen die Diener mit Neugierde undBertuccio mit Schrecken vorbei.
Schlag fünf Uhr fuhr der Graf, von Alibegleitet, vor. Bertuccio erwartete diese Ankunft ziemlich ungeduldig und ruhig; er hoffte auf einige Komplimente, während er zugleich ein Stirnrunzelnbefürchtete.
Monte Christo stieg im Hofe aus, durchschritt das ganze Haus und ging im Garten umher, schweigsam und ohne das geringste Zeichen vonBilligung oder Mißbilligung von sich zu geben.
Nur streckte er, als er in sein Schlafzimmer trat, das dem geschlossenen Zimmer gegenüber lag, die Hand nach der Schublade eines kleinen Schrankes von Rosenholz aus, den erbereitsbei seiner ersten Reise wahrgenommen hatte, und sagte: Das kann nur als Handschuhbehälter dienen.
In der Tat, Exzellenz, erwiderteBertuccio entzückt, öffnen Sie, und Sie werden Handschuhe darin finden.
In den andern Schränken fand der Graf ebenfalls, was er zu finden hoffte, Flacons, Zigarren, Juwelen.
Gut! sagte der Graf. UndBertuccio entfernte sich mit dem freudigsten Gemüte; so groß und unwiderstehlich war Monte Christos Einfluß auf seine ganze Umgebung.
Pünktlich um sechs Uhr hörte man ein Pferd vor der Haustür. Es war unser Kapitän der Spahis, der auf Medea kam. Monte Christo erwartete ihn, ein Lächeln auf den Lippen, auf der Freitreppe.
Ichbin sicherlich der Erste, rief ihm Morel zu: ich richtete dies so ein, um Sie, ehe die andern Gäste da sind, einen Augenblick für mich allein zu haben. Julie und Emanuel sagen Ihnen tausend schöne Dinge. Doch wissen Sie, daß es hier herrlich ist?
In diesem Augenblick langte ein Wagen, dem Debray und Chateau‑Renaud zu Pferde folgten, vor der Treppe an.
Debray sprang auf der Stelle von seinem Pferde, eilte an den Kutschenschlag und reichte seine Hand derBaronin Danglars, die ihm ein unmerkliches, aber dem Grafen von Monte Christo nicht entgehendes Zeichen machte.
Zugleich sah der Graf ein kleinesBillett glänzen, das mit einer Leichtigkeit, welche von Übung in diesem Manöver zeugte, aus Frau Danglars' Hand in die des Sekretärs überging.
Hinter seiner Frau stieg derBankier aus; er war sobleich, als käme er aus dem Grabe.
Man trat ins Haus und fing an, die Kunstwerke zubewundern, alsBaptistin den MajorBartolomeo Cavalcanti und den Grafen Andrea Cavalcanti anmeldete.
Mit einer Halsbinde von schwarzem Atlas, soeben erst aus den Händen des Fabrikanten kommend, das Kinn frisch rasiert, grauer Schnurrbart, sicheres Auge, Majorsuniform mit drei Sternen und fünf Kreuzen geschmückt, in Summa tadellose Haltung des alten Soldaten,… so erschien der MajorBartolomeo Cavalcanti, der uns wohlbekannte zärtliche Vater.
Neben ihm schritt in einem frischglänzenden Gewande, ein Lächeln auf den Lippen, der Graf Andrea Cavalcanti, der unsbekannte ehrfurchtsvolle Sohn.
Die drei, Debray, Morel und Renaud, plauderten miteinander; ihreBlicke richteten sich von dem Vater auf den Sohn undblieben natürlich länger auf dem letzteren haften, den sie zergliederten.
Cavalcanti! sagte Debray.
Pest! ein schöner Name, sagte Morel.
Ja, versetzte Chateau‑Renaud, es ist wahr, diese Italiener nennen sich geschmackvoll, kleiden sich aber geschmacklos.
Sie sind sehr heikel, Chateau‑Renaud, sagte Debray, diese Kleider sind von einem vortrefflichen Schneider und ganz neu.
Das ist es gerade, was ich ihnen zum Vorwurf mache. Der Herr sieht aus, als ober sich heute zum erstenmal anständig kleidete.
Wer sind diese Herren? fragte Danglars den Grafen von Monte Christo.
Sie haben gehört, Cavalcanti.
Dadurch erfahre ich ihren Namen und sonst nichts.
Ah! es ist wahr, Sie sind nicht auf dem laufenden inBezug auf den italienischen Adel; wer Cavalcanti sagt, sagt Fürstengeschlecht.
Schönes Vermögen? fragte derBankier.
Fabelhaft.
Was machen sie?
Sie suchen es zu verzehren, ohne zum Ziele gelangen zu können. Übrigens haben sie Kreditbriefe auf Sie, wie mir diese Herren sagten, als sie mich vorgesternbesuchten. Ich habe sie sogar Ihnen zuliebe eingeladen und werde Ihnenbeide vorstellen.
Doch es scheint mir, sie sprechen das Französische sehr rein, bemerkte Danglars.
Der Sohn ist in einem Kolleg im Süden, ich glaube in Marseille oder in der Nähe, erzogen worden. Sie werden ihn ganzbegeistert finden.
Wofür? fragte dieBaronin.
Für die Französinnen, gnädige Frau. Er will durchaus eine Frau in Paris nehmen.
Wahrlich ein schöner Gedanke! sagte Danglars, die Achseln zuckend.
DerBaron scheint heute sehr düster, sagte Monte Christo zu Frau Danglars; sollte man ihn etwa zum Minister machen wollen?
Nein, nicht daß ich wüßte. Ich glaube eher, daß er an derBörse gespielt, dabei verloren hat, und noch nicht weiß, wem er die Schuld daranbeimessen soll.
Herr und Frau von Villefort! riefBaptistin.
Die zwei gemeldeten Personen traten ein; Herr von Villefort war trotz seiner Selbstbeherrschung sichtbar erschüttert. Als Monte Christo seine Handberührte, fühlte er, daß sie zitterte.
Offenbar nur die Frauen wissen sich zu verstellen, sagte Monte Christo zu sich selbst, während er Frau Danglars anschaute, die dem Staatsanwalt zulächelte und dessen Frau umarmte.
Nach den erstenBegrüßungen sah der Graf, wieBertuccio in einen kleinen Salon schlüpfte, der unmittelbar an den stieß, in dem die Gesellschaft versammelt war.
Der Graf fragte ihn: Was wollen Sie, HerrBertuccio?
Seine Exzellenz hat mir die Zahl der Gäste nicht genannt.
Ah! das ist wahr. Zählen Sie selbst.
Bertuccio warf einenBlick durch die halbgeöffnete Tür, Monte Christobeobachtete ihn mit scharfem Auge.
Oh, mein Gott! rief er.
Was denn? fragte der Graf.
Diese Frau… diese Frau…
Welche?
Die mit dem weißen Kleide und den vielen Diamanten… dieBlonde…
Frau Danglars?
Ich weiß nicht, wie sie heißt. Doch sie ist es! Sie ist es!
Wer, sie?
Die Frau aus dem Garten! Die, welche in andern Umständen war, spazieren ging… und wartete… und wartete auf…
Bertuccio erbleichte und schaute, den Mund geöffnet und die Haare gesträubt, hinaus.
Und wartete auf wen?
Bertuccio deutete, ohne zu antworten, mit dem Finger auf Villefort, ungefähr mit derselben Gebärde, mit der einst Macbeth aufBanco deutete.
Oh!.. oh!.. murmelte er endlich, sehen Sie?
Ihn!.. den Herrn Staatsanwalt Villefort? Allerdings sehe ich ihn.
Ich habe ihn also nicht getötet?
Ich glaube, Sie werden ein Narr, meinbraver HerrBertuccio, sprach der Graf.
Er ist also nicht tot?
Ei, nein, er ist nicht tot, wie Sie sehen; statt ihn zwischen die sechste und siebente linke Rippe zu stoßen, wie dies Ihre Landsleute zu tun pflegen, haben Sie ihn etwas höher oder tiefer getroffen, undbei diesen Männern der Justiz ist die Seele gleichsam mit Pflöcken im Körperbefestigt. Oder es ist vielleicht nichts Wirkliches an dem, was Sie mir sagten, es ist ein Traum Ihrer Einbildungskraft, eine Täuschung Ihrer Sinne; Sie werden, nachdem Sie Ihre Rache schlecht verdaut haben, eingeschlafen sein, sie hat Sie wohl auf den Magen gedrückt, und ein Alpdruck hat Ihnen etwas vorgespiegelt… Das ist das Ganze. Sammeln Sie sich, beruhigen Sie sich und zählen Sie: Herr und Frau von Villefort zwei; Herr und Frau Danglars vier; Herr von Chateau‑Renaud, Herr Tebray, Herr Morel sieben; der Herr MajorBartolomeo Cavalcanti…
Acht, wiederholteBertuccio.
Warten Sie doch! Warten Sie doch! Sie haben große Eile! Den Teufel! Sie vergessen einen von meinen Gästen. Schauen Sie ein wenig links… dort… Herr Andrea Cavalcanti, der junge Mann im schwarzen Frack, der die Jungfrau von Murillobetrachtet und sich eben umdreht.
Diesmal stießBertuccio einen Schrei aus, den derBlick Monte Christos auf seinen Lippen erstickte.
Benedetto, murmelte er ganz leise, oh Verhängnis!
Es hat halbsieben Uhr geschlagen, HerrBertuccio, sagte der Graf mit strengem Tone; dies ist die Stunde, zu der man sich meinemBefehl gemäß zur Tafel setzt; Sie wissen, ich liebe das Warten nicht.
Monte Christo kehrte in den Salon zurück, wo die Gäste seiner harrten, währendBertuccio, sich an den Wänden haltend, den Speisesaal wieder zu erreichen suchte.
Fünf Minuten nachher öffneten sich diebeiden Türen des Salons. Bertuccio erschien und sagte mit einer letzten heldenmütigen Anstrengung: Herr Graf, es ist aufgetragen.
Monte Christobot Frau von Villefort seinen Arm.
Herr von Villefort, sagte er, ichbitte Sie, seien Sie der Kavalier der FrauBaronin Danglars.
Villefort gehorchte, und man ging in den Speisesaal.
Das Mittagsmahl
Offenbarbelebte dasselbe Gefühl alle Gäste, als man in den Speisesaal trat. Sie fragten sich, welch ein seltsamer Einfluß sie alle in dieses Haus geführt habe, und so erstaunt und sogar so unruhig auch einige darüber waren, daß sie sich darinbefanden, so hatten sie doch keineswegs den Wunsch, nicht hier zu sein.
Gleichwohl machten es die kurzeBekanntschaft mit dem Grafen, die sonderbare Ausnahmestellung, die er einnahm, das seiner Herkunft nach unbekannte und fast fabelhafte Vermögen des Grafen den Männern zur Pflicht, behutsam zu sein. Die Damen aber hätten ein Haus nichtbetreten sollen, wo sich keine Frauen fanden, um sie zu empfangen; und dennoch hatten Männer und Frauen, die einen die Vorsicht, die andern die Schicklichkeit aus den Augen gesetzt, indem die Neugierde mit unwiderstehlichem Zuge jedes Widerstreben überwand.
Alle Anwesenden ohne Ausnahme, sogar Cavaleanti, der Vater, trotz seiner Steifheit, und Cavalcanti der Sohn, trotz seiner Leichtfertigkeit, schienen darüberbeunruhigt, daß sie sichbei einem Manne, dessen Zwecke sie nichtbegreifen konnten, mit andern Menschen zusammenbefanden, die sie zum erstenmal sahen.
Frau Danglars machte eineBewegung, als sie gewahrte, daß Herr von Villefort auf Monte Christos Einladung sich ihr näherte, um ihr den Arm zubieten; und Herr von Villefort empfand, daß sich seinBlick unter seiner goldenenBrille verwirrte, als er fühlte wie sich der Arm derBaronin auf den seinigen legte.
Keine dieserBewegungen war dem Grafen entgangen, und es lag schon in dieser einfachenBerührung derbeiden Menschen für denBeobachter dieser Szene ein großes Interesse.
Herr von Villefort hatte zu seiner Rechten Frau von Danglars und zu seiner Linken Morel.
Der Graf saß zwischen Frau von Villefort und Danglars.
Die andern Zwischenräume wurden ausgefüllt durch Debray, der zwischen Cavalcanti Vater und Cavalcanti Sohn, und durch Chateau‑Renaud, der zwischen Frau von Villefort und Morel saß.
Das Mahl war prachtvoll; Monte Christo hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Pariser Symmetrie völlig umzustürzen und mehr noch der Neugierde als dem Appetit seiner Gäste die gewünschte Nahrung zu geben. Es war ein orientalischer Schmaus, was man ihnenbot, doch orientalisch auf eine Weise, wie man sie sich nurbei Festen arabischer Feen vorstellt.
Alle Früchte, welche die vier Weltteile unversehrt und wohlschmeckend in das europäische Füllhorn zu spenden vermögen, waren in Pyramiden in chinesischen Vasen und auf japanischen Schalen aufgehäuft. Seltene Vögel mit glänzendem Gefieder, riesenhafte Fische auf silbernen Platten, alle Weine des Archipels, von Kleinasien und vom Kap, in Flaschen vonbizarren Formen, zogen gleich wiebei jenen gastronomischen Wunderschmäusen, welche die römischen Schlemmer der üppigsten Kaiserzeit ihren Gästenboten, vor diesen Parisern vorüber, welche meinten, man könne tausend Louisd'or für ein Mittagsmahl von zehn Personen nur ausgeben, wenn man wie Cleopatra Perlen verschluckte.
Monte Christo sah das allgemeine Erstaunen und fing an zu lachen und zu spotten.
Meine Herren, sagte er, Sie werden mir eines wohl zugeben, daß es nämlich, wenn man zu einem gewissen Grade des Vermögens gelangt ist, nichts so sehr Notwendiges gibt, als das Überflüssige. Was ist eigentlich ein wahrhaft wünschenswertes Gut? Ein Gut, das wir nicht haben können. Dinge sehen, die ich nichtbegreifen kann, mir Dinge verschaffen, die unmöglich zu haben sind, das ist nun das einzige Streben meines Lebens. Ich gelange hierzu durch zwei Mittel, durch das Geld und durch den Willen. Um eine Laune zu verfolgen, wende ich zuweilen dieBeharrlichkeit an, die Sie anwenden, Herr Danglars, um eine neue Eisenbahnlinie herzustellen; Sie, Herr von Villefort, um einen Menschen zum Tode verurteilen zu lassen; Sie, Herr Debray, um ein Diplomatenkunststück zu vollbringen; Sie, Herr von Chateau‑Renaud, um einer Frau zu gefallen; Sie, Herr Morel, um ein Pferd zubändigen, das sonst niemand zubändigen vermag. Sehen Sie zumBeispiel diese Fische an, von denen der eine fünfzig Meilen von St. Petersburg, der andere fünf Meilen von Neapel das Licht der Welt erblickt hat. Ist es nichtbelustigend, sie auf derselben Tafel zu vereinigen?
Was für Fische sind dies? fragte Danglars.
Hier ist Herr von Chateau‑Renaud, der sich in Rußland aufgehalten hat und Ihnen den Namen des einen sagen wird, antwortete Monte Christo, und hier ist Herr Major von Cavalcanti, ein Italiener, der Ihnen wohl den Namen des andern nennt.
Dieser hier ist, glaube ich, ein Sterlet, sagte Chateau‑Renaud.
Und dieser hier ist, wenn ich mich nicht täusche, eine Lamprete, versetzte Cavalcanti.
So ist es. Mein lieber Herr Danglars, fragen Sie nun diebeiden Herren, wo man diese Fische fängt.
Die Sterlets fängt man nur in der Wolga, sagte Chateau‑Renaud.
Nur der Fusaro‑See liefert meines Wissens Lampreten von dieser Größe, sagte Cavalcanti. Ganz richtig: der eine kommt aus der Wolga, der andere aus dem Fusaro‑See.
Unmöglich! riefen zugleich alle Gäste.
Sehen Sie, das ist es gerade, was michbelustigt, sagte Monte Christo. Ichbin wie Nero, das Unmögliche zieht mich an, und das ist es auch, was Sie ergötzt, denn daß Ihnen dieses Fleisch, das in Wirklichkeit vielleicht nicht so viel wert ist, als das desBarsches oder des Salms, ausgezeichnet erscheint, rührt wohlbloß davon her, daß es Ihnen unmöglich schien, es sich zu verschaffen, und daß es nun doch da ist.
Doch wie hat man es fertig gebracht, diese Fische nach Paris zu transportieren?
Oh, mein Gott! Es gibt nichts Einfacheres; man hat jeden in ein großes Faß getan, von denen das eine mit Schilfrohr und Meergras, das andere mitBinsen und Seepflanzen ausgepolstert war. Man legte sie sodann auf einenbesonders hierzu gebauten Packwagen, und so lebte der Sterlet zwölf Tage und die Lamprete acht; undbeide waren noch völlig lebendig, als sie meinem Koch in die Hände fielen, der den einen in Milch, den andern in Wein sterben ließ.
Sie sind in der Tat ein wunderbarer Mann! rief Danglars, und die Philosophen mögen sagen, was sie wollen, es ist doch herrlich, reich zu sein.
Das alles istbewundernswürdig, sagte Chateau‑Renaud; doch ich gestehe, was ich am meistenbewundere, ist die staunenswerte Schnelligkeit, mit der Siebedient werden. Nicht wahr, Herr Graf, Sie haben dieses Haus erst vor fünfbis sechs Tagen gekauft?
Allerdings.
Nun wohl, ichbin überzeugt, daß es in acht Tagen völlig umgestaltet sein wird; denn wenn ich mich nicht täusche, hatte es einen ganz andern Eingang, als jetzt, und der Hof war gepflastert und leer, während er heute aus einem herrlichen Rasenbesteht, eingefaßt vonBäumen, die über hundert Jahre alt zu sein scheinen.
Das ist natürlich, ich liebe das Grüne und den Schatten, versetzte Monte Christo.
In der Tat, sagte Frau von Villefort, früher kam man durch ein Tor, das auf die Straße ging, und am Tage meiner wunderbaren Rettung ließen Sie mich, wie ich mich erinnere, von der Straße aus in das Haus eintreten.
Ja, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo; doch seitdem zog ich einen Eingang vor, der mir erlaubt, dasBois deBoulogne durch mein Gitter zu sehen.
In vier Tagen, rief Morel, das ist ein Wunder!
Sie haben recht, sagte Chateau‑Renaud, aus einem alten Hause ein neues zu machen, ist etwas höchst Wunderbares, denn das Haus war in der Tat sehr alt und hatte sogar ein sehr düsteres Aussehen; ich entsinne mich dessen, denn ich war von meiner Mutterbeauftragt, es in Augenschein zu nehmen, als es Herr von Saint‑Meran vor ein paar Jahren zum Verkaufe ausbot.
Herr von Saint‑Meran! sagte Frau von Villefort, dieses Haus gehörte also Herrn von Saint‑Meran, ehe Sie es kauften, Herr Graf?
Es scheint so, antwortete Monte Christo.
Wie, es scheint? Sie wissen nicht, wem Sie Ihr Haus abgekauft haben?
Meiner Treu, nein, mein Intendantbesorgt alle diese Einzelheiten.
Es war wenigstens zehn Jahre gar nichtbewohnt, bemerkte Chateau‑Renaud, und esbot einen gar traurigen Anblick mit seinen geschlossenen Läden und Türen und dem Grase im Hofe. Wahrlich, wenn es nicht dem Schwiegervater eines Staatsanwaltes gehört hätte, man wäre versucht gewesen, es für eines von jenen verfluchten Häusern zu halten, in denen ein großes Verbrechenbegangen worden ist.
Villefort, derbis jetzt keines von den dreibis vier mit außerordentlichen Weinen gefüllten Gläsernberührt hatte, die vor ihm standen, nahm das nächststehende und leerte es in einem Zuge.
Monte Christo ließ einen Augenblick hingehen, dann sagte er, das Stillschweigen unterbrechend, das auf die Worte Chateau‑Renauds gefolgt war: Es ist seltsam, HerrBaron, aber derselbe Gedanke ergriff mich, als ich es zum erstenmalebetrat, und dieses Haus kam mir so düster vor, daß ich es nie gekauft haben würde, wenn nicht der Intendant die Sache für mich abgemacht hätte. Ohne Zweifel hat derBursche vom Sachwalter ein hübsches Trinkgeldbekommen.
Das ist wahrscheinlich, stammelte Villefort, der zu lächeln suchte; glauben Sie mir jedoch, daß ich an dieserBestechung keinen Teil habe. Es war der Wille des Herrn von Saint‑Meran, daß dieses Haus, das zur Mitgift seiner Enkelin gehört, verkauft würde, denn wäre es noch drei oder vier Jahre unbewohnt geblieben, so müßte es in Trümmer zerfallen sein.
Nun erbleichte Morel ebenfalls.
Besonders ein Zimmer, fuhr Monte Christo fort, ein Zimmer, mein Gott! ein scheinbar ganz einfaches Zimmer, ein Zimmer wie alle anderen Zimmer, mit rotem Damast austapeziert, kam mir, ich weiß nicht warum, so tragisch vor, wie nur etwas sein kann.
Warum dies? fragte Debray, warum tragisch?
Gibt man sich Rechenschaft über unbewußte Eindrücke? Gibt es nicht Orte, an denen man geradezu Traurigkeit einzuatmen scheint? Warum? Man weiß es nichts durch eine Verkettung von Erinnerungen, durch eine Laune des Geistes, der uns in andere Zeiten, an andere Orte zurückführt, die vielleicht in gar keinem Zusammenhang mit den Zeiten und Orten stehen, wo wir unsbefinden! Ich weiß nur gewiß, daß mich dieses Zimmer auf eine wunderbare Weise an das Zimmer der Desdemona erinnerte. Bei Gott, da wir mit dem Mittagsmahl fertig sind, muß ich es Ihnen zeigen, dann gehen wir in den Garten und nehmen dort den Kaffee. Monte Christobefragte seine Gäste durch ein Zeichen. Frau von Villefort stand auf, Monte Christo tat dasselbe, und die andern folgten demBeispiel.
Villefort und Frau Danglarsblieben einen Augenblick wie an ihre Plätze genagelt, siebefragten sich mit kalten, stummen, eisigen Augen.
Haben Sie gehört? fragte Frau Danglars.
Wir müssen gehen, antwortete Villefort, aufstehend und ihr den Arm reichend.
Es hatten sichbereits alle Gäste, von Neugierde getrieben, gesammelt, denn man dachte wohl, derBesuch würde sich nicht auf dieses Zimmerbeschränken, und man würde zugleich die übrigen Teile der ehemaligenBaracke, aus der Monte Christo einen Palast gemacht hatte, durchwandern. Jeder eilte durch die offene Tür. Monte Christo wartete auf die Zögernden; als sie ebenfalls hinausgegangen waren, schloß er den Zug mit einem Lächeln, das seine Gäste, wenn sie es hättenbegreifen können, ganz anders in Schrecken gesetzt haben würde, als das Zimmer, das manbetreten sollte. Man durchschritt nach und nach die auf orientalische Weise ausgestatteten Räume und die mit den schönsten Gemälden alter Meister geschmückten Salons; endlich gelangte man in dasberüchtigte Gemach.
Es zeigte nichtsBesonderes, als daß es, obgleich der Tag sich neigte, nicht erleuchtet war und sein altes Aussehenbeibehalten hatte, während alle übrigen Zimmer in gänzlich neuem Schmucke erschienen. Diese zwei Ursachen genügten in der Tat, ihm eine düstere Farbe zu verleihen.
Hu; rief Frau von Villefort, das ist in der Tat schauerlich.
Frau Danglars suchte ein paar Worte zu stammeln, die man nicht verstand. VerschiedeneBemerkungen flogen durcheinander undbestätigten insgesamt, das Zimmer mit dem roten Damast habe ein unheilschwangeres Aussehen.
Nicht wahr? sagte Monte Christo. Schauen Sie nur, wie diesesBett sonderbar gestellt ist, welch eine düstere, blutige Tapete! Und diesebeiden Porträts mit ihren infolge der Feuchtigkeit verblichenen Augen, scheinen ihreblassen Lippen und ihre irren Augen nicht zu sagen: Ich habe gesehen?
Villefort wurde leichenbleich, und Frau Danglars fiel auf einen in der Nähe des Kamins stehenden Stuhl.
Oh! haben Sie wirklich den Mut, sich auf diesen Stuhl zu setzen, worauf das Verbrechen vielleichtbegangen worden ist? fragte Frau von Villefort lächelnd.
Frau Danglars stand rasch auf.
Und das ist noch nicht alles, sagte Monte Christo.
Was gibt es denn noch? fragte Debray, dem Frau Danglars Aufregung nicht entging.
Sehen Sie doch diese kleine Treppe, sagte Monte Christo, eine in der Tapete verborgene Tür öffnend, schauen Sie, und sagen Sie mir, was Sie davon denken!
Welch unheilschwangere Stufen! rief lachend Chateau‑Renaud.
Ich weiß in der Tat nicht, obes der Wein von Chios ist, der so schwermütig macht, aber ich sehe dieses Haus allerdings ganz schwarz, sagte Debray.
Morel war, seit von Valentines Mitgift die Rede gewesen war, traurig geblieben und hatte kein Wort mehr gesprochen.
Denken Sie sich einen Othello oder irgend einen Abbé von Ganges, sagte Monte Christo, der Schritt für Schritt in einer finstern, stürmischen Nacht mit einer unseligenBürde, die er, wenn nicht dem Auge Gottes, doch demBlicke der Menschen zu entziehen eiligbemüht wäre, diese Treppe hinabginge.
Frau Danglars wurde halbohnmächtig am Arme Villeforts, der sich selbst an die Wand lehnen mußte.
Ah! mein Gott, gnädige Frau, was haben Sie denn? rief Debray, wiebleich werden Sie!
Was sie hat? Das ist ganz einfach, versetzte Frau von Villefort; Herr von Monte Christo erzählt uns schreckliche Geschichten, ohne Zweifel, damit wir vor Furcht sterben sollen. Ja wohl, sagte Villefort. In der Tat, Graf, Sie erschrecken die Damen.
Was haben Sie denn? fragte Debray wiederholt Frau Danglars.
Nichts, nichts, erwiderte diese, nicht ohne eine gewisse Anstrengung, ichbedarf nur der Luft.
Wollen Sie in den Garten hinabgehen? fragte Debray, Frau Danglars seinen Armbietend und auf die Geheimtreppe zuschreitend.
Nein, nein, antwortete sie, ich will lieber hierbleiben!
Ist dieser Schrecken in der Tat ernst, gnädige Frau? sagte Monte Christo.
Nein, mein Herr, erwiderte Frau Danglars; doch Sie haben eine Art, die Dinge an die Wand zu malen, welche die Illusion zur Wirklichkeit macht.
Oh! Gott, ja, sagte Monte Christo lächelnd, und das ist alles ein Erzeugnis der Einbildungskraft; denn warum sollte man sich nicht ebensogut dieses Zimmer als ein ehrliches, gutes Zimmer einerbiederen Hausfrau vorstellen, diesesBett mit seinen purpurroten Vorhängen als ein von der fruchtbaren Göttin Lucinabesuchtes Lager, und diese geheimnisvolle Treppe als den Gang, durch den sacht, und um den erquickenden Schlaf der Wöchnerin nicht zu stören, der Arzt geht, oder die Amme, oder der Vater, das schlummernde Kind auf dem Arme…?
Diesmal stieß Frau Danglars, statt sich zuberuhigen, einen Seufzer aus und fiel in Ohnmacht.
Frau Danglarsbefindet sich unwohl, stammelte Villefort; man sollte sie vielleicht in ihren Wagenbringen.
Oh, mein Gott! rief Monte Christo, ich habe meinen Flacon vergessen.
Hier ist der meinige, sagte Frau von Villefort und reichte Monte Christo einen Flacon voll eines roten Saftes, dem ähnlich, dessen wohltätige Wirkung der Graf an Eduard versucht hatte.
Ah! sagte Monte Christo, während er das Fläschchen aus Frau von Villeforts Händen nahm.
Ja, flüsterte ihm diese zu, ich habe es nach Ihren Angaben versucht.
Und es ist Ihnen gelungen?
Ich glaube.
Man hatte Frau Danglars in das Nebenzimmer gebracht. Monte Christo ließ einen Tropfen von dem roten Safte auf ihre Lippen fallen, und sie kam zu sich.
Oh! welch ein gräßlicher Traum! rief sie.
Villefort drückte ihr kräftig die Hand, um ihr zu verstehen zu geben, sie hätte nicht geträumt.
Man suchte Herrn Danglars; Monte Christo schien in Verzweiflung; er nahm Frau Danglars am Arm und führte sie in den Garten, wo man Herrn Danglars fand, zwischen den Herren Cavalcanti Vater und Sohn Kaffee schlürfend.
Habe ich Sie wirklich erschreckt? fragte Monte Christo.
Nein; aber Sie wissen, die Dingebringen Eindrücke auf uns hervor, je nach der Stimmung, in der wir unsbefinden.
Villefort zwang sich zu lachen. Und dannbegreifen Sie, sagte er, es genügt eine Voraussetzung, eine Chimäre…
Nun wohl, sagte Monte Christo, Sie mögen nur glauben oder nicht, ich habe die feste Überzeugung, daß ein Verbrechen in diesem Hausebegangen worden ist.
Nehmen Sie sich in acht, entgegnete Frau von Villefort, wir haben einen Staatsanwalt hier.
Meiner Treu, rief Monte Christo, da sich dies gerade so trifft, so werde ich esbenutzen, um meine Angabe zu machen.
Ihre Angabe? fragte Villefort.
Ja, und zwar in Gegenwart von Zeugen.
Alles dies ist sehr interessant, bemerkte Debray, und wenn wirklich ein Verbrechen vorliegt, so werden wir vortrefflich verdauen.
Es liegt ein Verbrechen vor, sagte Monte Christo. Kommen Sie hierher, meine Herren, kommen Sie, Herr von Villefort; damit die Angabe gültig ist, muß siebei der zuständigenBehörde gemacht werden. Monte Christo nahm Villefort am Arme, und während er zugleich Frau Danglars' Arm unter den seinigen drückte, zog er den Staatsanwaltbis unter die Platane, wo der Schatten am stärksten war. Die andern Gäste folgten insgesamt.
Sehen Sie, sagte Monte Christo, hier, gerade auf dieser Stelle — und er stieß mit dem Fuße auf die Erde — hier ließ ich, um die altenBäume durch andere zu ersetzen, graben und Erde auslegen; bei dem Graben entdeckten meine Arbeiter ein Kistchen, oder vielmehr die eisernenBande eines Kistchens, unter denen das Skelett eines neugeborenen Kindes lag. Das ist, denke ich, keine Sinnestäuschung?
Monte Christo fühlte, wie Frau Danglars' Arm erstarrte und Villeforts Hand zitterte.
Ein neugeborenes Kind, wiederholte Debray; Teufel! die Sache wird ernst, wie mir scheint.
Oh! wer kann sagen, daß es ein Verbrechen ist? versetzte Villefort mit einer letzten Anstrengung.
Wie? Ein Kind in einem Garten lebendigbegraben und kein Verbrechen? rief Monte Christo. Wie nennen Sie denn diese Handlung, Herr Staatsanwalt?
Aber wer sagt denn, es sei lebendigbegraben worden?
Warum es hierbegraben, wenn es tot war? Dieser Garten ist nie ein Friedhof gewesen.
Was widerfährt den Kindesmördern in diesem Lande? fragte naiv der Major Cavalcanti.
Mein Gott, man schneidet ihnen ganz einfach, den Hals ab, antwortete Danglars.
Ah! man schneidet ihnen den Hals ab, rief Cavalcanti.
Ich glaube… nicht wahr, Herr von Villefort? fragte Monte Christo.
Ja, Herr Graf, antwortete dieser mit einem Ausdrucke, der nichts Menschliches mehr hatte.
Monte Christo sah, daß diebeiden Personen, für welche er die Szene vorbereitet hatte, nicht mehr ertragen konnten, und sagte, da er die Sache nicht weiter treiben wollte: Doch, meine Herren, mir scheint, wir vergessen den Kaffee. Und er führte seine Gäste zu dem mitten auf dem Rasen stehenden Tische.
In der Tat, Herr Graf, sagte Frau Danglars, ich schäme mich, meine Schwäche zu gestehen, aber alle diese furchtbaren Geschichten haben mich gewaltig angegriffen; ichbitte, erlauben Sie, daß ich mich setze.
Und sie fiel auf einen Stuhl.
Monte Christo verbeugte sich vor ihr, trat zu Frau von Villefort und sagte zu dieser: Ich glaube, Frau Danglarsbedarf abermals Ihres Flacons.
Doch ehe sich Frau von Villefort ihrer Freundin näherte, hatte der Staatsanwaltbereits Frau Danglars zugeflüstert:
Ich muß Sie morgen sprechen.
Wo?
Kommen Sie in meinBüro, das ist noch der sicherste Ort.
Ich werde kommen.
In diesem Augenblick kam Frau von Villefort.
Ich danke, liebe Freundin, sagte Frau Danglars, welche zu lächeln suchte, es ist nichts, und ich fühle michbereitsbesser.
Der Bettler
Der Abend rückte heran; Frau von Villefort äußerte den Wunsch, nach Paris zurückzukehren, was Frau Danglars trotz ihres augenscheinlichen Unbehagens nicht zu tun wagte.
Auf das Verlangen seiner Frau gabHerr von Villefort zuerst das Zeichen zum Aufbruch. Erbot Frau Danglars einen Platz in seinem Wagen, damit sie unter der Sorge seiner Frau wäre. In ein höchst interessantes gewerbliches Gespräch vertieft, schenkte Herr Danglars allem, was um ihn her vorging, nicht die geringste Aufmerksamkeit. Während Monte Christo von Frau von Villefort ihren Flacon verlangte, bemerkte er, daß sich Herr von Villefort Frau Danglars näherte, und erriet nach seiner Kenntnis der Sachlage, was der Staatsanwalt ihr sagte, obgleich dieser so leise sprach, daß es kaum Frau Danglars hörte.
Vom Grafen sich verabschiedend ritten Morel, Chateau‑Renaud und Debray fort, während diebeiden Damen in den Wagen des Herrn von Villefort stiegen und Herr Danglars, immer mehr entzückt von Herrn Cavalcanti dem Vater, diesen einlud, mit ihm in seinem Coupé zu fahren.
Was Andrea Cavalcantibetrifft, sobenutzte dieser sein neues Tilbury, das ihn vor der Tür erwartete und dessen Eisenschimmel ein Reitknecht hielt. Andrea hatte während des Mittagsmahles nicht viel gesprochen, weil er ein ganz gescheiterBursche war und diebegründete Furcht hegte, es könnte ihm mitten unter diesen reichen und angesehenen Gästen, unter denen sein Auge wohl nicht ohneBangen einen Staatsanwalt erblickte, eine Albernheit entschlüpfen.
Dann war er von Herrn Danglars inBeschlag genommen worden. Dieser glaubtebeim Anblick des alten Majors mit dem steifen Kragen und seines noch etwas schüchternen Sohnes und in Hinsicht auf Monte Christos Gastfreundschaft, er habe es mit irgend einem Nabobzu tun, der nach Paris gekommen sei, um seinen einzigen Sohn sich im gesellschaftlichen Leben vervollkommnen zu lassen.
Er hatte mit unendlichem Wohlgefallen den ungeheuren Diamantenbetrachtet, der an dem kleinen Finger des Majors glänzte, denn als ein kluger und erfahrener Mann hatte der Major, aus Furcht, es könnte seinenBanknoten ein Unglück widerfahren, diese sogleich in einen Wertgegenstand verwandelt. Nach dem Mittagsmahlebefragte er, immer unter dem Vorwande industrieller und touristischer Interessen, den Vater und den Sohn über ihre Lebensweise, und da der Vater und der Sohn davonbenachrichtigt waren, daß ihnen ihr Kredit, dem einen von 48 000 Franken ein für allemal, dem andern von 50 000 Franken jährlich, bei Danglars eröffnet werden sollte, so waren sie außerordentlich freundlich und zuvorkommend gegen denBankier.
Ein Umstandbesonders vermehrte die Achtung, wir möchten sogar sagen, die Verehrung Danglars' für Cavalcanti. Getreu dem Grundsatze von Horaz, nil mirari (Laß dich nicht verblüffen!), hatte sich dieser, wie man gesehen, begnügt, einenBeweis seines Wissens nur dadurch zu geben, daß er den See nannte, in dem man die Lampreten fängt. Dann hatte er seinen Teil an dem Fische gegessen, ohne ein Wort zu sagen. Daraus schloß Danglars, dergleichen Kostbarkeiten seien etwas ganz Gewöhnliches für den erhabenen Abkömmling der Cavalcanti.
Er nahm es auch mit sichtbarem Wohlgefallen auf, als Cavalcanti zu ihm die Worte sprach: Morgen, mein Herr, werde ich Ihnen in Geschäften einenBesuch machen.
Und ich, erwiderte Danglars, werde glücklich sein, Sie zu empfangen.
Hierauf schlug er Cavalcanti vor, ihn, wenn es ihm nicht zu unangenehm wäre, sich von seinem Sohne zu trennen, nach dem Hotel des Princes zurückzufahren. Cavalcanti antwortete ihm, sein Sohn sei seit langer Zeit gewohnt, ein Junggesellenleben zu führen, er habe folglich seine eigenen Pferde.
Der Major stieg also in Danglars' Wagen, und derBankier setzte sich an seine Seite, immer mehr entzückt über das geordnete, ökonomische Wesen eines Mannes, der doch seinem Sohne jährlich 50 000 Franken gab, was ein Vermögen mit 5bis 600 000 Franken Zinsen annehmen ließ.
Andrea fing, um sich ein vornehmes Ansehen zu geben, damit an, daß er seinem Reitknecht einen Verweis erteilte, weil er ihn, statt an der Freitreppe vorzufahren, an der Ausfahrt erwartet hatte. In diesem Augenblicke legte sich eine Hand auf seine Schulter. Der junge Mann wandte sich um und erblickte erstaunt ein seltsames von der Sonne verbranntes, in einen dichtenBart eingerahmtes Gesicht, wie Karfunkel glänzende Augen und ein spöttisches Lächeln, das einen Mund öffnete, in dem schneeweiße schakalartige Zähne sichtbar wurden.
Ein rotkarriertes Taschentuch umgabdiesen Kopf mit seinen graulichen, starren Haaren, und ein im höchsten Maße fettiger und zerlumpter Oberrockbedeckte den großen, mageren, skelettartigen Körper darunter.
Erkannte der junge Mann dieses Gesichtbei dem Scheine der Laterne seines Tilbury, oder war er nurbetroffen von dem furchtbaren Anblick des Menschen, der sich ihm näherte?
Was wollen Sie von mir? sagte er.
Um Verzeihung, antwortete der Mensch, indem er seine Hand an das rote Taschentuch legte, ich störe Sie vielleicht, habe aber mit Ihnen zu sprechen.
Manbettelt nicht am Abend, sagte der Reitknecht, mit einerBewegung, als wollte er seinen Herrn von dem Lästigenbefreien.
Ichbettle nicht, mein hübschem Junge, sagte der Unbekannte zu dem Diener mit einem so ironischen Lächeln und einem so furchtbarenBlicke, daß dieser zurückwich; ich will nur ein paar Worte mit Ihrem Herrn reden, der mir vor etwa vierzehn Tagen einen Auftrag gegeben hat.
Sprechen Sie, versetzte Andrea kräftig genug, um vor dem Diener seine Unruhe zu verbergen, was wollen Sie? Sagen Sie es geschwind, mein Freund.
Ich wünschte… ich wünschte… erwiderte ganz leise der Mann mit dem roten Tuch, ich wünschte, Sie würden mir die Mühe ersparen, zu Fuße nach Paris zurückzukehren. Ichbin sehr müde, habe nicht so gut zu Mittag gespeist wie du und kann mich kaum auf denBeinen halten.
Der junge Mannbebtebei dieser seltsamen Vertraulichkeit und entgegnete: Sprechen Sie doch endlich, was wollen Sie?
Nun, du sollst mich in deinen schönen Wagen steigen und zurückfahren lassen.
Andrea erbleichte, antwortete aber nicht.
Oh, mein Gott! ja, sagte der Mann, die Hände in seine Tasche steckend und Andrea mit herausfordernden Augen anschauend, es ist so ein Gedanke von mir, verstehst du, mein kleinerBenedetto?
Bei diesem Namen überlegte der junge Mann ohne Zweifel, denn er näherte sich seinem Reitknecht und sagte zu ihm: Dieser Mensch hat wirklich einen Auftrag von mir erhalten, über den er mirBericht erstatten soll. Geh zu Fußbis ans Tor und nimm dort einen Wagen, damit du nicht zu spät kommst.
Der Diener entfernte sich sehr erstaunt.
Lassen Sie mich wenigstens in den Schatten treten, sagte Andrea.
Oh! was dasbetrifft, erwiderte der Mann mit dem roten Tuch, ich will dich selbst an einen schönen Platz führen, warte nur.
Und er nahm das Pferdbeim Gebiß und führte das Tilbury an eine Stelle, wo es wirklich keinem Menschen in der Welt möglich war, zu sehen, welche Ehre ihm Andrea erwies. Oh! es istbei mir nicht der Stolz, in einen schönen Wagen steigen zu dürfen, sagte der Unbekannte: nein, es geschieht nur, weil ich müdebin und ein wenig in Geschäften mit dir zu sprechen habe.
Steigen Sie ein! sagte der junge Mann.
Zum Glück war es nicht Tag, denn es wäre ein seltsames Schauspiel gewesen, diesenBettlerbreit auf gestickten Kissen neben dem jungen, zierlichen Führer des Tilbury sitzen zu sehen. Andrea ließ sein Pferdbis an das letzte Haus des Dorfes laufen, ohne nur ein Wort zu seinem Gefährten zu sagen, der seinerseits lächelte und schwieg, als sei er entzückt, in einem so schönen Wagen fahren zu dürfen.
Sobald Andrea außerhalbAuteuils war, schaute er umher, ohne Zweifel, um sich zu versichern, obsie niemand sehen oder hören könnte, hielt dann sein Pferd an, kreuzte die Arme vor dem Mann mit dem roten Taschentuch und sagte zu ihm: Nun, Herr Caderousse! Warum kommen Sie und stören mich in meiner Ruhe?
Ei, mein Gott! ärgere dich nicht, Kleiner; du mußt doch wissen, was das Unglückbedeutet; das Unglück, sage ich dir, macht eifersüchtig. Ich glaubte, du liefest in Piemont und Toskana umher, genötigt, den Facchino oder Cicerone zu spielen; ichbeklagte dich vom Grunde meines Herzens, wie ich mein Kindbeklagen würde. Du weißt, daß ich dich stets mein Kind genannt habe.
Weiter! Weiter!
Und ich sehe dich plötzlich durch das Tor desBons Hommes, mit einem Reitknecht, mit einem Tilbury und mit funkelneuen Kleidern fahren. Ah! Du hast also eine Goldmine entdeckt oder eine Stelle als Wechselagent gekauft?
Sie sind somit, wie Sie gestehen, eifersüchtig?
Nein, ichbin zufrieden, so zufrieden, daß ich dir meine Komplimente machen wollte. Kleiner; da ich jedoch nicht gut gekleidet war, nahm ich meine Vorsichtsmaßregeln, um dich nicht zu kompromittieren.
Schöne Vorsichtsmaßregeln, Sie reden mich in Gegenwart meinesBedienten an.
Ei, was willst du denn, mein Kind? Ich rede dich an, wo ich deiner habhaft werden kann. Du hast ein sehr lebhaftes Pferd, dubist von Natur schlüpfrig wie ein Aal; verfehlte ich dich heute abend, so lief ich Gefahr, dich nie mehr zu erwischen.
Sie sehen wohl, daß ich mich nicht verberge.
Dubist sehr glücklich, und ich wünschte dasselbe von mir sagen zu können; ich aber verberge mich. Zwar fürchtete ich, du würdest mich nicht erkennen; doch du hast mich erkannt, fügte Caderousse mit seinem schlimmen Lächeln hinzu; dubist sehr artig, mein Junge.
Wasbrauchen Sie? versetzte Andrea.
Du duzest mich nicht mehr, und das ist schlimm von einem alten Kameraden; Benedetto, nimm dich in acht, du wirst mich anspruchsvoll machen.
Bei dieser Drohung sank der Zorn des jungen Mannes; der Wind des Zwanges wehte ihn nieder. Er ließ sein Pferd wieder im Trabgehen und sagte: Es ist von dir selbst schlimm, Caderousse, daß du dich so gegen einen alten Kameradenbenimmst, wie du mich soeben nanntest:; dubist ein Marseiller, ichbin…
Du weißt also nun, was dubist?
Nein, ich wurde in Korsika aufgezogen; dubist alt und halsstarrig, ichbin jung und starrköpfig. Unter Leuten, wie wir sind, tut eine Drohung nicht gut, und alles muß sich auf gütliche Weise abmachen. Ist es mein Fehler, wenn das Glück, das dir noch den Rücken zukehrt, mir eine freundliche Miene zeigt?
Das Glück ist dir also freundlich? Es ist kein entlehnter Reitknecht, es ist kein entlehntes Tilbury, es sind keine entlehnten Kleider, was ich da sehe? Gut, destobesser! sagte Caderousse, in dessen AugenBegierde und Lüsternheit glänzten.
Oh! Du siehst es wohl und weißt es wohl, da du mich anredest, sagte Andrea, immer lebhafter werdend. Hätte ich ein Taschentuch, wie du, um meinen Kopf, trüge ich einen fettigen Rock auf den Schultern und durchlöcherte Schuhe an den Füßen, so würdest du mich nicht kennen.
Du täuschest dich, du hast unrecht; nun, da ich dich wiedergefunden, hindert mich nichts gekleidet zu sein, wie ein anderer, denn ich weiß, daß du ein gutes Herz hast. Besitzest du zwei Röcke, so wirst du mir wohl einen davon geben; ich gabdir auch eine Portion Suppe undBohnen, als dich hungerte.
Das ist wahr, bestätigte Andrea.
Welch einen Appetit hattest du! Hast du immer noch einen so guten Appetit?
Ja wohl, sagte Andrea lachend.
Du mußt vortrefflichbei dem Fürsten gespeist haben, von dem du kommst.
Es ist kein Fürst, sondern nur ein Graf.
Ein Graf, und zwar ein reicher, nicht wahr?
Ja, doch traue ich ihm nicht, er ist ein Herr, der nicht ganzbequem aussieht.
Mein Gott, sei nur unbesorgt! Man hat keine Absichten auf deinen Grafen und überläßt dir ihn ganz allein. Doch, fügte Caderousse mit dem schlimmen Lächeln hinzu, das schon einmal seine Lippen gestreift hatte, doch dubegreifst, du mußt etwas dafür geben.
Sprich, wievielbrauchst du?
Ich glaube, mit 100 Franken monatlich könnte ich leben…
Mit hundert Franken?
Allerdings schlecht, wie du ebenfallsbegreifst!
Hier sind zweihundert, sagte Andrea. Und er legte in Caderousses Hand zehn Louisd'or.
Gut, sagte Caderousse.
Finde dich immer am Ersten des Monatsbeim Hausmeister ein, und du wirst ebensoviel finden.
Du demütigst mich abermals dadurch, daß du mich mitBedientenvolk inBerührungbringst; nein, siehst du, ich will nur mit dir zu tun haben.
Es sei, frage nach mir, und am Ersten jeden Monats erhältst du deine Rente, wenigstens solange ich die meinige erhalte.
Schön, schön! ich sehe, daß ich mich nicht täuschte, dubist einbraver Junge, und es ist ein Segen, wenn das Glückbei Leuten deiner Art einkehrt. Erzähle doch, wie dein Glück gekommen ist.
Ich habe meinen Vater wieder gefunden. — Deinen wahren Vater? — Verdammt! Solange erbezahlt… — Wirst du es glauben und ihn ehren, das ist ganz richtig. Wie nennt sich dein Vater? — Major Cavalcanti. — Und wer half dir dazu, daß du deinen Vater wiederfandest? — Der Graf von Monte Christo. — Der, von dem du herkamst? — Ja. — Ei, so versuche es doch, michbei ihm als nächsten Verwandten anzubringen, da er solche Geschäfte treibt.
Wohl; ich werde mit ihm über dich sprechen.
Dubist sehr gut, daß du es tun willst, sagte Caderousse.
Da du so viel Anteil an mir nimmst, versetzte Andrea, so erlaubst du wohl, mir auch einige Auskunft über dich zu erbitten.
Das ist richtig… Ich will ein Zimmer in einem ehrlichen Hause mieten, mich mit einem anständigen Kleidebedecken, mich alle Tage rasieren lassen und das Kaffeehausbesuchen, um die Zeitungen zu lesen. Am Abend gehe ich mit irgend einem Claqueur ins Schauspiel; ich sehe dann aus wie einBäcker, der sich vom Geschäft zurückgezogen hat, und das ist mein Ideal.
Sehr gut! Willst du diesen Plan ausführen und vernünftig sein, so wird alles gut gehen. Und nun, da du hast, was du willst, und da wir an Ort und Stelle sind, springe aus meinem Wagen und verschwinde.
Nein, Kleiner, bedenke doch ein rotes Tuch auf dem Kopf, so gut wie keine Schuhe, keine Spur von Papieren und zehn Napoleons in Gold in der Tasche — man würde mich unfehlbar am Tor anhalten; zu meiner Rechtfertigung wäre ich dann genötigt, zu sagen, du habest mir diese zehn Napoleons gegeben. Dann erfolgt eine Nachforschung, eine Untersuchung; man erfährt, daß ich Toulon verlassen habe, ohne Abschied zu nehmen, und man führt mich ohne Gnade an das Mittelländische Meer zurück. Ich werde wieder ganz einfach Nr. 106, und dahin ist mein Ideal, einem ehemaligenBäcker zu gleichen! Nein, mein Sohn, ich ziehe es vor, ganz ehrlich in der Hauptstadt zubleiben.
Andrea runzelte die Stirn; der vermeintliche Sohn des Majors von Cavalcanti war, wie er sich dessen selbst gerühmt hatte, ein ziemlich schlimmer Kopf. Er hielt einen Augenblick an, warf einen raschenBlick umher und steckte dann die Hand verstohlen in seine Hosentasche, wo er denBügel einer Taschenpistole zu streichelnbegann.
Caderousse aber, der seinen Gefährten nicht aus den Augen verlor, griff mit seinen Händen hinter seinen Rücken und öffnete ganz sacht ein langes, spanisches Messer, das er für jeden Fallbei sich trug.
Diebeiden würdigen Freunde verstanden einander, wie man sieht. Andreas Hand kam harmlos wieder aus der Tasche hervor und stiegbis zu seinem roten Schnurrbarte hinauf, den er eine Zeitlang zwischen den Fingern drehte.
Gut, Caderousse, sagte er, du willst also glücklich werden?
Ich werde mein möglichstes tun, erwiderte der Wirt vom Pont du Gard, während er sein Messer wieder in die Scheide steckte.
Vorwärts, fahren wir in die Stadt hinein! Doch wie willst du es machen, um durch das Tor zu kommen, ohne Verdacht zu erwecken? Mir scheint, mit deiner Tracht wagst du noch mehr im Wagen, als zu Fuß.
Warte, das wirst du sehen, erwiderte Caderousse.
Er nahm den Mantel mit großem Kragen, den derBediente an seinem Platze zurückgelassen hatte, und legte ihn auf seine Schultern; dann griff er nach Cavalcantis Hut und setzte ihn sich auf, worauf er die Stellung einesBedienten, dessen Herr selbst fährt, einnahm.
Und ich, sagte Andrea, soll ich etwabarhauptbleiben?
Bah! Es weht ein so starker Wind, daß er dir wohl deinen Hut fortgenommen haben kann.
Vorwärts also, daß wir zu Ende kommen!
Sie gelangten ohne Unfall durch das Tor. Bei der ersten Querstraße hielt Andrea sein Pferd an, Caderousse sprang zuBoden.
Nun, sagte Andrea, und der Mantel und mein Hut?
Oh! erwiderte Caderousse, du wirst nicht wollen, daß ich den Schnupfenbekomme. Und er verschwand in einem Gäßchen.
Ach! kann man denn in dieser Welt nie ganz glücklich sein! sagte Andrea, einen Seufzer ausstoßend.
Eheliche Szene
Morel, Chateau‑Renaud und Debray waren aus der Gesellschaft gemeinsam fortgerittenbis zum Platze Ludwigs XVI.; hier trennten sich die jungen Leute; Morel schlug den Weg über dieBoulevards ein, Chateau‑Renaud ritt über den Pont de la Revolution, und Debray folgte dem Kai.
Morel und Chateau‑Renaud kehrten zweifellos nach Hause zurück; nicht so Debray, denn er ritt im scharfen Trabnach der Rue de la Michodière zu und kam vor Herrn Danglars' Tür gerade in dem Augenblick an, als der Wagen des Herrn von Villefort, nachdem er diesen und seine Frau im Faubourg Saint‑Honoré abgesetzt hatte, anhielt, um dieBaronin nach Hause zubringen.
Als ein im Hausebekannter Mann ritt Debray zuerst in den Hof, warf den Zügel einemBedienten zu und kehrte dann an den Wagenschlag zurück, empfing Frau Danglars undbot ihr den Arm, um sie in ihre Gemächer zu führen. Sobald das Tor geschlossen war und dieBaronin und Debray sich im Hofebefanden, fragte der letztere: Was haben Sie, Herminie, und warum ist Ihnen so übel gewordenbei der Geschichte oder vielmehr Fabel, die der Graf erzählte?
Weil ich heute abend abscheulich aufgelegt war.
Nein, Herminie, Sie werden mich das nicht glauben machen. Sie waren im Gegenteil in vortrefflicher Stimmung, als Siebeim Grafen ankamen. Es hat Ihnen irgend jemand etwas getan. Erzählen Sie es mir! Sie wissen wohl, ich dulde es nicht, daß Ihnen eineBeleidigung zugefügt wird.
Ich versichere Ihnen, Sie täuschen sich, Lucien, es ist so, wie ich Ihnen gesagt habe.
Frau Danglars stand offenbar unter dem Einfluß einer jener Nervenreizungen, von denen die Frauen sich selbst keine Rechenschaft geben können, oder sie hatte, wie Debray annahm, irgend eine geheime Aufregung erfahren, die sie niemand gestehen wollte. Als ein Mensch, der gewohnt ist, die Launen als ein unvermeidliches Element der Weiblichkeit zubetrachten, drang er nicht weiter in sie undbeschloß, einen günstigen Augenblick zu neuem Ausforschen oder ein freiwilliges Geständnis abzuwarten.
An der Tür ihres Zimmers traf dieBaronin Fräulein Cornelie, ihre Lieblingskammerfrau. Was macht meine Tochter? fragte Frau Danglars.
Sie hat den ganzen Abend studiert und ist dann zuBett gegangen, antwortete Fräulein Cornelie.
Es kommt mir doch vor, als hörte ich ihr Klavier?
Fräulein Louise d'Armilly musiziert, während das Fräulein imBett liegt.
Gut, kleiden Sie mich aus!
Man trat in das Schlafzimmer. Debray streckte sich auf einem großen Sofa aus, und Frau Danglars ging mit Fräulein Cornelie in ihr Ankleidekabinett.
Einige Minuten nachher kam sie in einem reizenden Negligé aus ihrem Kabinett und setzte sich neben Lucien.
Dann fing sie an, träumerisch mit ihrem spanischen Schoßhündchen zu spielen. Lucienbetrachtete sie eine Minute schweigend und sagte hierauf mit weichem Tone: Antworten Sie offenherzig, Herminie, nicht wahr, es hat Sie irgend etwas verletzt?
Nichts, erwiderte dieBaronin.
Doch sie mußte aufstehen und suchte freieren Atem zu gewinnen, denn es schnürte ihr dieBrust zusammen; sie stellte sich vor einen Spiegel und rief: Ich sehe in der Tat heute abend aus, daß einem vor mirbange werden könnte.
Debray erhobsich ebenfalls lächelnd, um Frau Danglars über diesen letzten Punkt zuberuhigen, als plötzlich die Tür sich öffnete. Herr Danglars erschien; Debray setzte sich wieder. Bei dem Geräusch der Tür wandte sich Frau Danglars um und schaute ihren Gatten mit einem Erstaunen an, das sie sich nicht einmal zu verbergenbemühte.
Guten Abend, gnädige Frau, sagte Danglars; guten Abend, Herr Debray. DieBaronin glaubte ohne Zweifel, dieser unvorhergeseheneBesuchbedeute etwas wie ein Verlangen, diebitteren Worte wieder gutzumachen, die ihm am Tage entschlüpft waren.
Siebewaffnete sich mit einer würdigen Miene, wandte sich gegen Debray um und sagte zu diesem, ohne Danglars' Gruß zu erwidern: Lesen Sie mir etwas vor, Herr Debray.
Debray, den dieserBesuch anfangs einigermaßenbeunruhigt hatte, erholte sichbald wieder, als er dieBaronin so unbewegt sah, und streckte die Hand nach einemBuche aus.
Verzeihen Sie, sagte derBankier, doch Sie werden sehr müde werden, Baronin, wenn Sie so lange wachen; es ist elf Uhr, und Herr Debray wohnt sehr weit von hier.
Debray war im höchsten Maße erstaunt; nicht als obDanglars' Ton nicht vollkommen ruhig und höflich gewesen wäre; doch hinter dieser Ruhe und Höflichkeit ließ sich die ungewöhnliche Absicht nicht verkennen, an diesem Abend etwas anderes zu tun, als den Willen seiner Frau. DieBaronin war ebenfalls verwundert undbezeigte ihr Erstaunen durch einenBlick, der ihrem Manne ohne Zweifel zu überlegen gegeben haben würde, hätte dieser seine Augen nicht auf eine Zeitung gerichtet gehabt, in der er die Schlußnotierung der Rente suchte. Demzufolge ging dieserBlick ins Leere und verfehlte völlig seine Wirkung.
Herr Lucien, sagte dieBaronin, ich erkläre Ihnen, daß ich nicht die geringste Lust habe zu schlafen, ich muß Ihnen tausend Dinge erzählen, und Sie werden die Nacht damit zubringen, mich anzuhören, und sollten Sie stehend schlafen.
Zu IhrenBefehlen, gnädige Frau, antwortete phlegmatisch Lucien.
Mein lieber Herr Debray, sagte derBankier, bringen Sie sich nicht damit um, daß Sie stundenlang Frau Danglars' Torheiten anhören, denn Sie können sie ebensogut noch morgen vernehmen; doch dieser Abend gehört mir, ich muß mir ihn vorbehalten und mit Ihrer gütigen Erlaubnis derBesprechung ernster Interesse mit meiner Frau widmen.
Diesmal war der Schlag so unmittelbar, daß er Lucien und dieBaroninbetäubte; beidebefragten sich mit den Augen, als wollte das einebei dem andern eine Hilfe gegen den Angriff suchen; aber die unwiderstehliche Gewalt des Herrn vom Hause siegte, und die Machtbliebdem Gatten.
Glauben Sie indessen nicht, daß ich Sie fortjage, mein lieber Debray, fügte Danglars hinzu, nein, durchaus nicht; infolge eines unvorhergesehenen Umstandes muß ich noch heute eine Unterredung mit derBaronin wünschen; dies kommt so selten vor, daß man mir deshalbnicht grollen darf.
Debray stammelte ein paar Worte und verabschiedete sich.
Es ist unbegreiflich, sagte er, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wie leicht diese Ehemänner, die wir so lächerlich finden, den Vorteil über uns erringen!
Als Lucien weggegangen war, nahm Danglars seinen Platz auf dem Sofa ein, schloß das offen gebliebeneBuch und fuhr fort, in einer, wie seine Frau meinte, furchtbar anmaßenden Haltung mit dem Hunde zu spielen. Da jedoch der Hund keine Sympathie für ihn hatte und ihnbeißen wollte, so faßte er ihn am Genick und schleuderte ihn an das andere Ende des Zimmers auf eine Chaiselongue.
Das Tier stieß einen Schrei aus; doch am Orte seinerBestimmung angelangt, kauerte es sich hinter ein Kissen und verhielt sich, erstaunt über diese ungewohnteBehandlung, stumm und regungslos.
Wissen Sie, Herr Danglars, sagte dieBaronin, ohne eine Miene zu verziehen, wissen Sie, daß Sie Fortschritte machen? Gewöhnlich waren Sie nur grob, heute sind Sie roh und unverschämt.
Dies kommt davon, daß ich heute abend in einer schlimmeren Launebin, als gewöhnlich.
Herminie schaute denBankier mit der größten Verachtung an. Sonstbrachten solcheBlicke den stolzenBankier außer sich; doch an diesem Abend schien er kaum darauf zu achten.
Was geht mich Ihre schlimme Laune an? entgegnete dieBaronin, gereizt durch die Unempfindlichkeit ihres Gatten; was habe ich mich darum zubekümmern? Schließen Sie Ihre schlechten Launenbei sich ein, oder verweisen Sie sie in IhreBüros, und da Sie Kommis haben, die Siebezahlen, so lassen Sie an denen Ihre Launen aus.
Nein, versetzte Danglars, Ihre Ratschläge sind verkehrt, und ich werde sie nichtbefolgen. Meine Kommis sind ehrliche Leute, die mir mein Vermögen verdienen und die ich weit unter ihrem Wertebezahle; ich werde mich also nicht gegen sie erzürnen. In Zornbringen mich die, welche meine Mittagsmahle verzehren, meine Pferde zu Tode hetzen und meine Kasse zu Grunde richten.
Und wer sind denn die, welche Ihre Kasse zu Grunde richten? Ichbitte Sie, erklären Sie sich deutlicher.
Oh! seien Sie unbesorgt; spreche ich in Rätseln, so gedenke ich Sie doch nicht lange nach dem Schlüssel suchen zu lassen, versetzte Danglars. Es sind die, welche in einer Stunde 700 000 Franken daraus ziehen.
Ich verstehe Sie nicht, entgegnete dieBaronin, die zugleich die Aufregung ihrer Stimme und die Röte ihres Gesichtes zu verbergen suchte.
Sie verstehen mich im Gegenteil sehr gut, versetzte Danglars; doch wenn Sie in Ihrer Verstellung verharren, so werde ich Ihnen sagen, daß ich 700 000 Franken an den spanischen Papieren verliere.
Ah! was höre ich! rief dieBaronin hohnlächelnd; und mich machen Sie verantwortlich für diesen Verlust? Ist es meine Schuld, daß Sie 700 000 Franken verloren haben?
In jedem Falle ist es nicht die meinige.
Mein Herr, ich habe Ihnen ein für allemal gesagt, Sie sollen nicht von Kassenangelegenheiten mit mir sprechen, erwiderte spitzig dieBaronin; es ist dies eine Sprache, die ich wederbei meinen Eltern nochbei meinem ersten Manne gelernt habe.
Das glaube ichbei Gott wohl, sagte Danglars, weder die einen noch der anderebesaßen einen Sou.
Ein Grund mehr für mich, bei Ihnen das Rotwelsch derBank, das mir hier vom Morgenbis zum Abend die Ohren zerreißt, nicht zu lernen; dieser Klang von Talern, die man wieder und wieder zählt, ist mir verhaßt, und außer dem Tone Ihrer Stimme kenne ich nichts, was mir unangenehmer wäre.
In der Tat, das ist seltsam! Ich glaubte gerade, Sie nähmen den lebhaftesten Anteil an meinen Operationen!
Ich? Wer hat Ihnen eine solche Albernheit vorgeredet?
Sie selbst. Erinnern Sie sich vielleicht, daß Sie im verflossenen Februar zu mir zum ersten Male von den haytischen Papieren sprachen; Sie hatten geträumt, ein Schiff laufe in den Hafen von Havre ein, und dieses Schiffbringe die Nachricht, eine Zahlung, von der man glaubte, sie sei auf die langeBank geschoben, würde wirklich geleistet. Ich traute der Hellseherei Ihres Schlafes, kaufte unter der Hand alle haytischen Schuldscheine, die ich auftreiben konnte, und gewann 400 000 Franken, von denen Ihnen gewissenhaft 100 000 zugestellt wurden. Sie machten damit, was Sie wollten,… das geht mich nichts an.
Im März handelte es sich um eine Eisenbahnkonzession. Drei Gesellschaftenboten gleiche Garantien. Sie sagten mir, Ihr Instinkt — und obgleich Siebehaupten, Sie seien der Spekulation fremd, so glaube ich doch im Gegenteil, daß Ihr Instinkt in gewissen Dingen sehr entwickelt sei — Sie erklärten mir also, Ihr Instinkt sage Ihnen, das Privilegium werde einerbestimmten Gesellschaft erteilt werden. Ich ließ mich auf der Stelle für zwei Drittel der Aktien dieser Gesellschaft einschreiben; das Privilegium wurde ihr wirklichbewilligt, wie Sie gesagt hatten; die Aktien erhielten einen dreifachen Wert, ich gewann eine Million, wovon Ihnen 250 000 Franken als sogenanntes Nadelgeld zukamen. Wie Sie diese 250 000 Franken angewendet haben, geht mich nichts an.
Doch wo wollen Sie denn am Ende mit all dem hinaus, mein Herr? rief dieBaronin, zitternd vor Zorn und Ungeduld.
Geduld, ich komme zum Ziele. Im April speisten Siebei dem Minister zu Mittag, Man plauderte von Spanien, und Siebelauschten ein geheimes Gespräch, in dem von der Austreibung Don Carlos' die Rede war: ich kaufte spanische Fonds, Die Austreibung fand wirklich statt, und ich gewann 600 000 Franken, Von diesen 600 000 Franken erhielten Sie 50 000 Taler; sie gehörten Ihnen; Sie verfügten darüber nach Ihrer Laune, ich verlange keine Rechenschaft von Ihnen, So haben Sie in diesem Jahre 500 000 Livres erhalten.
Nun, und weiter, mein Herr? In der Tat, Sie haben Redensarten…
Sie drücken meine Gedanken aus, und das genügt… Vor drei Tagen sprachen Sie mit Herrn Debray über Politik, und Sie glaubten, aus seinen Worten zu vernehmen, Don Carlos sei nach Spanien zurückgekehrt. Da verkaufe ich meine Rente, die Nachricht verbreitet sich, ein manischer Schrecken ergreift die Leute; ich verkaufe nicht mehr, ich verschenke; am andern Tage findet es sich, daß die Nachricht falsch war, und daß ich 700 000 Franken durch diese falsche Nachricht verloren habe.
Nun?
Nun! da ich Ihnen ein Viertel gebe, wenn ich gewinne, so sind Sie mir auch ein Viertel schuldig, wenn ich verliere; das Viertel von 700 000 Franken macht 175 000 Franken.
Was Sie mir sagen, ist ganz ungereimt, und ich sehe gar nicht ein, warum Sie den Namen Debray mit dieser ganzen Geschichte vermengen.
Weil Sie, wenn Sie etwa die 175 000 Franken, die ich von Ihnen verlange, nicht haben, sie von Ihren Freunden entlehnen werden, zu denen auch Herr Debray gehört.
Pfui! rief dieBaronin.
Oh! keine Gebärden, kein Geschrei, kein modernes Drama, sonst muß ich Ihnenbemerken, daß ich von hier aus sehe, wie Herr Debraybei den 150 000 Franken, die Sie ihm in diesem Jahrebezahlt haben, hohnlächelt und sich sagt, er habe endlich das gefunden, was die geschicktesten Spieler nie zu entdecken vermochten, nämlich ein Roulette, wo man ohne Einsatz gewinnt, und wo man nichts verspielt, wenn man auch verliert.
DieBaronin wurde wütend. Elender, rief sie, wollen Sie sich erdreisten, mir zu sagen, Sie hätten das nicht gewußt, was Sie mir heute zum Vorwurf zu machen wagen?
Ich sage Ihnen nicht, daß ich es wußte, ich sage Ihnen auch nicht, daß ich es nicht wußte, ich sage Ihnen nur: Beachten Sie meinBenehmen seit den vier Jahren, seitdem Sie nicht mehr meine Frau sind und ich nicht mehr Ihr Mannbin, und Sie werden sehen, obes immer folgerecht gewesen ist. Kurze Zeit vor unseremBruche wünschten Sie von demberühmtenBariton, der mit so großem Erfolg in der italienischen Oper auftrat, fingen zu lernen; ich wollte von jener Tänzerin tanzen lernen, die sich in London einen so großen Ruf erworben hat. Das kostete mich, sowohl für Sie als für mich, ungefähr 100 000 Franken. 100 000 Franken, damit der Mann und die Frau gründlich tanzen und musizieren lernen, ist nicht zuviel. Bald waren Sie des Gesanges überdrüssig, und Sie wünschten, von einem Ministerialsekretär Diplomatie zu lernen. Ich habe nichts dagegen, da Sie die Lektionen, die Sie nehmen, aus Ihrer Kassebezahlen. Doch nun sehe ich, daß es auf Rechnung der meinigen geht, und daß mich Ihr Unterricht 700 000 Franken monatlich kosten kann. Halt, meine Dame! Das geht nicht weiter. Entweder gibt der Diplomat unentgeltliche Lektionen, und ich werde ihn dulden; oder er setzt keinen Fuß mehr in mein Haus; verstehen Sie mich?
Oh! das ist zu stark, rief sie, vom Zornbeinahe erstickt. Sie überschreiten die Grenzen der Gemeinheit.
Sie haben recht; wir wollen unsere Sache ruhig und kaltbehandeln, um zum Ziele zu kommen. Wenn ich mich je in Ihre Angelegenheiten mischte, so geschah es nur zu IhremBesten, machen Sie es ebenso! Meine Kasse geht Sie nichts an, operieren Sie mit der Ihrigen, aber füllen Sie die meinige nicht, und leeren Sie sie ebensowenig. Wer weiß übrigens, obnicht diese ganze Geschichte ein politischer Messerstich ist, obnicht der Minister, wütend darüber, daß ich der Opposition angehöre, sich mit Herrn Debray verständigt hat, um mich zu Grunde zu richten?
Wie wahrscheinlich ist das!
Allerdings; wer hat je so etwas gesehen… eine falsche telegraphische Nachricht, das scheint ja unmöglich oder fast unmöglich! Es ist in der Tat ausdrücklich für mich geschehen.
Sie wissen, sagte dieBaronin, wie es scheint, nicht, daß der Telegraphenbeamte sogar fortgejagt wurde, daß man denBefehl erteilte, ihn zu verhaften, und daß dieserBefehl vollstreckt worden wäre, hätte er sich nicht der ersten Nachforschung durch Flucht entzogen, woraus sich seine Verrücktheit oder seine Schuld ergibt… Das ist ein Irrtum.
Ja, der mich 700 000 Franken kostet.
Mein Herr, sagte plötzlich Herminie, wenn diese ganze Geschichte Ihrer Ansicht nach von Herrn Debray herrührt, warum sagen Sie es mir, statt es unmittelbar ihm selbst zu sagen? Warumbeschuldigen Sie den Mann und halten sich an die Frau?
Kenne ich Herrn Debray? Will ich ihn kennen? Will ich wissen, daß er Ratschläge gibt? Will ich siebefolgen? Spiele ich? Nein, Sie tun dies alles und nicht ich!
Doch da Sie Nutzen daraus ziehen…
Danglars zuckte die Achseln und erwiderte: In der Tat, tolle Geschöpfe, diese Weiber! Sie halten sich für Genies, weil sie ein paar Intrigen so durchgeführt haben, daß nicht ganz Paris davon voll ist. Dochbedenken Sie, hätten Sie Ihre Extratouren auch Ihrem Manne verborgen, was das ABC der Kunst ist, da die Ehemänner meist gar nicht sehen wollen, so wären Sie doch nur eineblasse Kopie von dem, was die Hälfte Ihrer Freundinnen, die Frauen von Welt, tun. Das ist aber nicht mein Fall. Ich habe seit etwa sechzehn Jahren gesehen und immer gesehen, Sie konnten mir vielleicht einen Gedanken verbergen, aber nie einen Schritt, Handlung, einen Fehler. Während Sie sich selbst wegen Ihrer GeschicklichkeitBeifall spendeten und fest überzeugt waren, Sie täuschten mich, was war das Resultat? Daß infolge meiner vermeintlichen Täuschung, von Herrn von Villefort anbis zu Herrn Debray, nicht einer von Ihren Freunden nicht vor mir zitterte. Jederbehandelte mich als Herrn des Hauses; keiner wagte es, Ihnen von mir zu sagen, was ich Ihnen heute selbst sage. Ich erlaube Ihnen, mich verhaßt zu machen, aber ich werde Sie verhindern, mich lächerlich zu machen, und ich verbiete Ihnenbesonders auf dasbestimmteste und vor allein, mich zu Grunde zu richten.
Bis zu dem Augenblick, wo der Name Villefort ausgesprochen wurde, beobachtete dieBaronin eine ziemlich gute Haltung; dochbei diesem Name erbleichte sie, streckte, indem sie, wie von einer Feder geschnellt, auffuhr, ihre Arme aus, wie um eine Erscheinung zubeschwören, und machte drei Schritte gegen ihren Gatten, als wollte sie ihm das volle Geheimnis entreißen.
Herr von Villefort! Was soll dasbedeuten? Was wollen Sie damit sagen?
Das sollbedeuten, daß Herr von Nargonne, Ihr erster Mann, der weder ein Philosoph noch einBankier war und sah, daß sich aus einem Staatsanwalt kein Nutzen ziehen ließ, aus Kummer oder aus Ingrimm starb, als er Sie nach einer Abwesenheit von neun Monaten im sechsten Monat schwanger fand. Ichbin roh und unverschämt, ich weiß es nicht nur, sondern ich rühme mich dessen; es ist eines von meinen Mitteln, in Geschäftsunternehmungen Erfolg zu erzielen. Warum hat er sich selbst töten lassen, statt zu töten? Weil er keine Kasse zu retten hatte; aber ichbin mich meiner Kasse schuldig. Herr Debray, mein Associé, ist schuld, daß ich 700 000 Franken verliere! er trage seinen Teil am Verlust, und wir setzen unsere Geschäfte fort; wenn nicht, so mache er mirBankerott mit diesen 175 000 Livres, und tue dann, wasBankerottierer tun, er verschwinde! Mein Gott! ich weiß wohl, er ist ein reizenderBursche, wenn seine Nachrichten pünktlich und richtig sind; doch wenn sie dies nicht sind, so gibt es fünfzig in der Welt, die mehr Wert haben, als er.
Frau Danglars war niedergeschmettert; sie machte jedoch eine äußerste Anstrengung, um diesen letzten Angriff zu erwidern. Sie fiel in einen Lehnstuhl, denn sie dachte an Villefort, an die Szene in Auteuil, au die Unglücksfälle, die seit ein paar Tagen über ihr Haus hereingebrochen waren.
Danglars schaute sie nicht einmal an, obgleich sie alles mögliche tat, um ohnmächtig zu werden. Er öffnete die Tür des Schlafzimmers, ohne ein Wort hinzuzufügen, und kehrte in seine Wohnung zurück, so daß Frau Danglars, als sie von ihrer Halbohnmacht wieder zu sich kam, glauben konnte, sie hätte einenbösen Traum gehabt.
Heiratspläne
Am Tage nach dieser Szene machte Debray Frau Danglars keinenBesuch.
Gegen halbzwei Uhr verlangte die Dame nach ihrem Wagen und fuhr aus.
Danglars hatte, hinter dem Fenster stehend, dieses Ausfahren, das er erwartete, beobachtet. Er gabBefehl, ihn zubenachrichtigen, sobald seine Frau wiedererscheinen würde; doch um zwei Uhr war sie noch nicht zurückgekehrt.
Von Mittagbis zwei Uhr war Danglars in seinem Kabinett geblieben, wo er Depeschen entsiegelte, immer düsterer wurde, Ziffern auf Ziffern häufte, und unter anderenBesuchen auch den des Majors Cavalcanti empfing, der stets gleichblau, gleich steif und gleich pünktlich zu der am Tage vorherbezeichneten Stunde sich einfand, um seine Angelegenheit mit demBankier abzumachen.
Um zwei Uhr forderte er seine Pferde, begabsich in die Kammer, zeigte sich hier sehr aufgeregt und war herber undbitterer gegen das Ministerium, als je. Nach der Sitzung stieg er wieder in seinen Wagen undbefahl dem Kutscher, ihn nach der Avenue der Champs‑Elysées zu fahren.
Monte Christo war zu Hause, nurbefand sich jemandbei ihm, und erbat Danglars, einen Augenblick im Salon zu warten.
Während derBankier wartete, öffnete sich die Tür, und er sah einen als Abbé gekleideten Mann eintreten, der, statt zu warten wie er, ohne Zweifel vertrauter in dem Hause, ihn grüßte, in das Innere der Gemächer ging und verschwand.
Einen Augenblick nachher öffnete sich die Tür, durch die der Priester eingetreten war, abermals, und Monte Christo erschien.
Verzeihen Sie, lieberBaron, sagte er, einer meiner Freunde, der AbbéBusoni, den Sie wohlbemerkt haben, ist soeben angekommen; wir waren seit langer Zeit getrennt, und ich hatte nicht den Mut, ihn sogleich zu verlassen; ich hoffe, daß Sie mich deshalbentschuldigen.
Wie! rief Danglars, das ist ganz einfach, ich habe meine Zeit schlecht gewählt und entferne mich.
Keineswegs, im Gegenteil, setzen Sie sich! Aber, guter Gott! Was haben Sie denn? Sie sehen ganz sorgenvoll aus, in der Tat, Sie erschrecken mich; einbetrübter Kapitalist ist wie ein Komet und weissagt der Welt stets ein großes Unglück. Mein Herr, das Unglück ruht seit ein paar Tagen auf mir, und ich erfahre nur Schlimmes, antwortete Danglars.
Mein Gott! haben Sie einen Umschlag an derBörse erlebt?
Nein, davonbin ich geheilt, wenigstens auf einige Tage; es handelt sich für mich um einenBankerott in Triest.
Wirklich? Meinen Sie etwa Jacopo Manfredi?
Ganz richtig! Denken Sie sich einen Menschen, der, ich weiß nicht seit wie langer Zeit, für 8bis 900 000 Franken Geschäfte jährlich mit mir macht. Nie ein Verrechnen, nie eine Zögerung; ein Mann, derbezahlte wie ein Fürst immerbezahlte. Ich lasse mich auf einen Kredit von einer Million mit ihm ein, und der Teufel von Jacopo Manfredi stellt seine Zahlungen ein! Das ist ein unerhörtes Unglück. Ich ziehe auf ihn 600 000 Livres, die mir unbezahlt zurückkommen; mehr noch! Ichbin der Inhaber von 400 000 Franken Wechsel, von ihm unterzeichnet und zahlbar Ende diesesbei seinem Korrespondenten in Paris. Wir haben den dreißigsten, ich schicke hin, um einkassieren zu lassen, ah, ja wohl! der Korrespondent ist verschwunden. Mit der spanischen Geschichte macht das einen schönen Monatsschluß. — Sagen Sie, bringen Ihnen die spanischen Papiere wirklich Verlust?
Allerdings, nicht weniger als 700 000 Franken!
Wie, zum Teufel, kam es, daß Sie, ein alter Luchs, eine solche Schule durchmachen mußten?
Es ist der Fehler meiner Frau. Es träumte ihr, Don Carlos sei nach Spanien zurückgekehrt; sie glaubt an Träume. Allerdings spielte sie nicht um mein Geld, sondern um das ihrige. Doch gleichviel, Siebegreifen, wenn 700 000 Franken aus der Tasche der Frau gehen, so merkt es der Mann immer ein wenig. Wie! Sie wußten das nicht? Die Sache hat doch ungeheueres Aufsehen gemacht?
Ich habe davon sprechen hören, kannte aber die einzelnen Umstände nicht, auch verstehe ich nicht das geringste vonBörsengeschäften. Sie spielen also nicht?
Ich! wie soll ich spielen? Habe ich doch so schon Mühe genug, meine Finanzen in Ordnung zu halten. Ich wäre genötigt, außer meinem Intendanten noch einen Kommis und einen Kassengehilfen zu nehmen. Doch was Spanienbetrifft… mir scheint, die FrauBaronin hat Don Carlos' Rückkehr nicht völlig geträumt; erzählten nicht die Zeitungen davon?
Das ist gerade das Unerklärliche, daß diese Rückkehr des Don Carlos wirklich eine telegraphische Nachricht war.
Somit verlieren Sie diesen Monat ungefähr siebzehnhunderttausend Franken? Teufel! für ein Vermögen dritten Ranges ist dies immerhin ein Schlag, sagte Monte Christo.
Dritten Ranges, entgegnete Danglars etwas gedehnt, was verstehen Sie darunter?
Ich mache drei Rangklassen; ersten Ranges sind Vermögen, die, in liegenden Gütern, inBergwerken und dergleichen angelegt, einen Gesamtbetrag von hundert Millionen ausmachen; zweiten Ranges sind Vermögen mit einer Rente von 1 1/2 Millionen, d. h. einem Kapital von fünfzig Millionen und dritten Ranges solche, die sich wie das Ihrige auf fünfzehn Millionen eingebildetes oder wirkliches Kapitalbelaufen. Daraus geht hervor, fuhr Monte Christo mit unzerstörbarer Ruhe fort, daß ein Haus dritten Ranges mit sechs Monatsschlüssen, wie dieser, im Todeskampfe läge.
Wie rasch Sie zu Werke gehen! versetzte Danglars mitbleichem Lächeln.
Setzen wir sieben Monate, sagte der Graf mit demselben Tone. Sagen Sie mir, haben Sie zuweilen daran gedacht, daß siebenmal siebzehnhunderttausend Franken ungefähr zwölf Millionen machen? Nein… Nun, Sie haben recht, dennbei dergleichenBetrachtungen würde man nie seine Kapitalien einsetzen, die für den Finanzmann ungefähr das sind, was für den zivilisierten Menschen die Haut ist. Wirbesitzen mehr oder minder kostbare Kleider, das ist unser Kredit; doch wenn der Mensch stirbt, hat er nur seine Haut, wie Sie, wenn Sie aus dem Geschäft austreten, nur Ihren wirklichenBesitz, das heißt, höchstens fünf oder sechs Millionen, haben. Von diesen fünfbis sechs Millionen, die Ihr wirkliches Aktivvermögenbilden, haben Sie in jüngster Zeit etwa zwei verloren, ein Verlust, der zugleich Ihr eingebildetes Vermögen, das heißt Ihren Kredit, vermindert; dasbedeutet, mein lieber Herr Danglars, Ihre Haut ist durch einen Aderlaß geöffnet worden, der, viermal wiederholt, den Tod nach sich ziehen würde. Ei! ei! nehmen Sie sich in acht, Herr Danglars. Brauchen Sie Geld, soll ich Ihnen leihen?
Was für ein schlechter Rechner sind Sie! sagte Danglars, indem er seine ganze Philosophie und seine ganze Verstellungsgabe zu Hilfe rief; zu dieser Stunde ist das Geld durch andere Spekulationen, die mir gelungen sind, wieder in meine Kasse zurückgeflossen; das durch den Aderlaß entzogeneBlut hat sich durch Nahrung wieder ersetzt. Ich habe eine Schlacht in Spanien verloren, ichbin in Triest geschlagen worden, doch meine Kriegsflotte in Indien wird wohl einige Gallionen genommen und meineBergleute in Mexiko werden wohl eine Mine entdeckt haben.
Sehr gut! sehr gut! doch die Narbebleibt und öffnet sich wiederbei dem nächsten Verluste.
Nein, ichbin meiner Sache ganz gewiß, fuhr Danglars mit der Alltagsberedsamkeit des Charlatans fort, der gewöhnt ist, seinen Kredit herauszustreichen; um mich zu stürzen, müßten drei Regierungen untergehen. Doch da wir von Geschäften reden, fügte er, froh, einen Grund zur Veränderung des Gespräches zu finden, hinzu, sagen Sie mir doch, was ich für Herrn Cavalcanti tun kann.
Geben Sie ihm Geld, wenn er einen Kredit auf Sie hat, und dieser Kredit Ihnen gut scheint.
Vortrefflich! er hat sich heute morgenbei mir eingefunden mit einer Anweisung von 40 000 Franken, zahlbar nach Sicht, auf Sie, unterzeichnetBusoni, und durch Sie mit Ihrem Indossement an mich zurückgeschickt; Siebegreifen, daß ich ihm auf der Stelle seine vierzig Scheine auszahlte.
Monte Christo machte mit dem Kopfe ein Zeichen, das seine ganzeBeistimmung andeutete.
Doch das ist noch nicht alles, fuhr Danglars fort; er hat seinem Sohnebei mir einen Kredit eröffnet.
Sagen Sie, wieviel gibt er dem jungen Manne, wenn ich, ohne unbescheiden zu sein, fragen darf?
5000 Franken monatlich.
60 000 Franken jährlich. Ich dachte mir's, sagte Monte Christo, die Achseln zuckend, die Cavalcanti sind Filze. Was soll der junge Mann mit 5000 Franken monatlich machen?
Siebegreifen, wenn er ein Paar tausend Franken mehrbraucht…
Tun Sie das nicht, der Vater würde Sie nicht entschädigen; Sie kennen diese italienischen Millionäre nicht, es sind wahre Geizhälse. Und durch wen ist dieser Kredit eröffnet worden?
Oh! durch das Haus Fenzi, eines derbesten in Florenz.
Ich will durchaus nicht sagen, daß Sie dabei Gefahr laufen; doch halten Sie sich genau an denBuchstaben des Kreditbriefes.
Sie hätten also kein Vertrauen zu diesem Cavalcanti?
Ich würde ihm sechs Millionen auf seine Unterschrift geben. Seines gehört zu den Vermögen zweiten Ranges, nach meiner Einteilung, mein lieber Herr Danglars.
Und wie einfach ist er dabei! Ich hätte ihn für einen Major gehalten, nichts anderes.
Und Sie würden ihm damit, denke ich, noch eine Ehre angetan haben, denn in der Tat, erbesticht nicht durch sein Aussehen. Als ich ihn zum erstenmal sah, machte er auf mich den Eindruck eines alten, unter der Epaulette verschimmelten Leutnants. Doch alle Italiener sind so; sie gleichen alten Juden, wenn sie nicht wie die Magier des Orientsblenden.
Der junge Mann siehtbesser aus, sagte Danglars. Ja, vielleicht ein wenig schüchtern, doch im ganzen kam er mir anständig vor. Ich war seinetwegen in Unruhe.
Warum?
Weil er, als Sie ihn in meinem Hause gesehen haben, wenigstens, wie er mir sagt, eben erst in die Welt eingetreten ist. Er reiste mit einem sehr strengen Hofmeister und war nie in Paris.
Alle diese Italiener von Stande haben die Gewohnheit, sich untereinander zu verheiraten, nicht wahr? fragte Danglars scheinbar gleichgültig; sie lieben es, ihre Reichtümer znsammenzuhäufen.
Gewöhnlich machen sie es allerdings so; doch Cavalcanti ist ein Original und tut nichts wie die anderen. Ich lasse es mir nicht nehmen, daß er seinen Sohn nach Frankreich schickt, damit er hier eine Fran findet.
Und Sie haben von seinem Vermögen sprechen hören?
Dies ist eben eine zweifelhafte Sache; die einen gestehen ihm Millionen zu, die andernbehaupten, erbesitze keinen Heller.
Und was ist Ihre Meinung?
Darauf können Sie sich nicht stützen, denn sie ist ganz persönlich.
Und Sie glauben…
Ich glaube, daß alle diese alten Podestas, alle diese ehemaligen Condottieri, denn die Cavalcanti haben Heerebefehligt und Provinzen regiert, ich glaube, sage ich, daß sie Millionen in Winkeln vergraben haben, die nur ihre Erstgeborenen kennen und deren Kenntnis so von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wird.
Das ist gut, rief Danglars, und um so mehr, als man von allen diesen Leuten nicht weiß, obsie auch nur einen Quadratzoll Landbesitzen.
Mindestens sehr wenig, ich weiß es wohl, denn ich kenne als Cavalcantis Grundbesitz nur seinen Palast in Lucca.
Ah! er hat einen Palast! sagte Danglars lachend, das ist schon etwas.
Ja, und er vermietet ihn an den Minister der Finanzen, während er selbst in einem kleinen Häuschen wohnt. Oh! ich habe es Ihnen gesagt, ich halte ihn für einen großen Geizhals.
Sie schmeicheln ihm nicht.
Hören Sie, ich kenne ihn kaum und habe ihn höchstens dreimal in meinem Leben gesehen; was ich weiß, weiß ich von dem AbbéBusoni und von ihm selbst. Er sprach heute morgen mit mir über seine Absichten mit seinem Sohn und ließ durchblicken, daß er es müde sei, in Italien, das ein totes Land sei, beträchtliche Fonds schlummern zu lassen, und ein Mittel suche, um entweder in Frankreich oder in England seine Millionen nutzbar zu machen. Doch wollen Sie immerhinbemerken, daß ich für nichts stehe, obschon ich zu dem AbbéBusoni persönlich das größte Zutrauen hege.
Gleichviel, ich danke Ihnen für den Kunden, den Sie mir zugeschickt haben; es steht ein guter Name mehr in meinen Registern, und mein Kassierer, dem ich erklärte, wie es mit diesem Cavalcanti steht, ist ganz stolz darauf. Doch sagen Sie, — die Frage kommt mir nur eben in den Mund — geben diese Leute ihren Söhnen, wenn sie sie verheiraten, eine Mitgift?
Ei, mein Gott! jenachdem. Ich kannte einen italienischen Fürsten, so reich wie ein Goldbergwerk, einen der ersten Namen von Toskana. Verheirateten sich seine Söhne nach seinem Gefallen, so gaber ihnen Millionen; verheirateten sie sich gegen seinen Willen, sobeschränkte er sich darauf, ihnen eine Rente von dreißig Talern monatlich auszusetzen. Nehmen wir an, Andrea verheirate sich nach den Ansichten seines Vaters, so wird er ihm vielleicht eine, zwei, drei Millionen geben. Handelte es sich z. B. um die Tochter einesBankiers, so würde er wohl Teilhaber des Hauses werden. Mißfällt ihm dagegen seine Schwiegertochter, dann gute Nacht! Der Cavalcanti steckt den Schlüssel in seine Kasse, dreht ihn zweimal um, und mein Andrea ist genötigt, davon zu leben, daß er die Karten zeichnet und die Würfel kneipt.
Der junge Mann wird einebayerische oder eine peruanische Prinzessin finden; er wird eine Krone haben wollen.
Nein, diese vornehmen Herren heiraten häufig einfache Sterbliche; sie lieben es, dasBlut zu mischen. Doch sagen Sie, wollen Sie Andrea verheiraten, lieber Herr Danglars, daß Sie alle diese Fragen an mich stellen?
Meiner Treu, es scheint mir keine schlechte Spekulation zu sein, und ichbin ein Spekulant.
Aber ich denke, nicht mit Ihrer Fräulein Tochter? Sie wollen doch wohl nicht den armen Andrea von Albert ins Jenseitsbefördern lassen?
Albert, versetzte Danglars die Achseln zuckend, dem liegt gerade etwas daran!
Er ist doch der Verlobte Ihrer Tochter?
Das heißt, Herr von Morcerf und ich sprachen zuweilen von dieser Heirat, aber Frau von Morcerf und Albert…
Halten Sie diesen für keine gute Partie?
Jedenfalls denke ich, Fräulein Danglars ist so viel wert wie Herr von Morcerf.
Fräulein Danglars' Mitgift wird in der Tat nicht übel sein, daran zweifle ich nicht, besonders wenn der Telegraph keine neuen Torheitenbegeht.
Oh! es handelt sich nicht allein um Mitgift. Aber sagen Sie mir dochbei dieser Gelegenheit, warum haben Sie Morcerf und seine Familie nicht eingeladen?
Ich habe dies getan, doch er entschuldigte sich um einer Reise nach Treport mit Frau von Morcerf, der man die Seeluft angeraten habe.
Ja, ja, sagte Danglars lachend, die muß ihr wohl gutbekommen? — Warum dies? — Weil es die Luft ist, die sie in ihrer Jugend einatmete.
Monte Christo ließ diesen Witz vorübergehen, ohne daß er ihn zubeachten schien.
Aber wenn Albert auch nicht so reich ist, wie Fräulein Danglars, sagte der Graf, so können Sie doch nicht leugnen, daß er einen schönen Namen führt?
Gerade darum würde ich Herrn Andrea Cavalcanti Herrn Albert von Morcerf vorziehen.
Ich denke die Morcerf stehen den Cavalcanti nicht nach, entgegnete Monte Christo.
Die Morcerf!.. Herr Graf, nicht wahr, Sie sind ein Kenner von Wappen?
Ein wenig.
Nun wohl, schauen Sie die Farbe des meinigen an; sie ist haltbarer, als die von Morcerfs Wappen.
Warum dies?
Weil ich, wenn ich auch nichtBaron von Geburtbin, doch wenigstens Danglars heiße, während er nicht Morcerf heißt.
Wie, er heißt nicht Morcerf?
Keineswegs, mich hat man zumBaron gemacht, und somitbin ich es.
Unmöglich.
Hören Sie, lieber Graf, fuhr Danglars fort, Herr von Morcerf ist mein Freund, oder vielmehr meinBekannter seit dreißig Jahren. Wohl! als ich noch ein kleiner Kommis war, war Morcerf ein einfacher Fischer, namens Fernand Mondego.
Wissen Sie das sicher?
Er hat, bei Gott! Fische genug an mich verkauft, daß ich ihn kenne.
Warum würden Sie ihm dann Ihre Tochter geben?
Weil Fernand und Danglarsbeide geadelte, beide reich gewordene etwa gleichwertige Emporkömmlinge sind, abgesehen von gewissen Dingen, die man von ihm gesagt und nie von mir gesehen hat.
Ah! ja, ichbegreife; was Sie hier sprechen, frischt mein Gedächtnis für den Namen Fernand Mondego auf. Ich habe diesen Namen in Griechenland gehört.
In Zusammenhang mit Ali Pascha? — Ganz richtig. — Das ist eben das Geheimnis, und ich gestehe, ich hätte viel darum gegeben, es zu entdecken. — Das wäre nicht schwierig, wenn Sie große Lust dazu hätten. — Wieso? — Ohne Zweifel haben Sie einen Korrespondenten in Janina? — In Janina? Ja! — Gut, so schreiben Sie an ihn und fragen ihn, welche Rolle in der Katastrophe von Ali Tependelini ein Franzose namens Fernand gespielt habe.
Sie haben recht! rief Danglars rasch aufstehend; ich will noch heute schreiben.
Tun Sie dies. Und wenn Sie irgend einebelastende Nachrichtbekommen…
So teile ich sie Ihnen mit.
Sie werden mir ein Vergnügenbereiten.
Danglars eilte aus dem Zimmer und machte gleichsam nur einen Sprung in den Wagen.
Das Kabinett des Staatsanwalts
Lassen wir denBankier in scharfem Trabe seiner Pferde nach Hause fahren und folgen Frau Danglarsbei ihrem Morgenausfluge. Sie war, wie gesagt, um halbzwei Uhr ausgefahren und ließbei der Passage du Pout‑Neuf halten. Sie stieg aus und ging durch die Passage. Ihre Kleidung war sehr einfach, wie es sich für eine Frau von Geschmack geziemt, wenn sie sich morgens auf der Straße zeigt.
In der Rue Génégaut stieg sie in einen Fiaker undbezeichnete als Ziel die Rue de Harlay. Kaum war sie in dem Wagen, als sie aus ihrer Tasche einen sehr dichten schwarzen Schleier zog, den sie an ihrem Strohhutebefestigte; dann setzte sie ihren Hut wieder auf undbemerkte mit Vergnügen, als sie sich in einem kleinen Taschenspiegelbeschaute, daß man von ihr nichts als ihre weiße Haut und die funkelnden Augensterne sehen konnte. Der Fiaker fuhr zum Justizpalast. Hier eilte Frau Danglars zur Treppe, stieg diese leicht hinauf und gelangtebald in den Saal des Pas‑Perdus.
Am Morgen gibt es im Justizpalast sehr viel geschäftige Leute, die sich wenig umeinander kümmern. Frau Danglars durchschritt daher den Saal des Pas‑Perdus, ohne von andernbemerkt zu werden, als von zwei Frauen, die hier auf ihren Advokaten warteten.
Das Vorzimmer des Herrn von Villefort war gedrängt voll von Menschen, doch Frau Danglars hatte nicht einmal nötig, ihren Namen zu nennen. Sobald sie erschien, stand ein Gerichtsdiener auf, ging ihr entgegen und fragte sie, obsie nicht die Person sei, die der Herr Staatsanwaltbeschieden habe. Auf ihrebejahende Antwort führte er sie durch einenbesonderen Gang in Herrn von Villeforts Kabinett.
DerBeamte schrieb, in seinem Lehnstuhl sitzend, den Rücken der Tür zuwendend. Er hörte die Tür sich öffnen, den Diener die Worte: Treten Sie ein, gnädige Frau! aussprechen und die Tür sich wieder schließen, ohne die geringsteBewegung zu machen. Doch kaumbemerkte er, daß sich die Tritte des Gerichtsdieners verloren, als er sich rasch umwandte, die Riegel vorschob, die Vorhänge herabließ und jeden Winkel des Kabinetts untersuchte. Sobald er Gewißheit erlangt hatte, daß er weder gehört, noch gesehen werden konnte, sagte er: Gnädige Frau, meinen innigen Dank für Ihre Pünktlichkeit. Und erbot Frau Danglars einen Stuhl, den sie annahm, denn ihr Herz schlug so gewaltig, daß sie sich dem Ersticken nahe fühlte.
Es ist schon lange, sagte der Staatsanwalt, während er sich Frau Danglars gegenübersetzte, daß ich nicht mehr das Glück gehabt habe, mit Ihnen allein zu sprechen, und zu meinem großenBedauern finden wir uns wieder zusammen, um eine sehr peinliche Unterredung zu pflegen.
Sie sehen jedoch, mein Herr, daß ich auf Ihre erste Aufforderung gekommenbin, obgleich diese Unterredung für mich noch peinlicher sein muß, als für Sie.
Es ist also wahr, sagte er, mehr auf seine eigenen Gedanken als auf Frau Danglars' Worte erwidernd, daß alle unsere Schritte in diesem Leben dem Zuge der Schlangen auf dem Sande gleichen und eine Furche machen! Ach! für viele ist dies eine Tränenfurche.
Mein Herr, sagte Frau Danglars, nicht wahr, Siebegreifen meine Erschütterung? Schonen Sie mich also, ichbitte Sie. Dieses Zimmer, durch das so viele Schuldige zitternd und voll Scham gekommen sind, dieser Stuhl, auf den ich mich ebenfallsbeschämt und zitternd setze!.. Oh! ichbedarf meiner ganzen Vernunft, um nicht in mir eine sehr schuldige Frau und in Ihnen einen drohenden Richter zu sehen; schon habe ich gestern eine schwere Strafe für meine Schuld erlitten.
Arme Frau! sagte Villefort, ihr die Hand drückend. Sie war zu schwer für Ihre Kräfte, denn zweimal waren Sie nahe daran, zu unterliegen, und doch müssen Sie Ihren Mut zusammenraffen, gnädige Frau, denn Sie sind noch nicht am Ziele!
Mein Gott! rief Frau Danglars erschrocken, was gibt es denn noch?
Sie sehen nur die Vergangenheit, und diese ist allerdings düster. Doch stellen Sie sich eine Zukunft vor, die vielleicht noch vielblutiger ist!
DieBaronin kannte Villeforts Ruhe, sie war so erschrocken über seinen gereizten Zustand, daß sie den Mund öffnete, um zu schreien, aber der Schrei erstarbin ihrer Kehle.
Wie ist sie wiedererwacht, diese furchtbare Vergangenheit? rief Villefort; wie ist sie aus der Tiefe des Grabes und aus der Tiefe unserer Herzen, wo sie schlummerte, hervorgetreten, einem Gespenst ähnlich, um unsere Wangen erbleichen und unsere Stirnen erröten zu lassen?
Ach! ohne Zweifel durch Zufall! sagte Herminie.
Durch Zufall! versetzte Villefort: nein, nein, nein, gnädige Frau, es gibt keinen Zufall!
Doch wohl; ist es nicht ein Zufall, allerdings ein unseliger, aber immerhin ein Zufall, der dies alles herbeigeführt hat? Hat nicht durch Zufall der Graf von Monte Christo dieses Haus gekauft? Hat er nicht durch Zufall die Erde ausgraben lassen? Ist nicht endlich durch Zufall das unglückliche Kind unter denBäumen ausgegraben worden? Armes, unschuldiges, mir entsprossenes Geschöpf, dem ich nie einen Kuß geben konnte, während ich ihm viele Tränen weihte. Ach! mein ganzes Herz flog dem Grafen entgegen, als er von der teuren Hülle sprach, die man unter denBlumen fand.
Nein, nein, gnädige Frau; das ist es gerade, was ich Ihnen Furchtbares zu sagen habe, erwiderte Villefort mit dumpfer Stimme; nein, man hat keine Hülle unter denBäumen gefunden; nein, es war dort kein vergrabenes Kind; nein, Sie dürfen nicht weinen; nein, Sie dürfen nicht seufzen, Sie müssen zittern.
Was wollen Sie damit sagen? rief Frau Danglars schauernd.
Ich will damit sagen, daß Herr von Monte Christo, als er am Fuße derBäume graben ließ, weder das Skelett eines Kindes, noch dieBeschläge einer Kiste finden konnte, weil unter diesenBäumen weder das eine noch das andere vorhanden war.
Es war weder das eine noch das andere vorhanden! wiederholte Frau Danglars, auf den Staatsanwalt Augen heftend, deren furchtbar erweiterter Stern den tiefsten Schrecken andeutete; es war weder das eine noch das andere vorhanden, wiederholte sie noch einmal, wie eine Person, die durch den Klang ihrer Worte und das Geräusch ihrer Stimme ihre Gedanken festzuhalten versucht.
Nein! rief Villefort, während er seine Stirn in seine Hände sinken ließ; nein, hundertmal nein… Sie hatten also das arme Kind nicht dort niedergelegt, mein Herr? Warum täuschten Sie mich, sprechen Sie, in welcher Absicht taten Sie dies?
Hören Sie mich, gnädige Frau, und Sie werden michbeklagen, mich, der ich zwanzig Jahre lang, ohne den geringsten Teil auf Sie zu werfen, eine Last von Schmerzen getragen habe. Sie wissen, wie jene schmerzhafte Nacht verging, wo Sie, mit dem Tode ringend, auf IhremBette in jenem Zimmer von rotem Damast lagen, während ich, fast ebenso keuchend wie Sie, Ihre Entbindung erwartete. Das Kind kam, wurde mir ohneBewegung, ohne Atem, ohne Stimme übergeben, wir hielten es für tot.
Frau Danglars machte eine rascheBewegung, als wollte sie vom Stuhle aufspringen. Doch Villefort hielt sie zurück, indem er, die Hände faltend, sie gleichsam um Aufmerksamkeit anflehte.
Wir hielten es für tot, wiederholte er; ich legte es in ein Kistchen, das den Sarg ersetzen sollte, ging in den Garten, grubein Grabund verscharrte es in Eile. Kaum hatte ich das Kistchen mit Erdebedeckt, als sich der Arm des Korsen nach mir ausstreckte. Ich sah es wie einen Schatten sich emporrichten, wie einenBlitz leuchten. Ich fühlte einen Schmerz, ich wollte schreien, ein eisiger Schauer durchlief meinen ganzen Leibund schnürte mir die Kehle zusammen. Ich glaubte, meine letzte Minute sei gekommen, undbrach zusammen. Nie werde ich Ihren erhabenen Mut vergessen, als ich mich, wieder zu mir gekommen, mit der größten Anstrengungbis unten an die Treppe schleppte, und Sie mir, selbst sterbend, entgegenkamen. Wir mußten völliges Stillschweigen über diese Katastrophebeobachten; Sie kehrten, von Ihrer Amme unterstützt, in Ihr Haus zurück; ein Duell diente als Vorwand für meine Wunde. Gegen alle Erwartungbliebunser Geheimnisbewahrt. Drei Monate lang kämpfte ich gegen den Tod; endlich, da ich wieder zum Leben zurückzukehren schien, verordnete man mir die Sonne und die Luft des Südens. Ich wurde nach Marseille gebracht, und Frau von Villefort folgte mir. Meine Wiedergenesung dauerte zehn Monate; ich hörte nichts von Ihnen und wagte nicht, mich zu erkundigen, was aus Ihnen geworden sei. Als ich nach Paris zurückkehrte, erfuhr ich, Sie hätten nach Herrn von Nargonnes Tode Herrn Danglars geheiratet.
Woran hatte ich, seitdembei mir dasBewußtsein wiedergekehrt war, gedacht? Immer an dasselbe, immer an den Leichnam des Kindes, der jede Nacht in meinen Träumen dem Schoße der Erde entstieg und, mich mitBlick und Gebärdebedrohend, über dem Grabe schwebte. Kaum war ich nach Paris zurückgekehrt, als ich mich erkundigte; das Haus war, seitdem wir es verlassen, nicht wiederbewohnt, jedoch kurz zuvor auf neun Jahre vermietet worden. Ich suchte den Mieter auf, ich stellte mich, als hätte ich ein großes Verlangen, dieses Haus, das dem Vater und der Mutter meiner Frau gehörte, nicht in fremde Hände übergehen zu sehen, ichbot eine Entschädigung, wenn man den Vertrag aufheben wolle. Man verlangte 6000 Franken von mir; ich hätte 10, ja 20 000 gegeben. Ich trug die Summebei mir, ließ auf der Stelle den Rücktritt unterzeichnen und ritt, sobald ich die ersehnte Abtretung in Händen hatte, im Galopp nach Auteuil. Niemand hatte das Hausbetreten, seitdem ich es verlassen hatte. — Es war fünf Uhr nachmittags; ich ging in das rote Zimmer und wartete die Nacht ab. Alles, was ich mir seit einem Jahre inbeständigem Todeskampfe sagte, stellte sich hierbedrohlicher vor mich als je in meinen Gedanken.
Der Korse, der mir die Vendetta erklärt hatte, der mir von Nimes nach Paris gefolgt war, der sich im Garten verborgen, mir den Stoß versetzt, mich das Grabhattebereiten sehen, er hatte auch gesehen, wie ich das Kind verscharrt; es konnte ihm gelingen, Sie kennen zu lernen; er kannte Sie vielleichtbereits… Würde er sich nicht eines Tages das Geheimnis dieser furchtbaren Geschichtebezahlen lassen?… Wäre es nicht für ihn eine süße Rache, wenn er erführe, sein Dolchstich habe mich nicht getötet? Es war daher vor allem dringend, daß ich unter jederBedingung die Spuren der Vergangenheit verschwinden ließ. Aus diesem Grunde hobich den Mietsvertrag auf, deshalbwar ich gekommen, deshalbwartete ich.
Als die Nacht dicht und düster genug geworden war, ging ich ans Werk. Ich stand ohne Licht in jenem Zimmer, wo Windstöße die Türvorhänge zittern ließen, hinter denen ichbeständig irgend einen verborgenen Spion zu sehen glaubte: von Zeit zu Zeitbebte ich, es kam mir vor, als hörte ich hinter mir, in jenemBette, Ihre Klagen, und ich wagte nicht, mich umzuwenden. Mein Herz pochte laut, und ich fühlte es so heftig schlagen, daß ich glaubte, meine Wunde wolle sich wieder öffnen; endlich schienen alle Geräusche umher erstorben zu sein. Ich sah, daß ich nichts mehr zubefürchten hatte, daß ich weder gesehen, noch gehört werden konnte, und entschloß mich, hinabzugehen.
Hören Sie, Herminie, ich hielt mich für so mutig, wie ein Mann sein kann; als ich aber aus meinerBrusttasche jenen kleinen Treppenschlüssel hervorzog, jenen Schlüssel, den wirbeide so sehr liebten, und den Sie an einem goldenen Ringbefestigen ließen, — als ich die Tür öffnete, als ich denbleichen Mond einen langen Streifen weißen Lichtes, einem Gespenste ähnlich, durch die Fenster auf die schneckenförmigen Stufen werfen sah, da hielt ich mich an der Mauer und war nahe daran, zu schreien. Es war mir, als würde ich verrückt.
Es gelang mir, wieder meiner Herr zu werden. Ich stieg Stufe für Stufe die Treppe hinab; das einzige, was ich nicht zu überwinden vermochte, war ein seltsames Zittern in den Knien. Ich hielt mich an dem Geländer, hätte ich es nur einen Augenblick losgelassen, so wäre ich hinabgestürzt. Ich gelangte an die untere Tür. Außen lehnte ein Spaten an der Mauer; ich nahm ihn und schritt dem Gebüsche zu. Ich hatte mich mit einerBlendlaterne versehen; mitten auf dem Rasenbliebich stehen, um sie anzuzünden, und setzte dann meinen Weg fort. — Der November war seinem Ende nahe; alles Grüne des Gartens war verschwunden, und das dürre Laubraschelte mit dem Sande unter meinen Tritten. Die Angst schnürte mir so gewaltig das Herz zusammen, daß ich, als ich mich denBäumen näherte, eine Pistole aus der Tasche zog und den Hahn spannte. Beständig glaubte ich die Gestalt des Korsen durch die Zweige zu sehen.
Ichbeleuchtete das Gebüsch mit meinerBlendlaterne; es war leer; ich schaute rings umher und fand mich allein; kein Geräusch störte die Stille der Nacht. Das Gras war den Sommer hindurch hier sehr hoch gewachsen, und niemand hatte es gemäht. Eine wenigerbewachsene Stelle fesselte meine Aufmerksamkeit; hier hatte ich offenbar die Erde ausgegraben.
Ich schritt zum Werke. Endlich war ich zu dem Ziele gelangt, das ich seit mehr als einem Jahr ersehnte! Doch wie ich auch hoffte, wie ich arbeitete, wie ich jedes Stückchen Rasen untersuchte, im Glauben, ich würde am Ende meines Spatens Widerstand finden… nichts! Und ich machte doch ein Loch, zweimal so groß, als das erste gewesen war. Ich glaubte mich in der Stelle getäuscht zu haben, ich schaute mich um, ichbetrachtete dieBäume, ich suchte die einzelnen Gegenstände, die mir früher in das Auge gefallen waren, wiederzuerkennen.
Ein kalter, scharfer Wind strich durch die entblätterten Zweige, und dennoch floß der Schweiß von meiner Stirn. Ich erinnerte mich, daß ich den Dolchstoß in dem Augenblick erhalten hatte, wo ich die Erde einstampfte, um das Grabwieder zu füllen. Beim Einstampfen hielt ich mich an einerBauhinie; hinter mir war ein künstlicher Fels, der alsBank diente, denn als ich niedersank, fühlte meine Hand, die denBaum losgelassen hatte, diesen Stein. Zu meiner Rechten war dieBauhinie, hinter mir der Fels; ich fiel, indem ich mich setzen wollte; ich stand wieder auf und fing an, aufs neue zu graben und das Loch zu erweitern; — nichts, abermals nichts; das Kistchen war nicht da.
Das Kistchen war nicht da? murmelte Frau Danglars, vom Schreckenbeinahe erstickt.
Glauben Sie nicht, daß ich mich auf diesen ersten Versuchbeschränkte, fuhr Villefort fort, nein, ich durchwühlte das ganze Gebüsch; ich dachte, der Mörder habe im Glauben, es sei ein Schatz, das Kistchen ausgegraben, sodann, nachdem er seinen Irrtum wahrgenommen, selbst ein anderes Loch gemacht, und es dort hineingelegt… nichts! Dann kam mir der Gedanke, er sei nicht so vorsichtig zu Werke gegangen, und habe das Kistchen in einen Winkel geworfen. Um dies feststellen zu können, mußte ich aber den Tag abwarten. Ich ging wieder ins Zimmer hinauf und wartete. Bei Tagesanbruch ging ich abermals hinab. Zuerstbegabich mich wieder zu derBaumgruppe, wo ich Spuren zu finden hoffte, die mir in der Dunkelheit entgangen wären. Ich hatte die Erde in einer Oberfläche von mehr als zwanzig Quadratfuß und zwei Fuß tief umgewühlt. Es war ein reichliches Tagewerk einesbezahlten Arbeiters, was ich in einer Stunde getan hatte. Nichts, ich sah nicht das geringste.
Dann forschte ich nach, obdas Kistchen vielleicht weggeworfen worden sei. Es mußte dies auf dem Wege geschehen sein, der zu der kleinen Ausgangstür führte; aber diese neue Nachforschung war ebenso vergeblich, wie die erste, und mit gepreßtem Herzen kehrte ich zu derBaumgruppe zurück.
Oh! das war, um wahnsinnig zu werden! rief Frau Danglars.
Ich hoffte dies einen Augenblick, aber ich war nicht so glücklich, sagte Villefort. Indem ich aber meine Kräfte und damit meine Gedanken zusammenraffte, fragte ich mich: Warum sollte dieser Mensch den Leichnam mitgenommen haben?
Sie sagten ja selbst, um einenBeweis zu haben, versetzte Frau Danglars. Nein, das konnte es nicht mehr sein; manbehält einen Leichnam nicht ein Jahr lang, man zeigt ihn einemBeamten, man macht seine Anzeige; doch nichts von dem war geschehen, Nun, und also? fragte Herminie stammelnd.
Dann gibt es noch etwas Furchtbareres, Unseligeres, Schrecklicheres für uns: das Kind lebt vielleicht, und der Mörder hat es gerettet.
Frau Danglars stieß einen gräßlichen Schrei aus, ergriff Villefortbei den Händen und sagte: Mein Kind lebte! Sie haben mein Kind lebendigbegraben! Sie wußten nicht gewiß, obes tot war, undbegruben es! oh!..
Frau Danglars hatte sich aufgerichtet und stand drohend vor dem Staatsanwalt, dessen Fäuste sie mit ihren zarten Händen preßte.
Was weiß ich? Ich sage Ihnen dies, wie ich etwas anderes sagen würde, erwiderte Villefort mit einer Starrheit desBlickes, die andeutete, daß dieser kraftvolle Mann nahe daran war, die Grenzen der Verzweiflung und des Wahnsinns zu erreichen.
Oh! mein Kind, mein armes Kind! rief dieBaronin, auf ihren Stich! zurücksinkend und ihr Schluchzen in ihrem Taschentuche erstickend.
Villefort kam wieder zu sich, er fühlte, daß er, um den mütterlichen Sturm abzuwenden, der sich über seinem Haupte sammelte, bei Frau Danglars den Schrecken, den er selbst fühlte, wirken lassen mußte.
Siebegreifen, wenn sich die Sache so verhält, sagte er, ebenfalls aufstehend und sich derBaronin nähernd, um leiser mit ihr zu sprechen, Siebegreifen, dann sind wir verloren! Dieses Kind lebt, es weiß jemand, daß es lebt, es ist jemand imBesitze unseres Geheimnisses, und da Monte Christo von einem Kinde spricht, das an einer Stelle vergraben worden sein soll, wo dieses Kind nicht war, sobesitzt er dieses Geheimnis.
Gott! gerechter Gott! rächender Gott! Villefort antwortete nur durch eine Art von Röcheln.
Doch dieses Kind, mein Herr, dieses Kind? versetzte hartnäckig die Mutter.
Oh! wie habe ich es gesucht! erwiderte Villefort, die Hände ringend; wie oft habe ich es in meinen langen, schlaflosen Nächten gerufen! Wie oft habe ich mir einen königlichen Reichtum gewünscht, um einer Million Menschen eine Million Geheimnisse abzukaufen und das meinige darunter zu finden! Eines Tages endlich, als ich zum hundertsten Male den Spaten nahm, fragte ich mich auch zum hundertsten Male, was der Korse mit dem Kinde habe tun können? Ein Kind setzt einen Flüchtigen in Verlegenheit; vielleicht hatte er es, als er wahrnahm daß es noch lebte, in den Fluß geworfen.
Unmöglich! rief Frau Danglars; man ermordet einen Menschen aus Rache, aber man ertränkt nicht ein Kind mit kaltemBlute.
Vielleicht hatte er es zu den Findelkindern gebracht.
Oh! ja, ja, mein Kind ist dort.
Ich lief in das Hospiz und erfuhr, daß man in eben dieser Nacht, in der Nacht vom 20. September, ein Kind dort niedergelegt hatte; es war in die Hälfte einer absichtlich zerrissenen Serviette von feiner Leinwand eingewickelt. Diese Hälfte der Serviette zeigte die Hälfte einerBaronenkrone und denBuchstaben H.
So ist es, so ist es! rief Frau Danglars, alle meine Wäsche war so gezeichnet. Herr von Nargonne warBaron, und ich heiße Herminie. Ich danke Gott, mein Kind war nicht tot! — Nein, es war nicht tot. –
Und Sie sagen mir das! Sie sagen es, ohne zubefürchten, ich werde vor Freude sterben! Wo ist es? Wo ist mein Kind?
Villefort zuckte die Achseln und erwiderte: Weiß ich es? Glauben Sie, wenn ich es wüßte, ließe ich Sie alles dies durchmachen? Nein, ach! nein, ich weiß es nicht. Eine Frau war ungefähr sechs Monate zuvor, um das Kind zurückzufordern, mit der andern Hälfte der Serviette gekommen. Die Frau hatte alle vom Gesetze vorgeschriebenen Garantien geliefert, und man gabes ihr.
Sie hätten sich nach dieser Frau erkundigen, sie entdecken müssen.
Und glauben Sie, ich hätte das nicht getan? Ich schützte eine Kriminaluntersuchung vor und ließ durch alles, was die Polizei an geschickten Spürhunden, an gewandten Agentenbesitzt, Nachforschungen anstellen. Man fand ihre Spurbis Chalons; in Chalons hat man sie verloren.
Frau Danglars hatte jeden einzelnen Umstand dieser Erzählung mit einem Seufzer, mit einer Träne, mit einem Schreibegleitet.
Und das ist alles? sagte sie, und hierbei ließen Sie esbewenden?
Oh! nein, erwiderte Villefort, ich habe nie aufgehört, zu suchen, mich zu erkundigen, nachzuforschen. Erst seit ein paar Tagen ließ ich ein wenig nach. Heute aber will ich mit mehrBeharrlichkeit und Schärfe als je wieder anfangen, und es wird mir gelingen, denn es ist nicht das Gewissen, was mich antreibt, sondern die Furcht.
Der Graf von Monte Christo weiß nichts, entgegnete Frau Danglars, sonst würde er Sie nicht sobevorzugen und zu gewinnen suchen, wie er dies tut.
Oh! dieBosheit der Menschen ist sehr tief, denn sie ist tiefer, als die Güte Gottes. Haben Sie die Augen dieses Mannes wahrgenommen, während er mit uns sprach? — Nein.
Haben Sie ihn zuweilen genauerbetrachtet?
Er ist allerdingsbizarr, mehr nicht; nur ist mir aufgefallen, daß er von dem ganzen kostbaren Mahle, das er uns vorgesetzt hat, nicht das geringsteberührte.
Ja! ja! bestätigte Villefort. Ich habe dies ebenfallsbemerkt. Wenn ich gewußt hätte, was ich jetzt weiß, würde ich auch nichtsberührt haben; ich hätte geglaubt, er wolle uns vergiften. Und Sie hätten sich getäuscht, wie Sie sehen.
Ja wohl; doch glauben Sie mir, dieser Mensch hat andere Pläne. Deshalbwollte ich Sie sehen, deshalbbat ich Sie um eine Unterredung, deshalbwollte ich Sie vor aller Welt undbesonders vor ihm warnen. Sagen Sie mir, fuhr Villefort, seine Augen noch schärfer alsbis jetzt auf dieBaronin heftend, fort, Sie haben mit niemand von unserer Verbindung gesprochen?
Niemals mit irgend einem Menschen.
Sie verstehen mich, ich sage mit niemand? sagte Villefort liebevoll; verzeihen Sie mir diese dringende Frage, nicht wahr, mit niemand auf der ganzen Welt?
Oh! ja, ja, ich verstehe sehr gut, sagte dieBaronin errötend, niemals, ich schwöre es Ihnen.
Sie haben nicht die Gewohnheit, am Abend aufzuschreiben, was am Morgen vorgefallen ist? Sie führen kein Tagebuch?
Nein! Ach! vom Leichtsinn fortgerissen, vergesse ich selbst mein vergangenes Leben.
Sie träumen nicht laut, soviel Sie wissen?
Ich habe den Schlaf eines Kindes; erinnern Sie sich dessen nicht mehr?
Purpur stieg in das Gesicht derBaronin, undBlässe übergoß Villeforts Antlitz.
Es ist wahr, sagte er so leise, daß man es kaum hörte.
Nun? fragte dieBaronin.
Nun! ich sehe, was ich zu tun habe, versetzte Villefort; ehe acht Tage vergehen, weiß ich, wer Herr von Monte Christo ist, woher er kommt, wohin er geht, und warum er in unserer Gegenwart von Kindern spricht, die man in seinem Gartenbegräbt.
Villefort sprach diese Worte mit einem Tone, der den Grafen hätte schaudern lassen, wenn er ihn hätte hören können. Dann drückte er die Hand, die ihm dieBaronin nur mit Widerstreben gab, und geleitete sie achtungsvollbis an die Tür.
Ein Sommerball
An demselben Tage, ungefähr zu der Stunde, wo Frau Danglars die Unterredung mit dem Staatsanwalt hatte, lenkte eine Kalesche in die Rue du Helder ein, fuhr durch das Tor von Nr. 27 und hielt im Hofe an.
Nach einem Augenblick öffnete sich der Kutschenschlag, und Frau von Morcerf stieg, auf den Arm ihres Sohnes gestützt, aus. Kaum hatte Albert seine Mutter in ihre Wohnung zurückgeleitet, als er seine Pferde verlangte und sich nach den Champs‑Elisées zu dem Grafen von Monte Christo führen ließ.
Der Graf empfing ihn mit seinem gewöhnlichen Lächeln. Es war seltsam; nie schien man einen Schritt im Herzen oder Geiste dieses Mannes vorwärtszutun. Wer sich, so zu sagen, den Zugang zu seinem Vertrauen erzwingen wollte, fand eine eherne Mauer. Morcerf, der mit geöffneten Armen auf ihn zulief, ließ, als er ihn anschaute, trotz seines freundschaftlichen Lächelns, die Arme wieder sinken und wagte es kaum, ihm die Hand zu reichen.
Monte Christoberührte sie wie immer, ohne sie zu drücken.
Hierbin ich wieder, lieber Graf, sagte Albert. Ichbin erst vor einer Stunde von Treport zurückgekehrt, und mein ersterBesuch gehört Ihnen.
Das ist sehr liebenswürdig, sagte Monte Christo gleichmütig.
Nun, was gibt es Neues in Paris? Wie war Ihr Fest in Auteuil?
Oh, nichts weiter, ein einfaches Diner, Herr von Danglars und Andrea Cavalcanti…
Ihr italienischer Fürst?
Wir wollen nicht übertreiben, Herr Andrea gibt sich nur den Titel eines Grafen. — Er ist es also nicht? — Weiß ich es? Er gibt sich, ich gebe ihm, man gibt ihm diesen Titel; ist das nicht, als ober ihn hätte? — Sie sind ein seltsamer Mann! Nun, Herr Danglars hat alsobei Ihnen zu Mittag gespeist?
Ja. Mit dem Grafen Andrea Cavalcanti, dem Marquis seinem Vater, mit Frau Danglars, Herrn und Frau von Villefort, reizenden Leuten, Herrn Debray, Maximilian Morel und dann noch mit wem… warten Sie… ah! mit Herrn von Chateau‑Renaud. — Man hat von mir gesprochen?
Kein Wort. — Desto schlimmer, denn wenn man nicht von mir sprach, so dachte man viel an mich, und dannbin ich in Verzweiflung.
Was ist Ihnen daran gelegen, da Fräulein Danglars nicht unter der Zahl derer war, die hier an Sie dachten? Ah! sie konnte allerdings zu Hause an Sie denken.
Oh! was dasbetrifft, nein, dessenbin ich gewiß; oder wenn sie an mich dachte, so geschah es auf dieselbe Weise, wie ich an sie denke.
Eine rührende Sympathie! Sie hassen sich also?
Hören Sie, sagte Morcerf, wenn Fräulein Danglars geeignet wäre, Mitleid mit dem Märtyrertum zu empfinden, das ich für sie erdulde, und mich außerhalbdes von unsern Familienbeschlossenen Ehebundesbelohnen wollte, so würde mir dies vortrefflich zusagen. Kurz, ich glaube, Fräulein Danglars wäre eine entzückende Geliebte, doch als Frau, Teufel!..
Das ist also die Art und Weise, wie Sie über Ihre Zukünftige denken? sagte Monte Christo lachend.
Oh! mein Gott, ja, zwar etwas roh, aber wenigstens klar. Da man jedoch aus diesem Traume keine Wirklichkeit machen kann, da, eines gewissen Zieles wegen, Fräulein Danglars meine Frau werden, das heißt mit mir leben, bei mir denken, bei mir singen, zehn Schritte von mir Verse und Musik machen muß, und dies mein ganzes Leben hindurch, so erschrecke ich. Eine Geliebte, lieber Graf, verläßt man, aber eine Frau, zum Teufel! das ist was anderes, diebehält man, und zwar ewig, nahe oder ferne; Fräulein Danglars aber stets zubehalten, und wäre es auch nur in der Ferne, ist in der Tat schrecklich.
Sie sind schwer zubefriedigen, Vicomte.
Ja, denn häufig denke ich an etwas Unmögliches. Ich wünsche, eine Frau für mich zu finden, wie mein Vater eine gefunden hat.
Monte Christo erbleichte und schaute Albert an, während er mit prächtigen Pistolen spielte, deren Federn er knacken ließ.
Ihr Vater ist also sehr glücklich gewesen? sagte er.
Sie wissen, wie ich von meiner Mutter denke, Herr Graf: ein Engel des Himmels, immer noch schön, besser als je. Ich komme von Treport zurück. Für einen andern Sohn wäre dieBegleitung seiner Mutter eine Gefälligkeit oder ein Frondienst gewesen, ich aber habe acht Tage unter vier Augen mit ihr zufriedener, ruhiger, poetischer, sage ich Ihnen, zugebracht, als wenn ich Titania nach Treport geführt hätte.
Das ist eine erschreckliche Vollkommenheit, und Sie machen denen, die Sie hören, große Lust, Junggesellen zubleiben.
Gerade weil ich weiß, daß es auf der Welt eine vollkommene Frau gibt, getraue ich mir nicht, Fräulein Danglars zu heiraten. Haben Sie zuweilenbemerkt, wie unsere Selbstsucht alles, was uns gehört, in glänzende Farben kleidet? Der Diamant, den wir im Schaufenster des Juweliers funkeln sahen, wird viel schöner, sobald er unser Diamant ist. Doch wie schmerzlich ist es, wenn man weiß, daß es einen von reinerem Wasser gibt, während man selbst verurteilt ist, den geringeren Diamanten ewig zu tragen?
Weltmensch! murmelte der Graf.
Deshalbwerde ich vor Freude springen an dem Tage, wo Fräulein Eugenie wahrnimmt, daß ich ein dürftiges Atombin und kaum so viele 100 000 Frankenbesitze als sie Millionen hat.
Monte Christo lächelte.
Ich hatte wohl einen Gedanken, fuhr Albert fort; Franz liebt das Exzentrische, und ich wollte ihn in Fräulein Danglars verliebt machen; doch obgleich ich ihm vierBriefe lockendsten Inhalts schrieb, antwortete er mir stets und unabänderlich: Ichbin allerdings exzentrisch, aber das gehtbei mir nicht so weit, daß ich mein Wort zurücknehme, wenn ich es einmal gegeben habe.
Das nenne ich eine aufopfernde Freundschaft, einem andern eine Frau geben, die man selbst nur zur Geliebten haben möchte.
Albert lächelte.
Wissen Sie, daß dieser liebe Franz zurückkommt? sagte Morcerf; doch es ist Ihnen wenig daran gelegen, Sie lieben ihn, glaube ich, nicht?
Ich! ei mein lieber Vicomte, woher glauben Sie denn, daß ich Franz nicht liebe? Ich liebe die ganze Menschheit.
Und ichbin in dieser Menschheit mit einbegriffen… Ich danke.
Wir wollen die Sache nicht verwirren, sagte Monte Christo, ich liebe die ganze Menschheit so, wie wir nach GottesBefehl unsern Nächsten lieben sollen, das heißt auf eine christliche Weise; doch ich hasse nur gewisse Personen. Kommen wir aber auf Herrn d'Epinay zurück. Sie sagen, er kehre zurück?
Ja, von Herrn von Villefort zurückgerufen, der, wie es scheint, ebensobegierig ist, Fräulein Valentine zu verheiraten, wie Herr Danglars, Fräulein Eugenie zu verehelichen. Der Zustand eines Vaters, der erwachsene Töchterbesitzt, muß recht angreifend sein; es scheint, er verursacht ihnen Fieber, und ihr Puls schlägt neunzigmal in der Minute, bis sie die Tochter los sind.
Herr d'Epinay gleicht Ihnen nicht, er nimmt, wie ich glaube, sein Unglück in Geduld hin.
Er tut noch etwasBesseres, er nimmt die Sache ernst, zieht weiße Halsbinden an und sprichtbereits von seiner Familie. Übrigens hegt er eine große Achtung vor den Villeforts.
Nicht wahr, eine wohlverdiente? Ich glaube, Herr von Villefort galt immer für einen strengen, aber gerechten Mann.
Das lasse ich mir gefallen, sagte Monte Christo, es ist doch wenigstens einer, den Sie nicht wie den armen Herrn Danglarsbehandeln.
Dies kommt vielleicht daher, daß ich nicht genötigtbin, seine Tochter zu heiraten, entgegnete Albert lachend.
In der Tat, mein Herr, sagte Monte Christo, ich wundere mich über Sie.
Und warum?
Weil Sie sich gegen eine Heirat mit Fräulein Danglars sträuben. Mein Gort! lassen Sie die Dinge ihren Gang gehen, und Siebrauchen vielleicht gar nicht zuerst Ihr Wort zurückzunehmen.
Bah! rief Albert mit großen Augen.
Allerdings, mein lieber Vicomte, man wird Ihnen nicht mit Gewalt den Kopf zwischen Tür und Angel stecken! Sprechen Sie im Ernste, sagte Monte Christo, den Ton ändernd, haben Sie Lust zubrechen?
Ich gebe 100 000 Franken dafür.
Wohl, so seien Sie froh! Herr Danglars istbereit, das Doppelte zu geben, um zu demselben Ziele zu gelingen.
Ist dieses Glück wahr? sagte Albert, der es indessen, während er so sprach, nicht verhindern konnte, daß eine unmerkliche Wolke über seine Stirn hinzog. Doch, mein lieber Herr Graf, Herr Danglars hat also Gründe?
Ah! hier kommt die stolze, selbstsüchtige Natur zu Tage. Gut, ich finde hier wieder den Menschen, der die Eitelkeit eines andern mit der Axt totschlagen will und schreit, wenn man die seinige mit einer Nadel ansticht.
Nein! doch es scheint mir, Herr Danglars…
Sollte von Ihnen entzückt sein, nicht wahr? Ei! Herr Danglars ist entschieden ein Mann von schlechtem Geschmacke und noch mehr entzückt von einem andern… Studieren Sie, schauen Sie, ergreifen Sie die Anspielungen im Fluge, und ziehen Sie Nutzen daraus!
Gut, ichbegreife; hören Sie, meine Mutter… nein! nicht meine Mutter, mein Vater hat den Gedanken gehabt, einenBall zu geben. — EinenBall zu dieser Jahreszeit? — DieBälle sind stets in der Mode. — Wären sie es nicht, so dürfte die Gräfin nur wollen, und sie würde sie in Modebringen.
Nicht übel; Siebegreifen, es sind Vollblutbälle; die, welche im Monat Juli in Parisbleiben, sind wahre Pariser. Wollen Sie eine Einladung für die Herren Cavalcanti übernehmen? — Wann wird derBall stattfinden? — Sonnabend. — Herr Cavalcanti Vater wird abgereist sein. — Doch Herr Cavalcanti Sohnbleibt; wollen Sie es übernehmen, Herrn Cavalcanti Sohn zubringen? — Hören Sie, Vicomte, ich kenne ihn nicht. — Sie kennen ihn nicht? — Nein, ich habe ihn vor drei oder vier Tagen zum erstenmal gesehen und stehe in keinerBeziehung zu ihm. — Doch Sie empfangen ihn?
Ja, das ist etwas anderes; er ist mir durch einenbraven Abbé empfohlen worden, den man getäuscht haben kann. Laden Sie ihn immerhin selbst ein, sagen Sie mir aber nicht, ich soll ihnbei Ihnen vorstellen. Sollte er später Fräulein Danglars heiraten, so könnten Sie mich eines Schleichwegsbeschuldigen und Lustbekommen, sich auf Leben und Tod mit mir zu schlagen; überdies weiß ich nicht, obich selbst auf IhrenBall kommen werde.
Warum werden Sie nicht kommen?
Einmal, weil ich noch nicht eingeladenbin.
Ich erscheine ausdrücklich hier, um Ihnen Ihre Einladung persönlich zu überbringen.
Oh! das ist entzückend; doch ich kann verhindert sein.
Wenn ich Ihnen eines gesagt habe, sind Sie liebenswürdig genug, um uns alle Hindernisse zum Opfer zubringen.
Sprechen Sie! Meine Mutterbittet Sie.
Die Frau Gräfin von Morcerf? versetzte Monte Christobebend. In der Tat, Sie überhäufen mich mit Artigkeiten!
Sehen Sie, diesen Vorzug hat man, wenn man ein lebendiges Problem ist! Sie kommen also Sonnabend?
Da mich Frau von Morcerf darumbittet.
Sie sindbezaubernd.
Und Herr Danglars?
Oh! er hatbereits eine dreifache Einladung erhalten; mein Vater übernahm dies. Wir werden auchbemüht sein, Herrn von Villefort heranzuziehen, doch es ist zweifelhaft, ober zusagt. Tanzen Sie, Herr Graf?
Nein, ich tanze nicht, aber ich sehe gern tanzen. Tanzt Frau von Morcerf?
Niemals; Sie plaudert gern und hat große Lust, mit Ihnen zu plaudern.
Wirklich?
Bei meinem Ehrenwort! Ich erkläre Ihnen, Sie sind der erste Mann, für den meine Mutter Interesse zeigt.
Albert nahm seinen Hut und stand auf; der Graf führte ihn an die Tür.
Ich mache mir einen Vorwurf, sagte er, ihn oben an der Freitreppe zurückhaltend, ich war indiskret, ich hätte nicht von Herrn Danglars sprechen sollen.
Im Gegenteil, sprechen Sie abermals, sprechen Sie oft, sprechen Sie immer davon, doch immer auf die gleiche Weise.
Gut! Sieberuhigen mich, Sagen Sie mir, wann kommt Herr d'Epinay?
Spätestens in fünfbis sechs Tagen.
Und wann heiratet er?
Sobald Herr und Frau von Saint‑Meran eingetroffen find.
Bringen Sie ihn zu mir, wenn er in Paris ist. Obgleich Siebehaupten, ich liebe ihn nicht, erkläre ich Ihnen doch, daß ich mich freuen werde, ihn wiederzusehen.
IhreBefehle sollen vollzogen werden, Herr Graf. Auf Wiedersehen!
Der Graf grüßte Albert mit der Hand und folgte ihm mit den Augen. Als der Vicomte in seinen Phaeton gestiegen war, wandte sich Monte Christo um und fragte, da erBertuccio hinter sich fand: Nun? — Sie ist in den Justizpalast gefahren. — Ist sie lange dort geblieben? — AnderthalbStunden. — Und dann nach Hause zurückgekehrt? — Unmittelbar.
Wohl, mein lieber HerrBertuccio, wenn ich Ihnen nun einen Rat geben soll, so sehen Sie in der Normandie nach, obSie nicht das kleine Landgut finden, von dem ich mit Ihnen sprach.
HerrBertuccio verbeugte sich, und da seine Wünsche mit demBefehle, den er erhalten, vollkommen im Einklang standen, so reiste er noch an demselben Abend ab.
Nachforschungen
Herr von Villefort hielt Frau Danglars undbesonders sich selbst Wort, indem er zu erfahren suchte, wie der Graf von Monte Christo Kenntnis von der Geschichte des Hauses in Auteuil erlangt habe.
Er schrieban demselben Tage an einen gewissen Herrn vonBoville, der, nachdem er einst Inspektor der Gefängnisse gewesen war, jetzt eine höhere Stellungbei der Sicherheitspolizei einnahm, um von diesem die gewünschte Auskunft zu erhalten. Herr vonBoville verlangte zwei Tage, um in Erfahrung zubringen, bei wem man genaue Kunde einziehen könnte. Nach zwei Tagen erhielt Herr von Villefort folgende Note:
Die Person, die man den Grafen von Monte Christo nennt, istbesonders dem Lord Wilmore, einem reichen Fremden, bekannt, den man zuweilen in Paris sieht, und der sich in diesem Augenblick hierbefindet? sie ist ebenfallsbekann! dem AbbéBusoni, einem sizilianischen Priester, der im Orient viele gute Werke verrichtet hat und dort einen großen Ruf genießt.
Herr von Villefort antwortete durch einenBefehl, über diesebeiden Fremden auf das schleunigste und genaueste Erkundigungen einzuziehen; am andern Abend waren seineBefehle vollzogen, und er erhielt folgende Notizen:
Der Abbé, der nur auf einen Monat in Paris war, bewohnte hinter Saint‑Sulpice ein kleines Haus, bestehend aus einem Stocke und einem Erdgeschoß; vier Zimmer, zwei oben, zwei unten, bildeten die ganze Wohnung, deren einziger Mieter er war.
Die zwei unteren Zimmerbestanden aus einem Speisesaal mit Tischen, Stühlen undBüfett von Nußbaumholz und einem Salon mit weiß angemaltem Getäfel, ohne Zieraten, ohne Teppiche und ohne Uhr. Man sah, daß sich der Abbé für seine Person auf das Notwendigstebeschränkte. Der Abbébewohnte vorzugsweise den Salon im ersten Stocke, der ganz mit theologischenBüchern und Pergamenten, unter denen man ihn, wie sein Kammerdiener sagte, sich Monate lang vergraben sah, ausgestattet war.
Sein Dienerbetrachtete dieBesucher durch eine Art von Gitter, und wenn ihm ihr Gesicht unbekannt war oder mißfiel, so antwortete er, der Abbé sei nicht in Paris, womit sich vielebegnügten, denn man wußte, daß er häufig reiste und zuweilen lange auf der Reiseblieb. Mochte er übrigens zu Hause sein oder nicht, so gabder Abbé doch immer reichliche und ständige Almosen. Das andere Zimmer, das neben derBibliothek lag, war ein Schlafzimmer. EinBett ohne Vorhänge, vier Lehnstühle und ein Sofabildeten nebst einemBetpult seine ganze Ausstattung.
Lord Wilmore wohnte in der Rue Saint‑George, Er gehörte zu den englischen Touristen, die ihr ganzes Vermögen auf der Reise verzehren. Er mietete eine möblierte Wohnung, in der er nur zweibis drei Stunden des Tages zubrachte und sehr selten schlief. Er hatte unter andern die Manie, durchaus nicht französisch sprechen zu wollen, jedoch soll er ziemlich korrekt französisch geschrieben haben.
Am andern Tage, nachdem diese kostbare Auskunftbei dem Staatsanwalt eingetroffen war, klopfte ein Mensch, der an der Ecke der Rue Férou aus dem Wagen stieg, an eine olivengrün angemalte Tür, fragte nach dem AbbéBusoni und erhielt von einem Diener die Antwort, der Herr Abbé sei ausgegangen.
Ich kann mich mit dieser Antwort nichtbegnügen, sagte derBesuch, denn ich komme im Auftrage einer Person, für die man immer zu Hause ist. Doch wollen Sie dem Herrn AbbéBusoni…
Ich habe Ihnenbereits gesagt, er sei nicht zu Hause, wiederholte der Diener.
So geben Sie ihm, wenn er zurückkehrt, diese Karte und dieses versiegelte Papier. Wird der Herr Abbé heute abend um acht Uhr zu Hause sein?
Ohne allen Zweifel, mein Herr.
Ich werde heute abend zur genannten Stunde wiederkommen, versetzte derBesuch und entfernte sich.
Zurbestimmten Stunde kam derselbe Mensch in demselben Wagen, der, statt an der Ecke der Rue Férou anzuhalten, diesmal vor der grünen Tür anhielt. Er klopfte, man öffnete ihm, und er trat ein.
Aus den Zeichen der Ehrfurcht, die ihm der Diener erwies, ersah er, daß derBrief die gewünschte Wirkung hervorgebracht hatte.
Ist der Herr Abbé zu Hause? fragte er.
Ja, er arbeitet in seinerBibliothek; doch er erwartet den Herrn, sagte der Diener.
Der Fremde stieg eine ziemlich schlechte Treppe hinauf und erblickte an einem Tische, dessen Oberfläche mit der Helle übergossen war, die ein weiter Lichtschirm konzentrierte, während der Rest des Zimmers im Schatten lag, den Abbé in geistlicher Kleidung, den Kopf mit einer von jenen Kappenbedeckt, wie sie im Mittelalter die Gelehrten trugen. Habe ich die Ehre, mit HerrnBusoni zu sprechen? fragte der Fremde.
Ja, antwortete der Abbé, und Sie sind die Person, die Herr vonBoville, der ehemalige Intendant der Gefängnisse, im Auftrage des Herrn Polizeipräfekten zu mir schickt? — Ganz richtig, mein Herr. — Einer von den Agenten, die für die Sicherheit von Paris zu sorgen haben? — Ja, mein Herr, antwortete der Fremde mit einem gewissen Zögern und etwas errötend.
Der Abbé richtete die großeBrille zurecht, die nicht nur seine Augen, sondern auch, seine Schläfebedeckte, setzte sich wieder undbedeutete dem Fremden durch ein Zeichen, er möge sich ebenfalls setzen.
Ich höre Sie, mein Herr, sagte der Abbé mit scharf italienischem Akzente.
Die Sendung, die ich übernommen habe, mein Herr, sagte derBesuch, jedes seiner Worte so langsam aussprechend, als hätten sie Mühe aus dem Munde zu gehen, gereicht sowohl dem zum Vertrauen, der sie vollzieht, wie dem, bei dem sie vollzogen wird.
Der Abbé verbeugte sich.
Ja, mein Herr, fuhr der Fremde fort, Ihre Redlichkeit ist dem Herrn Polizeipräfekten so wohlbekannt, daß er alsBeamter von Ihnen eine Sache erfahren will, bei der die öffentliche Sicherheitbeteiligt ist, in deren Namen ichbei Ihnen erscheine. Wir hoffen, Herr Abbé, daß wederBande der Freundschaft, noch menschliche Rücksichten Sie veranlassen werden, der Justiz die Wahrheit zu verbergen.
Vorausgesetzt, daß die Dinge, die Sie zu erfahren wünschen, in keinerBeziehung dieBedenklichkeiten meines Gewissensberühren. Ichbin Priester, und die Geheimnisse derBeichte, zumBeispiel, müssen mir und der Gerechtigkeit Gottes und nicht mir und der menschlichen Gerechtigkeit vorbehaltenbleiben. Oh, seien Sie unbesorgt, Herr Abbé, sagte der Fremde, jedenfalls werden wir Ihr Gewissen nichtbelasten.
Bei diesen Worten drückte der Abbé auf seiner Seite auf den Lichtschirm nieder und hobihn auf der andern Seite, so daß das Gesicht des Fremden völligbeleuchtet wurde, das seinige aber ganz im Schattenblieb.
Verzeihen Sie, Herr Abbé, sagte der Abgeordnete des Polizeipräfekten, dieses Licht ist höchst schmerzhaft für meine Augen.
Der Abbé drückte den grünen Pappendeckel nieder.
Sprechen Sie nun!
Ich komme zur Sache. Sie kennen ohne Zweifel den Grafen von Monte Christo?
Sie meinen Herrn Zaccone?
Zaccone… heißt er denn nicht Monte Christo?
Monte Christo ist der Name eines Gutes, oder vielmehr eines Felsens und kein Familienname.
Wohl, es mag sein; streiten wir nicht über Worte, und da Herr von Monte Christo und Herr Zaccone derselbe Mensch ist, so wollen wir von Herrn Zaccone sprechen; kennen Sie ihn? — Genau. — Wer ist er? — Er ist der Sohn eines reichen Reeders in Malta. — Ja, ich weiß, das sagt man; doch Siebegreifen, die Polizei kann sich nicht mit einem ›man sagt‹begnügen!
Wenn aber, versetzte der Abbé mit sehr freundlichem Lächeln, dieses man sagt die Wahrheit ist, so muß sich die ganze Welt damitbegnügen, und die Polizei ebenfalls.
Sind Sie dessen, was Sie sagen, gewiß?
Obich dessen gewißbin!
Bemerken Sie wohl, mein Herr, ich, setze durchaus keinen Zweifel in Ihre Glaubwürdigkeit. Ich frage Sie: Sind Sie Ihrer Sache gewiß?
Hören Sie, ich habe Herrn Zaccone, den Vater, gekannt und habe mit dem Sohne, als er noch ein Kind war, wohl zehnmal auf den Werften gespielt.
Doch dieser Grafentitel?…
Sie wissen, so was läßt sich kaufen.
Doch diese Reichtümer, welche, wie man sagt, ungeheuer sind…
Oh! was dasbetrifft, erwiderte der Abbé, ungeheuer, das ist das richtige Wort.
Wieviel glauben Sie, daß erbesitzt?
Oh! er hat gewiß 200 000 Franken Rente.
Ah! das läßt sich hören, versetzte der Fremde, aber man sprach von drei, von vier Millionen Rente!
Oh, das ist nicht glaublich!
Und Sie kennen seine Insel Monte Christo?
Gewiß: jeder, der von Palermo, von Neapel oder Rom nach Frankreich reist, kennt diese Felseninsel, weil er sie im Vorüberfahren sehen muß.
Und warum hat der Graf diese Felsen gekauft?
Gerade, um Graf zu sein. Um in Italien Graf zu werden, bedarf man auch einer Grafschaft.
Sie haben ohne Zweifel von den Jugendabenteuern des Herrn Zaccone sprechen hören?
Ah! hier fängt die Ungewißheitbei mir an, denn hier habe ich meinen Kameraden aus dem Gesichte verloren.
Sie sind nicht seinBeichtvater?
Nein, mein Herr? ich glaube, er ist Lutheraner.
Wie? Lutheraner?
Ich sage, ich glaube; ich weiß es nicht genau. Übrigens war ich der Ansicht, in Frankreichbestehe Freiheit des Kultus.
Allerdings, auchbeschäftigen wir uns in diesem Augenblick nicht mit seinem Glauben, sondern mit seinen Handlungen; im Namen des Herrn Polizeipräfekten fordere ich Sie auf, zu sagen, was Sie davon wissen.
Er gilt für einen sehr wohltätigen und menschenfreundlichen Mann. Unser heiliger Vater, der Papst, hat ihn, eine Gunst, die er kaum Fürstenbewilligt, zum Ritter des Christusordens für die großen Dienste ernannt, die er den Christen im Orient geleistet; er hat so fünfbis sechs Großkreuze für Dienste erhalten, die von ihm den Fürsten oder den Staaten erwiesen worden sind.
Und er trägt sie? — Nein, doch er ist stolz darauf; er sagt, er liebe mehr die den Wohltätern der Menschheit geltendenBelohnungen, als die, welche man den Zerstörern der Menschen zubilligt. — Weiß man, daß er Freunde hat? — Ja, denn es sind alle die seine Freunde, die ihn kennen. — Doch hat er gar keinen Feind? — Einen einzigen. — Wie heißt er? — Lord Wilmore. — Wo ist er? Kann er mir Auskunft geben? — Kostbare. Er war zu gleicher Zeit mit Zaccone in Indien und wohnt, glaube ich, jetzt irgendwo in der Chaussée d'Antin.
Sie stehen schlecht mit diesem Engländer?
Ich liebe Zaccone, und er haßt ihn; unser Verhältnis ist darum nicht dasbeste.
Mein Herr Abbé, glauben Sie, der Graf von Monte Christo sei je in Frankreich gewesen, vor der Reise, die er jetzt nach Paris gemacht hat?
Nein, mein Herr, er ist nie hier gewesen, denn er hat sich vor sechs Monaten an mich gewendet, um die erforderliche Auskunft zu erhalten. Da ich meinerseits nicht wußte, wann ich in Paris sein würde, so wies ich ihn an HerrnBartolomeo Cavalcanti.
Sehr gut, mein Herr; ich habe Sie nur noch eines zu fragen und fordere Sie im Namen der Menschheit, der Ehre und der Religion auf, mir ohne Umschweife zu antworten.
Sprechen Sie, mein Herr!
Wissen Sie, in welcher Absicht Herr von Monte Christo ein Haus in Auteuil kaufte?
Gewiß, denn er hat es mir gesagt. Um daraus ein Hospiz für Geisteskranke nach Art dessen zu machen, das derBaron von Pisari in Palermo gegründet hat.
Kennen Sie dieses Hospiz?
Ich habe davon gehört; es soll eine herrliche Anstalt sein. Hierauf grüßte der Abbé den Fremden, wie ein Mensch, der zu verstehen geben will, es sei ihm nicht unangenehm, eine unterbrochene Arbeit wiederaufnehmen zu können.
Begriff derBesuch das Verlangen des Abbés, oder war er mit seinen Fragen zu Ende… er stand ebenfalls auf. Der Abbébegleitete ihnbis zur Tür, und der Fremde entfernte sich.
Der Wagen führte ihn geradeswegs zu Herrn von Villefort.
Eine Stunde nachher kam der Wagen abermals heraus, und diesmal wandte er sich nach der Rue Fontaine‑Saint‑George, bei Nr. 5 hielt er an. Hier wohnte Lord Wilmore. Der Fremde hatte Lord Wilmore schriftlich um eine Zusammenkunft gebeten, die dieser auf zehn Uhrbestimmte. Als der Abgesandte des Polizeipräfekten zehn Minuten vor zehn Uhr ankam, antwortete man ihm, Lord Wilmore, die Pünktlichkeit und Genauigkeit in Person, sei noch nicht zurückgekehrt, aber er werde sicher Punkt zehn Uhr erscheinen.
Der Besuch wartete im Salon. Dieser Salon hatte nichts Merkwürdiges und war wie alle Salons in einem Hotel garni. Ein Kamin mit zwei schönen Porzellanvasen, eine Pendeluhr mit einem Amor, der seinenBogen spannt; ein Spiegel, auf jeder Seite dieses Spiegels ein Kupferstich, eine Tapete in Grau: das war der Salon des Lord Wilmore.
Er wurde durch Kugeln von geschliffenem Glasebeleuchtet, die nur ein mattes Licht verbreiteten, das ausdrücklich für die schwachen Augen des Abgeordneten des Herrn Polizeipräfektenberechnet zu sein schien.
Nachdem dieser zehn Minuten gewartet hatte, schlug es zehn Uhr; beim fünften Schlage öffneten sich die Türen, und Lord Wilmore erschien.
Lord Wilmore war ein Mann, mehr groß als klein, mit dünnem, rotemBackenbarte, weißer Gesichtsfarbe undblonden, gräulich werdenden Haaren. Er war auf echt englisch‑bizarre Weise gekleidet, das heißt, er trug einenblauen Frack mit goldenen Knöpfen und einem hohen, gesteppten Kragen, wie sie 1811 Mode waren, eine weiße Weste und Hosen von Nankin, die drei Zoll zu kurz waren, aber durch Stege von demselben Stoffe verhindert wurden, bis an die Knie zurückzuweichen. Sein erstes Wortbeim Eintritt war: Sie wissen mein Herr, daß ich nicht Französisch spreche?
Ich weiß wenigstens, daß Sie es nicht gern sprechen, antwortete derBote des Herrn Polizeipräfekten.
Doch Sie können es sprechen, versetzte Lord Wilmore, denn wenn ich es auch nicht spreche, so verstehe ich es doch.
Und ich, sagte derBesuch, das Idiom wechselnd, spreche leicht genug Englisch, um eine Unterredung in dieser Sprache führen zu können. Tun Sie sich also keinen Zwang an, mein Herr.
Oh! rief Lord Wilmore mit jenem Tone, der nur den reinsten Eingeborenen Großbritanniens angehört.
Der Abgeordnete des Polizeipräfekten übergabLord Wilmore seinBeglaubigungsschreiben. Dieser las es mit englischem Phlegma… Als er damit zu Ende war, sagte er englisch: Ichbegreife, ichbegreife sehr gut.
Nunbegannen die Fragen.
Es waren ungefähr dieselben, die man dem AbbéBusoni vorgelegt hatte. Da jedoch Lord Wilmore als Feind des Grafen von Monte Christo nicht mit derselben Zurückhaltung antwortete, wie der AbbéBusoni, so wurden sie vervielfacht. Er erzählte von der Jugend Monte Christos, der, seinerBehauptung nach, in einem Alter von zehn Jahren in den Dienst eines der kleinen indischen Fürsten getreten war, die mit Englandbeständig im Streite liegen; hier traf ihn Wilmore seiner Aussage nach zum ersten Male, und sie kämpften gegeneinander. Und in eben diesem Kriege wurde Zaccone zum Gefangenen gemacht, nach England geschickt und auf die Pontons gebracht, von wo er schwimmend entfloh. Hierauf folgten seine Reisen, seine Zweikämpfe, seine Leidenschaften; es kam der Aufstand in Griechenland, und er diente in den Reihen der Hellenen. Während er in ihren Diensten war, entdeckte er eine Silbermine in den Gebirgen Thessaliens; doch er hütete sich, mit irgend jemand davon zu sprechen. Nach der Schlachtbei Navarin, und nachdem sich die griechische Regierungbefestigt hatte, verlangte er von König Otto ein Privilegium zur Ausbeutung dieser Miene, das ihmbewilligt wurde. Daher rührte sein Vermögen, das sich nach der Ansicht Lord Wilmores auf einebis zwei Millionen Einkünftebelaufen mochte, ein Vermögen, das nichtsdestoweniger versiegen konnte, wenn seinBergwerk versiegte.
Doch wissen Sie, warum er nach Frankreich gekommen ist?
Er will in Eisenbahnen spekulieren, sagte Lord Wilmore; und als geschickter Chemiker und nicht minder ausgezeichneter Physiker hat er einen Telegraphen erfunden, dessen praktische Ausbeutung er im Auge hat.
Wieviel gibt er ungefähr jährlich aus? fragte der Abgeordnete des Polizeipräfekten.
Oh! höchstens 5bis 600 000 Franken, er ist geizig. Offenbar ließ der Haß den Engländer so sprechen; er wußte nicht, was er dem Grafen zum Vorwurf machen sollte, und warf ihm Geiz vor.
Wissen Sie etwas von seinem Hause in Auteuil?
Sie fragen, warum er es gekauft hat? — Ja.
Der Graf ist ein Spekulant, der sich in Versuchen und Utopien zu Grunde richten wird. Erbehauptet, es gebe in Auteuil, in der Gegend des von ihm erkauften Hauses, eine Mineralquelle, die den ersten französischen Wassern gleich komme. Er will aus seiner Erwerbung einBadehaus machen. Bereits hat er zweibis dreimal seinen ganzen Garten umgewühlt, und weil er dieberühmte Quelle nicht finden konnte, so werden Sie sehen, daß erbinnen kurzem alle Häuser kauft, die an das seinige grenzen. Da ich ihm grolle und hoffe, daß er sich mit seiner Eisenbahn, mit seinem elektrischen Telegraphen oder seinerBäderspekulation zu Grunde richten wird, so folge ich ihm, um mich an seiner Niederlage zu weiden, die früher oder später eintreten muß.
Und warum grollen Sie ihm? fragte derBesuch.
Ich grolle ihm, antwortete Lord Wilmore, weil erbei einem Aufenthalte in England die Frau eines meiner Freunde verführt hat.
Doch wenn Sie feindselig gegen ihn gesinnt sind, warum suchen Sie sich nicht an ihm zu rächen?
Ich habe michbereits dreimal mit ihm geschlagen, das erste Mal auf Pistolen, das zweite Mal mit dem Degen, das dritte Mal auf Säbel.
Und was war der Erfolg dieser Duelle?
Das erste Mal zerschmetterte er mir den Arm, das zweite Mal durchstieß er mir die Lunge, und das dritte Malbrachte er mir diese Wundebei. Der Engländer schlug einen Hemdkragen zurück, der ihmbis an die Ohren ging, und zeigte eine anscheinend ziemlich frische Narbe.
Deshalbbin ich sein Feind, wiederholte der Engländer, und er wird sicherlich nur von meiner Hand sterben.
Doch es scheint mir, Sie schlagen nicht den rechten Weg ein, um ihn zu töten, bemerkte der Fremde.
Ao! rief der Engländer, ich gehe jeden Tag zum Schießen, und Grisier kommt alle zwei Tage zu mir.
Das war alles, was der Fremde wissen wollte, oder es war vielmehr alles, was der Engländer zu wissen schien. Der Agent stand auf und entfernte sich, nachdem er Lord Wilmore gegrüßt hatte, der ihm mit englischer Steifheit und Höflichkeit vergalt.
Als Lord Wilmore hörte, daß sich die Tür nach der Straße wieder hinter dem Fremden schloß, kehrte er in sein Schlafzimmer zurück, wo er in einer Sekunde seineblonden Haare, seinen rotenBackenbart, seine falsche Kinnlade und seine Narbe verlor, um die schwarzen Haare und die matte Gesichtsfarbe des Grafen von Monte Christo wieder anzunehmen.
Allerdings war es Herr von Villefort und keinBote des Polizeipräfekten, der in die Wohnung des Staatsanwaltes zurückkehrte. Dieser fühlte sich durch diesen doppeltenBesuch, der ihm wenigstens nichtsBeunruhigendes eröffnet hatte, ein wenigbeschwichtigt. Die Folge davon war, daß er zum erstenmal seit dem Fest in Auteuil in der nächsten Nacht sich eines friedlichen Schlafes erfreute.
Der Ball
Es waren die heißesten Julitage angebrochen, als der Sonnabend erschien, an dem derBall des Herrn von Morcerf stattfinden sollte. Es schlug zehn Uhr abends. In den unteren Sälen des Hotels hörte man die Musik rauschen, währendblendende, scharfe Lichtstreifen durch die Öffnungen der Läden drangen.
Der Garten war in diesem Augenblick einem DutzendBedienten überlassen, denen die Gebieterin des Hauses denBefehl gegeben hatte, hier das Abendessen herzurichten. Manbeleuchtete die Alleen des Gartens mit farbigen Lampen und stellte mit feinem Verständnis Kerzen undBlumen in großer Zahl auf die Tafel.
In dem Augenblick, als die Gräfin von Morcerf, nachdem sie ihre letztenBefehle gegeben hatte, zurückkehrte, begannen sich ihre Salons, mit Gästen zu füllen, die sowohl diebezaubernde Gastfreundschaft der Gräfin, als die ausgezeichnete Stellung des Grafen anlockte; denn man war zum voraus gewiß, dieses Fest würdebei Mercedes' gutem Geschmacke manches Neue und Schönebringen.
Frau Danglars, die infolge derbekannten Ereignisse eine tiefe Unruhe empfand, wollte nicht zu Frau von Morcerf gehen, doch am Morgenbegegnete siebei ihrer Ausfahrt Herrn von Villefort, der ihr zurief: Nicht wahr, Sie gehen zu Frau von Morcerf?
Nein, antwortete Frau Danglars, ichbin zu leidend.
Sie haben unrecht, entgegnete Villefort mit einembezeichnendenBlicke. Es wäre gut, man sähe sie dort.
Ah! Sie glauben? fragte dieBaronin. Dann gehe ich.
Und ihr Wagen fuhr in entgegengesetzter Richtung weiter. Frau Danglars strahlte, als sie erschien, nicht nur durch ihre eigene Schönheit, sondernblendete auch durch Luxus. Sie trat durch eine Tür in dem Augenblick ein, wo Mercedes durch die andere eintrat.
Die Gräfin schickte Albert der Dame entgegen. Albert ging auf dieBaronin zu, machte ihr die wohlverdienten Komplimente über ihre Toilette undbot ihr den Arm, um sie nach dem Platze zu führen, den sie nach ihremBelieben wählen sollte. Albert schaute umher. Sie suchen meine Tochter? sagte lächelnd dieBaronin.
Ich gestehe es, sprach Albert, sollten Sie die Grausamkeit gehabt haben, Sie nicht mitzubringen?
Beruhigen Sie sich, sie hat Fräulein von Villefort getroffen und ihren Arm genommen; sehen Sie, sie folgen unsbeide in weißen Kleidern, die eine mit einem Strauße von Kamelien, die andere mit einem Strauße von Vergißmeinnicht. Aber sagen Sie mir doch, werden Sie heute abend den Grafen von Monte Christo nicht hier haben?
Siebenzehn; antwortete Albert.
Was wollen Sie damit sagen?
Ich will sagen, versetzte der Vicomte lachend, daß Sie die siebenzehnte Person sind, welche diese Frage an mich richtet; der Graf hat Glück… ich mache ihm mein Kompliment.
Und antworten Sie jedem wie mir?
Ah! es ist wahr, ich habe Ihnen noch nicht geantwortet; beruhigen Sie sich, gnädige Frau, wir werden den Mann der Mode haben, wir gehören zu seinenBevorzugten.
Lassen Sie mich hier, undbegrüßen Sie Frau von Villefort, sagte dieBaronin, ich sehe, sie stirbt vor Verlangen, Sie zu sprechen. Albert verbeugte sich vor Frau Danglars und ging auf Frau von Villefort zu, die den Mund öffnete, während er sich ihr näherte.
Ich wette, sagte Albert, sie unterbrechend, ich wette, ich weiß, was Sie sagen wollen.
Ah! lassen Sie doch hören! rief Frau von Villefort.
Sie wollen mich fragen, obder Graf von Monte Christo gekommen sei oder kommen werde?
Ichbeschäftige mich in diesem Augenblick nicht mit ihm. Ich wollte Sie fragen, obSie Nachricht von Herrn Franz erhalten hätten?
Ja, gestern; er schriebmir, er werde zu gleicher Zeit mit seinemBriefe abreisen.
Gut… Nun der Graf?…
Seien Sie unbesorgt, der Graf wird kommen.
Sie wissen, daß er einen andern Namen hat, als Monte Christo?
Nein, ich wußte es nicht.
Monte Christo ist der Name einer Insel; er ist Malteser.
Das ist möglich.
Er ist der Sohn eines Reeders.
In der Tat, Sie sollten dies laut erzählen, Sie würden das größte Aufsehen damit machen.
Er hat in Indien gedient, beutet ein Silberbergwerk in Thessalien aus und kommt nach Paris, um in Auteuil eine Anstalt für Mineralbäder zu gründen.
Ah! das lasse ich mir gefallen, das sind Neuigkeiten! Erlauben Sie mir, sie zu wiederholen?
Ja, doch allmählich, eine nach der andern, und ohne zu sagen, daß sie von mir kommen.
Warum?
Weil es ein der Polizei abgelauschtes Geheimnis ist.
Also kommen diese Neuigkeiten?…
Vom Präfekten. Paris ist, wie Sie leichtbegreifen können, durch den Anblick dieses Luxus in Aufregung geraten, und die Polizei hat Erkundigungen eingezogen.
Es fehlte nur noch, daß man den Grafen wie einen Vagabunden unter dem Vorwande, er sei zu reich, verhaftete.
Meiner Treu, das hätte ihm wohlbegegnen können, wenn die Nachrichten nicht so günstig gewesen wären.
Armer Graf! Und er vermutet die Gefahr nicht, der er preisgegeben ist!
Ich glaube nicht.
Dann ist es Pflicht der Nächstenliebe, ihn darauf aufmerksam zu machen. Ich werdebei seiner Ankunft nicht verfehlen, dies zu tun.
In dieser Sekunde verbeugte sich ein schöner junger Mann mit lebhaften Augen, schwarzen Haaren und glänzendem Schnurrbart vor Frau von Villefort. Albert reichte ihm die Hand und sagte: Gnädige Frau, ich habe die Ehre, Ihnen Herrn Maximilian Morel, Kapitänbei den Spahis, einen unserer guten undbesonders unsererbraven Offiziere, vorzustellen.
Ich habebereits das Vergnügen gehabt, den Herrn in Auteuilbei dem Herrn Grafen von Monte Christo zu treffen, antwortete Frau von Villefort, sich mit auffallender Kälte abwendend. Diese Antwort undbesonders der Ton, in dem sie gegeben wurde, schnürten dem armen Morel das Herz zusammen; doch es war ihm eine Entschädigung vorbehalten. Als er sich umdrehte, sah er unweit der Tür ein schönes, ernstes Gesicht, dessenblaue, große und scheinbar ausdruckslose Augen sich auf ihn hefteten, während der Vergißmeinnichtstrauß, den die Person hielt, langsam an die Lippen emporstieg.
Dieser Gruß wurde so gut verstanden, daß Morel mit derselben Miene sein Taschentuch seinem Mund näherte; und, durch die ganzeBreite des Saales voneinander getrennt, vergaßen sich diese zu lebendigenBildsäulen gewordenenbeiden Menschen, deren Herz so rasch unter dem scheinbaren Marmor ihres Gesichtes schlug, einen Augenblick, oder sie vergaßen vielmehr die Welt in dieser stummenBetrachtung.
Sie hätten lange so ineinander verlorenbleiben können, ohne daß es jemandbemerkt hätte; doch der Graf von Monte Christo trat eben ein.
Der Graf zog, wie gesagt, überall, wo er sich zeigte, die Aufmerksamkeit auf sich. Es war nicht sein allerdings dem Schnitte nach tadelloser, aber einfacher schwarzer Frack; es war nicht seine weiße Weste, nicht seinBeinkleid, das einen Fuß von der zartesten Form umhüllte, was die Aufmerksamkeit rege machte, nein, es waren seine schwarzen, wellenförmigen Haare, seine matte Gesichtsfarbe, sein ruhiges, reines Antlitz, sein tiefes, schwermütiges Auge, endlich sein mit wunderbarer Feinheit gezeichneter Mund, der so leicht den Ausdruck stolzer Verachtung annahm, was allerBlicke auf ihn zog.
Es mochten schönere Männer da sein, aber es war kein eigenartigerer da. Alles an dem Grafen wollte etwas sagen und hatte seinen Wert, denn die Gewohnheit guter Gedanken hatte seinen Zügen, dem Ausdrucke seines Gesichtes und seiner unbedeutendsten Gebärde eine unvergleichliche Feinheit und Festigkeit verliehen.
Die Zielscheibe allerBlicke und Grüße, schritt er auf Frau von Morcerf zu, die, vor dem mitBlumen geschmückten Kamine stehend, ihn in einem der Tür gegenüber angebrachten Spiegel erscheinen sah und sich zu seinem Empfang vorbereitete. Sie wandte sich mit einembereit gehaltenen Lächeln in dem Augenblick gegen ihn um, wo er sich vor ihr verbeugte. Ohne Zweifel glaubte sie, der Graf würde mit ihr sprechen; ohne Zweifel glaubte er, sie würde das Wort an ihn richten. Doch sieblieben aufbeiden Seiten stumm, so sehr kambeiden wahrscheinlich eine alltägliche Redensart unwürdig vor, und nach einer gegenseitigenBegrüßung wandte sich Monte Christo zu Albert, der mit offener Hand auf ihn zukam.
Sie haben meine Mutter gesehen? fragte Albert.
Soeben hatte ich die Ehre, sie zubegrüßen, sagte der Graf, doch Ihren Vater habe ich noch nicht wahrgenommen.
Er steht dort in jener kleinen Gruppe von großen Politikern.
In der Tat, sagte Monte Christo, die Herren, die ich dort sehe, sind große Politiker? Ich hätte es nicht vermutet.
In diesem Augenblick fühlte Morcerf, daß man eine Hand auf seinen Arm legte.
Ah, Sie sind es, Baron! sagte er.
Warum nennen Sie michBaron? entgegnete Danglars; Sie wissen wohl, daß ich nichts auf meinen Titel halte. Es ist nicht wiebei Ihnen, Vicomte, nicht wahr, Sie halten darauf?
Allerdings, antwortete Albert, da ich, wenn ich nicht Vicomte wäre, gar nichts wäre, indes Sie IhrenBaronentitel opfern können und immer noch Millionärbleiben.
Was mir der schönste Titel unter dem Julikönigtum zu sein scheint, versetzte Danglars.
Leider, sagte Monte Christo, leider ist man nicht Millionär auf Lebenszeit, wie manBaron, Pair von Frankreich oder Akademiker ist? alsBeweis hierfür dienen die Millionäre Frank und Pullmann in Frankfurt, die soebenBankerott gemacht haben.
Wirklich? fragte Danglars erbleichend.
Meiner Treu, die Nachricht ist mir heute durch einen Kurier zugekommen; ich hatte so etwa eine Millionbei ihnen; zu rechter Zeitbenachrichtigt, forderte ich vor einem Monat Rückzahlung.
Mein Gott! versetzte Danglars, sie haben für 200 000 Franken auf mich gezogen.
Nun wissen Sie's, ihre Unterschrift ist nicht mehr als fünf Prozent wert.
Ja, aber ich erfahre es zu spät, denn ich habe ihre Unterschrift honoriert.
Gut, sagte Monte Christo, das sind 200 000 Franken, die den anderen nach…
Still! flüsterte Danglars. Sprechen Sie davon nicht, am wenigsten in Gegenwart von Herrn Cavalcanti Sohn, fügte derBankier hinzu, derbei diesen Worten sich lächelnd gegen den jungen Mann umwandte.
Morcerf hatte den Grafen verlassen, um mit seiner Mutter zu sprechen. Danglars verließ ihn, um Cavalcanti Sohn zubegrüßen. Monte Christo fand sich einen Augenblick allein.
Die Hitze sing indessen an, fürchterlich zu werden. DieBedienten gingen in den Salons mit Platten umher, die mit Früchten und verschiedenem Eisbedeckt waren. Monte Christo trocknete sich mit dem Taschentuch sein von Schweiß übergossenes Gesicht; doch er wich zurück, als die Platten an ihm vorübergetragen wurden, und nahm nichts von den Erfrischungen.
Frau von Morcerf ließ mit ihrenBlicken nicht von Monte Christo ab. Sie sah die Platte an ihm vorübergehen, ohne daß er sieberührte; sie faßte sogar dieBewegung auf, mit der er sich entfernte.
Albert, sagte sie, hast dubemerkt, daß der Graf nie etwasbei Herrn von Morcerf genießen wollte?
Ja, doch er hat an einem Frühstückbei mir teilgenommen.
Bei dir ist nichtbei dem Grafen, versetzte Mercedes, und ichbeobachte ihn, seitdem er hier ist. — Nun? — Er hat noch nichts angenommen. — Der Graf ist sehr nüchtern. — Mercedes lächelte traurig. — Nähere dich ihm, sagte sie, undbei der ersten Platte, die herumgereicht wird, dringe in ihn. — Warum das, meine Mutter? — Mache mir das Vergnügen, Albert.
Albert küßte seiner Mutter die Hand und stellte sich zu dein Grafen. Es kam eine neue Platte mit den gleichen Erfrischungen wie die vorhergehende; sie sah Albert in den Grafen dringen, selbst Eis nehmen und es ihm anbieten; doch er weigerte sich hartnäckig. Albert kehrte zu seiner Mutter zurück; die Gräfin war sehrbleich.
Nun, du siehst es, er hat sich geweigert, sagte sie.
Ja, doch wie kann Sie diesbeunruhigen?
Du weißt, Albert, die Frauen sind sonderbar. Ich hätte den Grafen mit Vergnügen irgend etwasbei mir nehmen sehen und wäre es nur ein Granatkern gewesen. Übrigens ist er vielleicht die französische Kost nicht gewöhnt und hat eine Vorliebe für irgend etwas?
Mein Gott, nein! ich sah ihn in Italien von allem nehmen; ohne Zweifel ist ihm heute abend nicht recht wohl.
Da er stets in heißen Klimaten gewohnt hat, ist er vielleicht auch minder empfindlich für die Hitze, als ein anderer, sagte die Gräfin.
Ich glaube nicht, denn erbeklagte sich, daß es zum Ersticken heiß sei, und fragte mich, warum man, da manbereits die Fenster geöffnet, nicht auch die Läden öffne.
In der Tat, das ist ein Mittel, um mir Gewißheit zu verschaffen, obdiese Enthaltsamkeit auf einembestimmten Entschlüsseberuht, sagte Mercedes und verließ den Salon.
Einen Augenblick nachher öffneten sich die Läden, man sah den ganzen Garten mit Lampenbeleuchtet und das Abendessen unter dem Zelte aufgetragen.
Tänzer und Tänzerinnen, Spieler und Plaudernde, stießen einen Freudenschrei aus, die gepreßten Lungen atmeten mit Wollust die Luft ein, die in Wellen in die Säle strömte. In diesem Augenblick erschien Mercedes wieder, bleicher als sie weggegangen war, aber mit jener, bei ihr unter gewissen Umständen merkwürdigen Energie des Gesichtsausdrucks. Sie ging gerade auf die Gruppe zu, deren Mittelpunkt ihr Gattebildete, und sagte: Herr Graf, fesseln Sie diese Herren nicht hier! Wenn sie nicht spielen, werden sie lieber die Lust im Garten einatmen, als hier ersticken.
Ah! gnädige Fran, sagte ein alter, sehr artiger General, der im Jahre 1809»Partant pour la Syrie«(Auf nach Syrien) gesungen hatte, wir gehen nicht allein in den Garten.
Gut, ich werde dasBeispiel geben, versetzte Mercedes.
Und sich zu Monte Christo wendend, sagte sie: Herr Graf, haben Sie die Güte, mir Ihren Arm zubieten. Der Graf wanktebei diesen einfachen Worten; dann schaute er Mercedes einen Moment an. Dieser Moment hatte die Geschwindigkeit einesBlitzes, und dennoch kam es der Gräfin vor, als hätte er ein Jahrhundert gedauert, so viele Gedanken hatte Monte Christo in diesen einzigenBlick gelegt.
Erbot der Gräfin seinen Arm; sie stützte sich darauf, oder sieberührte ihn vielmehr nur mit ihrer kleinen Hand, undbeide stiegen die Stufen der mit Kamelien und Rhododendren eingefaßten Freitreppe hinab.
Brot und Salz
Frau von Morcerf trat mit ihremBegleiter unter eine Lindenallee, die nach einem Treibhause führte. Nicht wahr, es war heiß im Salon, Herr Graf? sagte sie.
Ja, gnädige Frau, und Ihr Gedanke, die Türen und Läden öffnen zu lassen, war vortrefflich.
Als der Gras diese Worte sprach, bemerkte er, daß Mercedes' Hand zitterte.
Doch Sie, sagte er, mit diesem leichten Kleide und ohne ein anderes Schutzmittel um den Hals, als diesen Schal von Gaze, Ihnen ist wohl kalt?
Wissen Sie, wohin ich sie führe? sagte die Gräfin, ohne auf Monte Christos Frage zu antworten.
Nein, gnädige Frau, antwortete dieser, doch Sie sehen, ich leiste keinen Widerstand.
In das Treibhaus, das Sie dort am Ende der Allee erblicken. Der Graf schaute Mercedes an, als wollte er siebefragen; doch sie setzte ihren Weg fort, ohne etwas zu sagen, und Monte Christobliebstumm.
Sie traten in das Gebäude, das ganz mit herrlichen Früchten geschmückt war, die schon Anfang Juli in dieser künstlichen Temperatur reiften.
Mercedes verließ den Arm des Grafen und pflückte an einem Weinstock eine Muskattraube.
Nehmen Sie, Herr Graf, sagte sie mit einem so traurigen Lächeln, daß man die Tränen am Rande ihrer Augen hätte können hervorbrechen sehen, ich weiß wohl, unsere französischen Trauben sind nicht mit denen von Sizilien und Cypern zu vergleichen, doch Sie werden gegen unsere nördliche Sonne nachsichtig sein.
Der Graf verbeugte sich und machte einen Schritt rückwärts.
Sie schlagen es mir ab? fragte Mercedes mit zitternder Stimme.
Gnädige Frau, antwortete Monte Christo, ichbitte Sie demütigst um Entschuldigung, aber ich esse nie Trauben.
Ein herrlicher Pfirsich hing, wie die Weinrebe, an einem durch die künstliche Hitze des Treibhauses erwärmten Spaliere. Mercedes näherte sich der samtartigen Frucht und pflückte sie.
Nehmen Sie diesen Pfirsich, sagte sie.
Doch der Graf machte dieselbe Gebärde der Weigerung.
Abermals! sagte sie mit einem schmerzlichen Tone, daß man fühlen konnte, wie dieser Ton ein Schluchzen unterdrückte, in der Tat, ich habe Unglück.
Einbanges Schweigen folgte auf diese Szene, der Pfirsich war wie die Traube auf den Sand gefallen.
Herr Graf, sagte Mercedes, Monte Christo mit flehendem Auge anschauend, es gibt eine rührende arabische Sitte, die auf ewig die zu Freunden macht, dieBrot und Salz unter demselben Dache geteilt haben.
Ich kenne sie, gnädige Frau, antwortete der Graf, doch wir sind in Frankreich und nicht in Arabien, und in Frankreich gibt es ebensowenig ewige Freundschaften, wie eine Teilung von Salz undBrot.
Doch sprechen Sie, sagte die Gräfin, stammelnd und ihre Augen auf Monte Christos Augen heftend, den sie mit ihrenbeiden Händen am Arme faßte, nicht wahr, wir sind Freunde?
DasBlut floß zu dem Herzen des Grafen zurück, und er wurdebleich wie der Tod, dann stieg es vom Herzen aufwärts, überströmte seine Wangen, und seine Augen schwammen ein paar Sekunden lang im weiten Raume, wie die eines von einemBlendwerk getroffenen Menschen.
Gewiß sind wir Freunde, gnädige Frau, erwiderte er, warum sollten wir es auch nicht sein?
Dieser Ton war so weit von dem entfernt, den Frau von Morcerf zu hören wünschte, daß sie sich umwandte, um einen Seufzer entschlüpfen zu lassen, der einem Stöhnen glich.
Ich danke, sagte sie und schritt vorwärts.
So machten sie einen Gang durch den Garten, ohne ein einziges Wort zu sprechen.
Mein Herr, sagte plötzlich die Gräfin nach zehn Minuten einer schweigsamen Wanderung, ist es wahr, daß Sie so viel gesehen, so viele Reisen gemacht, so viel gelitten haben?
Ja, gnädige Frau, ich habe viel gelitten, antwortete er.
Aber nun sind Sie glücklich?
Allerdings, denn niemand hört mich klagen.
Und Ihr gegenwärtiges Glück hat Ihre Seelebesänftigt?
Mein gegenwärtiges Glück kommt meinem vergangenen Unglück gleich.
Sind Sie nicht verheiratet? fragte die Gräfin.
Ich verheiratet? entgegnete Monte Christobebend, wer konnte Ihnen dies sagen?
Man hat es mir nicht gesagt, aber man hat Sie wiederholt eine junge hübsche Person in die Oper führen sehen.
Es ist eine Sklavin, die ich in Konstantinopel gekauft habe; es ist die Tochter eines Fürsten, aus der ich meine Tochter mache, da ich keine andere Zuneigung auf Erden habe.
Sie leben also allein?
Ich lebe allein.
Sie haben keine Schwester… keinen Sohn… keinen Vater?
Ich habe niemand.
Wie können Sie so leben, ohne daß Sie etwas an das Daseinbindet?
Das ist nicht mein Fehler, gnädige Frau. In Malta hatte ich eine Geliebte, ich wollte sie heiraten, als der Krieg kam und mich wie ein Sturmwind von ihr fortführte. Ich hatte geglaubt, sie liebe mich hinreichend, um mich zu erwarten und sogar meinem Grabe treu zubleiben. Bei meiner Rückkehr war sie verheiratet. Das ist die traurige Geschichte des damals zwanzigjährigen Mannes. Ich hatte vielleicht ein schwächeres Herz als die andern und litt mehr, als andere an meiner Stelle gelitten haben würden.
Die Gräfinbliebeinen Augenblick stehen, alsbedürfe sie eines Haltes, um Atem zu schöpfen.
Ja, sagte sie, und diese Liebe ist Ihnen im Herzen geblieben… Man liebt nur einmal wirklich… Und Sie haben diese Frau nie wiedergesehen?
Nie, ichbin nicht nach Malta, wo sie war, zurückgekehrt. — Sie ist also in Malta? — Ich glaube. — Und haben Sie ihr die Leiden vergeben, die sie Ihnenbereitete? — Ihr, ja, — Doch nur ihr; Sie hassen immer noch die, welche Sie von ihr getrennt haben? — Ich, keineswegs; warum sollte ich sie hassen?
Die Gräfin stellte sich Monte Christo gegenüber; sie hielt noch ein Stück von der duftenden Traube in der Hand.
Nehmen Sie, sagte Mercedes.
Ich esse nie Trauben, erwiderte Monte Christo noch einmal.
Die Gräfin schleuderte die Traube mit einer Gebärde der Verzweiflung in das nächste Gebüsch.
Unbeugsam! murmelte sie.
Monte Christobliebso unempfindlich, als gälte der Vorwurf gar nicht ihm.
Albert lief in diesem Augenblick herbei und rief: Oh! meine Mutter, ein großes Unglück!
Was ist geschehen? fragte die Gräfin, und richtete sich, wie nach einem Traume zur Wirklichkeit erwachend, hoch auf; ein Unglück sagst du? In der Tat, es muß Unglück geschehen!
Herr von Villefort ist hier. — Nun? — Er kommt, um seine Frau und seine Tochter zu holen. — Warum?
Die Frau Marquise von Saint‑Meran ist mit der Nachricht in Paris angelangt, Herr von Saint‑Meran seibei seiner Abreise von Marseille auf der ersten Station gestorben. Frau von Villefort, die sehr heiter war, wollte dieses Unglück wederbegreifen, noch glauben, doch Fräulein von Villefort erriet, so vorsichtig ihr Vater auch zu Werke ging, bei den ersten Worten alles. Der Schlag traf sie wie der Donner, und sie sank ohnmächtig nieder.
Was ist denn Herr von Saint‑Meran für Fräulein von Villefort? fragte der Graf.
Ihr Großvater mütterlicherseits. Er wollte hierherkommen, um die Heirat seiner Enkelin mit Franz zubeschleunigen.
Ah! wirklich?
Franz hat nun Aufschub, fiel Albert ein. Warum ist Herr von Saint‑Meran nicht ebenso auch Fräulein Danglars' Großvater?
Albert! Albert! versetzte Frau von Morcerf im Tone zarten Vorwurfs, was sagst du da? Ah! Herr Graf, Sie, für den er so große Achtung hegt, sagen Sie ihm, daß er übel gesprochen habe!
Und sie machte einige Schritte vorwärts.
Monte Christo schaute sie so seltsam und mit einem zugleich so träumerischen und von liebevollerBewunderung erfüllten Ausdruck an, daß sie zurückkehrte.
Dann nahm sie seine Hand, drückte zugleich die ihres Sohnes und sagte, beide aneinander pressend: Nicht wahr, wir sind Freunde?
Oh! Ihr Freund, gnädige Frau? erwiderte Monte Christo, ich habe nicht diese Anmaßung, doch jedenfallsbin ich Ihr ehrerbietiger Diener.
Die Gräfin entfernte sich mit unaussprechlich gepreßtem Herzen, und ehe sie zehn Schritte gemacht hatte, sah sie der Graf ihr Taschentuch an die Augen drücken.
Sind Sie uneins, meine Mutter und Sie? fragte Albert erstaunt.
Im Gegenteil, da sie mir in Ihrer Gegenwart gesagt hat, wir seien Freunde, antwortete der Graf. Und sie kehrten in den Salon zurück, den Valentine und Herr und Frau von Villefort soeben verlassen hatten.
Es versteht sich von selbst, daß Morel gleich nach ihnen weggegangen war.
Frau von Saint‑Meran
Es war wirklich eine düstere Szene im Hause des Herrn von Villefort vorgefallen.
Nachdem die drei Damen auf denBall gegangen waren, wohin trotz allerBitten der Frau von Villefort ihr Gatte sie nichtbegleiten wollte, schloß sich der Staatsanwalt, seiner Gewohnheit gemäß, in sein Kabinett mit einem Haufen von Akten ein, der jeden andern erschreckt, der jedoch im gewöhnlichen Laufe der Dinge seinen kräftigen Arbeitshunger kaumbefriedigt hätte.
Doch diesmal waren die Aktenstöße nur Sache der Form, Villefort schloß sich nicht ein, um zu arbeiten, sondern um nachzudenken. Nachdem derBefehl gegeben war, ihn nurbei Vorfällen von großer Wichtigkeit zu stören, setzte er sich in seinen Lehnstuhl und fing noch einmal an, alles zu erwägen, was seit siebenbis acht Tagen denBecher seines finstern Kummers und seinerbittern Erinnerungen überströmen ließ.
Sodann öffnete er eine Schublade seines Schreibtisches und zog dasBündel mit seinen persönlichen Noten hervor,… wertvolle Manuskripte, auf denen er auch mit Ziffern, die nur ihmbekannt waren, die Namen aller derer verzeichnet hatte, die auf seiner politischen Laufbahn, bei seinen Finanzoperationen, bei seiner Tätigkeit als Staatsanwalt oderbei seinen geheimen Liebschaften seine Feinde geworden waren.
Ihre Zahl schien ihm heute, wo er zu zittern anfing, furchtbar, und doch hatten ihn alle diese Namen, so mächtig ihre Träger auch waren, oft lächeln lassen, wie der Reisende lächelt, der von dem höchsten Gipfel des Gebirges herabzu seinen Füßen die spitzigen Felsen, die rauhen, beschwerlichen Wege und die Ränder der Abgründe erblickt, an denen er, um auf die Höhe zu gelangen, so lange und so mühsam hatte umherklettern müssen.
Als er alle diese Namen durchgegangen, als er sie wiedergelesen, wohlerwogen und in seinen Listen mitBemerkungen versehen hatte, schüttelte er den Kopf und murmelte: Nein, keiner dieser Feinde hätte geduldig und in der Stille arbeitendbis zu dem Tage gewartet, zu dem wir nun gelangt sind, um mich jetzt erst mit diesem Geheimnis niederzuschmettern. Zuweilen, wie Hamlet sagt, dringt das Geräusch der am tiefsten verborgenen Dinge aus der Erde hervor und tanzt wie das Feuer des Phosphors, toll in der Luft umher; doch dies sind Flammen, die nur einen Augenblick leuchten, um irrezuleiten. Die Geschichte wird von dem Korsen irgend einem Priester erzählt worden sein, der sie seinerseits weiter erzählt hat. Herr von Monte Christo wird sie erfahren haben, und um sich aufzuklären…
Doch wozu sich aufklären? fuhr Herr von Villefort nach kurzem Nachdenken fort; welches Interesse kann Herr von Monte Christo, Herr Zaccone, der Sohn eines maltesischen Reeders, derBesitzer eines thessalischen Silberbergwerks, der zum erstenmal nach Frankreich kommt, welches Interesse kann er haben, sich über eine geheime Tat, wie diese, aufzuklären? Aus all den unzulänglichen Nachrichten, die mir von diesem AbbéBusoni und von diesem Lord Wilmore, von dem Freunde und dem Feinde, gegeben worden sind, ergibt sich eines klar und zweifellos: In keiner Zeit, in keinem Fall, unter keinen Umständen kann die geringsteBerührung zwischen ihm und mir stattgefunden haben.
Doch Herr von Villefort sagte dies, ohne selbst daran zu glauben. Das Schrecklichste für ihn war nicht die Enthüllung, denn er konnte leugnen oder sich sogar verantworten. Wenig kümmerte ihn das» Mene, tekel, upharsin«, das plötzlich inblutigenBuchstaben an der Wand erschien; aber esbekümmerte ihn, daß er den Körper nicht kannte, dem die schreibende Hand angehörte.
In dem Augenblick, wo er sich selbst zuberuhigen suchte und sich, statt der politischen Zukunft, die er in seinen ehrgeizigen Träumen zuweilen in der Ferne erblickt hatte, aus Furcht, diesen seit langer Zeit schlummernden Feind zu wecken, eine auf die Freuden des häuslichen Herdesbeschränkte Zukunft ausmalte, erscholl das Geräusch eines Wagens im Hofe. Dann hörte er auf seiner Treppe den Gang einerbetagten Person und Schluchzen und Wehklagen.
Er stieß schnell den Riegel seiner Tür zurück, undbald trat eine alte Dame ein, ohne angemeldet zu sein, ihren Schal auf dem Arm und ihren Hut in der Hand haltend. Unter ihren weißen Haaren trat eine Stirn, matt wie vergilbtes Elfenbein, hervor, und ihre Augen, in deren Ecken das Alter tiefe Runzeln gegraben hatte, verschwandenbeinahe unter der Anschwellung vom Weinen.
Oh! mein Herr, sagte sie, oh! mein Herr, welch ein Unglück, ich werde auch sterben; oh! ja, ich sterbe sicherlich ebenfalls.
Und sie sank in den Lehnstuhl, welcher der Tür zunächst stand, undbrach in ein Schluchzen aus.
DieBedienten, die auf der Schwelle standen und nicht weiter zu gehen wagten, schauten Noirtiers alten Diener an, der, als er das Geräusch vernahm, aus den Zimmern seines Herrn herbeilief. Villefort stand auf und ging auf seine Schwiegermutter zu, denn sie war es.
Mein Gott! was ist denn vorgefallen? fragte er, wasbeugt Sie so sehr nieder? Begleitet Sie Herr von Saint‑Meran nicht?
Herr von Saint‑Meran ist tot, sagte die alte Marquise, ohne Einleitung, ohne Ausdruck und mit einer Art von Stumpfsinn.
Villefort wich einen Schritt zurück, schlug seine Hände aneinander und stammelte: Tot?… So gestorben, so plötzlich gestorben?
Vor acht Tagen, sagte Fran von Saint‑Meran, stiegen wir nach Tische miteinander in den Wagen. Herr von Saint‑Meran war seit einiger Zeit leidend; doch der Gedanke, unsere liebe Valentine wiederzusehen, machte ihn mutig, und er wollte, trotz seiner Schmerzen, abreisen. Sechs Stunden von Marseille wurde er aber, nachdem er seine gewöhnlichen Pillen verschluckt hatte, von einem so tiefen Schlafe ergriffen, daß es mir ganz unnatürlich vorkam. Plötzlich schien sich sein Gesicht zu röten und die Adern seiner Schläfe heftiger als gewöhnlich zu schlagen. Da jedoch die Nacht eingebrochen war und ich nichts mehr sah, so ließ ich ihn schlafen; bald stieß er einen dumpfen, schmerzhaften Schrei aus, wie ein Mensch, der im Traume leidet, und warf mit einer ungestümenBewegung seinen Kopf zurück. Ich ließ den Postillon halten, rief laut den Namen meines Gatten, wollte ihn an meinem Flacon mit flüchtigen Salzen riechen lassen, aber alles war vorbei, er war tot, und ich kam mit seinem Leichnam in Aix an.
Villefort stand ganz verwundert und mit offenem Munde vor der alten Dame.
Sie ließen ohne Zweifel einen Arzt rufen?
Auf der Stelle; doch es war, wie gesagt, zu spät.
Allerdings; aber er vermochte doch wenigstens zu erkennen, an welcher Krankheit der arme Marquis gestorben war?
Mein Gott, ja! Er sagte mir, es scheine ein Schlagfluß gewesen zu sein.
Und was taten Sie sodann?
Herr von Saint‑Meran äußerte stets, wenn er fern von Paris sterben sollte, so wünsche er, daß man seinen Körper in die Familiengruftbringe. Ich ließ ihn in einenbleiernen Sarg legen und reiste ihm um ein paar Tage voran.
Oh Gott! arme Mutter! sagte Villefort, solche Sorgen, nach einem solchen Schlage und in Ihrem Alter!
Gott hat mirbis zum Ende Kraft verliehen; überdies hätte er sicherlich für mich getan, was ich für ihn getan habe. Es ist wahr, seitdem ich ihn dort verließ, komme ich mir wie wahnsinnig vor. Ich kann nicht mehr weinen: wohl sagt man, in meinem Alter habe man keine Tränen mehr; es scheint mir jedoch, solange man leidet, sollte man weinen können. Wo ist Valentine, mein Herr? Ihr zu Liebe kehrten wir zurück; ich will meine Valentine sehen.
Villefort mochte nicht antworten, Valentine sei auf einemBall, und sagte der Marquise mir, ihre Enkelin sei mit ihrer Stiefmutter ausgefahren, und man werde siebenachrichtigen. Auf der Stelle, mein Herr, auf der Stelle, ichbitte Sie, sagte die alte Dame.
Villefort nahm den Arm der Frau von Saint‑Meran unter den seinen und führte sie in ihre Wohnung.
Ruhen Sie aus, meine Mutter, sagte er.
Die Marquise schautebei diesen Worten empor, und als sie den Mann sah, der sie an ihre so sehrbeklagte Tochter erinnerte, die für sie in Valentine wieder auflebte, fühlte sie sich durch den Namen Mutter erschüttert, brach in Tränen aus und sank auf die Knie vor einem Polsterstuhl, in dem sie ihr ehrwürdiges Hauptbegrub.
Villefort empfahl sie der Sorge der Frauen, während der alteBarrois ganz erschrocken wieder zu seinem Herrn hinausstieg; denn nichts erschreckt die Greise so sehr, als wenn der Tod einen Augenblick ihre Seite verläßt, um einen andern Greis zu treffen.
Während Frau von Saint‑Meran immer noch knieend aus der Tiefe ihres Herzensbetete, ließ Villefort einen Wagen kommen und suchtebei Frau von Morcerf seine Frau und seine Tochter selbst auf, um sie nach Hanse zu führen.
Er war sobleich, als er auf der Schwelle des Salons erschien, daß ihm Valentine mit dem Ausruf entgegenlief: Oh, mein Vater! es ist irgend ein Unglück geschehen!
Deine gute Mama ist soeben angekommen, Valentine, sagte Herr von Villefort.
Und mein Großvater? fragte das Mädchen zitternd. Herr von Villefort antwortete nur, indem er seiner Tochter den Armbot.
Es war Zeit; Valentine wankte, vom Schwindel ergriffen; Frau von Villefortbeeilte sich, sie zu unterstützen, und half ihrem Manne sie nach dem Wagenbringen.
Das ist doch seltsam, sagte Frau von Villefort, wer hätte das vermuten können? Oh! das ist seltsam.
Und die ganze Familie entfernte sich so und warf einen traurigen Schatten wie einen schwarzen Mantel auf den übrigen Abend.
Unten an der Treppe fand ValentineBarrois, der auf sie wartete. — Herr Noirtier wünscht Sie heute abend zu sehen, flüsterte er ihr zu.
Sagen Sie ihm, ich werde zu ihm kommen, sobald ich meine gute Großmutter verlasse, sprach Valentine.
In seinem Zartgefühle hatte das Mädchenbegriffen, daß zu dieser Stunde Frau von Saint‑Meran am meisten seinerbedürfe. Valentine traf ihre Großmutter imBett; stumme Liebkosungen, schmerzhafte Herzenswallungen, unterbrochene Seufzer, brennende Tränenbegleiteten dieses Wiedersehen, dem am Arme ihres Gatten Frau von Villefortbeiwohnte, anscheinend voll Achtung für die unglückliche Witwe.
Nach einem Augenblick neigte sie sich an das Ohr ihres Gatten und sagte: Ich will mich mit Ihrer Erlaubnis entfernen, denn mein Anblick scheint Ihre Schwiegermutter noch mehr zubetrüben.
Frau von Saint‑Meran hörte dies und flüsterte Valentine zu: Ja, ja, sie mag gehen, aber dubleibst. Frau von Villefort entfernte sich, und Valentineblieballein amBette ihrer Großmutter; denn, bestürzt über diesen unvorhergesehenen Tod, folgte der Staatsanwalt seiner Frau.
Barrois war indessen wieder zu dem alten Noirtier hinausgegangen; dieser hatte den ganzen Lärm gehört und, wie gesagt, seinen Diener abgeschickt, um sich erkundigen zu lassen.
Bei seiner Rückkehrbefragte das lebendige und gescheite Auge denBoten. Ach! Herr, sagteBarrois, ein großes Unglück ist geschehen, Frau von Saint‑Meran ist angekommen, und ihr Gemahl ist tot.
Herr von Saint‑Meran und Noirtier waren nie durch enge Freundschaft verbunden gewesen; man weiß aber, welche Wirkung die Kunde vom Tode eines Altersgenossen stets auf einen Greis hervorbringt. Noirtier ließ das Haupt auf dieBrust sinken, dann schloß er das linke Auge.
Fräulein Valentine? sagteBarrois.
Noirtier machte einbejahendes Zeichen.
Sie ist auf demBall, wie der gnädige Herr wohl weiß, denn sie kam in großer Toilette hierher, um Abschied zu nehmen.
Noirtier schloß abermals das linke Auge.
Ja, Sie wollen sie sehen.
Der Greisbedeutete durch ein Zeichen, daß er es wünsche.
Nun, man wird sie ohne Zweifelbei Frau von Morcerf holen; ich erwarte ihre Rückkehr und sage ihr, sie möge heraufkommen. Ist es so recht?
Ja, antwortete der Gelähmte.
Barrois wartete, wie wir gesehen, auf Valentines Rückkehr und teilte ihr den Wunsch ihres Großvaters mit, und so ging sie auch zu Noirtier hinauf, als sie Frau von Saint‑Meran verließ, die, so aufgeregt sie auch war, endlich der Müdigkeit unterlag und in einen fieberhaften Schlaf verfiel. Man hatte in denBereich ihrer Hand einen Tisch gestellt, auf dem eine Flasche mit Orangeade, ihrem gewöhnlichen Getränk, und ein Glas standen.
Valentine umarmte den Greis, der sie so zärtlich anschaute, daß das Mädchen abermals Tränen, deren Quelle es versiegt glaubte, seinen Augen entstürzen fühlte.
Der Greis verharrtebei seinemBlicke.
Ja, ja, sagte Valentine, du willst mir sagen, ich habe immer noch einen guten Großvater?
Der Greisbedeutete durch ein Zeichen, daß er wirklich dies habe durch seinenBlick sagen wollen.
Ach! zum Glücke, versetzte Valentine. Mein Gott, was würde sonst aus mir werden?
Es war ein Uhr morgens. Barrois hatte Lust, sich niederzulegen, undbemerkte daher, nach einem so schmerzhaften Abendbedürfe jedermann der Ruhe. Der Greis wollte nicht sagen, seine Ruhe sei es, sein Kind anzuschauen. Er verabschiedete Valentine, der die Ermattung und der Schmerz in der Tat ein leidendes Aussehen verliehen.
Als sie am andern Morgenbei ihrer Großmutter eintrat, fand sie diese imBette; das Fieber hatte sich nicht gelegt, esbrannte im Gegenteil ein düsteres Feuer in den Augen der Marquise, und sie schien das Opfer einer heftigen Nervenaufregung zu sein.
Oh! mein Gott! gute Mama, leiden Sie mehr? rief Valentine, als sie diese Zeichen der Aufregung wahrnahm.
Nein, meine Tochter, nein, sagte Frau von Saint‑Meran; aber ich erwartete mit Ungeduld dein Erscheinen, um deinen Vater holen zu lassen.
Meinen Vater? fragte Valentine unruhig.
Ja, ich will ihn sprechen.
Valentine wagte es nicht, sich dem Wunsche ihrer Großmutter, dessen Ursache sie überdies nicht kannte, zu widersetzen, und einen Augenblick nachher trat Villefort ein.
Mein Herr, sagte Frau von Saint‑Meran, ohne irgend einen Eingang und alsbefürchtete sie, es könnte ihr an Zeit gebrechen, Sie haben mir geschrieben, es handle sich um die Verheiratung dieses Kindes?
Ja, gnädige Frau, antwortete Villefort, und es ist sogar mehr als ein Plan, es ist ein Abkommen.
Ihr Schwiegersohn heißt Franz d'Epinay?
Ja, gnädige Frau.
Er ist der Sohn des Generals d'Epinay, der zu den Unseren gehörte, und einige Tage, ehe der Usurpator von der Insel Elba zurückkehrte, ermordet wurde?
So ist es.
Diese Verbindung mit einer Enkelin des Jakobiners widerstrebt ihm nicht?
UnsereBürgerkämpfe sind glücklicherweise vorüber, meine Mutter, sagte Villefort; Herr d'Epinay warbei dem Tode seines Vatersbeinahe ein Kind; er kennt Herrn Noirtier sehr wenig, und wird ihn, wenn nicht mit Vergnügen, doch wenigstens mit Gleichgültigkeit sehen.
Ist er eine schickliche Partie?
In jederBeziehung, der junge Mann erfreut sich allgemeiner Achtung.
Während dieser ganzen Unterredung war Valentine stumm geblieben.
Wohl, mein Herr, sagte Frau von Saint‑Meran nach kurzem Nachdenken, Sie müssen sichbeeilen, denn ich habe wenig Zeit mehr zu leben.
Sie, gnädige Frau! Sie, gute Mutter! riefen gleichzeitig Herr von Villefort und Valentine.
Ich weiß, was ich sage, versetzte die Marquise; Sie müssen sich alsobeeilen, damit, da es die Mutter nicht vermag, wenigstens die Großmutter ihre Ehe segnen kann. Ichbin die einzige, die ihr noch von seiten meiner armen Renéebleibt, die Sie so schnell vergessen haben, mein Herr.
Ah! Siebedenken nicht, daß ich diesem armen Kinde eine Mutter geben mußte.
Eine Stiefmutter ist nie eine Mutter, mein Herr. Doch es handelt sich nicht darum, sondern um Valentine; lassen wir die Toten ruhen.
Alles dies wurde mit einer solchen Geschwindigkeit und mit einem Ausdrucke gesprochen, daß es schien, die Aufregung der Kranken gehe in ein Delirium über.
Es soll nach Ihrem Wunsche gehen, sagte Villefort, und dies um so mehr, als Ihr Wunsch mit dem meinigen im Einklang steht. Sobald Herr d'Epinay nach Paris zurückgekehrt ist…
Meine gute Mutter, unterbrach ihn Valentine, die Schicklichkeit, die neue Trauer… würden Sie eine Ehe unter so trüben Umständen schließen wollen?
Meine Tochter, versetzte rasch die Großmutter, keine solchen Alltagsreden, die schwache Geister hindern, auf solide Weise ihre Zukunft zu gründen. Ich habe auch am Sterbebette meiner Mutter geheiratet undbin darum nicht unglücklich gewesen.
Abermals dieser Todesgedanke! rief Villefort.
Abermals! immer… ich sage Ihnen, daß ich sterben werde, hören Sie? Nun wohl! ehe ich sterbe, will ich meinen Eidam sehen; ich will ihmbefehlen, meine Enkelin glücklich zu machen, ich will in seinen Augen lesen, ober mir gehorchen will; kurz, ich will ihn kennen lernen, um ihn aus der Tiefe meines Grabes aufzusuchen, wenn er nicht wäre, was er sein soll, wenn er nicht wäre, was er sein muß, fügte die alte Frau mit einem furchtbaren Ausdrucke hinzu.
Gnädige Frau, sagte Villefort, Sie müssen die aufgeregten Gedanken, die fast an Wahnsinn grenzen, von sich entfernen. Liegen die Toten einmal in ihren Gräbern, so schlafen sie darin, um sich nie mehr zu erheben.
Oh ja, ja, gute Mutter! beruhige dich, rief Valentine.
Und ich, mein Herr, sage Ihnen, daß es nicht so ist, wie Sie glauben. Diese Nacht lag ich in furchtbarem Schlafe; denn ich sah mich gleichsam schlummern, als obmeine Seelebereits über meinem Leibe schwebte. Meine Augen, die ich gewaltsam offen halten wollte, schlossen sich unwillkürlich, und dennoch, ich weiß wohl, daß Ihnen dies unmöglich vorkommen wird, Ihnen, mein Herr,… ich sah mit geschlossenen Augen, auf derselben Stelle, wo Sie sind, aus jener Ecke kommend, in der eine Tür ist, die nach dem Ankleidezimmer von Frau von Villefort geht, geräuschlos eine weiße Gestalt hervortreten.
Valentine stieß einen Schrei aus.
Das Fieber hat Sie aufgeregt, sagte Villefort.
Zweifeln Sie, wenn Sie wollen, doch ichbin dessen, was ich sage, gewiß. Ich sah eine weiße Gestalt; und als sollte ich durch das Zeugnis eines andern Sinnes nochbestärkt werden, hörte ich das Glas rücken, das hier auf dem Tische steht.
Oh! gute Mutter, das war ein Traum.
Es war so wenig ein Traum, daß ich die Hand nach der Glocke ausstreckte und daß der Schattenbei dieser Gebärde verschwand. Die Kammerfrau trat mit einem Lichte ein.
Doch sie hat niemand gesehen?
Die Geister zeigen sich nur denen, die sie sehen sollen, es war die Seele meines Mannes.
Oh, sagte Villefort, unwillkürlich in der innersten Tiefe erschüttert, gestatten Sie diesen finstern Gedanken keinen Einfluß; Sie werden mit uns leben, Sie werden lange Zeit glücklich, geliebt, geehrt leben, und wir werden machen, daß Sie vergessen…
Nie, nie, nie! rief die Marquise. Wann kommt Herr d'Epinay zurück?
Wir erwarten ihn jeden Augenblick.
Es ist gut; sobald er angekommen ist, benachrichtigen Sie mich. Eilen wir, eilen wir. Dann möchte ich auch gern einen Notar sehen, um mich zu vergewissern, daß unsere ganze Habe Valentine zukommt.
Oh! meine Mutter, murmelte Valentine, ihre Lippen auf die glühende Stirn der alten Frau drückend; Sie wollen mich also töten? Mein Gott! Sie haben Fieber, nicht einen Notar muß man rufen, sondern einen Arzt!
Einen Arzt! sagte sie, die Achseln zuckend, ich leide nicht, ich habe nur Durst.
Was trinken Sie denn, gute Mama?
Du weißt, wie immer meine Orangeade. Mein Glas steht dort, dort auf dem Tische, gibes mir, Valentine.
Valentine goß die Orangeade aus der Flasche in ein Glas, nahm dieses mit unwillkürlichem Schrecken und gabes ihrer Großmutter, denn es war dasselbe Glas, das, wie siebehauptete, der Schattenberührt hatte.
Die Marquise leerte das Glas auf einen Zug. Dann drehte sie sich auf ihrem Kopfkissen um und wiederholte: Den Notar! den Notar!
Herr von Villefort ging weg, Valentine setzte sich an dasBett ihrer Großmutter. Die Arme schien selbst sehr des Arztes zubedürfen, den sie der alten Frau empfohlen hatte. Eine flammenartige Rötebrannte auf ihren Wangen, ihr Atem war kurz und keuchend, und ihr Puls schlug, als obsie Fieber hätte. Der Grund war, daß sie an Maximilians Verzweiflung dachte, wenn er erfahren würde, daß Frau von Saint‑Meran, statt eine Verbündete zu sein, ohne ihn zu kennen, handelte, als obsie seine Feindin wäre.
Mehr als einmal dachte Valentine daran, ihrer Großmutter alles zu sagen, und sie würde keinen Augenblick gezögert haben, hätte Maximilian Morel Albert von Morcerf oder Raoul von Chateau‑Renaud geheißen. Aber Morel war von plebejischer Abkunft, und Valentine kannte die Verachtung, welche die stolze Marquise von Saint‑Meran gegen alles hegte, was nicht von Adel war. Ihr Geheimnis war also stets in dem Augenblick, wo es zu Tage treten wollte, durch die traurige Gewißheit zurückgedrängt worden, daß sie es unnötig preisgeben würde, und daß alles verloren wäre, wenn das Geheimnis einmal zur Kenntnis ihres Vaters oder ihrer Stiefmutter gelangt sei.
So vergingen etwa zwei Stunden, während deren Frau von Saint‑Meran in heißem, unruhigem Schlafe lag. Man meldete den Notar.
Obgleich diese Meldung sehr leise gemacht wurde, erhobsich doch Frau von Saint‑Meran aus ihrem Kopfkissen. Der Notar war an der Tür, er trat ein.
Geh, Valentine, sagte Frau von Saint‑Meran, und laß mich mit diesem Herrn allein.
Aber, meine Mutter…
Geh, geh.
Das Mädchen küßte ihre Großmutter auf die Stirn und entfernte sich, ihr Taschentuch vor den Augen. An der Tür fand Valentine den Kammerdiener, der ihr sagte, der Arzt warte im Salon.
Valentine ging rasch hinab. Der Arzt war ein Freund der Familie und zugleich einer der geschicktesten Männer der Zeit; er liebte Valentine, die er zur Welt hatte kommen sehen, ungemein. Erbesaß eine Tochter, ungefähr von dem Alter Valentines; doch diese Tochter war von einerbrustkranken Mutter geboren, und der Arzt lebte inbeständiger Angst um sein Kind.
Ah, sagte Valentine, mein lieber Herr d'Avrigny, wir erwarteten Sie mit Ungeduld. Doch vor allem, wiebefinden sich Madeleine und Antoinette?
Madeleine war Herrn d'Avrignys Tochter und Antoinette seine Nichte.
Herr d'Avrigny antwortete traurig lächelnd: Antoinette sehr gut, Madeleine ziemlich gut. Sie haben mich holen lassen, liebes Kind. Es ist weder Ihr Vater, noch Frau von Villefort krank? Was Sie selbstbetrifft, so sehe ich zwar, daß Sie sich von Ihren Nerven nicht freimachen können, glaube aber doch, daß Sie meiner sonst nichtbedürfen, als meines Rates, Ihre Einbildungskraft nicht so auf weitem Felde umherschweifen zu lassen.
Valentine errötete; Herr d'Avrigny triebdie Wissenschaft der Divinationbis zum Wunderbaren, denn er war einer von den Ärzten, welche das Körperliche stets auf geistigem Wegebehandeln.
Nein, sagte sie, man hat Sie meiner armen Großmutter wegen gerufen. Nicht wahr, Sie wissen, welch ein Unglück uns widerfahren ist?
Ich weiß es nicht.
Ach! sagte Valentine, ein Schluchzen unterdrückend, mein Großvater ist gestorben.
So plötzlich?
An einem Schlagfluß.
An einem Schlagfluß? wiederholte der Arzt.
Ja. Und meine arme Großmutter hat nun der Gedanke erfaßt, ihr Gatte, den sie nie verlassen, rufe sie, und sie werdebald mit ihm vereinigt sein. Oh! Herr d'Avrigny, gehen Sie zu meiner armen Großmutter, sie ist in ihrem Zimmer, mit dem Notar.
Gut, ich eile, und Herr Noirtier?
Immer derselbe, vollkommene Klarheit und Schärfe des Geistes, aber auch dieselbe Unbeweglichkeit, dieselbe Stummheit.
Und dieselbe Liebe für Sie, nicht wahr, mein gutes Kind?
Ja, erwiderte Valentine mit einem Seufzer, er liebt mich sehr.
Wer sollte Sie nicht lieben?
Valentine lächelte traurig.
Und woran leidet Ihre Großmutter?
An einer sonderbaren Nervenaufregung; ihr Schlaf ist unruhig und seltsam. Siebehauptete heute morgen, während ihres Schlummers schwebe ihre Seele über dem Körper, und das ist doch Delirium; sie versichert mir, sie habe einen Geist in ihr Zimmer treten sehen und das Geräusch gehört, das der Geist, als er ihr Glasberührte, gemacht habe.
Das ist sonderbar, äußerte der Doktor, ich wußte nicht, daß Frau von Saint‑Meran solchen Sinnestäuschungen unterworfen ist.
Es ist das erste Mal, daß ich sie so gesehen habe, entgegnete Valentine, und es wurde mir sehr angst um sie, denn ich hielt sie für wahnwitzig, und mein Vater, — Sie kennen meinen Vater gewiß als einen ernsten Mann, — nun selbst auf meinen Vater schien die Sache einen starken Eindruck hervorzubringen.
Wir werden sehen, versetzte Herr d'Avrigny; was Sie mir da sagen, kommt mir ganz eigentümlich vor.
Der Notar entfernte sich, und manbenachrichtigte Valentine, ihre Großmutter sei allein.
Gehen Sie mit hinauf? fragte der Doktor.
Oh! ich wage es nicht, sie hat mir verboten, Sie holen zu lassen! Dannbin ich, wie Sie sagen, selbst aufgeregt, fieberhaft, mißgestimmt; ich will einen Gang in den Garten machen, um mich zu erholen.
Der Doktor drückte Valentine die Hand, und während er zu ihrer Großmutter hinaufging, stieg sie die Freitreppe hinab.
Wirbrauchen nicht zu sagen, welcher Teil des Gartens Valentines Lieblingsspaziergang war. Nachdem sie zwei oder dreimal an demBlumenbeete hin und her gewandert, welches das Haus umgab, nachdem sie eine Rose gepflückt, um sie in ihren Gürtel oder in ihre Haare zu stecken, wandelte sie gewöhnlich unter der düsteren Allee fort, die zu derBank führte, und von derBankbegabsie sich zu dem Gitter.
Diesmal machte Valentine, ihrer Gewohnheit gemäß, mehrere Gänge unter denBlumen, doch ohne eine zu pflücken, ihr Herz war zu traurig; dann wandte sie sich der Allee zu. Während sie weiter schritt, kam es ihr vor, als hörte sie ihren Namen rufen. Siebliebstehen.
Da gelangte der Ton deutlicher au ihr Ohr, und sie erkannte Maximilians Stimme.
Das Versprechen
Es war wirklich Morel, der seit dem Tage vorher entsetzlich litt; mit dem gesteigerten Ahnungsvermögen des Liebenden hatte er sich gesagt, daß infolge dieser Rückkehr der Frau von Saint‑Meran und des Todes ihres Gemahlsbei Villefort etwas vorgehe, was für seine Liebe für Valentine vonBedeutung sei.
Als sie erschien, rief ihr Morel, und sie lief an das Gitter.
Sie zu dieser Stunde hier? fragte sie.
Ja, arme Freundin, antwortete Morel. Ich komme, um schlimme Nachrichten zu holen und zubringen.
Es ist also ein Unglückshaus! sagte Valentine; sprechen Sie, Maximilian; doch in der Tat, die Summe der Schmerzen ist schon groß genug.
Liebe Valentine, erwiderte Morel, der sich von seiner eigenen Aufregung zu erholen suchte, um auf die rechte Weise sprechen zu können, hören Sie mich wohl, ichbitte Sie; denn alles, was ich Ihnen sagen werde, ist ernst undbedeutungsvoll. Um welche Zeit gedenkt man Sie zu verheiraten?
Glauben Sie mir, ich will Ihnen nichts verbergen, Maximilian, sagte Valentine. Heute morgen sprach man von meiner Heirat, und meine Großmutter, auf die ich als sichere Stütze rechnete, hat sich nicht nur für diese Heirat erklärt, sondern wünscht sie sobeschleunigt, daß nur auf die Rückkehr des Herrn d'Epinay gewartet wird, um den Vertrag zu unterzeichnen.
Ein schmerzlicher Seufzer öffnete dieBrust des jungen Mannes; er schaute das Mädchen lange und traurig an und entgegnete sodann: Ah! es ist schrecklich, die Frau, die man liebt, ruhig sagen zu hören: Der Augenblick deiner Hinrichtung istbestimmt; sie wird in einigen Stunden stattfinden. Doch gleichviel, es muß so sein, und ich werde keinen Widerstand leisten. Gut also! da man, wie Sie sagen, nur Herrn d'Epinay erwartet, um den Vertrag zu unterzeichnen, da Sie den Tag nach seiner Ankunft ihm gehören sollen, so sind Sie morgen mit Herrn d'Epinay verbunden, denn er ist heute in Paris angekommen.
Valentine stieß einen Schrei aus.
Ich war vor einer Stundebei dem Grafen von Monte Christo, fuhr Morel fort, wir sprachen, er vom Schmerze Ihres Hauses, ich von Ihrem Schmerze, als plötzlich ein Wagen in den Hof rollte. Hören Sie, bis dahin glaubte ich nicht an Ahnungen, Valentine, aber nun muß ich wohl daran glauben: bei dem Geräusche dieses Wagens erfaßte mich ein Schauer; bald hörte ich Tritte auf der Treppe; der schallende Gang des Gouverneurs hatte Don Juan nicht so erschreckt, wie diese Tritte mich erschreckten. Endlich öffnete sich die Tür, Albert von Morcerf erschien zuerst, ich zweifelte an mir selbst, ich glaubte, ich hätte mich getäuscht, als hinter ihm ein anderer junger Mann kam, und der Graf ausrief: Ah! der HerrBaron von Epinay!
Alles, was ich an Kraft und Mut im Herzen habe, rief ich zu Hilfe, um mich zu fassen. Vielleicht erbleichte ich, vielleicht zitterte ich, aber sicherlichbliebein Lächeln auf meinen Lippen; doch fünf Minuten nachher ging ich weg, ohne ein Wort von dem gehört zu haben, was während dieser fünf Minuten gesprochen wurde; ich war vernichtet.
Armer Maximilian! murmelte Valentine.
Und hierbin ich nun, Valentine. Antworten Sie mir, wie einem Manne, dem Ihre Antwort das Leben oder den Tod geben wird: Was gedenken Sie zu tun?
Valentine neigte das Haupt; sie warbetäubt.
Hören Sie, sagte Morel, es ist nicht das erste Mal, daß Sie an die Lage denken, in die wir nun gekommen sind; sie ist ernst, sie ist dringend, sieberührt die äußerste Grenze. Ich glaube nicht, daß dies der Augenblick ist, um sich einem unfruchtbaren Schmerze hinzugeben; das mag gut für die sein, die inBequemlichkeit leiden und ihre Zähren mit Muße trinken wollen. Es gibt solche Menschen, und Gott wird ihnen im Himmel ohne Zweifel ihre Resignation hienieden anrechnen; aber wer den Willen in sich fühlt, zu kämpfen, verliert keine kostbare Zeit und gibt dem Schicksal den Schlag, den er von ihm empfangen hat, unmittelbar zurück. Sagen Sie, Valentine, ich komme, um Sie zu fragen: Ist es Ihr Wille, gegen das üble Geschick anzukämpfen?
Valentinebebte und schaute Morel mit großen, starren Augen an. Der Gedanke, ihrem Vater, ihrer Großmutter, ihrer ganzen Familie zu widerstehen, war ihr nicht einmal in den Kopf gekommen.
Was sagen Sie, Maximilian? Und was nennen Sie einen Kampf? Nennen Sie es lieber eine Ruchlosigkeit! Wie, ich sollte demBefehl meines Vaters, dem Wunsch meiner sterbenden Großmutter widerstehen? Das ist unmöglich.
Morel machte eineBewegung.
Sie sind ein zu edles Herz, um mich nicht zu verstehen, und Sie verstehen mich so gut, lieber Maximilian, daß ich sehe, Sie erwidern mir nichts. Ich kämpfen? Gott soll michbehüten! Nein, nein, ichbewahre meine ganze Kraft, um gegen mich selbst zu kämpfen und meine Zähren zu trinken, wie Sie sagen; meinen Vaterbekümmern, die letzten Augenblicke meiner Großmutter trüben… niemals!
Sie haben ganz recht, sagte Morel gelassen.
Mein Gott! wie Sie mir das sagen! rief Valentine verletzt.
Ich sage Ihnen das, wie ein Mann, der Siebewundert, mein Fräulein, erwiderte Maximilian.
Mein Fräulein! rief Valentine, mein Fräulein, oh der Selbstsüchtige! Er sieht mich in Verzweiflung und stellt sich, als ober mich nicht verstehe.
Sie täuschen sich, ich verstehe Sie im Gegenteil vollkommen. Sie wollen Herrn von Villefort nicht ärgern, Sie wollen der Marquise nicht ungehorsam sein und unterzeichnen daher morgen den Vertrag, der Sie mit Ihrem Gatten verbindet.
Mein Gott, kann ich denn etwas anderes tun?
Sie dürfen nicht an mich appellieren, mein Fräulein, denn ichbin ein schlechter Richter in dieser Sache, und meine Selbstsucht wird mich verblenden, antwortete Morel, dessen dumpfe Stimme, dessen geballte Fäuste eine wachsende Verzweiflung andeuteten.
Was hätten Sie mir denn vorzuschlagen? Vielleicht würden Sie mich geneigt finden, Ihren Vorschlag anzunehmen. Lassen Sie hören, antworten Sie! Es genügt nicht, zu sagen: Sie machen die Sache schlecht; man muß auch einen Rat geben.
Sprechen Sie im Ernst, Valentine, soll ich Ihnen diesen Rat geben?
Gewiß, lieber Max, denn wenn er gut ist, werde ich ihnbefolgen; Sie wissen, ichbin treu in meiner Zuneigung.
Valentine, sagte Morel, indem er ein etwas abgelöstesBrett vollendsbeiseite schob, geben Sie mir Ihre Hand alsBeweis, daß Sie mir meinen Grimm verzeihen; sehen Sie, mein Kopf ist ganz verstört, und seit einer Stunde haben die wahnsinnigsten Gedanken meinen Geist durchkreuzt. Oh! wenn Sie meinen Rat zurückweisen…
Das Mädchen schlug die Augen zum Himmel auf und stieß einen Seufzer aus.
Ichbin frei, fuhr Morel fort, ichbin reich genug für unsbeide; ich schwöre Ihnen vor Gott, daß Sie meine Frau sein werden, ehe meine Lippen Ihre Stirnberührt haben.
Sie lassen mich zittern! rief das Mädchen.
Folgen Sie mir, sagte Morel; ich führe Sie zu meiner Schwester, die würdig ist, Ihre Schwester zu sein. Wir schiffen uns nach Algier, nach England oder nach Amerika ein, wenn Sie nicht lieber wollen, daß wir uns in irgend eine Provinz zurückziehen, von wo wir erst nach Paris zurückkehren, wenn unsere Freunde den Widerstand Ihrer Familiebesiegt haben.
Valentine schüttelte den Kopf und erwiderte: Ich sah das voraus; es ist der Rat eines Wahnsinnigen, und ich wäre noch viel wahnsinniger, als Sie, wenn ich Sie nicht auf der Stelle durch das einzige Wort: Unmöglich, Morel, unmöglich, zurückwiese.
Sie werden also Ihrem Schicksale folgen, ohne auch nur einen Versuch des Widerstandes zu machen? sagte Morel düster.
Ja, und sollte ich darüber sterben.
Wohl! Valentine, versetzte Maximilian, ich wiederhole Ihnen noch einmal, Sie haben recht. In der Tat, ichbin ein Narr, und Siebeweisen mir, daß die Leidenschaft den Geist verblendet. Ich danke Ihnen, die Sie ohne Leidenschaft urteilen. Es ist also abgemacht; morgen sind Sie unwiderruflich mit Herrn Franz d'Epinay verlobt, und zwar durch Ihren eigenen Willen.
Noch einmal sage ich Ihnen, Maximilian, Siebringen mich in Verzweiflung, noch einmal drehen Sie den Dolch in der Wunde um. Was würden Sie tun, wenn Ihre Schwester auf einen Rat hörte, wie der ist, den Sie mir geben?
Mein Fräulein, erwiderte Morel mitbitterm Lächeln, ichbin ein Selbstsüchtiger, wie Sie gesagt haben, und in meiner Eigenschaft als Selbstsüchtiger denke ich nicht an das, was andere in meiner Lage tun würden, sondern an das, was ich zu tun habe. Ich denke, daß ich Sie seit einem Jahre kenne, daß ich von dem Tage an, wo ich Sie kennen gelernt habe, all mein Glück auf Ihre Liebe gesetzt habe; daß ein Tag gekommen ist, wo Sie mir sagten, Sie lieben mich; daß ich von diesem Tage an meine Zukunft nur in IhremBesitz gesehen habe, denn IhrBesitz war mein Leben. Nun denke ich nichts mehr; ich sage mir nur, ich hatte den Himmel zu gewinnen geglaubt und habe ihn verloren. Es kommt ja alle Tage vor, daß ein Spieler nicht nur das verliert, was er hat, sondern auch das, was er nicht hat.
Morel sprach diese Worte mit vollkommener Ruhe. Valentine schaute ihn einige Sekunden lang mit ihren großen, forschenden Augen an und suchte ihre Unruhe zu verbergen.
Aber was wollen Sie denn tun? fragte sie.
Ich werde die Ehre haben, Ihnen Lebewohl zu sagen, mein Fräulein, und wünsche Ihnen ein so ruhiges, so glückliches Leben, daß nicht einmal Platz darin ist für das Andenken an mich.
Oh! murmelte Valentine.
Gottbefohlen, Valentine, leben Sie wohl! sagte Morel, sich verbeugend.
Wohin gehen Sie? rief Valentine, ihre Hand durch das Gitter ausstreckend und Maximilian am Rock fassend, indem sie aus ihrer eigenen inneren Aufregung schloß, daß die Ruhe ihres Geliebten nicht wahr sein konnte; wohin gehen Sie?
Ich will michbemühen, keine neue Störung in Ihre Familie zubringen und einBeispiel geben für alle ehrlichen und ergebenen Menschen in meiner Lage.
Ehe Sie mich verlassen, sagen Sie mir, was Sie zu tun gedenken, Maximilian.
Der junge Mann lächelte traurig.
Oh! sprechen Sie, sprechen Sie, ichbitte Sie!
Hat sich Ihr Entschluß geändert, Valentine?
Er kann sich leider nicht ändern! Sie wissen das wohl? rief das junge Mädchen.
Also Gottbefohlen, Valentine.
Valentine rüttelte am Gitter mit einer Kraft, deren man sie nicht hätte fähig halten sollen, und als Morel sich entfernte, streckte sie ihre Hände hindurch, rang sie und rief: Was werden Sie tun? Ich will es wissen, wohin gehen Sie?
Oh! seien Sie unbesorgt, sagte Maximilian, drei Schritte von der Türe still stehend, es ist nicht meine Absicht, einen andern Menschen für die Strenge verantwortlich zu machen, die das Schicksal gegen mich übt. Ein anderer würde Ihnen drohen, er werde Herrn Franz aufsuchen, ihn herausfordern, um sich mit ihm zu schlagen. Das alles wäre wahnsinnig. Was hat Franz mit dieser ganzen Geschichte zu tun? Er hat mich heute morgen zum ersten Male gesehen, er hatbereits vergessen, daß er mich gesehen; er wußte nicht einmal, daß ich lebte, als Ihrebeiden Familien übereinkamen, daß Sie einander gehören sollten. Ich habe es also nicht mit ihm zu tun und schwöre Ihnen, daß ich mich durchaus nicht an ihn halten werde.
An wen wollen Sie sich dann halten? An mich?
An Sie, Valentine! Oh, Gott soll michbewahren! Die Frau ist geheiligt, die Frau, die man liebt, ist heilig.
Also an Ihre eigene Person, Unglücklicher!
Nicht wahr, ichbin der Schuldige?
Maximilian, Maximilian, kommen Sie hierher, ich will es haben! rief Valentine.
Maximilian näherte sich mit sanftem Lächeln, und, abgesehen von seinerBlässe, hätte man glauben können, erbefinde sich in seinem gewöhnlichen Zustande.
Hören Sie mich, meine liebe, meine angebetete Valentine, sagte er mit seiner wohlklingenden, ernsten Stimme, Leute wie wir, die nie einen Gedanken gehegt haben, worüber sie hätten vor der Welt, vor ihren Eltern, oder vor Gott erröten müssen; Leute wie wir können einander im Herzen lesen, wie in einem offenenBuche. Ich habe nie einen Roman gespielt, ichbin nie ein schwermütiger Held gewesen, ich trete nicht als Manfred oder als Antonius auf; doch ohne Worte, ohneBeteuerungen, ohne Schwüre hatte ich mein Leben auf Sie gesetzt; Sie tun nicht das gleiche; und Sie haben recht, so zu handeln, das habe ich Ihnen gesagt und wiederhole es. Aber Sie gänzlich verlieren, kostet mich das Leben. Sobald Sie sich von mir entfernen, Valentine, bleibe ich allein auf der Welt. Meine Schwester ist glücklichbei ihrem Gatten; niemandbedarf also auf Erden meines unnütz gewordenen Daseins. Hören Sie, was ich tun werde: ich wartebis zur letzten Sekunde Ihrer Verheiratung, denn ich will keinen Schatten von Hoffnung verlieren, den mir ein unerwarteter Zwischenfallbringen könnte… Herr Franz d'Epinay kannbis dahin sterben, in dem Augenblick, wo Sie sich dem Altar nähern, kann derBlitz ihn treffen… Alles scheint dem zum Tode Verurteilten glaublich, und die Wunder kehren für ihn in denBereich des Möglichen zurück, sobald es sich um die Rettung seines Lebens handelt. Ich werde alsobis zum letzten Augenblick warten, sage ich, und erst, wenn mein Unglück gewiß, unwiderruflich, ohne Hoffnung ist, schreibe ich einen vertraulichenBrief an meinen Schwager, einen andern an den Polizeipräfekten, um ihnen von meinem Vorhaben Nachricht zu geben, und zerschmettere mir in irgend einem versteckten Winkel die Hirnschale, so wahr ich der Sohn des ehrlichsten Mannesbin, der je in Frankreich gelebt hat!
Ein krampfhaftes Zittern schüttelte Valentines Glieder. Sie ließ das Gitter los, das sie mitbeiden Händen hielt, ihre Arme fielen an ihrer Seite herab, und zwei schwere Tränen rollten über ihre Wangen. Der junge Mannbliebdüster und entschlossen vor ihr stehen.
Oh, Mitleid, Mitleid! Nicht wahr, Sie werden leben? rief Valentine.
Nein, bei meiner Ehre! entgegnete Maximilian; doch was ist Ihnen daran gelegen? Sie haben Ihre Pflicht getan, und esbleibt Ihnen Ihr Gewissen.
Valentine fiel, ihrbrechendes Herz zusammenpressend, auf die Knie und rief: Maximilian, Maximilian, mein Freund, meinBruder auf Erden, mein wahrer Gatte im Himmel, mache es wie ich, ichbitte dich, lebe mit den Leiden, wir werden eines Tages vereinigt sein.
Leben Sie wohl, Valentine! wiederholte Morel.
Mein Gott! sagte Valentine, ihre Hände mit einem erhabenen Ausdruck zum Himmel erhebend, du siehst, ich habe alles getan, was ich konnte, um eine gehorsame Tochter zubleiben; ich habe gebetet, ich habe gefleht, ich habe geweint, er hörte weder auf meineBitten, noch auf mein Flehen, noch auf meine Tränen. Wohl! fuhr sie fort, indem sie ihre Tränen trocknete und ihre Festigkeit wiedergewann, wohl! ich will nicht vor Gewissensbissen sterben, ich will lieber vor Scham sterben. Sie werden leben, Maximilian, und ich werde niemand angehören, als Ihnen. Zu welcher Stunde? In welchem Augenblick? Auf der Stelle? Sprechen Sie, befehlen Sie, ichbinbereit.
Morel, der abermals einige Schritte gemacht hatte, um sich zu entfernen, kehrte wieder zurück, streckte, bleich vor Freude, mit überwallendem Herzen, seine Hände Valentine entgegen und rief: Valentine, teure Freundin, Sie müssen nicht so mit mir sprechen, oder Sie geben mir den Tod. Warum sollte ich Sie der Gewalt verdanken, wenn Sie mich lieben, wie ich Sie liebe? Zwingen Sie mich nur aus Menschlichkeit, zu leben? Dann will ich lieber sterben.
Schließlich, wer liebt mich auf der Welt? murmelte Valentine. Er. Wer hat mich in allen meinen Schmerzen getröstet? Er. Auf wem ruhen alle meine Hoffnungen? Auf wem haftet mein irrerBlick? Auf wem rastet meinblutendes Herz? Auf ihm, auf ihm, immer auf ihm. Wohl! du hast recht, Maximilian, ich werde dir folgen, ich werde das väterliche Haus, ich werde alles verlassen. Oh! ich Undankbare, rief Valentine schluchzend, alles, sogar meinen guten Großvater, den ich völlig vergaß.
Nein, entgegnete Maximilian, du wirst ihn nicht verlassen. Herr Noirtier schien, wie du sagst, Sympathie für mich zu fühlen; Wohl, ehe du fliehst, teilst du ihm alles mit; du machst dir vor Gott aus seiner Einwilligung einen Schild. Sobald wir dann verheiratet sind, kommt er zu uns und hat statt eines Kindes zwei. Du hast mir erzählt, wie du mit ihm sprichst, und wie er antwortet; ich werde rasch diese rührende Zeichensprache lernen; oh! Valentine, ich schwöre dir, statt der Verzweiflung, die uns sonst erwartete, verspreche ich dir das Glück.
Oh! sieh, Maximilian, sieh, wie groß die Gewalt ist, die du über mich ausübst; du läßt michbeinahe an das glauben, was du sagst, und dennoch ist das, was du sagst, wahnsinnig; denn mein Vater wird mich verfluchen, ich kenne ihn, mit seinem unbeugsamen Herzen wird er mir nie vergeben. Höre mich, Maximilian, wenn ich durch List, durchBitten, durch einen Zufall, was weiß ich? kurz, durch irgend ein Mittel die Heirat verzögern kann, nicht wahr, dann wartest du?
Ja, ich schwöre es dir, sobald du mir schwörst, daß diese verhaßte Heirat nie stattfinden wird, daß du, schleppt man dich vor den öffentlichenBeamten, vor den Priester, stets nein sagen wirst.
Ich schwöre es dir, Maximilian, bei dem, was ich Heiligstes auf Erden hatte, bei meiner Mutter.
Warten wir also, sagte Morel.
Ja, warten wir, versetzte Valentine, welche dieses Wort kaum atmete; es gibt so viele Dinge, welche Unglückliche, wie wir sind, retten können.
Ichbaue auf dich, Valentine, sagte Morel, alles, was du tun wirst, ist wohlgetan; wenn man jedoch deinenBitten kein Gehör schenkt, wenn dein Vater, wenn Frau von Saint‑Meran verlangen, daß man Herrn d'Epinay rufe, um den Vertrag zu unterzeichnen…
So hast du mein Wort, Maximilian.
Statt zu unterzeichnen…
Komme ich zu dir, und wir fliehen; aberbis dahin wollen wir Gott nicht mehr versuchen, Morel, wir wollen uns nicht sehen, denn es ist ein Wunder, eine Gnade der Vorsehung, daß wir noch nicht überrascht worden sind. Würde man uns aber entdecken, wüßte man, wie wir uns sehen, so hätten wir kein Mittel mehr.
Du hast recht, Valentine, aber wie erfahren…
Durch den Notar, Herrn Deschamps.
Ich kenne ihn.
Und durch mich selbst. Glaube mir, ich werde dir schreiben. Mein Gott! Maximilian, diese Heirat ist mir so verhaßt, wie dir.
Gut! Gut! ich danke, meine angebetete Valentine. Nun ist alles abgemacht. Sobald ich die Stunde weiß, eile ich hierher, du springst über diese Mauer in meine Arme, es wird dir und mir nicht schwer fallen; ein Wagen erwartet uns an der Tür des Geheges, du steigst mit mir ein, ich führe dich zu meiner Schwester. Dortbleiben wir still oder schlagen Lärm, wie du es wünschest, und werden dasBewußtsein unserer Kraft und unseres Willens haben und uns nicht erwürgen lassen wie das Lamm, das sich nur durch einen Seufzer verteidigt.
Es sei so, ich sage dir ebenfalls: Was du tust, das ist wohl getan. Bist du zufrieden mit deiner Frau? sagte das junge Mädchen traurig.
Meine angebetete Valentine, ja sagen, heißt sehr wenig sagen.
Sage es immerhin!
Valentine hatte sich, oder vielmehr ihre Lippen dem Gitter genähert, und ihre Worte schlüpften mit ihrem duftenden Hauch auf Morels Lippen, der seinen Mund fest auf die andere Seite der kalten, unerbittlichen Scheidewand drückte.
Auf Wiedersehen, flüsterte Valentine, sich diesem Glücke entreißend, auf Wiedersehen.
Ichbekomme einenBrief von dir?
Ja.
Ich danke dir, Teure, auf Wiedersehen.
Das Geräusch eines unschuldigen und verlorenen Kusses erscholl, und Valentine entfloh unter die Linden. Morel horchte auf die letzten Töne ihres an den Hecken streifenden Kleides und ihrer Füße, die den Sand knirschen ließen, schlug dann die Augen mit einem unaussprechlichen Lächeln zum Himmel auf, der es gestattete, daß er so geliebt wurde, und verschwand ebenfalls.
Der junge Mann kehrte nach Hause zurück und wartete den ganzen Tag hindurch und den nächsten Tag, ohne etwas zu erhalten. Erst am zweiten Tage, gegen zehn Uhr morgens, als er eben zu Herrn Deschamps, dem Notar, gehen wollte, empfing er durch die Post einBriefchen, das er sogleich als von Valentine herrührend, erkannte, obgleich er ihre Handschrift nie gesehen hatte.
Es lautete folgendermaßen:
Tränen, Bitten und Flehen, nichts hat gefruchtet. Gesternbin ich zwei Stunden lang in der Kirche Saint‑Philippe du Roule gewesen und habe zwei Stunden aus dem Grunde meiner Seele zu Gott gebetet? Gott scheint mich nicht erhören zu wollen; die Unterzeichnung des Vertrags ist auf neun Uhr heute abend festgesetzt.
Ich habe nur ein Wort, Morel, wie ich nur ein Herz habe, und dieses Wort ist dir verpfändet, dieses Herz gehört dir. Heute abend also, um drei Viertel auf neun Uhr, am Gitter.
DeineBraut Valentine von Villefort.
P. S.
Mit meiner Großmutter geht es immer schlechter, gestern ist ihr gereizter Zustand in Delirium übergegangen, heute ist das Deliriumbeinahe Wahnsinn.
Nicht wahr, du wirst mich sehr liebhaben, Morel, damit ich vergessen kann, daß ich sie in diesem Zustande verlassen habe?
Ich glaube, man verhehlt vor Großpapa, daß die Unterzeichnung des Vertrags heute stattfinden soll.
Morelbegnügte sich nicht mit den Nachrichten von Valentine, er ging zum Notar, und dieserbestätigte ihm, die Unterzeichnung des Vertrags sei auf neun Uhr abendsbestimmt. Dannbegaber sich zu Monte Christo. Hier erfuhr er wieder am meisten. Franz warbei dem Grafen gewesen, um ihm die Feierlichkeit anzukündigen; Frau von Villefort hatte ihn in einemBriefe um Entschuldigung gebeten, daß sie ihn nicht einlade; doch es werde durch den Tod des Herrn von Saint‑Meran und durch den Zustand, in dem sich seine Witwebefinde, über ihr Haus ein Schleier der Traurigkeit geworfen, der die Stirn des Grafen, dem sie jegliches Glück wünsche, nicht verdüstern solle. Am Abend war Franz der Frau von Saint‑Meran vorgestellt worden, die aus Anlaß dieser Vorstellung dasBett verließ, sich dann aber sogleich wieder niederlegte.
Morelbefand sich, wie sich dies leichtbegreifen läßt, in einem so aufgeregten Zustande, daß es dem durchdringenden Auge des Grafen nicht entgehen konnte; Monte Christo war auch freundlicher und liebevoller gegen ihn, als je, so liebevoll, daß Maximilian wiederholt auf dem Punkte war, ihm alles zu sagen. Doch er erinnerte sich des förmlichen Versprechens, das er Valentine gegeben hatte, und sein Geheimnisbliebim Grunde seines Herzens.
Der junge Mann las an diesem Tag zwanzigmal ValentinesBrief. Es war das erste Mal, daß sie ihm schrieb, und aus welcher Veranlassung! So oft er ihre Worte wieder las, erneuerte erbei sich den Schwur, Valentine glücklich zu machen. Welche Macht erlangt nicht ein junges Mädchen, das einen so mutigen Entschluß faßt, und welche Ergebenheit verdient es nichtbei dem, welchem es alles geopfert hat! Muß es nicht in der Tat für seinen Geliebten der erste und würdigste Gegenstand seiner Verehrung sein! Denn es ist zugleich die Königin und die Frau, und man hat nicht genug an einer Seele, um einem solchen Mädchen zu danken und es zu lieben.
Morel dachte mit unaussprechlicher Unruhe an den Augenblick, wo Valentine zu ihm kommen und sagen würde: Hierbin ich, Maximilian, nimm mich! Er hatte den ganzen Fluchtplan entworfen und alles vorbereitet. Zwei Leitern waren im Verschlag des Geheges verborgen; ein Wagen, den er selbst fahren wollte, standbereit; kein Diener, kein Licht sollte Verratbringen können; erst an der Mündung der ersten Straße sollten die Laternen angezündet werden.
Von Zeit zu Zeit durchlief ein Schauer Morels Leib; er dachte an den Augenblick, wo er Valentinebeim Herabsteigen von der Mauerbeschützen, wo er zitternd in seinen Armen die fühlen würde, der erbisher nur die Hand gedrückt und die Fingerspitzen geküßt hatte.
Als aber der Nachmittag kam, als die Stunde immer näher herannahte, fühlte Morel dasBedürfnis, allein zu sein; seinBlut kochte, die einfachsten Fragen, schon die Stimme eines Freundes, hätten ihn gereizt, er schloß sich in seiner Wohnung ein und suchte zu lesen. Doch seinBlick schlüpfte über dieBlätter hin, ohne etwas davon zu verstehen, und er warf am Ende dasBuch weg, um zum zweiten Male seinen Plan durchzugehen und die Flucht sich in allen Einzelheiten vorzustellen. — Endlich nahte die Stunde.
Noch nie hat ein Verliebter die Uhren friedlich ihren Weg gehen lassen; Morel plagte die seinigen so sehr, daß eine schließlich um sieben Uhr halbneun Uhr zeigte. Dann sagte er sich, es sei Zeit aufzubrechen, da neun Uhr ja wirklich die für die Unterzeichnung des Vertragsbestimmte Stunde sei, doch aller Wahrscheinlichkeit nach würde Valentine diese Stunde gar nicht abwarten. Morel trat folglich, nachdem er nach seiner Pendeluhr um halbneun Uhr aufgebrochen war, in das Gehege, als es vom nahen Kirchturm acht Uhr schlug.
Pferd und Wagen verbarg er hinter dem in Trümmern liegenden Mauerwerk, in dem er sich selbst zu verstecken pflegte. Allmählich neigte sich der Tag, und dasBlätterwerk des Gartens drängte sich in dichteBüschel von undurchsichtigem Schwarz zusammen. Morel trat aus seinem Versteck hervor und schaute durch das Loch im Gitter; es war noch niemand anwesend.
Es schlug halbneun Uhr. Abermals verging darauf eine halbe Stunde mit Warten. Morel schritt auf und abund hielt in immer schneller sich folgenden Zwischenräumen sein Auge an dieBretter. Der Garten wurde immer finsterer, doch vergebens suchte er in der Dunkelheit das weiße Kleid, umsonst horchte er in der Stille auf das Geräusch der Tritte.
Das Haus des Staatsanwalts, das man durch das Laubwerk erblickte, bliebdüster, und nichts deutete an, daß sich dort ein so wichtiges Ereignis, wie die Unterzeichnung eines Heiratsvertrages abspielen sollte.
Morel sah auf seine Taschenuhr, sie zeigte drei Viertel auf zehn Uhr; doch fast in demselben Augenblick schlug die schon öfters gehörte Kirchenuhr halbzehn Uhr. Bereits eine halbe Stunde war über die von Valentine selbst festgesetzte Zeit hinaus verflossen. Sie hatte auf neun Uhr zugesagt, eher früher, als später. Es waren furchtbare Augenblicke für das Herz des jungen Mannes, auf das jede Sekunde wie einbleierner Hammer fiel.
Das leiseste Geräusch derBlätter, das schwächste Wehen des Windes spannte sein Ohr und ließ den Schweiß auf seine Stirn treten; bebend rückte er seine Leiter zurecht und setzte, um keine Zeit zu verlieren, den Fuß auf die erste Sprosse. Mitten unter diesem Wechsel von Furcht und Hoffnung, mitten unter diesen angstvollen Schlägen seines Herzens verkündete die Kirchenuhr die zehnte Stunde.
Oh! es ist unmöglich daß die Unterzeichnung eines Vertrages so lange dauert, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse eingetreten sind, murmelte Maximilian voll Schrecken; ich habe alles erwogen, ich habe die Zeit genauberechnet, welche diese Förmlichkeitenbeanspruchen… es muß etwas vorgefallen sein.
Dann ging erbald in größter Aufregung an dem Gitter auf und ab, bald kehrte er zurück und stützte seine glühende Stirn an das kalte Eisen. War Valentine nach dem Vertrage ohnmächtig geworden, oder hatte man sie in ihrer Flucht aufgehalten? Dies waren diebeiden einzigen, gleich verzweiflungsvollen Möglichkeiten, die er sich vorstellen konnte.
Vielleicht hatte sie mitten auf der Flucht die Kraft verlassen, und sie war in irgend einer Allee in Ohnmacht gefallen.
Oh! wenn dem so ist, rief er, von seiner Leiter herabspringend, so verliere ich sie durch meine eigene Schuld!
Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los und haftete in seinem Geiste mit einerBeharrlichkeit, die schließlich den Zweifel zur Gewißheit werden ließ. Seine Augen, welche die zunehmende Dunkelheit zu durchdringen suchten, glaubten im Schatten einer Allee einen liegenden Gegenstand zubemerken; er rief endlich laut, und es kam ihm vor, als obeine unartikulierte Klage zu ihm dringe.
Endlich hörte er halbelf schlagen, er konnte sich unmöglich durch die Hoffnung länger hinhalten lassen, seine Schläfen schlugen mit aller Gewalt, Wolken zogen vor seinen Augen vorüber. Da erkletterte er die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinab.
Maximilian war durch Einsteigen in fremdes Gebiet gedrungen; erbedachte die Folgen, die eine solche Handlung haben könnte; doch er war nicht so weit gegangen, um zurückzuweichen. Er strich zuerst an der Mauer hin, kam dann mit einem Sprunge durch die Allee und drang in ein Gebüsch. In einem Augenblick war er am Ende des Gebüsches. Von hier aus konnte er das Haus überschauen. Er sah nunbestätigt, was erbereits vermutet hatte; statt der Lichter, die, wie es an feierlichen Tagen üblich ist, an allen Fenstern hätten erglänzen sollen, sah er nichts als eine graue Masse, die noch durch einen großen Schatten verschleiert war, den eine ungeheure, den Mond verhüllende Wolke herabwarf.
Ein Licht lief gleichsam wiebestürzt an drei Fenstern des ersten Stockes hin. Diese drei Fenster gehörten zur Wohnung der Frau von Saint‑Meran. Ein anderes Lichtbliebunbeweglich hinter roten Vorhängen. Diese roten Vorhänge verhüllten das Fenster des Schlafzimmers der Frau von Villefort.
Morel erriet alles. So oft hatte er, um Valentine in Gedanken zu jeder Stunde zu folgen, sich den Plan dieses Hauses vorgestellt, daß er es, ohne darin gewesen zu sein, genau kannte. Der junge Mann war noch mehr erschrocken über diese Dunkelheit und dieses Schweigen, als vorher über die Abwesenheit Valentines. Ganzbestürzt, beinahe wahnsinnig vor Schmerz, entschlossen, allem zu trotzen, um Valentine wiederzusehen und sich Gewißheit über das Unglück, das er ahnte, zu verschaffen, trat erbis an den Saum des Gebüsches und schickte sich an, so rasch als möglich den ganz freiliegendenBlumengarten zu durchschreiten, als ein zwar noch entfernter, aber doch vom Winde zu ihm getragener Stimmenton an sein Ohr drang. Bei diesem Geräusch machte er einen Schritt rückwärts in dasBlätterwerk hinein, versteckte sich darin völlig undbliebstumm und unbeweglich. Sein Entschluß war gefaßt; war es nur Valentine, so wollte er ihr zurufen; kam sie inBegleitung einer anderen Person, so konnte er sie wenigstens sehen und sich versichern, daß ihr kein Unglückbegegnet sei; waren es aber fremde Personen, so konnte er vielleicht ein paar Worte von ihrem Gespräche auffangen und sich das unbegreifliche Rätsel erklären.
Der Mond trat nun aus der Wolke hervor, die ihn verbarg, und Morel sah an der Tür Herrn von Villefort, begleitet von einem Manne in schwarzem Anzuge, erscheinen. Sie gingen die Stufen herabund auf das Gebüsch zu; kaum hatten sie vier Schritte gemacht, als Morel den Doktor d'Avrigny erkannte.
Sobald der junge Mann diesebeiden kommen sah, wich er unwillkürlich noch weiter zurück, bis er an den Stamm eines Ahornbaumes stieß, der den Mittelpunkt einerBaumgruppebildete; hier war er genötigt, stehen zubleiben. Bald hörte der Sand auf, unter den Tritten derbeiden Männer zu knirschen. Ach, sagte der Staatsanwalt, der Himmel erklärt sich offen gegen unser Haus. Welch ein furchtbarer Tod! welch ein Donnerschlag! Versuchen Sie es nicht, mich zu trösten! Ach! es gibt keinen Trost für ein solches Unglück; die Wunde ist zu heftig und zu tief! Tot! Tot!
Ein kalter Schweiß ließ die Stirn des jungen Mannes eisig werden und seine Zähne klappern. Wer war in dem Hause gestorben, das Villefort selbst ein verfluchtes nannte?
Mein lieber Herr von Villefort, antwortete der Arzt mit einem Tone, der den Schrecken des jungen Mannes verdoppelte, ich habe Sie durchaus nicht hierher geführt, um Sie zu trösten, ganz im Gegenteil.
Was wollen Sie mir sagen? fragte der Staatsanwaltbestürzt.
Ich will Ihnen sagen, daß hinter dem Unglück, das Siebetroffen hat, sich ein anderes, vielleicht noch größeres verbirgt.
Oh! mein Gott! murmelte Villefort, die Hände faltend, was werde ich hören?
Sind wir ganz allein, mein Freund?
Ja, ganz allein. Doch was sollen diese Vorsichtsmaßregelnbedeuten?
Siebedeuten, daß ich Ihnen eine furchtbare Mitteilung zu machen habe, sagte der Doktor; setzen wir uns!
Villefort fiel mehr auf eineBank, als er sich darauf setzte. Der Doktorblieb, eine Hand auf seine Schulter legend, vor ihm stehen.
Vor Schrecken außer sich, hielt Morel mit einer Hand seine Stirn, während er mit der andern sein Herz preßte, daß man es nicht schlagen höre.
Reden Sie, Doktor, ich höre, sagte Villefort; schlagen Sie, ichbin auf alles gefaßt.
Frau von Saint‑Meran war allerdings sehr alt, aber sie erfreute sich einer vortrefflichen Gesundheit.
Morel atmete zum ersten Male seit zehn Minuten.
Der Kummer hat sie getötet, sagte Villefort; ja, der Kummer, Doktor! Die Gewohnheit, seit vierzig Jahren mit dem Marquis zu leben…
Es ist nicht der Kummer, mein lieber Villefort, entgegnete der Doktor; der Kummer kann töten, obgleich die Fälle selten sind, aber er tötet nicht in einem Tage, er tötet nicht in einer Stunde, er tötet nicht in zehn Minuten. Villefort antwortete nicht; er hobdas Haupt empor und schaute den Doktor mit erschrockenen Augen an. Sie sind während des Todeskampfes da geblieben? fragte Herr d'Avrigny.
Gewiß; Sie sagten mir leise, ich sollte mich nicht entfernen.
Haben Sie die Symptome des Übels wahrgenommen, dem Frau von Saint‑Meran erlegen ist?
Sicher. Frau von Saint‑Meran hat in Zwischenräumen von einigen Minuten drei aufeinander folgende schwere Anfälle gehabt. Als Sie ankamen, keuchte siebereits seit mehreren Minuten; sie hatte sodann eine Krise, die ich für einen Nervenanfall hielt; doch ich fing an, wirklich zu erschrecken, als ich gewahrte, wie sie sich auf ihremBette mit starren Gliedern und steifem Halse erhob. Da erkannte ich an ihrem Gesichte, daß die Sache ernster sein mußte, als ich glaubte. Als die Krise vorüber war, suchte ich in Ihren Augen zu lesen, aber vergebens. Sie hielten den Puls, Sie zählten die Schläge, und die zweite Krise trat ein, ehe Sie mich wieder anblickten. Diese zweite Krise war furchtbarer als die erste, die Nervenzuckungen wiederholten sich, der Mund zog sich zusammen und wurde ganzblau. Bei der dritten verschied sie. Ich hattebereitsbei der ersten den Starrkrampf erkannt; Siebestätigten mich in dieser Meinung.
Ja, vor allen Anwesenden, versetzte der Doktor; doch nun sind wir allein…
Mein Gott, was wollen Sie mir sagen?
Daß die Symptome des Starrkrampfes und der Vergiftung durch vegetabilische Stoffe ganz dieselben sind.
Herr von Villefort sprang auf, doch nach einem Augenblick der Unbeweglichkeit und des Stillschweigens fiel er wieder auf seineBank und sagte: Oh! mein Gott, Doktor, bedenken Sie auch, was Sie sagen?
Morel wußte nicht, ober träumte oder wachte.
Hören Sie, sagte der Doktor, ichbin mir des Gewichtes meiner Erklärung und des Charakters des Mannes, dem gegenüber ich sie abgebe, völligbewußt.
Sprechen Sie mit demBeamten oder mit dem Freunde? fragte Villefort.
Mit dem Freunde, mit dem Freunde allein in diesem Augenblick; die Ähnlichkeit zwischen den Symptomen des Starrkrampfes und denen der Vergiftung durch vegetabilische Substanzen ist so groß, daß ich nur zögernd unterzeichnen würde, was ich da sage. Ich wiederhole Ihnen auch, daß ich mich nicht an denBeamten, sondern an den Freund wende. Dem Freunde also sage ich: Während der drei Viertelstunden der Krisis studierte ich den Todeskampf, die Krämpfe, den Tod der Frau von Saint‑Meran; nach meiner Überzeugung ist sie nun nicht nur vergiftet gestorben, sondern ich vermöchte auch zu sagen, welches Gift sie getötet hat.
Mein Herr!
Alles hat sich gezeigt, Schlafsucht, unterbrochen durch Nervenkrisen, Überreizung des Gehirns, Starre der Zentralteile des Nervensystems: Frau von Saint‑Merau ist einer starken Dosis Strychnin oderBrucin unterlegen, die man ihr, nehme ich an, auf Zufall, vielleicht aus Irrtum, beigebracht hat.
Oh! das ist unmöglich! rief Villefort, die Hand des Doktors ergreifend; mein Gott, ich träume, es ist furchtbar, solche Dinge von einem Manne, wie Sie sind, zu hören! Im Namen des Himmels flehe ich Sie an, lieber Doktor, gestehen Sie mir, daß Sie sich täuschen können.
Allerdings kann ich dies, doch ich glaube es nicht.
Doktor, haben Sie Mitleid mit mir, seit einigen Tagenbegegnen mir so unerhörte Dinge, daß es mir vorkommt, als müßte ich ein Narr werden.
Hat noch jemand außer mir Frau von Saint‑Meran gesehen?
Niemand.
Hat manbei dem Apotheker eine Arznei holen lassen, die nicht von mir verordnet worden ist?
Nein.
Hatte Frau von Saint‑Meran Feinde?
Ich kenne keine.
Hatte jemand ein Interesse an ihrem Tode?
Mein Gott! Nein; meine Tochter ist ihre einzige Erbin, Valentine allein… Oh! wenn mir ein solcher Gedanke käme,… ich würde mich erdolchen, um mein Herz zubestrafen, daß es einen solchen Gedanken hatte hegen können.
Oh, teurer Freund! rief Herr d'Avrigny, Gott verhüte, daß ich irgend jemand anklage; verstehen Sie wohl, ich spreche nur von einem Zufall, von einem Irrtum. Doch Zufall oder Irrtum, es ist eine Tatsache, die ganz leise zu meinem Gewissen spricht und verlangt, daß mein Gewissen ganz laut mit Ihnen spreche. Forschen Sie nach!
Bei wem? wie? worüber?
Hören Sie! Sollte sich nichtBarrois, der alte Diener, getäuscht und der Frau von Saint‑Meran irgend einen Trank gegeben haben, der für seinen Herrnbestimmt war?
Wie könnte denn ein für Herrn Noirtierbereiteter Trank Frau von Saint‑Meran vergiften?
Das ist ganz einfach; Sie wissen, daßbei einzelnen Krankheiten die Gifte als Heilmittel dienen; die Lähmung ist eine dieser Krankheiten. Vor ungefähr drei Monaten entschloß ich mich, nachdem ich alles angewendet hatte, um Herrn Noirtier Stimme undBewegung wiederzugeben, ein letztes Mittel zu versuchen; seit drei Monatenbehandle ich ihn mitBrucin; so waren in dem letzten Tranke, den ich ihm verschrieb, sechs Zentigramm enthalten. Sechs Zentigramm ohne Wirkung auf die gelähmten Organe des Herrn Noirtier, an die er sich überdies durch stufenweise Dosen gewöhnt hatte, sechs Zentigramm genügen, um jede andere Person zu töten.
Mein lieber Doktor, esbesteht keine Verbindung zwischen der Wohnung des Herrn Noirtier und der der Frau von Saint‑Meran, und nie istBarrois in das Zimmer meiner Schwiegermutter gekommen. Schließlich muß ich Ihnen auch sagen, Doktor, obgleich ich weiß, daß Sie der geschickteste undbesonders der gewissenhafteste Mann von der Welt sind, obgleich unter allen Umständen Ihr Wort für mich eine Fackel ist, die mich leitet, wie das Licht der Sonne, — so ist es doch, trotz dieser Überzeugung, für mich einBedürfnis, mich auf den Satz: Irren ist menschlich, zu stützen.
Hören Sie, Villefort, sagte der Doktor, gibt es einen von meinen Kollegen, zu dem Sie so viel Zutrauen haben, wie zu mir?
Warum? Was wollen Sie damit sagen?
Rufen Sie ihn, ich teile ihm mit, was ich gesehen, was ich wahrgenommen habe, und wir nehmen die Öffnung der Leiche vor.
Und Sie werden die Spuren des Giftes finden?
Nein, nicht des Giftes, ich habe das nicht gesagt, sondern wir werden die Reizung des Systemsbestätigt finden, die unleugbare Asphyxie erkennen und Ihnen sagen, lieber Villefort: Liegt Nachlässigkeit zu Grunde, sobewachen Sie Ihre Dienerschaft, — geschah die Tat aus Haß, sobewachen Sie Ihre Feinde.
Oh, mein Gott! was schlagen Sie mir da vor, d'Avrigny? entgegnete Villefort ganz niedergebeugt. Sobald ein anderer in das Geheimnis gezogen ist, wird eine Untersuchung notwendig, und eine Untersuchungbei mir, unmöglich! Dennoch, fuhr der Staatsanwalt, den Arzt unruhig anschauend, fort, dennoch, wenn Sie es durchaus verlangen, werde ich es tun. Ich muß in der Tat wohl der Sache auf den Grund gehen, mein Charakter heischt es. Doch Sie sehen mich zum voraus von Traurigkeit erfüllt, Doktor, auf mein Haus nach so vielen Schmerzen diesen Flecken zu werfen! Oh! für meine Frau und meine Tochter ist das der Tod; und ich, Doktor, Sie wissen, ein Mann gelangt nicht dahin, wo ichbin, ein Mann ist nicht fünfundzwanzig Jahre Staatsanwalt gewesen, ohne sich viele Feinde zuzuziehen; die Zahl der meinigen ist groß.. Wird diese Geschichte ruchbar, so ist das ein Triumph für diese Feinde, der sie vor Freuden jubeln läßt und mich mit Schmachbedeckt. Doktor, verzeihen Sie mir diese weltlichen Gedanken. Wenn Sie Priester wären, würde ich, es nicht wagen, Ihnen dies zu sagen; aber Sie sind ein Mensch, Sie kennen die anderen Menschen; Doktor, nicht wahr, Sie haben mir nichts gesagt?
Mein lieber Herr von Villefort, antwortete der Doktor erschüttert, meine erste Pflicht ist Menschlichkeit. Ich hätte Frau von Saint‑Meran gerettet, wenn es in der Macht der Wissenschaft gelegen hätte, dies zu tun; aber sie ist tot, und ich schulde alle meine Kunst den Lebenden. Begraben wir in die tiefste Tiefe unserer Herzen dieses furchtbare Geheimnis! Sollte aber jemand den Schleier lüften, so mag man immerhin mein Schweigen meiner Unwissenheit zur Last legen. Suchen Sie jedoch trotzdem, suchen Sie eifrig, mein Freund, denn esbleibt vielleicht nicht hierbei… Und wenn Sie den Schuldigen gefunden haben, so werde ich Ihnen sagen: Sie sindBeamter, tun Sie, was Sie wollen.
Oh! Dank, Dank, Doktor! sagte Villefort mit unsäglicher Freude, ich habe nie einenbesseren Freund gehabt, als Sie.
Und er erhobsich, alsbefürchte er, der Doktor könnte von seinem Zugeständnis zurücktreten, und zog ihn nach den Hause fort. — Sie verschwanden.
Morel streckte, als müßte er Atem schöpfen, den Kopf aus dem Gebüsche hervor, und der Mondbeleuchtete sein Gesicht, das sobleich war, daß man es für ein Gespenst hätte halten können.
Gottbeschützt mich offenbar, aber auf eine furchtbare Weise! sagte er. Doch Valentine! Valentine! arme Freundin! wird sie so vielen Schmerzen widerstehen? Während er diese Worte sprach, schaute er abwechselnd das Fenster mit den roten Vorhängen an. Das Licht war fast völlig von dem Fenster mit den roten Vorhängen verschwunden. Ohne Zweifel hatte Frau von Villefort die Kerzen ausgelöscht, und die Nachtlampe allein sandte ihren Schein an die Scheiben.
Am Ende des Gebäudes sah er dagegen eines von den drei Fenstern mit den weißen Vorhängen sich öffnen. Die auf dem Kamin stehende Kerze warf nach außen einige Strahlen ihresbleichen Lichtes, und es lehnte sich einen Augenblick jemand mit dem Ellenbogen auf denBalkon.
Morelbebte; es kam ihm vor, als hätte er ein Schluchzen gehört.
Man darf sich nicht darüber wundern, daß die sonst so mutige und kräftige, nun aber durch diebeiden stärksten menschlichen Leidenschaften, die Liebe und die Furcht, erschütterte und überspannte Seele dergestalt geschwächt war, daß sie abergläubischen Sinnestäuschungen unterlag.
Obgleich Maximilian unmöglich von Valentine wahrgenommen werden konnte, kam es ihm vor, als würde er von dem Schatten am Fenster gerufen; sein gestörter Geist sagte es ihm, sein glühendes Herz wiederholte es. Dieser doppelte Irrtum wurde unwiderstehlich; er trat aus seinem Versteck hervor und setzte, auf die Gefahr hin, gesehen zu werden, oder Valentine zu erschrecken, mit zwei Sprüngen über dasBlumenbeet, erreichte die Reihe von Orangenbäumen, die sich vor dem Hanse ausdehnte, gelangte auf die Stufen der Freitreppe, stieg diese rasch hinauf und stieß an eine Tür, die sich ohne Widerstand vor ihm öffnete.
Valentine hatte ihn nicht gesehen; ihre zum Himmel aufgeschlagenen Augen folgten einer silbernen Wolke, die, einem aufsteigenden Schatten ähnlich, an dem Azur hinglitt; ihr poetischer, überwallender Geist sagte ihr, es sei die Seele ihrer Großmutter.
Morel durchschritt das Vorhaus und fand das Treppengeländer. Auf den Stufen ausgebreitete Teppiche dämpften seinen Tritt; übrigens war er zu jenem Grade von Überspannung gelangt, wo ihn selbst das Erscheinen des Herrn von Villefort nicht erschreckt hätte. Sollte sich dieser zeigen, so war Morel entschlossen, sich ihm zu nähern, seine Liebe zu gestehen und um die Einwilligung des Staatsanwalts zubitten. Morel war verrückt.
Zum Glück sah er niemand.
Jetzt kam ihm die Kenntnis, die er durch Valentine vom Innern des Hauses gewonnen hatte, zu statten. Er gelangte ohne Unfall oben auf die Treppe, und hier deutete ihm ein Schluchzen, über dessen Quelle er keinen Zweifel hegte, den Weg an, dem er zu folgen hatte. Er wandte sich um; eine etwas geöffnete Tür ließ den Schein des Lichtes und den Ton einer seufzenden Stimme zu ihm dringen. Im Hintergrunde eines Alkovens, unter dem weißen Tuche, das ihren Kopfbedeckte und ihre Form hervorhob, lag die Tote, schrecklicher noch in Morels Augen seit der Enthüllung des Geheimnisses, die ihm durch Zufall zuteil geworden war.
Neben demBette kniete Valentine, den Kopf in die Kissen eines Polsterstuhls vergraben. Man sah, wie sich ihr Körper von Zeit zu Zeit durch das Schluchzen emporhob; ihre starren Hände hielt sie gefaltet.
Valentine war vom offengebliebenen Fenster weggegangen undbetete ganz laut in Tönen, die auch das unempfindlichste Herz gerührt haben müßten; die Worte entschlüpften ihren Lippen, rasch, unzusammenhängend, unverständlich, so sehr preßte ihr derbrennende Schmerz die Kehle zusammen. Der Mond, der durch die Öffnung der Vorhänge glitt, ließ den Schein der Kerze erbleichen und übergoß mit seiner fahlen Farbe dieses trostloseBild.
Morel konnte dem Schauspiel nicht widerstehen, er war von keiner musterhaften Frömmigkeit und auch nicht so leicht empfänglich für gewöhnliche Eindrücke, aber Valentine weinend, leidend, vor seinen Augen die Hände ringend… das vermochte er nicht still zu ertragen. Er stieß einen Seufzer aus, flüsterte einen Namen, und der in Tränen gebadete, marmorbleiche Kopf hobsich empor und wandte sich ihm zu.
Valentine erblickte ihn und zeigte kein Erstaunen. In einem von der höchsten Verzweiflung erfüllten Gemüte ist kein Raum für geringere Regungen. Morel reichte seiner Freundin die Hand. Statt jeder Entschuldigung, warum sie ihn nicht aufgesucht, deutete sie auf den unter dem weißen Tuche liegenden Leichnam und fing wieder an zu schluchzen.
Keines von ihnen wagte im ersten Augenblick, in diesem Zimmer zu reden. Jedes zögerte, das Stillschweigen zubrechen, das der Tod, der mit dem Finger auf den Lippen irgendwo im Winkel stand, aufzuerlegen schien.
Valentine wagte es zuerst und sagte: Freund, wiebist du hierher gekommen? Ach! ich würde dir sagen: Sei willkommen, wenn dir nicht der Tod die Tür dieses Hauses geöffnet hätte.
Valentine, erwiderte Morel mit zitternder Stimme und gefalteten Händen, ich war seit halbneun Uhr da; ich sah dich nicht kommen; die Unruhe erfaßte mich, ich sprang über die Mauer, drang in den Garten und hörte Stimmen, die über das unselige Ereignis sprachen.
Was für Stimmen? fragte Valentine.
Morelbebte, denn die Unterredung des Herrn d'Avrigny mit Herrn von Villefort trat vor seinen Geist, und er glaubte durch das Leichentuch die gekrümmten Arme, den steifen Hals, dieblauen Lippen der Vergifteten zu sehen.
Die Stimmen IhrerBedienten haben mich von allem unterrichtet, sagte er.
Doch hier erscheinen, heißt uns zu Grunde richten, mein Freund, versetzte Valentine ohne Schreck und ohne Zorn.
Vergibmir, sagte Morel mit demselben Tone, ich will mich entfernen.
Nein, man würde dirbegegnen, bleibe.
Doch wenn man käme?…
Das Mädchen schüttelte den Kopf und entgegnete: Es wird niemand kommen, sei unbesorgt, hier ist unsere Schutzwache. Und sie deutete auf die durch das Tuch sich abdrückende Form des Leichnams.
Doch, ichbitte dich, sage mir, was ist mit Herrn d'Epinay geschehen? fragte Morel.
Herr Franz kam, um den Vertrag zu unterzeichnen, gerade in dem Augenblick, wo meine gute Großmutter den letzten Seufzer aushauchte.
Ach! rief Morel mit einem Gefühle selbstsüchtiger Freude, denn erbedachte, daß dieser Tod Valentines Verheiratung auf unbestimmte Zeit verzögerte.
Doch was meinen Schmerz verdoppelt, fuhr das Mädchen fort, als sollte dieses Gefühl auf der Stelle seine Strafe erhalten, ist der Umstand, daß meine gute Großmutter sterbendbefohlen hat, diese Heirat sobald als möglich zu vollziehen. Mein Gott! im Glauben, mich zubeschützen, handelte auch sie gegen mich.
Hörst du! sagte Morel.
Die jungen Leute schwiegen.
Man hörte, wie eine Tür sich öffnete und Tritte denBoden des Ganges und die Stufen der Treppe krachen ließen.
Es ist mein Vater, der sein Kabinett verläßt, sagte Valentine.
Und den Doktor zurückbegleitet, fügte Morelbei.
Woher weißt du, daß es der Doktor ist? fragte Valentine erstaunt.
Ich setze es voraus, sprach Morel.
Valentine schaute den jungen Mann an.
Man hörte indessen, daß die Tür, die auf die Straße führte, wieder zugeschlossen wurde. Herr von Villefort drehte den Schlüssel auch in der Tür zum Garten um und stieg dann die Treppe hinauf.
Im Vorzimmerblieber einen Augenblick stehen, ohne Zweifel überlegend, ober in seine Wohnung oder in das Zimmer der Frau von Saint‑Meran gehen sollte; Morel warf sich hinter einen Türvorhang. Valentine machte keineBewegung; es schien, als sei der höchste Schmerz über gewöhnlicheBefürchtungen erhaben.
Herr von Villefort kehrte in sein Zimmer zurück.
Nun kannst du weder mehr in den Garten, noch nach der Straße hinaus.
Morel schaute das Mädchen voll Erstaunen an.
Es gibt nur noch einen erlaubten und sichern Ausgang, nämlich durch die Wohnung meines Großvaters. Komm, komm, sagte sie aufstehend.
Wohin? fragte Maximilian.
Zu meinem Großvater.
Ich, zu Herrn Noirtier?
Ja.
Bedenkst du auch, Valentine?
Ichbedenke. Und zwar seit langer Zeit. Ich habe, nur noch diesen Freund auf der Welt, und wirbedürfen seinerbeide…
Nimm dich in acht, Valentine, sagte Morel, ungewiß, ober tun sollte, was ihn Valentine tun hieß, nimm dich in acht, dieBinde ist von meinen Augen gefallen. Als ich hierher kam, beging ich eine Handlung des Wahnsinns. Bist du wohl auch imBesitz deiner ganzen Vernunft, teure Freundin?
Ja, und ich habe nur eineBedenklichkeit in der Welt, nämlich, daß ich die Überreste meiner armen Großmutter, die ich mir zubewachen gelobt, allein lassen soll.
Valentine, der Tod ist durch sich selbst heilig.
Ja, so ist es, und überdies wird es nicht lange währen.
Valentine durchschritt den Gang und stieg eine kleine Treppe hinab, die zu Noirtiers Wohnung führte. Morel folgte ihr auf den Fußspitzen. Im Vorzimmer fanden sie den alten Diener.
Barrois, sagte Valentine, schließe die Tür und lasse niemand herein. Sie ging voran. Noch in seinem Lehnstuhle sitzend, auf das geringste Geräusch achtend, durch seinen alten Diener von allem, was vorfiel, unterrichtet, heftete Noirtier seineBlicke auf den Eingang des Zimmers; er sah Valentine, und sein Auge glänzte.
Es lag in dem Gange und in der Haltung des Mädchens etwas Ernstes, Feierliches, was dem Greise auffiel. So glänzend auch sein Auge war, so wurde es doch forschend. Lieber Vater, sagte sie, höre mich wohl! Du weißt, daß die gute Mama vor einer Stunde gestorben ist, und daß ich nun, dich ausgenommen, auf der Welt niemand mehr habe, der mich liebt?
Ein Ausdruck unbeschreiblicher Zärtlichkeit leuchtete aus den Augen des Greises. Nicht wahr, dir allein muß ich meinen Kummer oder meine Hoffnungen anvertrauen?
Der Gelähmte machte einbejahendes Zeichen.
Valentine nahm Maximilianbei der Hand und sagte: So sieh diesen Herrn an! Der Greis heftete sein Auge forschend, zugleich aber etwas erstaunt auf Morel.
Es ist Herr Maximilian Morel, der Sohn des ehrlichen Kaufmanns in Marseille, von dem du ohne Zweifel hast sprechen hören.
Ja, machte der Greis.
Ein tadelloser Name, den Maximilian glorreich machen wird, denn mit dreißig Jahren ist er Kapitän der Spahis und Offizier der Ehrenlegion. Der Greis machte ein Zeichen, daß er sich dessen erinnere.
Wohl, guter Papa, sagte Valentine, vor dem Greise niederkniend und mit der Hand auf Maximilian deutend, ich liebe ihn und werde nur ihm gehören! Zwingt man mich, einen andern zu heiraten, so sterbe ich, und mußte ich mir selbst das Leben nehmen. Die Augen des Gelähmten drückten eine ganze Welt stürmischer Gedanken aus.
Nicht wahr, guter Papa, du liebst Herrn Maximilian Morel? sagte das Mädchen.
Ja, machte der Greis.
Und du willst uns, die wir deine Kinder sind, gegen den Willen meines Vatersbeschützen?
Noirtier heftete seinen gescheitenBlick auf Morel, als wollte er ihm sagen: Je nachdem.
Maximilian verstand ihn und sagte: Mein Fräulein, Sie haben eine heilige Pflicht in dem Zimmer Ihrer Großmutter zu erfüllen; wollen Sie mir erlauben, daß ich die Ehre habe, einen Augenblick mit Herrn Noirtier zu sprechen?
Ja, ja, das ist es, sagte das Auge des Greises; dann schaute er Valentine unruhig an.
Wie er es machen werde, um dich zu verstehen, willst du sagen, guter Vater?
Ja.
Oh! sei unbesorgt, wir haben so oft von dir gesprochen, daß er wohl weiß, wie ich mit dir rede.
Dann fügte sie mit einem anbetungswürdigen Lächeln, das freilich durch eine tiefe Traurigkeit verschleiert war, zu Maximilian gewendet, hinzu: Er weiß alles, was ich weiß.
Valentine erhobsich, rückte für Morel einen Stuhl vor, empfahlBarrois, niemand eintreten zu lassen, umarmte zärtlich ihren Großvater, drückte ihrem Verlobten traurig die Hand und entfernte sich.
Um Noirtier zubeweisen, daß er Valentines Vertrauenbesitze und alle ihre Geheimnisse kenne, nahm er das Wörterbuch, die Feder und das Papier und legte alles auf einen Tisch, auf dem eine Lampe stand. Vor allem, sagte Morel, vor allem erlauben Sie mir, Ihnen zu erzählen, mein Herr, wer ichbin, wie ich Fräulein Valentine liebe, und was meine Absichten inBezug auf Ihre Enkelin sind.
Ich höre, machte Noirtier.
Erbot ein eindrucksvolles Schauspiel, dieser Greis, scheinbar so kraftlos und unnütz, der aber doch der einzigeBeschützer und die einzige Stütze, der einzigeBerater zweier junger, schöner, starker Liebenden geworden war. Sein Antlitz, in dem sich Adel und ungewöhnliche Energie paarten, brachte eine mächtige Wirkung auf Morel hervor, der seine Erzählung zitterndbegann.
Er teilte dem Greise mit, wie er Valentine kennen gelernt habe, wie er sie geliebt, und wie sie, vereinsamt und unglücklich, wie sie war, seine Ergebenheit aufgenommen habe. Er sprach von seiner Geburt, von seiner Stellung, von seinem Vermögen; und mehr als einmal, wenn er denBlick des Gelähmtenbefragte, antwortete ihm dieserBlick: Es ist gut: fahren Sie fort!
Als Morel diesen ersten Teil seiner Erzählungbeendigt hatte, sagte er: Mein Herr, soll ich nun, da ich Ihnen meine Liebe und meine Hoffnungen geschildert, auch meine Pläne schildern?
Ja, machte der Greis.
Wohl, so hören Sie, was wirbeschlossen haben.
Er setzte hierauf Noirtier alles auseinander, wie ein Wagen in dem Gehege warte, wie erbeabsichtige, Valentine zu entführen, zu seiner Schwester zubringen, zu heiraten und mit ergebenem Warten auf die Verzeihung des Herrn von Villefort zu hoffen.
Nein, machte der Greis.
Nein, versetzte Morel, wir sollen nicht so handeln?
Nein.
Dieser Plan findet also nicht IhreBeistimmung?
Nein.
Gut, es gibt noch ein anderes Mittel, sagte Morel.
DerBlick des Greises fragte: Welches?
Ich werde Franz d'Epinay aufsuchen, fuhr Maximilian fort, ichbin glücklich, Ihnen dies in Abwesenheit des Fräulein von Villefort sagen zu können, und mich gegen ihn sobenehmen, daß er sich als ein mutiger Mann zu handeln gezwungen sieht.
NoirtiersBlick fragte fortwährend: Was werden Sie tun?
Hören Sie, antwortete Morci. Ich werde Franz, wie ich Ihnen sagte, aufsuchen und ihm erzählen, welcheBande mich mit Fräulein Valentine vereinigen. Ist es ein Mann von Zartgefühl, so wird er es dadurchbeweisen, daß er von selbst auf die Hand seinerBraut Verzicht leistet, und von dieser Stunde anbis zum Tode kann er auf meine Freundschaft und Ergebenheit rechnen. Weigert er sich, sei es aus Interesse, sei es aus lächerlichem Stolz, so werde ich mich, nachdem ich ihm auseinandergesetzt, daß er Valentine Zwang antue, daß sie mich liebe und keinen andern lieben könne, mit ihm schlagen und ihn töten, oder mich von ihm töten lassen. Töte ich ihn, so wird er Valentine nicht heiraten; tötet er mich, sobin ich sicher, daß Valentine ihn nicht heiratet.
Mit unsäglichem Vergnügenbetrachtete Noirtrer dieses edle, aufrichtige Antlitz, auf dem sich alle Gefühle ausprägten, die seine Zunge sprach, denn der sprechende Ausdruck seines schönen Gesichtes verlieh Morels Worten das, was die Farbe einer genauen und wahren Zeichnung verleiht. Als jedoch Morel zu sprechen aufgehört hatte, schloß Noirtier wiederholt die Augen, was, wie man sich erinnert, neinbedeutete.
Nein? versetzte Morel. Also mißbilligen Sie diesen zweiten Plan wie den ersten?
Ja, ich mißbillige ihn, machte der Greis.
Aber was soll ich tun, mein Herr? fragte Morel. Nach den letzten Worten der Frau von Saint‑Meran wird die Heirat Ihrer Enkelinbald vollzogen werden; soll ich die Dinge ihren Weg gehen lassen?
Noirtierbliebunbeweglich.
Ja, ichbegreife, sagte Morel, ich soll warten. — Ja.
Aber mein Gott, wenn Sie diebeiden einzigen Wege verwerfen, die mir möglich scheinen, von wem soll uns die Hilfe kommen, die wir vom Himmel erwarten?
Der Greis lächelte mit den Augen, wie er zu lächeln pflegte, wenn man zu ihm vom Himmel sprach. Er war immer noch der alte Atheist und Jakobiner.
Vom Zufall? fragte Morel. — Nein. — Von Ihnen? — Ja. — Von Ihnen? — Ja, wiederholte der Greis.
Begreifen Sie wohl, was ich Sie frage, mein Herr? Entschuldigen Sie mich, doch mein Leben hängt von Ihrer Antwort ab; wird unser Heil von Ihnen kommen? — Ja. — Sind Sie dessen sicher? — Ja.
Es lag eine solche Festigkeit in demBlicke, der diese Versicherung gab, daß man unmöglich an dem Willen, wenn vielleicht auch an der Macht, zweifeln konnte.
Oh, ich danke, mein Herr, ich danke tausendmal. Doch wenn nicht ein Wunder des Herrn Ihnen die Sprache, die Gebärde, dieBewegung zurückgibt, wie können Sie, an diesen Stuhl gefesselt, sich dieser Heirat widersetzen?
Ein Lächeln erleuchtete das Antlitz des Greises, ein seltsames Lächeln, das Lächeln der Augen auf einem unbeweglichen Gesichte.
Ich soll also warten? fragte der junge Mann. Doch der Vertrag?
Es erschien dasselbe Lächeln.
Wollen Sie mir sagen, er werde nicht unterzeichnet?
Ja, machte Noirtier.
Also wird der Vertrag nicht unterzeichnet werden! rief Morel. Oh! verzeihen Sie mir, mein Herr, bei der Ankündigung eines großen Glückes ist man zu zweifelnberechtigt; der Vertrag wird also nicht unterzeichnet werden?
Nein, machte der Gelähmte.
Trotz dieser Versicherung wollte Morel nicht an sein Glück glauben. Das Versprechen eines ohnmächtigen Greises war so seltsam, daß es, statt der Willenskraft zu entspringen, ebensogut in einer Schwäche der Organe seinen Ursprung haben konnte. Ist es nicht natürlich, daß der Wahnsinnige, der nichts von der Störung seines Geistes weiß, für sein Vermögen Unüberwindliches ausführen zu können glaubt? Der Schwache spricht von Lasten, die er aufhebt, der Schüchterne von Riesen, denen er Trotzbietet, der Arme von Schätzen, über die er zu gebieten hat, der Niedriggeborene nennt sich in seinem Stolze Jupiter.
Obnun Noirtier die Unentschiedenheit des jungen Mannesbegriffen hatte, ober der Gelehrigkeit, die er gezeigt, keinen vollen Glauben schenkte, er schaute Maximilian fest an. Was wollen Sie, mein Herr? fragte Morel, soll ich Ihnen mein Versprechen, nichts zu tun, wiederholen?
NoirtiersBlickbliebfest und starr, als wollte er sagen, ein Versprechen genüge nicht; dann schaute er auf Morels Hand.
Soll ich schwören, mein Herr? fragte Maximilian.
Ja, machte der Lahme mit derselben Feierlichkeit.
Morelbegriff, daß dem Greise an diesem Eide viel gelegen sei.
Er streckte die Hand aus und sagte: Ich schwöre Ihnenbei meiner Ehre, abzuwarten, was Sie gegen die Ansprüche des Herrn d'Epinay zu unternehmen gedenken.
Gut, machten die Augen des Greises.
Nunbefehlen Sie, mein Herr, daß ich mich zurückziehe?
Ja.
Morelbedeutete durch ein Zeichen, er seibereit, zu gehorchen.
Erlauben Sie, mein Herr, fuhr Morel fort, daß Ihr Sohn Sie umarmt, wie es soeben Ihre Tochter getan hat?
Man konnte sich in dem Ausdrucke der Augen des Greises nicht täuschen. Der junge Mann drückte auf Noirtiers Stirn seine Lippen an dieselbe Stelle, an die Valentine die ihrigen gedrückt hatte.
Dann verbeugte er sich zum zweiten Male vor dem Greise und ging hinaus. Außen fand er den alten Diener, den Valentine in Kenntnis gesetzt hatte; er erwartete Morel und geleitete ihn durch die Krümmungen eines düsteren Ganges, der zu einer nach dem Garten gehenden kleinen Tür führte. Bald hatte Morel das Gitter erreicht; durch die Hagenbuchenhecke war er in einem Augenblick oben auf der Mauer und durch seine Leiter in einer Sekunde in dem Luzernengehege, wo sein Wagen immer noch seiner harrte. Er stieg ein, kehrte müde und matt, aber mit freierem Herzen in die Rue Meslay zurück, warf sich auf seinBett und schlief, als läge er in denBanden tiefer Trunkenheit.
Die Gruft der Familie Villefort
Zwei Tage nachher versammelte sich einebeträchtliche Menge Menschen gegen zehn Uhr morgens vor der Tür des Herrn von Villefort, und man sah eine Reihe von Trauerwagen und Privatgefährten den Faubourg Saint‑Honors und die Rue de la Pépinière entlang ziehen.
Unter diesen Wagen hatte einer eine sonderbare Form. Es war eine Art von schwarz angemaltem Packwagen. Auf ihre Erkundigung erfuhren die Leidtragenden, daß dieser Wagen den Körper des Marquis von Saint‑Mecan enthalte. Die Zahl der Anwesenden war sehr groß. Der Marquis von Saint‑Meran, einer der eifrigsten und getreuesten Würdenträger König Ludwigs XVIII. und König Karls X., besaß eine große Zahl von Freunden, zu denen noch die vielen Personen kamen, die durch gesellschaftlicheBande an Herrn von Villefort geknüpft waren.
Ein zweiter Wagen, mit derselben Pracht geschmückt, fuhr vor der Tür des Herrn von Villefort vor, und der Sarg wurde von dem erwähnten Transportwagen auf den Leichenwagen gebracht.
Diebeiden Toten sollten in dem Friedhofe des Père la Chaisebestattet werden, wo seit langer Zeit Herr von Villefort das für dasBegräbnis seiner ganzen Familiebestimmte Gewölbe hatte errichten lassen. In diesem Gewölbe ruhtebereits der Leichnam der armen Renée, mit der sich ihr Vater und ihre Mutter nach zehnjähriger Trennung wieder vereinigen sollten.
Miteinander in demselben Trauerwagen unterhielten sichBeauchamp, Debray und Chateau‑Renaud über den plötzlichen Todesfall.
Ich habe Frau von Saint‑Meranbei meiner Rückkehr von Algerien im vorigen Jahre in Marseille gesehen, sagte Chateau‑Renaud; mit ihrer vollkommenen Gesundheit, mit ihrer Geistesgegenwart und ihrer wunderbaren Rüstigkeit schien sie zu einem Leben von hundert Jahrenbestimmt. Wie alt war die Marquise?
Sechsundsechzig Jahre, wenigstens wie mir Franz versicherte, antwortete Albert. Doch das Alter ist es nicht, was sie getötet hat, sondern der Kummer über den Tod des Marquis; es scheint, daß sie seit diesem Tode, der sie aufs heftigste erschütterte, nicht mehr völlig zur Vernunft gekommen ist.
Doch, woran ist sie denn gestorben? fragte Debray.
An einer Hirnkongestion, wie es scheint, oder an einem Schlagflusse.
Schlagfluß, versetzteBeauchamp, das ist schwer zu glauben. Frau von Saint‑Meran, die ich ebenfalls ein- oder zweimal in meinem Leben gesehen habe, war klein, von schwächlicher Gestalt und von mehr nervöser als sanguinischer Konstitution. Daß ein solcher Körper einem Schlagfluß erliegt, ist sehr selten.
Wie dem auch sein mag, sagte Albert, mag sie der Arzt oder die Krankheit getötet haben, Herr von Villefort oder Fräulein Valentine oder vielmehr unser Freund Franz ist nun imBesitze einer herrlichen Erbschaft, achtzigtausend Franken Rente, glaube ich.
Eine Erbschaft, die sichbeim Tode des alten Jakobiners Noirtierbeinahe verdoppelt.
Das nenne ich einen hartnäckigen Großvater, versetzteBeauchamp. Tenacem propositi virum. Er hat, glaube ich, gegen den Tod gewettet, er würde alle seine Erbenbeerdigen, und es wird ihm, meiner Treu, gelingen. Er ist das alte Konventsmitglied von 93, das im Jahr 1814 zu Napoleon sagte: Sie sinken, weil Ihr Kaiserreich ein junger, durch zu schnelles Wachsen saftlos gewordener Stamm ist. Nehmen Sie die Republik zum Vormund! Lassen Sie uns mit einer guten Konstitution auf die Schlachtfelder zurückkehren! Und ich verspreche Ihnen 500 000 Soldaten, ein neues Marengo und ein zweites Austerlitz. Die Ideen sterben nicht, Sire, sie schlummern zuweilen, aber sie erwachen stärker, als sie vor dem Einschlafen gewesen sind.
Es scheint, für ihn sind die Menschen, wie die Ideen; nur einesbeunruhigt mich, ich möchte wissen, wie sich Franz d'Epinay in einen Großschwiegervater fügen wird, der seine Frau nicht entbehren kann. Doch wo ist Franz?
Im ersten Wagen mit Herrn von Villefort, der ihnbereits als zur Familie gehörigbetrachtet.
In jedem von den Wagen, die dem Leichenbegängnis folgten, fand ungefähr dasselbe Gespräch statt; man staunte über diebeiden so plötzlich und so rasch hintereinander eingetretenen Todesfälle; doch in keinem ahnte man das furchtbare Geheimnis, das Herr d'Avrignybei seinem nächtlichen Spaziergang Herrn von Villefort mitgeteilt hatte.
Nach ungefähr einer Stunde gelangte man an das Tor des Friedhofes; es herrschte eine ruhige, aber düstere Witterung, die mit der eben stattfindenden Trauerfeierlichkeit im Einklange stand. Unter den Gruppen, die sich nach dem Familiengrabgewölbe wandten, erkannte Chateau‑Renaud Morel, der ganz allein und im Kabriolett gekommen war; er ging, sehrbleich und schweigsam, auf dem schmalen, mit Eibenbäumen eingefaßten Pfade.
Sie hier? sagte Chateau‑Renaud, seinen Arm unter den des jungen Kapitäns legend; Sie kennen also Herrn von Villefort? Wie kommt es denn, daß ich Sie niebei ihm gesehen habe?
Ich kenne Herrn von Villefort nicht, entgegnete Morel, aber ich kannte Frau von Saint‑Meran.
In diesem Augenblick trat Albert mit Franz zu ihnen.
Der Ort ist für eine Vorstellung schlecht gewählt, sagte Albert; doch gleichviel, wir sind nicht abergläubisch. Herr Morel, erlauben Sie mir, Ihnen Herrn Franz d'Epinay, einen vortrefflichen Reisegesellschafter, vorzustellen, mit dem ich Italien durchwandert habe. Mein lieber Franz, Herr Maximilian Morel, ein vortrefflicher Freund, den ich mir in deiner Abwesenheit erworben, und dessen Namen du in meiner Unterhaltung so oft hören wirst, als ich von Geist, Herz und Liebenswürdigkeit zu sprechen habe.
Morel war einen Augenblick unentschieden. Er fragte sich, obnicht die freundlicheBegrüßung eines Mannes, den er insgeheimbekämpfte, eine verdammenswerte Heuchelei sei; doch im Gedanken an seinen Schwurbemühte er sich, nichts auf seinem Gesichte durchblicken zu lassen, und grüßte ruhig.
Fräulein von Villefort ist wohl sehr traurig? sagte Debray zu Franz.
Oh! mein Herr, sie ist unaussprechlich traurig; heute morgen war sie so entstellt, daß ich sie kaum erkannte.
Die scheinbar so wenigbesagenden Wortebrachen Morel das Herz. Dieser Mensch hatte also Valentine gesehen, er hatte mit ihr gesprochen!
Der junge aufbrausende Offizierbedurfte seiner ganzen Kraft, um dem Verlangen, seinen Schwur zubrechen, zu widerstehen. Er nahm Chateau‑Renaud am Arm und zog ihn rasch nach dem Grabgewölbe fort, vor dem die mit den Zeremonien des LeichenbegängnissesBeauftragten diebeiden Särge niedergesetzt hatten.
Villeforts Familienbegräbnisbildete ein Geviert von weißen Steinen und war etwa zwanzig Fuß hoch. Durch dieBronzetür sah man nur ein Vorgemach, das durch eine Mauer von dem eigentlichen Grabgemach getrennt war. Mitten in dieser Mauer öffneten sich zwei Türen, die zu den Grabstätten der Villefort und Saint‑Meran führten.
Diebeiden Särge kamen in das Grabgewölbe rechts, das der Familie Saint‑Meran, und wurden dort auf dazubestimmte Gestelle gesetzt. Villefort, Franz und einige nahe Verwandte traten allein in das Allerheiligste.
Da die religiösen Zeremonien sich vor der Tür vollzogen und keine Rede gehalten wurde, so trennten sich die Anwesendenbald; Chateau‑Renaud, Albert und Morel entfernten sich nach der einen Seite, Debray undBeauchamp nach der andern. Franzbliebmit Herrn von Villefort zurück. Am Tore des Friedhofes stand Morel unter irgend einem Vorwand still; er sah Franz in einem Trauerwagen mit Herrn von Villefort herausfahren, und es erfaßte ihn eine schlimme Ahnung, als er dieses Zusammensein unter vier Augen wahrnahm. Er kehrte daher nach Paris zurück, und obgleich er in demselben Wagen mit Chateau‑Renaud und Albert fuhr, hörte er doch kein Wort von dem, was diebeiden sprachen.
Als Franz Herrn von Villefort verlassen wollte, hatte dieser gesagt: HerrBaron, wann werde ich Sie wiedersehen?
Wann Sie wollen, hatte Franz erwidert.
Sobald als möglich.
Ich stehe zu IhrenBefehlen, mein Herr; ist es Ihnen genehm, daß wir zusammen zurückkehren?
Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist.
Keineswegs.
So stiegen der zukünftige Schwiegervater und der zukünftige Schwiegersohn in einen Wagen, und Morel wurde, als er sie vorüberfahren sah, wie gesagt, von Unruhe erfaßt.
Villefort und Franz kehrten nach dem Faubourg‑Saint‑Honoré zurück. Ohnebei jemand einzutreten, ohne mit seiner Frau oder seiner Tochter zu sprechen, ließ der Staatsanwalt den jungen Mann in sein Kabinett gehen, bezeichnete ihm einen Stuhl und sagte: Herr d'Epinay, ich muß Sie daran erinnern, und der Augenblick ist nicht so schlecht gewählt, als es den Anschein hat, denn der Gehorsam gegen die Toten ist das erste Opfer, das man auf ihren Sarg zu legen hat, ich muß Sie also daran erinnern, daß nach dem von Frau von Saint‑Meran auf ihrem Sterbebette vorgestern ausgedrückten Wunsche Valentines Heirat keinen Aufschubduldet. Sie wissen, daß die Angelegenheiten der Hingeschiedenen vollkommen in Ordnung sind, daß ihr Testament Valentine das ganze Vermögen der Saint‑Meran sichert? der Notar hat mir gestern die Akten gezeigt, auf denen die Fassung des Ehevertragesberuht. Sie können den Notarbesuchen und sich in meinem Auftrage die Akten mitteilen lassen. Es ist Herr Deschamps, PlaceBeauveau, Faubourg Saint‑Honoré.
Mein Herr, entgegnete d'Epinay, es ist vielleicht für Fräulein Valentinebei ihrem heftigen Schmerze nicht der geeignete Augenblick, sie an die Heirat zu erinnern; ich würde in der Tatbefürchten…
Valentine, unterbrach ihn Herr von Villefort, wird kein lebhafteres Verlangen haben, als das, den letzten Willen ihrer Großmutter zu erfüllen; die Hindernisse werden somit, dafür stehe ich Ihnen, nicht von ihrer Seite kommen.
Da sie in diesem Fall auch nicht von meiner Seite kommen, erwiderte Franz, so handeln Sie nach Ihrem Gutdünken! Mein Wort ist gegeben, und es gereicht mir nicht nur zum Vergnügen, sondern auch zum Glück, es zu halten.
Es steht also nichts im Wege, versetzte Villefort; der Vertrag sollte vor drei Tagen unterzeichnet werden, er ist völligbereit, und wir können ihn heute unterzeichnen.
Doch die Trauer? sagte Franz zögernd.
Seien Sie unbesorgt, mein Herr; der Anstand wird in meinem Hause nicht verletzt werden. Fräulein von Villefort kann sich für die drei vorgeschriebenen Monate auf ihr Gut Saint‑Meran zurückziehen; ich sage ihr Gut, denn heute ist es ihr Eigentum. Dort wird in acht Tagen, wenn Sie wollen ohne Geräusch, ohne Gepränge, die Heirat vollzogen. Es war ein Wunsch der Frau von Saint‑Meran, daß ihre Enkelin sich auf diesem Gute verheiraten möchte. Ist der Ehebund geschlossen, so können Sie nach Paris zurückkehren, während Ihre Frau die Trauerzeitbei ihrer Stiefmutter zubringt.
Ganz nach IhremBelieben, sagte Franz.
So haben Sie die Güte, eine halbe Stunde zu warten; Valentine wird in den Salon kommen. Ich lasse Herrn Deschamps rufen, wir lesen und unterzeichnen den Vertrag auf der Stelle, und noch heute abendbringt Frau von Villefort Valentine auf ihr Gut, wohin wir Ihnen in acht Tagen nachfolgen.
Mein Herr, ich habe Sie nur um eins zubitten, sagte Franz, ich wünschte, daß Albert von Morcerf und Raoul von Chateau‑Renaudbei der Unterzeichnung zugegen sind; Sie wissen, sie sind meine Zeugen.
Eine halbe Stunde genügt, um sie in Kenntnis zu setzen; soll ich sie holen lassen, oder wollen Sie diese Herren selbst holen?
Ich ziehe es vor, sie selbst zu holen.
Ich erwarte Sie in einer halben Stunde, und in einer halben Stunde wird auch Valentinebereit sein.
Franz verbeugte sich und verließ das Zimmer.
Kaum hatte sich die Tür des Hauses hinter dem jungen Manne geschlossen, als Villefort Valentine sagen ließ, sie sollte in einer halben Stunde in den Salon kommen, weil der Notar und die Zeugen des Herrn d'Epinay erscheinen würden. Diese unerwartete Kundebrachte einen mächtigen Eindruck in dem Hause hervor. Frau von Villefort wollte nicht daran glauben, und Valentine war wie von einem Donnerschlage niedergeschmettert. Sie schaute umher, als obsie suchen wollte, von wem sie Hilfe verlangen könnte. Sie wollte zu ihrem Großvater hinabgehen; doch auf der Treppebegegnete sie ihrem Vater, der sie am Arme nahm und in den Salon führte. Hier traf sieBarrois, dem sie einen verzweifeltenBlick zuwarf. Einen Augenblick nach Valentine trat Frau von Villefort mit dem kleinen Eduard in den Salon. Die junge Frau hatte sichtlich ihren Teil an dem Kummer der Familie gehabt; sie warbleich und schien furchtbar ermattet.
Frau von Villefort nahm Eduard auf ihren Schoß und drückte von Zeit zu Zeit mitbeinahe krampfhaftenBewegungen den Knaben, in dem sich ihr ganzes Leben zu verdichten schien, an ihreBrust.
Bald hörte man das Geräusch zweier Wagen, die in den Hof fuhren. Der eine war der des Notars, der andere der von Franz, In einem Augenblick hatten sich alle im Salon versammelt.
Valentine war sobleich, daß man dieblauen Adern ihrer Schläfe um ihre Augen sich abzeichnen und ihre Wangen entlang laufen sah. Chateau‑Renaud und Albert schauten sich erstaunt an; die soeben vollzogene Zeremonie kam ihnen nicht trauriger vor, als die, welche nunbeginnen sollte. Frau von Villefort hatte sich hinter einem Samtvorhang in den Schatten gesetzt, und da sie sichbeständig über ihren Sohn neigte, so konnte man nur schwer auf ihrem Gesichte lesen, was in ihrem Herzen vorging.
Herr von Villefort schien, wie immer, unempfindlich.
Nachdem der Notar seine Papiere auf dem Tische geordnet, in einem Lehnstuhle Platz genommen und seineBrille etwas in die Höhe gehoben hatte, wandte er sich gegen Franz und fragte ihn, obgleich es ihm sehr wohlbekannt war: Sie sind Herr Franz von Quesnel, Baron d'Epinay?
Ja, mein Herr, antwortete Franz.
Der Notar verbeugte sich und fuhr fort: Ich muß Sie davon in Kenntnis setzen, mein Herr, und zwar im Auftrage des Herrn von Villefort, daß sich infolge derbeabsichtigten Heirat Herrn von Noirtiers Gesinnung gegen seine Enkelin völlig verändert hat, und daß er auf andere das Vermögen übergehen läßt, das er ihr vermachen wollte. Ich muß indes sogleichbemerken, daß, insofern der Erblasser nurberechtigt ist, ihr einen Teil seines Vermögens zu entziehen, während er ihr das ganze entzogen hat, daß, sage ich, das Testament einem Angriff nicht widerstehen und für null und nichtig erklärt werden wird.
Allerdings, sagte Villefort; nur setze ich Herrn d'Epinay zum voraus davon in Kenntnis, daß zu meinen Lebzeiten das Testament meines Vaters nie angegriffen werden wird, da ichbei meiner Stellung auch den Schatten eines Skandals zu vermeiden habe.
Mein Herr, sagte Franz, es tut mir leid, daß eine solche Frage in Fräulein Valentines Gegenwart erhoben worden ist. Ich habe mich nie nach demBetrage ihres Vermögens erkundigt, das unter allen Umständen noch ansehnlicher sein wird, als das meinige. Meine Familie suchte in der Verbindung mit Herrn von Villefort das Ansehen, ich suche darin das Glück.
Valentine machte ein unmerkliches Zeichen des Dankes, während zwei stille Tränen über ihre Wangen floßen.
Abgesehen jedoch, sagte Villefort, sich an seinen zukünftigen Schwiegersohn wendend, abgesehen von einem teilweisen Verluste Ihrer Hoffnungen hat dieses unerwartete Testament nichts, was Sie persönlich verletzen dürfte. Es erklärt sich durch Herrn Noirtiers Geistesschwäche. Meinem Vater mißfällt es nicht, daß Fräulein von Villefort sich mit Ihnen verbindet, sondern daß Valentine überhaupt heiratet. Ein Ehebund mit jedem andern hätte ihm denselben Kummerbereitet. Das Alter ist selbstsüchtig, mein Herr, und Fräulein von Villefort war für Herrn Noirtier eine treue Gesellschafterin, was dieBaronin d'Epinay nicht mehr wird sein können. Der unglückliche Zustand meines Vaters macht, daß man selten mit ihm über ernste Gegenstände sprechen kann, denen er gar nicht zu folgen vermag, und ichbin fest überzeugt, daß Herr Noirtier vielleicht sich noch erinnert, daß seine Enkelin verheiratet werden soll, aber den Namen des ihrbestimmten Gatten völlig vergessen hat.
Kaum hatte Villefort diese Worte gesprochen, die Franz mit einer Verbeugung erwiderte, als die Tür des Salons sich öffnete undBarrois erschien.
Meine Herren, sagte er mit einer für einen Diener, der unter so feierlichen Umständen mit dem Sohn seines Gebieters spricht, seltsam festen Stimme, meine Herren, Herr Noirtier von Villefort wünscht auf der Stelle Herrn Franz von Quesnel, Baron d'Epinay, zu sprechen.
Villefortbebte, Frau von Villefort ließ ihren Sohn von ihrem Schoß heruntergleiten, Valentine erhobsichbleich und stumm wie eineBildsäule. Albert und Chateau‑Renaud schauten sich abermals und noch mehr erstaunt als das erstemal an.
Der Notar heftete seineBlicke auf Villefort.
Es ist unmöglich, sagte der Staatsanwalt; Herr d'Epinay kann den Salon in diesem Augenblick nicht verlassen.
Gerade in diesem Augenblick wünscht Herr Noirtier, mein Gebieter, Herrn Franz d'Epinay in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen, versetzteBarrois mit derselben Festigkeit.
Antworten Sie Herrn Noirtier, daß das, was er verlangt, nicht sein könne, sagte Villefort.
Dann läßt Herr Noirtier die Herrenbenachrichtigen, daß er sich werde in den Salon tragen lassen, sagteBarrois.
Das Erstaunen erreichte den höchsten Grad. Ein leichtes Lächeln erschien auf Frau von Villeforts Antlitz. Valentine schlug unwillkürlich die Augen zur Decke empor, um dem Himmel zu danken.
Valentine, sagte Herr von Villefort, ichbitte dich, erkundige dich doch, was diese neue Phantasie deines Großvatersbedeuten soll. Valentine machte rasch einige Schritte, um sich zu entfernen, doch Herr von Villefortbesann sich eines anderen und rief: Warte, ichbegleite dich.
Verzeihen Sie, mein Herr, sagte Franz, da Herr Noirtier nach mir verlangt, so habe ich mich, wie es scheint, vor allem seinen Wünschen zu fügen. Überdies werde ich mich glücklich fühlen, ihm meine Achtung zubezeigen, da ich noch nicht Gelegenheit gehabt habe, mir diese Ehre zu erbitten.
Oh, mein Gott! bemühen Sie sich nicht, rief Villefort mit sichtbarer Unruhe.
Entschuldigen Sie mich, mein Herr, entgegnete Franz mit dem Tone eines Mannes, der seinen Entschluß gefaßt hat. Ich wünsche diese Gelegenheit nicht zu versäumen, um Herrn Noirtier zubeweisen, wie sehr er unrecht hätte, einen Widerwillen gegen mich zu hegen, den durch meine tiefe Ergebenheit zubesiegen mein inniges Verlangen ist.
Und ohne sich länger durch Villefort zurückhalten zu lassen, stand Franz ebenfalls auf und folgte Valentine, diebereits mit der Freude eines Schiffbrüchigen, der die Hand an einen Felsen legt, die Treppe hinabstieg.
Herr von Villefort folgtebeiden.
Das Protokoll
Noirtier wartete, schwarz gekleidet, in seinem Lehnstuhle. Als die drei Personen, die er kommen zu sehen hoffte, eingetreten waren, schloß sein Kammerdiener sogleich wieder die Tür.
Merke Wohl auf, sagte leise Villefort zu Valentine, die ihre Freude nicht verbergen konnte, wenn Herr Noirtier Dinge mitteilen will, welche deine Heirat verhindern, so verbiete ich dir, ihn zu verstehen.
Valentine errötete, antwortete aber nicht.
Villefort näherte sich Noirtier und sagte zu ihm: Hier ist Herr Franz d'Epinay; Sie haben nach ihm verlangt, mein Herr, und er fügt sich Ihrem Verlangen. Allerdings wünschten wir diese Zusammenkunst seit geraumer Zeit, und ich werde entzückt sein, wenn sie Ihnenbeweist, wie wenig Ihr Widerstreben gegen Valentines Heiratbegründet war.
Noirtier antwortete nur durch einenBlick, bei dem Villeforts Adern ein Schauer durchlief. Erbedeutete Valentine durch ein Zeichen mit dem Auge, sie möge sich nähern.
Durch die Mittel, deren sie sich in ihren Unterhaltungen mit ihrem Großvater zubedienen pflegte, hatte sie in einem Augenblick das von ihm gewünschte Wort Schlüssel gefunden. Dannbefragte sie denBlick des Gelähmten, der sich auf die Schublade eines kleinen, zwischen zwei Fenstern stehenden Schrankes heftete. Als sie diesen Schlüssel herausgenommen, wandten sich die Augen des Gelähmten nach einem alten, seit Jahren vergessenen Sekretär.
Soll ich den Sekretär öffnen? fragte Valentine. Ja, machte der Greis.
Soll ich die Schubladen öffnen? — Ja.
Die mittlere? — Ja.
Valentine öffnete und zog einBündel Papiere heraus.
Ist das, was Sie wünschen, guter Vater? fragte sie.
Der Greis schüttelte den Kopf, und sie zog nach und nach alle anderen Papiere heraus.
Aber die Schublade ist nun leer, sagte sie.
Noirtiers Augen hefteten sich auf das Wörterbuch.
Ja, guter Vater, ichbegreife Sie, sagte das Mädchen.
Und sie fing an dieBuchstaben des Alphabets nacheinander herzusagen; bei demBuchstaben G hielt sie Noirtier an.
Ah! Ein geheimes Fach? — Ja, machte Noirtier.
Und wer kennt es?
Noirtier schaute nach der Tür, durch welche derBediente weggegangen war.
Barrois? sagte sie. — Ja, machte Noirtier.
Valentine ging an die Tür und riefBarrois. Während dieser Zeit floß der Schweiß der Ungeduld von Villeforts Stirn, während Franz im höchsten Maße erstaunt zu sein schien. Der alte Diener trat ein.
Barrois, sagte Valentine, mein Großvater hat mirbefohlen, diesen Sekretär zu öffnen und dieses Schubfach herauszuziehen; nun istbei diesem Schubfach ein Geheimnis, das Sie, wie es scheint, kennen; öffnen Sie!
Barrois gehorchte; ein doppelterBoden öffnete sich, und es wurden mehrere mit schwarzemBand umwickelte Papiere sichtbar.
Wünschen Sie das, mein Herr? fragteBarrois. — Ja.
Wem soll ich diese Papiere übergeben, Herrn von Villefort? — Nein.
Fräulein Valentine? — Nein.
Herrn Franz d'Epinay? — Ja.
Franz machte erstaunt einen Schritt vorwärts und sagte:
Mir, mein Herr? — Ja.
Franz empfing die Papiere ausBarrois' Händen und las die Aufschrift: Nach meinem Todebei meinem Freunde, dem General Durand, zu hinterlegen, der sterbend dieses Paket seinem Sohne mit der Einschärfung vermachen wird, dasselbe, da es ein Papier von der größten Wichtigkeit enthält, aufzubewahren.
Nun, mein Herr? fragte Franz, was soll ich mit diesem Papier machen?
Sie sollen es ohne Zweifel versiegelt, wie es ist, behalten, sagte der Staatsanwalt.
Nein, nein, erwiderte der Greis lebhaft.
Sie wünschen vielleicht, daß es der Herr lesen möge? fragte Valentine.
Ja, antwortete der Greis.
Sie hören, HerrBaron? Mein Großvaterbittet Sie, dieses Papier zu lesen, sagte Valentine.
So setzen wir uns, sagte Villefort voll Ungeduld, denn das wird lange dauern.
Villefort setzte sich, aber Valentinebliebneben ihrem Großvater, auf seinen Lehnstuhl gestützt, stehen, und Franz stand vor ihr und hielt das geheimnisvolle Papier in der Hand.
Lesen Sie! sagten die Augen des Greises.
Franz machte den Umschlag los, und es trat eine tiefe Stille in dem Zimmer ein. Inmitten dieser Stelle las er:
Auszug aus den Protokollen einer Sitzung desbonapartistischen Klubs der Rue Saint‑Jacques, gehalten im 5. Febr. 1815.
Franz hielt inne.
Am 5. Februar 1815, sagte er, das ist der Tag, an dem mein Vater ermordet wurde!
Valentine und Villefortblieben stumm; nur das Auge des Greises sprach klar: Fahren Sie fort! Franz las weiter:
Die Unterzeichneten, LouisBeauregard, Generalleutnant der Artillerie, Etienne Duchampy, Brigadegeneral, und Claude Lecharpale, Direktor der Forsten, erklären, daß am 4. Februar 1815 einBrief von der Insel Elba ankam, der dem Wohlwollen und dem Vertrauen der Mitglieder desbonapartistischen Klubs den General Flavier von Quesnel empfahl, der dem Kaiser von 1805bis 1814 gedient hatte und der Napoleonischen Dynastie trotz desBaronentitels, den ihm Ludwig XVIII. soeben unterBenutzung des Namens seines Landgutes Epinay verliehen hatte, völlig ergeben sein mußte. Demzufolge wurde ein Schreiben an den General von Quesnel gerichtet, worin man ihnbat, der Sitzung am fünftenbeizuwohnen. Das Schreiben gabweder die Straße noch die Hausnummer an, wo die Versammlung stattfinden sollte: es hatte seine Unterschrift und teilte dem General nur mit, wenn er sichbereit halten wolle, so werde man ihn um neun Uhr abends abholen. Um neun Uhr abends erschien der Präsident des Klubsbei dem General: der General warbereit. Der Präsidentbemerkte ihm, es sei eine derBedingungen seiner Einführung, daß er nie den Ort der Zusammenkunft wüßte, daß er sich die Augen verbinden ließe und schwüre, er werde dieBinde nicht abzunehmen suchen. Der General von Quesnel nahm dieBedingung an und machte sichbei seinem Ehrenwort anheischig, nicht sehen zu wollen, wohin man ihn führte. Der General hatte seinen Wagen anspannen lassen, aber der Präsident erklärte ihm, man könnte sich seiner unmöglichbedienen, da es sich nicht der Mühe lohne, die Augen des Herrn zu verbinden, wenn dem Kutscher die Augen offenblieben, und er zu erkennen vermöchte, durch welche Straßen man käme.
Was ist dann zu tun? fragte der General. –
Ich habe meinen Wagenbei mir, sagte der Präsident. –
Sind Sie Ihres Kutschers so sicher, daß Sie ihm ein Geheimnis anvertrauen, das Sie dem meinigen anzuvertrauen für unklug halten?
Unser Kutscher ist ein Mitglied des Klubs, erwiderte der Präsident, wir werden von einem Staatsrate gefahren.
Dann sind wir einer andern Gefahr ausgesetzt, nämlich der, umgeworfen zu werden, sagte der General lachend.
Wirbezeichnen diesen Scherz als einenBeweis dafür, daß der General nicht entfernt gezwungen war, der Sitzungbeizuwohnen, und daß er sie durchaus freiwilligbesuchte. Sobald man in den Wagen gestiegen war, erinnerte der Präsident den General an sein Versprechen, sich die Augen verbinden zu lassen. Der General machte keine Einwendung gegen diese Förmlichkeit. Der Wagen hielt vor einem Hause der Rue Saint‑Jacques. Der General stieg aus und stützte sich dabei auf den Arm des Präsidenten, ohne dessen Würde zu kennen; man durchschritt den Gang, stieg einen Stock hinauf und trat in dasBeratungszimmer.
Die Sitzung hattebegonnen. Von der Einladung desBaronsbenachrichtigt, waren die Mitglieder des Klubs vollzählig versammelt. Als der General die Mitte des Saales erreicht hatte, wurde er aufgefordert, seineBinde abzunehmen. Er entsprach sogleich dieser Ausforderung und schien sehr erstaunt, eine so große Anzahl vonbekannten Gesichtern in einer Gesellschaft zu finden, von deren Dasein erbis dahin nicht einmal eine Ahnung gehabt hatte. Manbefragte ihn über seine Gesinnung, doch erbegnügte sich zu antworten, derBrief von der Insel Elba habe dieselbebekannt machen müssen…
Franz unterbrach sich mit den Worten: Mein Vater war Royalist, man hatte nicht nötig, ihn um seine Gesinnung zubefragen, sie warbekannt.
Und daher rührte meine Verbindung mit Ihrem Vater, mein lieber Herr Franz, sagte Villefort; man verbindet sich leicht, wenn man gleicher Meinung ist.
Lesen Sie, sprach abermals das Auge des Greises. Franz fuhr fort:
Der Präsident nahm nun das Wort und forderte den General auf, sich deutlicher zu erklären; doch Herr von Quesnel antwortete, er wünschte vor allem zu wissen, was man von ihm verlange. Es wurde nun dem General eben dieserBrief von der Insel Elba mitgeteilt, der ihn dem Klubals einen Mann empfahl, auf dessen Mitwirkung man zählen könne. Es war sodann von derbeabsichtigten Rückkehr von der Insel Elba die Rede, worauf ein neuerBrief mit umfassenderen Einzelheiten angekündigt wurde, den der Pharao, ein dem Reeder Morel in Marseille gehörendes Schiff mit einem dem Kaiser ganz und gar ergebenen Kapitän, überbringen würde. Während der Vorlesung desBriefes gabder General, auf den man wie auf einenBruder zählen zu können glaubte, im Gegenteil Zeichen der Unzufriedenheit und des sichtbaren Widerstrebens von sich.
Als derBrief zu Ende war, verharrte er schweigend und mit gerunzelter Stirn.
Nun! fragte der Präsident, was sagen Sie zu diesemBriefe, Herr General?
Ich sage, soeben hat man erst dem König Ludwig XVIII. einen Eid geleistet und will ihn nun schon wieder um des Exkaisers willenbrechen.
Diese Antwort war zu klar, als daß man sich über seine Gesinnung täuschen konnte.
General, sagte der Präsident, es gibt für uns ebensowenig einen König Ludwig XVIII. wie einen Exkaiser; es gibt nur Seine Majestät den Kaiser und König, der seit zehn Monaten aus Frankreich, seinem Staate, durch Gewalt und Verrat entfernt worden ist.
Verzeihen Sie, meine Herren, sagte der General, es ist möglich, daß es für Sie keinen Ludwig XVIII. gibt, aber es gibt einen für mich, da er mich zumBaron und zum Feldmarschall gemacht hat, und da ich nie vergessen werde, daß ich diese Titel seiner glücklichen Rückkehr nach Frankreich zu danken habe.
Mein Herr, sagte der Präsident mit äußerst strengem Tone, während er sich erhob, geben Sie wohl acht auf das, was Sie reden; Ihre Worte sagen uns deutlich, daß man sich auf der Insel Elba in Ihnen getäuscht, und daß man uns getäuscht hat! Die Mitteilung, die man Ihnen gemacht, ist Folge des Vertrauens, das man in Sie setzte, und somit eines Gefühles, das Sie ehrt. Wir waren im Irrtum; ein Titel und ein Amt haben Sie mit der neuen Regierung ausgesöhnt, die wir umstürzen wollen. Wir werden Sie nicht zwingen, uns IhrenBeistand zu leihen, wir reihen niemand wider sein Gewissen und wider seinen Willen ein; doch wir werden Sie zwingen, als ein ehrenhafter Mann zu handeln, selbst wenn Sie nicht dazu geneigt sein sollen.
Sie nennen als ein ehrenwerter Mann handeln Ihre Verschwörung kennen und sie nicht enthüllen! Ich nenne das Ihr Mitschuldiger sein. Sie sehen, daß ich noch offenherzigerbin, als Sie…
Ah! mein Vater, sagte Franz, sich unterbrechend, ichbegreife nun, warum Sie dich ermordet haben.
Valentine konnte sich nicht enthalten, einenBlick auf Franz zu werfen; der junge Mann war wirklich schön in derBegeisterung des Sohnes. Villefort ging im Zimmer auf und ab.
Noirtier verfolgte mit den Augen den Ausdruck jedes Anwesenden undbeobachtete seine würdige, starre Haltung. Franz fuhr fort:
Mein Herr, sagte der Präsident, man hat Sie gebeten, sich in den Schoß der Versammlung zubegeben, und schleppte Sie durchaus nicht mit Gewalt hierher; man forderte von Ihnen, Sie sollten Ihre Augen verbinden, und Sie willigten ein. Als Sie diesem doppelten Verlangen entsprachen, wußten Sie vollkommen, daß wir uns nicht damitbeschäftigten, Ludwig XVIII. den Thron zu sicher, sonst wären wir nicht sobemüht gewesen, uns vor der Polizei zu verbergen. Siebegreifen, es wäre nur zubequem, eine Maske vorzunehmen, mit deren Hilfe man die Geheimnisse der Leute erforscht, und dann ganz einfach die Maske abzulegen, um die zu Grunde zu richten, deren Vertrauen man genossen hat. Nein, nein, Sie werden uns vor allem offenherzig sagen, obSie für den Zufallskönig sind, der in diesem Augenblick regiert, oder für Seine Majestät den Kaiser?
Ichbin Royalist, antwortete der General, ich habe Ludwig XVIII. einen Eid geschworen und werde ihn halten. Auf diese Worte erfolgte ein allgemeines Gemurmel, und man konnte aus denBlicken einer großen Anzahl von Mitgliedern des Clubs ersehen, daß sie in ihrem Innern die Frage verhandelten, obsie nicht Herrn d'Epinay diese unklugen Wortebereuen lassen sollten. Der Präsident stand abermals auf und gebot Stillschweigen.
Mein Herr, sagte er, Sie sind ein zu ernster und zu verständiger Mann, um nicht die Folgen der Lage zubegreifen, in der wir uns gegenseitigbefinden, und Ihre Offenherzigkeit gerade diktiert uns dieBedingungen, die wir stellen müssen: Sie werden uns schwören, nichts von dem zu enthüllen, was Sie gehört haben.
Der General fuhr mit der Hand nach seinem Degen und rief: Wenn Sie von Ehre sprechen, so fangen Sie damit an, daß Sie die Gesetze nicht mißachten und nicht Gewalt anwenden.
Und Sie, mein Herr, fuhr der Präsident mit einer Ruhe fort, die vielleicht furchtbarer war, als der Zorn des Generals, berühren Sie Ihren Degen nicht, das rate ich Ihnen. Der General warfBlicke umher, die einige Unruhe verrieten. Erbeugte sich jedoch noch nicht, sondern sagte, seine ganze Kraft sammelnd: Ich schwöre nicht.
Dann müssen Sic sterben, erwiderte ruhig der Präsident. Herr d'Epinay wurde sehrbleich; er schaute einen Augenblick umher; mehrere Mitglieder des Klubs wisperten und suchten Waffen unter ihren Mänteln.
General, sagte der Präsident, seien Sie unbesorgt, Sie sind unter Männern von Ehre, die jedes Mittel versuchen werden, um Sie zu überzeugen, ehe sie zum Äußersten schreiten; doch Sie sind auch unter Verschworenen; Siebesitzen unser Geheimnis und müssen es uns zurückgeben.
Einbedeutungsvolles Schweigen folgte auf diese Worte, und als der General nicht antwortete, sagte der Präsident zu den Dienern: Schließt die Türen.
Abermals trat eine Totenstille ein. Da schritt der General vor und sagte heftig: Ich habe einen Sohn und muß, da ich mich unter Mördernbefinde, an ihn denken.
General, sagte voll Adel das Haupt der Versammlung, ein einziger Mensch hat immer das Recht fünfzig zubeleidigen; es ist das Recht des Schwachen. Nur hat er unrecht, von diesem Rechte Gebrauch zu machen. Glauben Sie mir, General, schwören Sie undbeleidigen Sie nicht. Abermals von der Hoheit des Vorsitzenden überwältigt, zögerte der General einen Augenblick; doch endlich schritt er zum Tische des Präsidenten und fragte: Wie lautet die Formel? Hören Sie: Ich schwörebei meiner Ehre, nie irgend einem Menschen auf der Welt zu enthüllen, was ich am 5. Februar 1815 abends zwischen neun und zehn Uhr gesehen und gehört habe, und ich erkläre, daß ich den Tod verdiene, wenn ich meinen Schwur verletze.
Der General schien von einem nervösen Zittern ergriffen zu werden, das ihn einige Sekunden lang verhinderte zu antworten; endlich aber sprach er, ein sichtbares Widerstreben überwindend, den verlangten Eid, doch so leise, daß man es kaum hörte; esbegehrten auch mehrere Mitglieder, daß er ihn mit lauterer Stimme und deutlicher wiederhole, was geschah.
Nun wünsche ich, mich entfernen zu dürfen, sagte der General, bin ich endlich frei? Der Präsident stand auf, bezeichnete drei Mitglieder der Versammlung, die ihnbegleiten sollten, und stieg mit dem General in den Wagen, nachdem er ihm die Augen verbunden hatte. Unter den drei Mitgliedern war der Kutscher, der sie gebracht hatte. Die andern Mitglieder des Klubs trennten sich in der Stille.
Wohin sollen wir Sie führen? fragte der Präsident.
Überallhin, wo ich von Ihrer Gegenwartbefreit werde, antwortete d'Epinay.
Mein Herr, versetzte der Präsident, nehmen Sie sich in acht, Sie sind hier nicht mehr in der Versammlung, Sie haben es mit einzelnen Menschen zu tun; beleidigen Sie sie nicht, wenn Sie nicht für dieBeleidigung verantwortlich gemacht werden wollen.
Doch statt diese Sprache zu verstehen, erwiderte d'Epinay: Sie sind immer noch so mutig in Ihrem Wagen, wie in Ihrem Klub, aus dem einfachen Grunde, mein Herr, weil vier Männer stets stärker sind als ein einziger.
Der Präsident ließ den Wagen halten.
Man war gerade an der Ecke des Quai des Ormes, wo sich die Treppe findet, die zu dem Flusse hinabführt. Warum lassen Sie hier halten? fragte der General d'Epinay.
Weil Sie einen Mannbeleidigt haben, mein Herr, antwortete der Präsident, und weil dieser Mann keinen Schritt mehr tun will, ohne auf loyale Weise Genugtuung von Ihnen zu verlangen.
Abermals eine Art zu morden, sagte der General, die Achseln zuckend.
Keinen Lärm, mein Herr, entgegnete der Präsident, wenn ich Sie nicht als einen von den Menschenbetrachten soll, die Sie soebenbezeichneten, nämlich für einen Feigen, der seine Schwäche zum Schild nimmt. Sie sind allein, ein einziger wird Ihnen antworten; Sie haben einen Degen an der Seite, ich habe einen in meinem Stocke; Sie haben keinen Zeugen, einer von diesen Herren wird Ihnen als solcher dienen. Nun mögen Sie dieBinde abnehmen, wenn es Ihnenbeliebt. Der General riß sich auf der Stelle das Taschentuch von den Augen.
Endlich, sagte er, endlich werde ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe.
Man öffnete den Wagen, und die vier Männer stiegen aus.
Franz unterbrach sich abermals und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn; es war furchtbar anzuschauen, wie er, bleich und zitternd, mit lauter Stimme diebis dahin unbekannten Umstände von dem Tode seines Vaters las. Valentine faltete die Hände, als obsiebetete. Noirtier schaute Villefort mit einem erhabenen Ausdruck der Verachtung und des Stolzes an.
Franz fuhr fort:
Es geschah dies, wie gesagt, am 5. Februar; es war eine finstere Nacht, derBoden der Treppe warbis zum Fluß feucht von Schnee und Rauhreif; man sah das Wasser schwarz und von Eisschollenbedeckt dahinfließen. Einer von den Zeugen suchte eine Laterne in einem Kohlenschiffe, undbeim Scheine dieser Laterne prüfte man die Waffen. Der Degen des Präsidenten, ein einfacher Stockdegen, war fünf Zoll kürzer als der seines Gegners und hatte kein Stichblatt. Der General d'Epinay machte den Vorschlag, die Degen auszulosen; doch der Präsident erwiderte, von ihm gehe die Herausforderung aus, und er habe von vornherein in der Absicht gefordert, daß jeder sich seiner Waffebediene. Die Zeugen wollten Einsprache tun, doch der Präsident gebot Ihnen Schweigen. Man setzte die Laterne auf denBoden; die Gegner stellten sich einander gegenüber; der Kampfbegann. Das Licht machte aus den Degen zweiBlitze; die Männer gewahrte man kaum, so dicht war der Schatten. Der General d'Epinay galt für eine derbesten Klingen der Armee. Aber er wurdebei den ersten Stößen so lebhaftbedrängt, daß er zurückwich, wobei er zu Falle kam.
Die Zeugen hielten ihn für tot, doch sein Gegner wußte, daß er ihn nichtberührt hatte, undbot ihm die Hand, um ihm ausstehen zu helfen. Statt ihn zubeschwichtigen, brachte dies den General so auf, daß er ebenfalls auf seinen Gegner eindrang. Doch sein Gegner wich nicht eine Linie. Dreimal zog sich der General vor der Degenspitze seines Gegners zurück und griff dann immer wieder an. Beim dritten Male fiel er abermals. Man glaubte, er sei ausgeglitten, wie das erste Mal; da ihn jedoch die Zeugen nicht wieder aufstehen sahen, näherten sie sich ihm und versuchten, ihn auf dieBeine zubringen; doch als man ihn um den Leibfaßte, fühlte manBlut.
Der General, der halbohnmächtig war, kam wieder zu sich und rief: Oh! einen Raufer, einen Fechtmeister hat man mir hinterlistig gegenüber gestellt. Ohne zu antworten, näherte sich der Präsident der Laterne, schlug seinen Ärmel zurück und zeigte seinen von zwei Degenstichen durchbohrten Arm; dann öffnete er seinen Rock, knöpfte seine Weste auf und ließ an seiner Seite eine dritte Wunde sehen. Er hatte keinen Seufzer ausgestoßen. Bei dem General d'Epinay trat der Todeskampf ein, und fünf Minuten nachher war er verschieden.
Franz las diese letzten Worte mit so gepreßter Stimme, daß man sie kaum hören konnte, und als er sie gelesen, fuhr er sich mit der Hand über die Augen, als wollte er eine Wolke vertreiben. Nach kurzem Schweigen las er fort:
Der Präsident stieg wieder die Treppe hinauf, nachdem er zuvor seinen Degen in den Stock gestoßen hatte; eineBlutspurbezeichnete seinen Weg auf dem Schnee. Er hatte noch nicht die oberste Stufe der Treppe erreicht, als er ein dumpfes Platschen hörte, es war der Körper des Generals, den die Zeugen, nachdem sie seines Todes gewiß waren, in den Fluß gestürzt hatten.
Der General ist folglich in einem ehrlichen Duell gefallen und nicht etwa meuchlings getötet worden.
ZurBeglaubigung dessen haben wir Gegenwärtiges unterzeichnet, um den wahren Tatbestand festzustellen, in derBefürchtung, es könnte ein Augenblick kommen, wo eine von den handelnden Personen dieser furchtbaren Szene des Mordes mit Vorbedacht oder der Verletzung der Gesetze der Ehrebeschuldigt würde. Unterzeichnet
Beauregard, Duchampy und Lecharpale.
Als Franz die für ihn als Sohn so schreckliche Schrift gelesen, als Valentine, bleich vor Erschütterung, eine Träne getrocknet, als Villefort, zitternd und in einen Winkel gedrückt, durch flehende dem unversöhnlichen Greise zugesandteBlicke den Sturm zubeschwören versucht hatte, sagte d'Epinay zu Noirtier: Da Sie diese furchtbare Geschichte in allen ihren Einzelheiten kennen, da Sie sie durch ehrenwerte Unterschriften habenbezeugen lassen, da Sie sich für mich zu interessieren scheinen, obgleich sich Ihr Interessebis jetzt nur durch den Schmerz kundgegeben hat, so verweigern Sie mir nicht eine letzte Genugtuung, nennen Sie mir den Namen des Präsidenten, damit ich endlich den kenne, der meinen armen Vater getötet hat.
Villefort suchte wie verwirrt die Türklinke; Valentine, welche die Antwort des Greises vorausahnte, da sie oft auf seinem Vorderarme die Spur von zwei Degenstichen wahrgenommen hatte, wich einen Schritt zurück.
Ichbeschwöre Sie, mein Fräulein, sagte Franz, sich an seineBraut wendend, verbinden Sie IhreBitten mit den meinen, daß ich den Namen des Mannes erfahre, der mich im Alter von zwei Jahren zur Waise gemacht hat, Valentinebliebstumm und unbeweglich.
Ichbitte Sie, mein Herr, sagte Villefort, verlängern Sic diese Szene nicht; die Namen sind überdies absichtlich niebekannt gegeben worden. Mein Vater kennt selbst den Präsidenten nicht, und wenn er ihn auch kennt, so vermag er ihn nicht zu nennen, da sich die Eigennamen nicht im Wörterbuch finden.
Oh weh! Die einzige Hoffnung, die michbeim Lesen dieser Schrift aufrecht erhalten und mir die Kraft gegeben hat, bis zum Ende auszuharren, war die, wenigstens den Namen dessen, der meinen Vater getötet, kennen zu lernen! Mein Herr! rief er, sich zu dem Greise umwendend, im Namen des Himmels! Tun Sie, was Sie können, bemühen Sie sich, ich flehe Sie an, mirbegreiflich zu machen…
Ja, antwortete Noirtier.
Oh, mein Fräulein, rief Franz, Ihr Großvaterbedeutet mir durch ein Zeichen, er könne mir diesen Namen angeben… helfen Sie mir… Sie verstehen ihn… leihen Sie mir IhrenBeistand!
Noirtier schaute das Wörterbuch an. Franz nahm es zitternd und sprach hintereinander dieBuchstaben des Alphabetsbis zum I aus.
Bei diesemBuchstaben machte der Greis einbejahendes Zeichen.
I? wiederholte Franz.
Der Finger des jungen Mannes glitt über die Wörter hin, während Noirtier von Zeit zu Zeit ein verneinendes Zeichen machte und Valentine ihren Kopf in ihren Händen verbarg.
Bald gelangte Franz zu dem Worte: Ich.
Ja! machte der Greis.
Sie? rief Franz, dessen Haare sich auf seinem Haupte sträubten; Sie, Herr Noirtier, Sie haben meinen Vater getötet?
Ja, antwortete Noirtier, einen majestätischenBlick auf den jungen Mann heftend.
Franz fiel wie gelähmt auf einen Stuhl, Villefort aber öffnete die Tür und entfloh.
Die Fortschritte des Herrn Cavalranti Sohn
Herr Cavalcanti Vater war abgereist, um seinen Dienst wieder anzutreten, nicht in der Armee Seiner Majestät des Kaisers von Österreich, sondern an der Roulette derBäder von Lucca, zu deren eifrigsten Kunden er gehörte. Es versteht sich von selbst, daß er gewissenhaftbis auf den letzten Heller die Summe mitgenommen hatte, die ihm für seine Reise und alsBelohnung für die majestätische Art und Weise, wie er seine Vaterrolle gespielt, angewiesen worden war.
Andrea erbtebei dieser Abreise alle Papiere, diebestätigten, daß er wirklich die Ehre hatte, der Sohn des MarcheseBartolomeo und der Marchesa Oliva Corsinari zu sein.
Er hatte inzwischen gleichsam Anker geworfen in der Pariser Gesellschaft, die so leicht und nachsichtig die Fremden aufnimmt und sie nicht nach dembehandelt, was sie sind, sondern nach dem, was sie sein wollen. So nahm Andrea schon nach vierzehn Tagen eine recht hübsche Stellung ein; man nannte ihn Herr Graf, man sagte, er habe fünfzigtausend Franken Rente, und sprach von den ungeheuren Schätzen seines Vaters, die in den Steinbrüchen von Saravezza vergraben seien.
In dieser Zeit machte Monte Christo eines Abends einenBesuchbei Herrn Danglars. Dieser war ausgegangen; aber man schlug dem Grafen vor, ihnbei derBaronin anzumelden, was er auch annahm.
Seit dem Mittagsmahle in Auteuil und den Ereignissen, die darauf folgten, hörte Frau Danglars den Namen Monte Christo nie ohne nervöse Erregung aussprechen. Bliebdann der Graf in Person aus, so steigerte sich die schmerzliche Empfindung noch; erschien er dagegen, so zerstreuten sein offenes Gesicht, seine glänzenden Augen, seine Liebenswürdigkeit und Höflichkeit garbald den letzten Eindruck von Furchtbei der Dame.
Als Monte Christo in dasBoudoir trat, betrachtete dieBaronin eben Zeichnungen, die ihr ihre Tochter hinreichte, nachdem diese sie mit Herrn Cavalcanti Sohnbesehen hatte. Der Graf, von derBaronin nach Überwindung des ersten Schrecksbei Nennung seines Namens mit einem Lächelnbegrüßt, übersah die ganze Szene mit einemBlicke. Neben derBaronin saß Eugenie in halbliegender Stellung auf einem Lehnsessel, und Cavalcanti stand vor ihr. Schwarz gekleidet mit lackierten Schuhen und durchbrochenen seidenen Strümpfen, fuhr sich der junge Mann mit einer ziemlich weißen und gepflegten Hand in seineblonden Haare, wobei ein Diamant an seiner Hand funkelte.
DieseBewegung war von mörderisch verliebtenBlicken auf Fräulein Danglarsbegleitet und von Seufzern, die sich an dieselbe Adresse richteten. Fräulein Danglars war immer dieselbe, das heißt schön, kalt und spöttisch. KeinBlick, kein Seufzer entging ihr, doch es war, als glitten sie am Panzer der Minerva ab.
Eugeniebegrüßte den Grafen kalt, und sobald die Unterhaltung allgemein und etwas lauter wurde, benutzte sie dies, um sich in ihr Studierzimmer zurückzuziehen, wobald zwei lachende Stimmen, vermischt mit den Akkorden eines Pianos, dem Grafenbewiesen, daß Fräulein Danglars seiner Gesellschaft und der des Herrn Cavalcanti die von Fräulein Luise d'Armilly, ihrer Gesanglehrerin, vorzog. Während der Graf mit Frau Danglars plauderte und sich ganz dem Reiz der Unterhaltung hinzugeben schien, bemerkte er doch die Unruhe des Herrn Andrea Cavalcanti, der, um zu horchen, bis an die Tür des Zimmers von Fräulein Eugenie ging, aber die Schwelle nicht zu überschreiten wagte.
Bald kehrte derBankier zurück. Sein ersterBlick galt Monte Christo, sein zweiter Andrea.
Haben Sie die Fräulein nicht eingeladen, mit Ihnen zu musizieren? fragte Danglars Andrea.
Nein, mein Herr, antwortete Andrea mit einem Seufzer, der noch auffälliger war als die früheren. Danglars ging sogleich zur Tür und öffnete sie, so daß man diebeiden Mädchen auf demselben Sitze nebeneinander vor dem Piano sitzen sah. Fräulein d'Armillybesaß eine interessante Schönheit, oder vielmehr eine ausgesuchte Zierlichkeit. Es war eine kleine, feenartig schlanke undblonde Dame mit langen, gelockten Haaren, welche auf einen etwas zu gestreckten Hals fielen, und mit einem etwas matten, verschleiertenBlick. Man sagte, sie habe eine schwacheBrust und würde wie Antonia in der ›Cremoneser Geige‹ eines Tagesbeim Singen sterben.
Monte Christo warf einen raschen, neugierigenBlick in dieses Frauengemach; er sah zum ersten Male Fräulein d'Armilly, von der er so oft im Hause hatte sprechen hören.
Nun! fragte derBankier seine Tochter, sind wir ausgeschlossen?
Dann führte er den jungen Mann in den kleinen Salon, und — war es nun Zufall, war es Absicht — hinter Andrea wurde die Tür so zugestoßen, daß Monte Christo und dieBaronin von dem Orte, wo sie saßen, nichts mehr sehen konnten.
Bald darauf hörte der Graf Andreas Stimme zu den Akkorden des Klaviers ein korsisches Lied singen. Während der Graf lächelnd auf dieses Lied horchte, das ihn Andrea vergessen ließ und anBenedetto erinnerte, rühmte Frau Danglars die Seelenstärke ihres Mannes, der an demselben Morgenbei einemBankerott in Mailand abermals 3–400 000 Franken verloren hatte. Und dieses Lobwar in der Tat verdient; denn wenn es der Graf nicht durch dieBaronin oder durch ein anderes ihm zu Gebot stehendes Mittel erfahren hätte, das Gesicht desBarons würde ihm kein Wort davon gesagt haben.
Gut! dachte Monte Christo, er istbereits so weit, daß er verbirgt, was er verliert, während er sich vor einem Monat noch seiner Verluste rühmte.
Dann sagte der Graf laut: Oh! gnädige Frau, Herr Danglars kennt dieBörse so gut, daß er dort stets wieder gewinnen wird, was er anderswo verlieren mag.
Ich sehe, daß Sie den allgemeinen Irrtum, Herr Danglars spiele, teilen. Das ist nicht der Fall.
Ach ja! das ist wahr. Gnädige Frau, ich erinnere mich dessen, was mir Herr Debray gesagt hat… Doch was ist eigentlich aus Herrn Debray geworden? Ich. habe ihn seit drei oder vier Tagen mit keinem Auge gesehen.
Ich auch nicht, sagte Frau Danglars mit der gelassensten Miene. Was haben Sie von Herrn Debray gehört?
Er hat mir gesagt, Sie selbst opferten dem Dämon des Spieles.
Ich gestehe, dasBörsenspiel lockte mich eine Zeitlang; aber ich habe den Geschmack daran verloren.
Darin haben Sie unrecht, gnädige Frau. Mein Gott, die Wechselfälle des Glücks sind unberechenbar, und wäre ich ein Weibund zufällig Frau einesBankiers geworden, so würde ich trotz allen Vertrauens zu meinem Manne mir doch ein unabhängiges Vermögen zu sichern suchen.
Frau Danglars errötete unwillkürlich.
Hören Sie, fuhr Monte Christo fort, als ober nichts gesehen hätte, haben Sie gehört, wie gestern die Neapolitaner gestiegen sind?
Ich habe keine und habe nie welche gehabt, sagte rasch dieBaronin; doch nun ist genug von derBörse gesprochen, Herr Graf, wir gleichen zwei Wechselagenten; reden wir lieber von den armen Villeforts, die in diesem Augenblick so sehr vom Unglück heimgesucht werden.
Was ist ihnen denn widerfahren? fragte Monte Christo mit gutgespielter Unwissenheit.
Sie wissen doch, daß sie nach dem plötzlichen Tode des Herrn von Saint‑Meran auch die Marquise drei Tage nach ihrer Ankunft verloren haben.
Ah! es ist wahr, versetzte Monte Christo, ich habe davon gehört; doch das ist, wie Claudius zu Hamlet sagt, das Gesetz der Natur: ihre Väter sind vor ihnen gestorben, und sie haben siebeweint; sie werden vor ihren Söhnen sterben, und ihre Söhne werden siebeweinen.
Doch das ist noch nicht alles. Sie wissen doch, daß sie ihre Tochter verheiraten wollten? An Herrn Franz d'Epinay… Hat die Heirat nicht stattgefunden? — Gestern morgen hat ihnen Franz, scheint es, ihr Wort zurückgegeben. — Ah! wirklich… Kennt man die Ursache diesesBruches? — Nein. — Und wie nimmt Herr von Villefort alle diese Unglücksfälle auf? — Wie immer, als Philosoph.
In diesem Augenblick kehrte Danglars zurück.
Wie! rief dieBaronin, Sie lassen Herrn Cavalcanti mit Ihrer Tochter allein?
Und als was sehen Sie denn Fräulein d'Armilly an? erwiderte derBankier undbemerkte sodann, sich an Monte Christo wendend: Ein reizender junger Mann, nicht wahr, Herr Graf, dieser Prinz Cavalcanti? Nur fragt es sich, ober wirklich Prinz ist?
Ich stehe nicht dafür. Man hat mir seinen Vater als Marquis vorgestellt; demnach wäre er Graf. Doch ich glaube nicht, daß er sich viel auf seinen Titel einbildet.
Warum? Wenn er Prinz ist, so hat er unrecht, sich dessen nicht zu rühmen. Jedem sein Recht! Ich liebe es nicht, daß man seinen Ursprung verleugnet.
Aber sehen Sie, welcher Unannehmlichkeit Sie sich aussetzen, sagte dieBaronin. Wenn Herr von Morcerf zufällig käme, so würde er Herrn Cavalcanti in einem Zimmer finden, in das er, derBräutigam, nie eintreten durfte.
Sie tun recht, zufällig zu sagen, erwiderte derBankier, denn man sieht ihn so selten, daß es in der Tat nur der Zufall zu sein scheint, der ihn zu uns führt.
Wenn er aber käme und diesen jungen Mannbei Ihrer Tochter träfe, so würde er mit Recht darüber aufgebracht sein.
Er! mein Gott, Sie täuschen sich; Herr Albert tut uns nicht die Ehre an, eifersüchtig auf seine künftige Frau zu sein, dazu liebt er sie nicht genug. Was liegt mir auch daran, ober aufgebracht ist oder nicht.
Dochbei dem Verhältnis, in dem wir zu einander stehen…
Wollen Sie wissen, in welchem Verhältnis wir stehen? Auf demBalle seiner Mutter tanzte er ein einziges Mal mit meiner Tochter, während Herr Cavalcanti dreimal mit ihr tanzte, und er hat es gar nichtbemerkt.
Der Herr Vicomte Albert von Morcerf, meldete der Kammerdiener.
DieBaronin stand rasch auf. Sie wollte ihre Tochter schnellbenachrichtigen, aber Danglars hielt sie am Arme zurück und sagte:
Lassen Sie das!
Sie schaute ihn erstaunt an. Monte Christo stellte sich, als hätte er dieses Zwischenspiel nichtbemerkt.
Albert trat ein; er war sehr schön und sehr heiter, grüßte dieBaronin mit Leichtigkeit, Danglars mit Vertraulichkeit, Monte Christo mit Liebe und sagte sodann, sich wieder zurBaronin wendend: Wollen Sie mir erlauben, michbei Ihnen nach demBefinden von Fräulein Danglars zu erkundigen?
Siebefindet sich sehr wohl, antwortete rasch Danglars, sie musiziert soeben in ihrem kleinen Salon mit Herrn Cavalcanti.
Albertbehielt seine ruhige, gleichgültige Miene; er empfand vielleicht einen inneren Ärger, aber er fühlte Monte ChristosBlick auf sich geheftet undbezwang sich.
Herr Cavalcanti hat eine sehr schöne Tenorstimme, sagte er, und Fräulein Danglars einen prachtvollen Sopran. Es muß ein entzückendes Konzert sein.
Sie stimmen allerdings vortrefflich zusammen, sagte Danglars.
Ichbin auch musikalisch, wenigstens wie meine Lehrer sagten, fuhr der junge Mann fort; doch seltsamerweise konnte ich meine Stimme nie mit einer andern Stimme in Einklangbringen.
Danglars lächelte auf eine Weise, die wohlbedeuten sollte: Ärgere dich doch! Dann sagte er laut: Der Prinz und meine Tochter haben auch gestern die allgemeineBewunderung erregt. Waren Sie gestern nicht hier, Herr von Morcerf?
Welcher Prinz? fragte Albert.
Der Prinz Cavalcanti, erwiderte Danglars, der dem jungen Italiener hartnäckig diesen Titel gab.
Verzeihen Sie, ich wußte nicht, daß er Prinz ist. Also der Prinz Cavalcanti hat gestern mit Fräulein Eugenie gesungen! Das muß in Wahrheit entzückend gewesen sein, und ichbedaure lebhaft, es nicht gehört zu haben. Doch ich konnte Ihrer Einladung nicht entsprechen, da ich Frau von Morcerf zurBaronin Chateau‑Renaud, wo die Deutschen sangen, begleiten mußte.
Dann wiederholte er nach einem Stillschweigen: Wird es mir erlaubt sein, Fräulein Danglars meine Achtung zubezeigen?
Oh! warten Sie, warten Sie, ichbitte Sie, erwiderte derBankier, den jungen Mann zurückhaltend, hören Sie die köstliche Cavatine: Ta, ta, ta, ti, ta, ti, ta, ta; es ist entzückend, sie sind sogleich fertig… nur eine Sekunde, vortrefflich! Bravo! bravo! bravi!
Und derBankier fing an, wie wütendBeifall zu klatschen.
In der Tat, rief Albert, das ist vortrefflich, und man kann unmöglich die italienische Musik charakteristischer wiedergeben als der Prinz Cavalcanti. Nicht wahr, Sie sagten Prinz? Wenn er übrigens nicht Prinz ist, so wird man ihn schon noch dazu machen, denn das hält in Italien nicht schwer. Doch um auf unsere anbetungswürdigen Sänger zurückzukommen… Sie sollten uns das Vergnügen machen, Herr Danglars, Fräulein Danglars und Herrn Cavalcanti, ohne etwas von der Anwesenheit eines Fremden zu sagen, zubitten, ein anderes Stück anzufangen. Es ist so köstlich, die Musik zu genießen, ohne daß man sieht, oder gesehen wird, und folglich, ohne den Musiker zubeengen, der sich ganz dem Instinkt seines Genies oder dem Ergusse seines Herzens überlassen kann.
Diesmal wurde Danglars durch das Phlegma des jungen Mannes aus dem Sattel gehoben. Er nahm Monte Christobeiseite und sagte zu ihm: Nun, was denken Sie von unserem Verliebten?
Verdammt, er kommt, mir ziemlich kalt vor; doch, was wollen Sie? Sie haben sich nun einmal verbindlich gemacht!
Allerdings habe ich mich verbindlich gemacht, aber nur, meine Tochter einem Manne zu geben, der sie liebt, und nicht einem Manne, der sie nicht liebt. Sehen Sie ihn an, er ist kalt wie Marmor, stolz wie sein Vater. — Wenn er noch reich wäre, wenn er das Vermögen der Cavalcantibesäße, könnte man darüber hinwegsehen! Meiner Treu, wenn meine Tochter jedoch einen guten Geschmack hätte…
Ich weiß nicht, obmeine Freundschaft für ihn mich verblendet, erwiderte Monte Christo, doch ich versichere Ihnen, Herr von Morcerf ist ein liebenswürdiger junger Mann, der Ihre Tochter glücklich machen und früher oder später etwas erreichen wird; denn die Stellung seines Vaters ist im ganzen ausgezeichnet.
Hm! machte Dauglars.
Warum dieser Zweifel?
Es ist da immer noch die Vergangenheit… die dunkle Vergangenheit.
Doch die Vergangenheit des Vaters geht den Sohn nichts an. — Warum nicht?
Seien Sie nicht eigensinnig! Vor einem Monat fanden Sie diese Verbindung vortrefflich. Siebegreifen, ichbin in Verzweiflung, dennbei mir haben Sie diesen Cavalcanti gesehen, den ich, ich wiederhole es, nicht kenne.
Ich kenne ihn, das genügt.
Sic kennen ihn? Haben Sie Erkundigungen über ihn eingezogen?
Bedarf es deren? Weiß man nichtbeim erstenBlicke, mit wem man es zu tun hat?… Einmal ist er reich. — Ich kann keine Versicherung hierüber geben.
Sie haften doch für ihn? — Bis fünfzigtausend Franken, eine Lappalie.
Er hat eine ausgezeichnete Erziehung. — Hm!
Er ist musikalisch. — Alle Italiener sind das.
Hören Sie, Graf, Sie sind nicht gerecht gegen diesen jungen Mann.
Ja, ich gestehe es; da ich Ihre Verbindlichkeit Herrn Morcerf gegenüber kenne, sehe ich zu meinem Schmerze, daß er so dazwischentritt und sein Vermögen mißbraucht!
Danglars schlug ein Gelächter aus und rief: Was für ein Puritaner Sie sind! Das kommt täglich vor.
Sie können aber doch so nichtbrechen, lieber Danglars; die Morcerf rechnen auf diese Heirat.
Sie rechnen darauf? — Bestimmt.
Dann mögen sie sich erklären. Sie, Herr Graf, sollten ein paar Worte hierüberbei dem Vater fallen lassen, da Sie im Hause so gut angeschrieben sind.
Ich? zum Teufel, wo haben Sie das gesehen?
Auf ihremBalle, mir scheint. Wie! die Gräfin, die stolze Mercedes, die hochmütige Katalonierin, die sich kaum herabläßt, den Mund für ihre ältestenBekannten zu öffnen, hat Sie am Arme genommen, ist mit Ihnen in den Garten und in die kleinen Alleen gegangen und erst nach einer halben Stunde zurückgekommen!
Ah! Baron, Baron, unterbrach Albert das leise geführte Gespräch, Sie hindern uns, zu hören; wie kann ein Musikfreund wie Sie sobarbarisch sein!
Gut, gut, Herr Spötter, rief Danglars und fügte leise, zu Monte Christo gewandt, hinzu: Sie übernehmen es, dies dem Vater zu sagen?
Gern, wenn Sie wünschen.
Doch es mußbestimmt und unumwunden geschehen; er soll meine Tochter von mir verlangen, eine Zeit festsetzen, seine pekuniärenBedingungen nennen, damit man sich verständigt oder nicht verständigt, aber Siebegreifen, Aufschubgibt es nicht mehr!
Gut, ich werde den Schritt tun.
Ich sage nicht, daß ich ihn mit Vergnügen erwarte, aber ich erwarte ihn. Sie wissen, einBankier muß der Sklave seines Wortes sein. Hier stieß Danglars einen Seufzer aus.
Bravo! bravo! bravo! rief Morcerf, denBankier parodierend und am Schlusse des StückesBeifall klatschend.
Danglars schaute Albert erstaunt von der Seite an, als ein Diener eintrat und ihm ein paar Worte zuflüsterte.
Ich komme zurück, sagte derBankier zu Monte Christo, erwarten Sie mich, ich habe Ihnen vielleicht sogleich etwas zu sagen. Und er ging hinaus.
DieBaroninbenutzte die Abwesenheit ihres Mannes, um die Tür des Zimmers ihrer Tochter wieder auszustoßen, worauf man Andrea, der mit Fräulein Danglars vor dem Klavier saß, wie eine Feder ausspringen sah.
Albert verbeugte sich lächelnd vor Fräulein Danglars, die ihm ohne jede Verlegenheit, wie gewöhnlich, einen kalten Gruß zurückgab.
Cavalcanti war sichtbar verlegen; er grüßte Morcerf, der seineBegrüßung mit geringschätzender Miene erwiderte und sich sodann in den ausgesuchtesten Lobeserhebungen über Fräulein Danglars' Stimme erging.
Nun haben wir genug Musik und Komplimente gehabt, sagte Frau Danglars; wir wollen den Tee nehmen.
Komm, Luise, sagte Fräulein Danglars zu ihrer Freundin, worauf alle in den anstoßenden Salon gingen, in dem schon der Teebereit stand.
In dem Augenblick, als man sich niedersetzte, öffnete sich die Tür wieder, und Danglars erschien sichtlichbewegt.
Auf einen fragendenBlick des Grafen erwiderte derBankier: Ich habe einen Kurier von Griechenlandbekommen.
Ah! ah! deshalbhat man Sie gerufen!
Wie geht es König Otto? fragte Albert munter.
Danglars schaute ihn von der Seite an, ohne ihm zu antworten, und Monte Christo wandte sich ab, um den Ausdruck des Mitleids zu verbergen, der auf seinem Gesichte hervortrat, bald aber wieder verschwand.
Nicht wahr, wir gehen miteinander? fragte Albert den Grafen.
Ja, wenn Sie wollen, antwortete dieser.
Albert verstand denBlick desBankiers nicht und sagte erstaunt zu Monte Christo, der ihn vollkommen verstanden hatte: Haben Sie gesehen, wie er mich anschaute, und was will er mit seinen Nachrichten aus Griechenland sagen?
Wie soll ich das wissen?
Ich setze voraus, Sie stehen in einer gewissenBeziehung zu diesem Lande.
Monte Christo lächelte, wie man lächelt, wenn man sich einer Antwort überheben will.
Sehen Sie, er nähert sich Ihnen, sagte Albert; ich will Fräulein Danglars ein Kompliment über ihre Kamee machen, inzwischen hat der Vater Zeit, mit Ihnen zu sprechen.
Wollen Sie ihr ein Kompliment machen, so tun Sie es wenigstens über ihre Stimme, versetzte Monte Christo.
Nein, das tut jeder.
Mein lieber Vicomte, erwiderte Monte Christo, IhrBenehmen kommt mir etwas sonderbar vor.
Albert trat mit lächelnden Lippen auf Eugenie zu.
Inzwischen neigte sich Danglars dem Grafen zu und flüsterte: Sie haben mir einen guten Rat gegeben, es liegt eine ganz furchtbare Geschichte in den Worten: Fernand und Janina, — Ah! bah!
Ja, ich werde es Ihnen erzählen; doch nehmen Sie den jungen Mann mit! Es wäre mir unangenehm, mit ihm zusammen zubleiben.
Erbegleitet mich; muß ich Ihnen immer noch den Vater schicken?… Mehr als je.
Gut.
Der Graf machte Albert ein Zeichen.
Beide verbeugten sich vor den Damen und gingen weg, wobei Albert sich Fräulein Danglars' geringschätzender Art gegenüber völlig gleichgültig verhielt, während Monte Christo Frau Danglars seine Ratschläge wiederholte, wie sich die Frau einesBankiers klüglich ihre Zukunft sichern müßte.
Andrea CavalcantibliebHerr des Schlachtfeldes.
Haydee
Kaum lenkte der Wagen um die Ecke, als sich Albert mit einem Gelächter, das zu lärmend war, um natürlich zu sein, an den Grafen wandte und sagte: Ich frage Sie, wie Karl IX. nach derBartholomäus‑Nacht Katharina von Medici fragte: Wie habe ich meine Rolle gespielt?
In welcher Hinsicht?
Hinsichtlich der Einsetzung meines Nebenbuhlersbei Herrn Danglars…
Welches Nebenbuhlers?
Bei Gott! Ihres Schützlings, des Herrn Cavalcanti.
Oh! keine schlechten Späße, Vicomte, Andrea ist nicht mein Schützling, am wenigstenbei Herrn Danglars.
Und das würde ich Ihnen zum Vorwurf machen, wenn der junge Mann eines Schutzesbedürfte; doch zu meinem Glücke kann er dessen entbehren.
Wie, Sie glauben, er mache den Hof?
Ich stehe Ihnen dafür; er seufzt, wälzt die Augen im Kopfe umher und gibt verliebte Töne von sich, kurz, er strebt mit allen Mitteln nach der Hand der stolzen Eugenie.
Was tut's, wenn man nur an Sie denkt!
Sagen Sie das nicht, lieber Graf, man stößt mich von zwei Seiten zurück.
Wie, von zwei Seiten?
Fräulein Eugenie hat mir kaum geantwortet, und Fräulein d'Armilly, ihre Vertraute, gar nicht.
Ja… aber der Vaterbetet Sie an…
Er? im Gegenteil, er hat mir tausend Dolche ins Herz gestoßen; Dolche, die in das Heft zurückfuhren, Theaterdolche, die er aber für wahr und wirklich hielt.
Die Eifersucht deutet Zuneigung an.
Ja, doch ichbin nicht eifersüchtig.
Er ist es!
Auf wen, auf Debray?
Nein, auf Sie.
Auf mich? Ich wette, daß er mir, ehe acht Tage vergehen, die Tür vor der Nase zumacht.
Sie täuschen sich, lieber Vicomte.
Haben Sie einenBeweis?
Wollen Sie ihn?
Ja.
Ichbinbeauftragt, den Herrn Grafen von Morcerf zubitten, einen entscheidenden Schrittbei demBaron zu tun.
Nicht wahr, das werden Sie nicht tun, lieber Graf?
Sie täuschen sich, Albert, ich werde es tun, da ich es versprochen habe.
Es scheint, es ist Ihnen alles daran gelegen, mich zu verheiraten, versetzte Albert mit einem Seufzer.
Es liegt mir daran, mit jedermann gut zu stehen. Aber, sagen Sie mir, was ist das eigentlich mit Debray? Ich sehe ihn nicht mehrbei derBaronin.
Es hat Streit gegeben.
Mit ihr?
Nein, mit demBaron.
Er hat also etwasbemerkt?
Sie scherzen!
Glauben Sie, er habe es vermutet? versetzte Monte Christo naiv.
Ei, woher kommen Sie denn, lieber Graf?
Vom Kongo, wenn Sie wollen.
Das ist noch nicht fern genug.
Kenne ich die Pariser Ehemänner?
Die Ehemänner sind überall dieselben. Wenn Sie sie in irgend einem Lande studiert haben, kennen Sie das ganze Geschlecht.
Doch was konnte denn Danglars und Debray entzweien? Sie schienen sich so gut zu verstehen, sagte Monte Christo mit gleicher Naivität.
Ah! wir kommen zu den Geheimnissen der Isis, und ichbin nicht eingeweiht. Wenn Herr Cavalcanti Sohn zur Familie gehört, so fragen Sie ihn danach.
Der Wagen hielt an.
Wir sind an Ort und Stelle, sagte Monte Christo, es ist erst halbelf Uhr, kommen Sie mit herauf, mein Wagen wird Sie zurückfahren.
Ich danke, mein Coupé muß uns gefolgt sein.
In der Tat, hier ist es, sagte Monte Christo und sprang zuBoden.
Beide traten in das Haus. Lassen Sie uns Tee machen, Baptistin, sagte Monte Christo, sobald sie im hellbeleuchteten Salon waren.
Baptistin entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen. Wenige Sekunden nachher erschien er wieder mit Tee und allem erdenklichem Zubehör.
In der Tat, mein lieber Graf, was ich an Ihnenbewundere, ist nicht Ihr Reichtum, es gibt vielleicht reichere Leute als Sie; es ist nicht Ihr Geist, Beaumarchais hatte nicht mehr, aber ebensoviel. Es ist die Art und Weise, wie Sie auf die Sekundebedient werden, als obman schon an Ihrem Läuten erriete, was Sie zu haben wünschen, und als obdas, was Sie haben wollen, stetsbereit wäre.
An dem, was Sie sagen, ist etwas Wahres. Man kennt meine Gewohnheiten. Passen Sie auf! Wünschen Sie nicht irgend etwas zu tun, während Sie Tee trinken?
Bei Gott! ich wünsche zu rauchen.
Monte Christo näherte sich dem Glöckchen und tat einen Schlag.
Nach einer Sekunde öffnete sich einebesondere Tür, und Ali erschien mit zwei mit vortrefflichem Latakie gestopften Tschibuks.
Das ist wunderbar, sagte Morcerf.
Nein, das ist ganz einfach, versetzte Monte Christo. Ali weiß, daß ich gewöhnlich rauche, wenn ich Kaffee oder Tee trinke; er weiß, daß ich Tee verlangt habe; er weiß, daß ich mit Ihnen nach Hause gekommenbin, er hört, daß ich rufe, er vermutet die Ursache, und da er aus einem Lande stammt, wo die Gastfreundschaftbesonders mittels der Pfeife geübt wird, sobringt er statt eines Tschibuks zwei.
Das ist allerdings eine gute Erklärung; darum scheint es mir aber nicht minder wahr, daß nur Sie… Doch was höre ich?
Morcerf neigte sich nach der Tür, durch welche Töne wie von einer Guitarre drangen.
Meiner Treu, lieber Vicomte, Sie sind heute ein Opfer der Musik; Sie entgehen dem Piano Fräulein Danglars' nur, um in Haydees Guzla zu fallen.
Haydee! welchbewunderungswürdiger Name! Es gibt also wirklich auch außer in LordByrons Gedichten Frauen, die Haydee heißen?
Gewiß; Haydee ist ein in Frankreich sehr seltener, doch in Albanien und Epirus sehr gewöhnlicher Vorname, es ist, wie wenn man zumBeispiel sagte: Keuschheit, Schamhaftigkeit, Unschuld.
Oh! wie reizend! rief Albert; wie gern hörte ich unsere Französinnen sich Fräulein Güte, Fräulein Schweigen, Fräulein Nächstenliebe nennen! Wie wirkungsvoll müßte es sein, wenn esbei einem Heiratsaufgebot, statt Claire Marie Eugenie, Fräulein Keuschheit‑Schamhaftigkeit‑Unschuld Danglars heißen würde!
Sie sind verrückt! sagte der Graf; reden Sie nicht so laut! Haydee könnte es hören.
Und sie würde sich darüber ärgern?
Nein, sagte der Graf kalt.
Sie ist gut?
Es ist nicht Güte, es ist Pflicht; eine Sklavin ärgert sich nicht über ihren Herrn.
Scherzen Sie nicht! Es gibt keine Sklavinnen mehr!
Sicher, da Haydee die meinige ist.
In der Tat, Sie tun nichts und haben nichts, wie andere Menschen. Sklavin des Grafen Monte Christo! Das ist auch eine Stellung. Nach der Art und Weise, wie Sie das Geld inBewegung setzen, muß es ein Platz sein, der hunderttausend Taler jährlich einträgt.
Hunderttausend Taler! Die Arme hat mehr als diesbesessen. Die Schätze ihres Vaters konnten den Vergleich mit denen aus Tausendundeiner Nacht aushalten.
Sie ist also wirklich von Geburt eine Prinzessin?
Gewiß, und zwar eine der reichsten ihres Landes.
Ich vermutete es. Doch wie ist aus der vornehmen Prinzessin eine Sklavin geworden?
Wie ist Dionys, der Tyrann von Syrakus, Schulmeister geworden? Der Zufall des Krieges, lieber Vicomte, die Laune des Schicksals.
Und ihr Name ist ein Geheimnis?
Ja, für alle, aber nicht für Sie, lieber Vicomte, der Sie zu meinen Freunden gehören, und der Sie schweigen, nicht wahr, wenn Sie mir zu schweigen versprechen?
Bei meinem Ehrenwort.
Sie kennen die Geschichte des Paschas von Janina?
Von Ali Tependelini? Ganz gewiß, denn mein Vater hat in seinen Diensten sein Glück gemacht.
Es ist wahr, ich hatte es vergessen.
Nun, in welcherBeziehung steht Haydee zu Ali Tependelini?
Sie ist ganz einfach seine Tochter.
Wie, die Tochter von Ali Pascha?
Ja, von der schönen Wasiliki.
Und sie ist Ihre Sklavin?
Mein Gott, ja!
Wie ist dies zugegangen?
Als ich eines Tages über den Markt von Konstantinopel ging, kaufte ich sie.
Das ist herrlich! Bei Ihnen, lieber Graf, lebt man nicht, sondern träumt. Doch hören Sie, was ich Sie nun fragen werde, ist sehr unbescheiden.
Sprechen Sie immerhin.
Da Sie mit ihr ausgehen, da Sie Haydee in die Oper führen, so kann ich mich wohl erdreisten…
Sie können sich erdreisten, alles von mir zu verlangen.
Wohl, lieber Graf, stellen Sie mich Ihrer Prinzessin vor.
Gern; doch unter zweiBedingungen.
Ich nehme sie zum voraus an.
Einmal dürfen Sie diese Vorstellung niemand mitteilen.
Sehr gut. Ich schwöre.
Und sodann dürfen Sie ihr nicht sagen, Ihr Vater habe dem ihrigen gedient.
Ich schwöre abermals.
Vortrefflich. Vicomte, nicht wahr, Sie werden sich dieserbeiden Schwüre erinnern?
Oh! gewiß.
Gut, ich weiß, daß Sie ein Mann von Ehre sind.
Der Graf schlug abermals auf das Glöckchen; Ali erschien.
Melde Haydee, sagte er zu ihm, daß ich den Kaffeebei ihr trinken will, und mache ihrbegreiflich, daß ich sie um Erlaubnisbitte, ihr einen von meinen Freunden vorzustellen.
Ali verbeugte sich und trat ab.
Es ist also abgemacht, wandte er sich wieder an Albert, keine unmittelbare Frage, lieber Vicomte. Wenn Sie etwas wissen wollen, so fragen Sie mich, und ich werde Haydee fragen.
Abgemacht!
Ali erschien zum dritten Male und hielt den Türvorhang aufgehoben, um seinem Herrn und Albert anzudeuten, daß sie kommen könnten.
Treten wir ein! sagte Monte Christo.
Albert fuhr mit der Hand in seine Haare und kräuselte seinen Schnurrbart. Der Graf nahm seinen Hut, zog seine Handschuhe an und ging Albert in die Wohnung voran, die von Ali wie von einem Vorpostenbewacht und von den drei Myrtho untergebenen französischen Kammerfrauen verteidigt wurde.
Haydee wartete im ersten Zimmer, dem Salon, mit großen Augen, in denen sich das Erstaunen deutlich ausprägte, denn es geschah zum erstenmal, daß ein anderer Mann als Monte Christo zu ihr drang. Sie saß mit gekreuztenBeinen in der Ecke eines Sofas wie in einem Nest aus den reichsten gestickten und gestreiften orientalischen Seidenstoffen; neben ihr lag das Instrument, dessen Töne sie verraten hatten. Sie war reizend anzuschauen.
Als sie Monte Christo erblickte, stand sie auf, mit dem doppelten Lächeln der Tochter und der Liebenden, das nur ihr eigen war; Monte Christo ging auf sie zu und reichte ihr seine Hand, auf die sie, wie gewöhnlich, ihre Lippen drückte.
Albert warbeim Anblick dieser seltsamen Schönheit, die er zum erstenmal sah, und von der sich ein Franzose keinenBegriff machen konnte, bei der Tür stehen geblieben.
Wenbringst du? fragte das Mädchen in neugriechischer Sprache, einenBruder, einen Freund, einenBekannten oder einen Feind?
Einen Freund, antwortete Monte Christo in derselben Sprache.
Wie heißt er?
Graf Albert, derselbe, den ich in Rom den Händen derBanditen entrissen habe.
In welcher Sprache soll ich mit ihm reden?
Monte Christo wandte sich zu Albert und fragte den jungen Mann:
Kennen Sie das Neugriechische?
Ach, nicht einmal das Altgriechische, versetzte Albert; Homer und Plato haben einen erbärmlichen Schüler an mir gehabt.
Nun wohl, sagte Haydee undbewies durch ihre Worte, daß sie Monte Christos Frage und Alberts Antwort gehört und verstanden hatte, ich werde Französisch oder Italienisch sprechen, wenn es überhaupt meines Herrn Wille ist, daß ich spreche.
Monte Christo dachte einen Augenblick nach und erwiderte: Du wirst Italienisch sprechen. Dann sagte er zu Albert: Es ist ärgerlich, daß Sie weder das Neugriechische, noch das Altgriechische verstehen, denn Haydee sprichtbeides vortrefflich; die Arme ist genötigt, Italienisch mit Ihnen zu reden, was Ihnen vielleicht einen falschenBegriff von ihr geben wird.
Er machte Haydee ein Zeichen.
Sei willkommen, Freund, der du mit meinem Herrn und Gebieter erscheinst, sagte das Mädchen in vortrefflichem Toskanisch und mit weichem, römischem Akzent. Ali, Kaffee und Pfeifen!
Monte Christo zeigte Albert zwei Stühle, die sie an ein mit natürlichenBlumen, Zeichnungen und Musikalienbedecktes Tischchen rückten.
Ali kehrtebald mit dem Kaffee und den Tschibuks zurück; Baptistin war dasBetreten dieses Teils der Wohnung verboten.
Albert wies die Pfeife zurück, die ihm der Nubierbot.
Oh! nehmen Sie, nehmen Sie, sagte Monte Christo; Haydee istbeinahe ebenso zivilisiert wie eine Pariserin; eine Havanna ist ihr unangenehm, weil sie die schlechten Gerüche nicht liebt, doch der orientalische Tabak gibt einen Wohlgeruch, wie Sie wissen.
Ali verließ das Zimmer.
Der Kaffee war zum Genusse völligbereitet, nur hatte man für Albert eine Zuckerdose zur Verfügung gestellt. Monte Christo und Haydee nahmen den arabischen Trank nach Art der Araber, nämlich ohne Zucker.
Haydee streckte ihre Hand aus und faßte mit der Spitze ihrer zarten, rosigen Finger die Tasse von japanischem Porzellan, die sie mit dem naiven Vergnügen eines Kindes, das Angenehmes ißt oder trinkt, an ihre Lippen führte.
Zu gleicher Zeit traten zwei Frauen ein undbrachten zwei andere Platten, beladen mit Eis und Sorbet, die sie auf kleine, eigens dafürbestimmte Tische setzten.
Mein lieber Wirt und Sie, Signora, sagte Albert Italienisch, entschuldigen Sie mein Erstaunen. Ichbin ganz verwirrt, und das ist natürlich; ich finde hier den Orient, den wahren Orient, nicht wie ich ihn gesehen, sondern wie ich ihn geträumt, im Schoße von Paris geträumt habe. Oh! Signora, daß ich nicht Griechisch sprechen kann, Ihre Rede, verbunden mit dieser feenhaften Umgebung, wurde für mich einen Abendbilden, dessen ich mich stets erinnern müßte.
Ich spreche gut genug Italienisch, um mich mit Ihnen zu unterhalten, mein Herr, sagte Haydee gelassen, und ich werde nach Kräften dafür sorgen, daß Sie den Orient hier wiederfinden, wenn Sie ihn lieben.
Wovon kann ich mit ihr sprechen? fragte Albert ganz leise Monte Christo.
Wovon Sie wollen, von ihrem Vaterland, von ihrer Jugend, von ihren Erinnerungen, oder wenn Sie lieber wollen, von Rom, von Neapel, von Florenz.
Oh! es wäre nicht der Mühe wert, eine Griechin vor sich zu haben, um mit ihr von dem zu reden, wovon man mit einer Pariserin reden würde; lassen Sie mich mit ihr vom Orient sprechen.
Tun Sie das, mein lieber Albert, es ist für sie die angenehmste Unterhaltung.
Albert wandte sich an Haydee und fragte: In welchem Alter hat Signora Griechenland verlassen?
Mit fünf Jahren.
Und Sie erinnern sich Ihres Vaterlandes?
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich alles wieder, was ich gesehen habe.
Und was ist die fernste Zeit, deren Sie sich erinnern?
Ich konnte kaum gehen; meine Mutter, die Wasiliki hieß — was königlichbedeutet, fügte das Mädchen stolz hinzu — meine Mutter nahm michbei der Hand, und wir gingenbeide, nachdem wir in unsereBörse alles Gold getan hatten, das wirbesaßen, mit Schleiernbedeckt umher und forderten mit den Worten: Wer den Armen gibt, leiht dem Ewigen, Almosen für die Gefangenen. Wenn dann unsereBörse voll war, kehrten wir in den Palast zurück und schickten, ohne meinem Vater ein Wort zu sagen, alles Gold, das man uns, im Glauben, wir seien arme Frauen, gegeben hatte, dem Hegumenos des Klosters, der es unter die Gefangenen austeilte.
Wie alt waren Sie damals?
Drei Jahre, sagte Haydee.
Sie erinnern sich also alles dessen, was seit Ihrem dritten Lebensjahre um sie her sich zugetragen hat?
Gewiß.
Graf, sagte leise Morcerf zu Monte Christo, Sie sollten ihr erlauben, uns etwas von ihrer Geschichte zu erzählen. Sie haben mir verboten, von meinem Vater mit ihr zu sprechen, doch vielleicht spricht sie von ihm, und Sie können sich gar nicht denken, wie glücklich ich wäre, seinen Namen aus einem so schönen Munde nennen zu hören.
Monte Christo wandte sich an Haydee und sagte zu ihr mit scharferBetonung auf griechisch: Erzähle uns das Schicksal deines Vaters, aber nenne nicht den Namen des Verräters. Haydee stieß einen langen Seufzer aus, und eine düstere Wolke zog über ihre reine Stirn hin.
Was sagen Sie ihr? fragte ganz leise Morcerf.
Ich wiederhole ihr, daß Sie ein Freund von mir sind, und daß sie Ihnen gegenüber nichts zu verbergen habe.
Das ist also Ihre erste Erinnerung? sagte Albert, was schwebt Ihnen sonst noch vor?
Ich sehe mich unter dem Schatten von Ahornbäumen, in der Nähe eines Sees, dessen zitternden Spiegel ich noch durch dasBlätterwerk erblicke. An dem ältesten undbuschreichstenBaume saß mein Vater auf Kissen, und während meine Mutter zu seinen Füßen lag, spielte ich mit seinem weißenBarte, derbis auf seineBrust herabhing, und mit dem in seinem Gürtel steckenden Kandschar mit dem Diamantgriffe. Von Zeit zu Zeit kam ein Albanese zu ihm und sagte ein Paar Worte, auf die mein Vater gleichmütige Tötet! oderbegnadigt! antwortete.
Ich war vier Jahre alt, als ich eines Abends von meiner Mutter aufgeweckt wurde. Wirbefanden uns in dem Palaste von Janina; sie nahm mich von den Kissen, auf denen ich ruhte, und als ich die Augen öffnete, sah ich die ihrigen voll schwerer Tränen. Sie trug mich fort, ohne etwas zu sagen. Als ich wahrnahm, daß sie weinte, fing ich ebenfalls an zu weinen. Still, Kind! sagte sie. Trotz der mütterlichen Tröstungen oder Drohungen fuhr ich, launenhaft wie alle Kinder, fort zu weinen; doch schließlich lag in der Stimme meiner armen Mutter ein solcher Ausdruck von Schrecken, daß ich schwieg.
Sie trug mich rasch weiter. Wir stiegen einebreite Treppe hinab; alle Frauen meiner Mutter stiegen oder stürzten vielmehr, Kisten, Sacke, Putzsachen, Juwelen, Goldbörsen tragend, dieselbe Treppe hinab. Hinter den Frauen kam eine Wache von zwanzig Mann, bewaffnet mit langen Flinten und Pistolen.
Glauben Sie, sagte Haydee, den Kopf schüttelnd und schonbei dieser Erinnerung erbleichend, es lag etwas Unseliges in der langen Reihe von Sklaven und Frauen, die halbschlaftrunken waren, — wenigstensbildete ich es mir ein, denn ich hielt vielleicht die andern für schläfrig, weil ich selbst nur halbwach war. Auf der Treppe liefen riesige Schatten, welche der Schein der tannenen Fackeln an den Gewölben zittern ließ. Eilt! rief eine Stimme im Hintergrunde der Galerie. Bei dieser Stimmebeugte sich alles, wie der Wind, der über die Ebene hinstreicht, das Ährenfeld sichbeugen läßt.
Ich aber zitterte.
Die Stimme war die meines Vaters. Er kam zuletzt in seinen glänzenden Gewändern und den Karabiner in der Hand haltend, den Ihr Kaiser ihm geschenkt hatte. Auf seinen Liebling Selim gestützt, trieber uns vor sich her, wie ein Hirt seine verirrte Herde.
Mein Vater, fuhr Haydee, das Haupt erhebend, fort, mein Vater war derberühmte Mann, den Europa unter dem Namen Ali Tependelini, Pascha von Janina, gekannt hat, und vor dem die Türken zitterten.
Ohne zu wissen warum, bebte Albert, als er diese Worte mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Hoheit und Würde aussprechen hörte. Es kam ihm vor, als strahlte etwas Düsteres, Furchtbares in den Augen des griechischen Mädchens; einer Zauberin ähnlich, die ein Gespenst heraufbeschwört, erweckte Haydee die Erinnerung an dieblutige Gestalt, deren gräßlicher Tod sie in den Augen des damaligen Europa riesenhaft erscheinen ließ.
Bald hielt man an, fuhr Haydee fort, wir waren unten an der Treppe und am Rande eines Sees. Meine Mutter drückte mich an ihre pochendeBrust, und ich sah zwei Schritte hinter uns meinen Vater, der unruhig nach allen Seiten umherschaute. Vor uns lagen vier Marmorstufen, und unten an der letzten Stufe schaukelte eineBarke. Von dem Orte aus, wo wir waren, sah man mitten im See eine schwarze Masse sich erheben; es war der Kiosk, nach dem wir unsbegaben. Dieser Kiosk schien mir sehr weit entfernt zu sein, vielleicht wegen der Dunkelheit. Wir stiegen in dieBirke hinab. Außer den Ruderern waren in derBarke nur die Frauen, mein Vater, meine Mutter, Selim und ich. Die Palikaren waren, bereit, den Rückzug zu decken, am Rande des Sees geblieben; sie knieten auf der untersten Stufe und machten sich so für den Fall, daß sie verfolgt würden, einen Wall aus den drei andern. UnsereBarke ging wie der Wind.
Warum geht dieBarke so geschwind? fragte ich meine Mutter.
Still, mein Kind! sagte sie, wir fliehen.
Ichbegriff das nicht. Warum floh mein Vater? Er, der Allmächtige, vor dem gewöhnlich die andern flohen, er, dessen Wahlspruch es war: Sie mögen mich hassen, wenn sie mich nur fürchten!
Es war aber in der Tat eine Flucht. Man sagte mir seitdem, eines langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina…
Hier heftete Haydee ihren ausdrucksvollenBlick auf Monte Christo, dessen Augen die ihrigen nicht mehr verließen. Das Mädchen fuhr langsam fort, wie jemand, der erfindet oder unterdrückt.
Sie sagten, Signora, erinnerte Albert, der mit der größten Aufmerksamkeit dieser Erzählung zuhörte, des langen Dienstes müde, habe die Garnison von Janina…
Mit dem Seraskier Kurschid unterhandelt, der von dem Sultan abgeschickt war, meinen Vater festzunehmen. Damals faßte mein Vater den Entschluß, nachdem er an den Sultan einen fränkischen Offizier, dem er sein ganzes Zutrauen schenkte, abgeschickt hatte, sich nach dem Asile zurückzuziehen, das er sich seit langer Zeitbereitet hatte.
Und Sie erinnern sich des Namens dieses Offiziers?
Nein, ich entsinne mich dessen nicht, antwortete Haydee, durch einenBlick des Grafen gewarnt, doch er wird mir vielleicht später einfallen, und ich werde ihn dann nennen. Albert wollte den Namen seines Vaters aussprechen, als Monte Christo langsam den Finger aufhob; der junge Mann erinnerte sich seines Schwures und schwieg.
Wir segelten auf den Kiosk zu. Ein mit Arabesken verziertes Erdgeschoßbadete seine Terrassen im Wasser; dieses Erdgeschoß und ein Stockwerk darüber war alles, was der Palast den Augen Sichtbaresbot. Aber unter dem Erdgeschosse war, sich nach der Insel ausdehnend, ein Gewölbe, eine weite Höhle, in die man uns, meine Mutter, mich und unsere Frauen, führte und wo auf einem einzigen Haufen sechzigtausendBeutel und zweihundert Fässer lagen. In diesenBeuteln waren fünfundzwanzig Millionen in Gold, in den Fässern dreißiglausend Pfund Pulver enthalten. Bei den Fässern stand Selim, der von mir erwähnte Liebling meines Vaters. Er wachte Tag und Nacht, mit einem Spieße in der Hand, an dessen Ende eine Luntebrannte, und hatteBefehl, auf das erste Zeichen meines Vaters alles, Kiosk, Waffen, Pascha, Frauen und Gold, in die Luft zu sprengen.
Ich kann nicht sagen, wie lange wir soblieben; zuweilen, jedoch selten, ließ mein Vater mich und meine Mutter auf die Terrasse des Palastes rufen; das waren die festlichsten Stunden für mich. Mein Vater heftetebeständig seinen düsterenBlick in den Umkreis des Horizontes undbefragte jeden schwarzen Punkt, der auf dem See erschien, während meine Mutter in halbliegender Stellung ihren Kopf auf seine Schulter stützte und ich, zu seinen Füßen spielend, mit erstaunten Kinderaugen, welche die Gegenstände noch vergrößern, die Abdachungen des am Horizont sich erhebenden Pindusbetrachtete. Aus demblauen Wasser des Sees traten weiß und eckig die Schlösser von Janina und die ungeheuren, schwarzgrünenBaumgruppen, die wie Schlingpflanzen am Gebirge hingen und aus der Ferne wie Moose aussahen.
Eines Morgens ließ uns mein Vater holen; meine Mutter hatte die ganze Nacht geweint; wir fanden ihn ziemlich ruhig, aberbleicher als gewöhnlich.
Fasse Geduld, Wasiliki, sagte er, heute wird alles vorüber sein; heute kommt der Ferman des Herrn, und mein Schicksal entscheidet sich. Bin ich völligbegnadigt, so kehren wir nach Janina zurück, ist die Nachricht schlimm, so fliehen wir in dieser Nacht.
Aber wenn sie uns nicht fliehen lassen? entgegnete meine Mutter.
Oh, sei unbesorgt! sagte Ali lächelnd; Selim und seine Lunte haften mir dafür. Es wäre ihnen lieb, wenn ich sterben müßte, doch nicht, wenn sie mit mir sterben müssen.
Meine Mutter antwortete auf diese Tröstungen, die nicht aus dem Herzen meines Vaters kamen, nur durch Seufzer. Siebereitete ihm das Eiswasser, das er jeden Augenblick trank, denn seit dem Rückzuge nach dem Kiosk verzehrte ihn ein glühendes Fieber; sie zündete den Tschibuk an, dessen in der Luft verfliegendem Rauche seine zerstreutenBlicke zuweilen ganze Stunden lang folgten.
Plötzlich machte er eine so ungestümeBewegung, daß mirbange wurde. Dann verlangte er, ohne die Augen von dem Gegenstand abzuwenden, der seine Aufmerksamkeit fesselte, ein Fernglas.
Meine Mutter, bleicher als die Wand, an die sie sich lehnte, gabes ihm.
Ich sah die Hand meines Vaters zittern. EineBarke!.. zwei… drei… murmelte mein Vater; vier!.. und er stand auf und ergriff seine Waffen und schüttete, wie ich mich genau erinnere, Pulver auf die Pfannen seiner Pistolen.
Wasiliki, sagte erbebend zu meiner Mutter, der entscheidende Augenblick ist gekommen; in einer halben Stunde wissen wir die Antwort des Großherrn; begibdich mit Haydee in das unterirdische Gewölbe.
Ich will Euch nicht verlassen, entgegnete Wasiliki, sterbt Ihr, Herr, so will ich mit Euch sterben.
Geht zu Selim, rief mein Vater.
Gottbefohlen, Herr! murmelte meine Mutter, gehorchend und wie gelähmt, als nahte ihr der Tod.
Ich aber lief auf meinen Vater zu und streckte meine Arme nach ihm aus; er sah mich, neigte sich auf mich herabund drückte meine Stirn an seine Lippen. Oh! dieser Kuß war der letzte, und ich fühle ihn noch hier auf meiner Stirn.
Beim Hinabsteigen erblickten wir durch die Gitter der Terrasse dieBarken, die auf dem See immer größer wurden, und kaum erst schwarzen Punkten ähnlich, nunbereits die Oberfläche der Wellen streifenden Vögeln glichen. Zu den Füßen meines Vaters sitzend und durch das Geräusch verborgen, beobachteten mittlerweile zwanzig Palikaren mitblutigem Auge die Ankunft der Schiffe und hielten ihre langen, mit Perlmutter und Silber eingelegten Flintenbereit. Patronen lagen in großer Anzahl auf demBoden zerstreut; mein Vater schaute auf seine Uhr und ging ängstlich hin und her. Meine Mutter und ich gingen durch das unterirdische Gewölbe. Selim war immer noch an seinem Posten; er lächelte uns traurig zu, und obgleich noch Kind, fühlte ich doch, daß eine große Gefahr über unsern Häuptern schwebte.
Albert hatte oft, nicht von seinem Vater, der nie darüber sprach, sondern von Fremden die letzten Augenblicke des Wesirs von Janina erzählen hören; doch diese durch die Person und die Stimme des Mädchens zu neuem Leben erweckte Geschichte, der gefühlvolle Ausdruck, die klagende Elegie durchdrangen ihn zugleich mit einem unbeschreiblichen Zauber und mit einem unaussprechlichen Schmerz.
Ganz ihren furchtbaren Erinnerungen hingegeben, hatte Haydee einen Augenblick zu sprechen ausgehört; wie eineBlume, die sich vor dem Sturme neigt, beugte sich ihre Stirn auf die Hand, und ihre im weiten Räume verlorenen Augen schienen noch am Horizont den grünen Pindus und dieblauen Wasser des Sees zu schauen, der, ein magischer Spiegel, das düstere Gemälde, das sie entwarf, widerstrahlte.
Monte Christo schaute sie voll Teilnahme und Mitleid an.
Endlich erhobHaydee die Stirn und fuhr fort: Es war vier Uhr abends; aber obgleich der Tag außen rein und glänzend war, blieben wir doch in den Schatten des unterirdischen Gewölbes versenkt. Ein einziger Schein glänzte in der Höhle, ähnlich einem am Grunde eines schwarzen Himmels zitternden Stern, es war Selims Lunte. Meine Mutter war eine Christin undbetete. Selim wiederholte von Zeit zu Zeit die geheiligten Worte: Allah ist groß! Meine Mutter hatte jedoch noch einige Hoffnung. Als sie hinabstieg, hatte sie den Franken zu erkennen geglaubt, den man nach Konstantinopel geschickt, und in den mein Vater sein ganzes Vertrauen setzte, denn er wußte, daß die Soldaten des französischen Sultans gewöhnlich edel und hochherzig sind. Sie ging einige Schritte zur Treppe hin und horchte. Sie nahen, sagte sie; wenn sie nur den Frieden und das Lebenbringen! Wasbefürchtest du, Wasiliki, entgegnete Selim mit seiner zugleich weichen und stolzen Stimme; bringen sie uns nicht den Frieden, so geben wir ihnen den Krieg; bringen sie uns nicht das Leben, so geben wir ihnen den Tod. Und er fachte die Flamme seines Spießes von neuem an. Aber ich, die noch ganz Kind war, fürchtete mich vor diesem Mute, den ich wild und unsinnig fand, und erschrak vor dem furchtbaren Tode in der Luft und in den Flammen. Meine Mutter mußte wohl dasselbe empfinden, denn ich fühlte ihre Handbeben.
Mein Gott! mein Gott! Mama, rief ich, müssen wir sterben? Undbei dem Tone meiner Stimme verdoppelten sich die Tränen und die Gebete der Sklavinnen. Kind, sagte meine Mutter, Gottbehüte dich, daß du dir je den Tod wünschest, vor dem dir heutebange ist!
Selim, sagte sie, wie lautet derBefehl des Herrn?
Schickt er mir seinen Dolch, so weigert sich der Sultan, ihn in Gnade zu empfangen, und ich lege Feuer an; schickt er mir seinen Ring, so verzeiht ihm der Sultan, und ich lösche meine Flamme aus.
Freund, versetzte meine Mutter, wenn derBefehl des Herrn kommt er schickt dir den Dolch, so reichen wir dir, statt eines Todes zu sterben, der uns erschreckt, dieBrust, und du tötest uns mit diesem Dolche.
Ja, Wasiliki, antwortete Selim ruhig.
Plötzlich vernahmen wir ein Geschrei; wir horchten: es war ein Freudengeschrei; der Name des Franken, den man nach Konstantinopel, geschickt, erscholl wiederholt aus dem Munde unserer Palikaren; offenbarbrachte er die Antwort des Großherrn, und die Antwort lautete günstig.
Und Sie erinnern sich dieses Namens nicht? fragte Morcerf.
Monte Christo machte ihr ein Zeichen.
Ich erinnere mich seiner nicht, sagte Haydee.
Der Lärm vermehrte sich, es erschollen immer näher kommende Tritte; man stieg die Stufen des unterirdischen Gewölbes hinab. Selim hielt seinen Spießbereit. Bald erschien ein Schatten in derbläulichen Dämmerung, mit welcher die durch den Eingang des unterirdischen Gewölbes eindringenden Strahlen den Raum erfüllten. Werbist du? rief Selim. Wer du auch sein magst, tue keinen Schritt weiter.
Ehre dem Sultan! sagte der Schatten. Dem Wesir Ali ist volleBegnadigung zugestanden, und man hat ihm nicht nur das Leben gesichert, sondern man gibt ihm auch sein Vermögen und seine Güter zurück. Meine Mutter stieß einen Freudenschrei aus und drückte mich an ihr Herz. Halt! sagte Selim, als er sah, daß sie forteilen wollte, du weißt, daß ich den Ring haben muß.
Es ist richtig, sagte meine Mutter, und fiel auf die Knie und hobmichbetend zum Himmel empor.
Wieder schwieg Haydee, von einer so furchtbaren Erschütterung überwältigt, daß ihr der Schweiß von derbleichen Stirn floß und ihre zusammengepreßte Stimme nicht mehr durch die Kehle dringen zu können schien. Monte Christo goß ein wenig Eiswasser in ein Glas, bot es ihr und sprach mit weichem, aber doch auch ein wenig gebieterischem Tone: Mut gefaßt, meine Tochter!
Haydee trocknete ihre Augen und fuhr fort: An die Dunkelheit gewöhnt, hatten mittlerweile unsere Augen den Abgesandten des Paschas erkannt; es war ein Freund. Selim hatte ihn ebenfalls wahrgenommen, doch derbrave junge Mann kannte nur eines: Gehorsam.
In wessen Namen kommst du? fragte er.
Ich komme im Namen deines Herrn, Ali Tependelini, Wenn du im Namen Alis kommst, so weißt du, was du mir zu übergeben hast.
Ja, sagte der Abgeordnete, ichbringe dir seinen Ring, Gleichzeitig hober seine Hand empor, aber er stand zu weit entfernt, und es war nicht hell genug, als daß Selim den Gegenstand, den er ihm zeigte, zu unterscheiden vermochte. Ich weiß nicht, was du in der Hand hältst, sagte Selim.
Nähere dich! sagte derBote, oder ich werde mich dir nähern.
Weder das eine noch das andere, entgegnete der junge Soldat, lege auf die Stelle, wo dubist, und unter den Lichtstrahl den Gegenstand, den du mir zeigst, und ziehe dich zurück, bis ich ihn gesehen habe.
Es sei, sagte derBote.
Und er zog sich zurück, nachdem er das Erkennungszeichen niedergelegt hatte. Unser Herz schlug gewaltig, denn es schien wirklich ein Ring zu sein. Nur fragte es sich, obes der Ring meines Vaters war. Beständig die angezündete Lunte in der Hand haltend, ging Selim an die Öffnung, bückte sich unter den Lichtstrahl und hobdas Zeichen auf. Der Ring des Herrn, sagte er, ihn küssend, es ist gut! Und die Lunte auf denBoden werfend, trat er darauf und löschte sie aus. DerBote stieß einen Freudenschrei aus und klatschte in die Hände.
Auf dieses Zeichen liefen vier Soldaten des Seraskiers Kurschid herbei, und Selim stürzte, von fünf Dolchstößen durchbohrt, nieder.
Jeder hatte ihm einen Stoß versetzt. Und trunken von ihrem Verbrechen, obgleich nochbleich vor Schrecken, stürzten sie in das Gewölbe, suchten überall, obFeuer da wäre, und wälzten sich auf den Goldsäcken.
Mittlerweile faßte mich meine Mutter in ihre Arme und gelangte zu einer Geheimtreppe des Kiosks, in dem ein furchtbarer Aufruhr herrschte. Die unteren Säle waren ganz gefüllt von den Tschodoars von Kurschid, das heißt von unseren Feinden. In dem Augenblick, wo meine Mutter die kleine Tür aufstoßen wollte, hörten wir furchtbar und drohend die Stimme des Paschas ertönen. Meine Mutter hielt ihr Auge an eine Spalte in denBrettern; auch ich fand eine undblickte hindurch.
Was wollt ihr? sagte mein Vater zu den Leuten, die ein Papier mit goldenenBuchstaben in der Hand hielten.
Was wir wollen? entgegnete einer von ihnen, dir den Willen Seiner Hoheit mitteilen. Siehst du diesen Ferman?
Ich sehe ihn.
So lies; er fordert deinen Kopf.
Mein Vaterbrach in ein Gelächter aus, das furchtbarer war, als irgend eine Drohung hätte sein können; doch er hatte noch nicht zu lachen aufgehört, alsbereits von zwei Pistolenschüssen aus seinen Händen zwei Männer tot niedergestreckt waren. Die Palikaren, die, mit dem Gesicht zur Erde, um meinen Vater lagen, erhoben sich und gaben Feuer, das Gemach füllte sich mit Geschrei, Flammen und Rauch. Aus der Stellebegann das Feuer von der andern Seite, und die Kugeln durchlöcherten dieBretter um uns her. Oh! wie schön, wie groß er war, der Wesir Ali Tependelini, mein Vater, mitten unter den Kugeln, den Säbel in der Faust, das Gesicht von Pulver geschwärzt! Wie seine Feinde flohen!
Selim! Selim! schrie er, Feuerwächter, tu deine Pflicht!
Selim ist tot, antwortete eine Stimme, die aus den Tiefen des Kiosks zu kommen schien, und du, Herr, bist verloren!
Gleichzeitig vernahm man einen dumpfen Ton, und derBoden flog um meinen Vater in Stücke. Die Tschodoars schossen durch denBoden, und drei oder vier Palikarenbrachen, schrecklich verwundet, zusammen. Mein Vaterbrüllte, streckte seine Finger durch die von den Kugeln gemachten Löcher und riß ein ganzesBrett aus. In demselben Augenblicke aber krachten durch diese Öffnung zwanzig Flintenschüsse, und wie aus dem Krater eines Vulkans hervorströmend, ergriff die Flamme die Tapeten und verzehrte sie.
Mitten unter diesem furchtbaren Aufruhr, mitten unter diesem gräßlichen Geschrei, ließen mich zweibesondere Schüsse, denen zwei herzzerreißende, alles andere übertönende Schreie folgten, vor Schrecken zu Eis erstarren: die Schüsse hatten meinen Vater tödlich getroffen, und er hatte die Schreie ausgestoßen. Trotzdem war er, sich an ein Fenster klammernd, aufrecht stehen geblieben. Meine Mutter rüttelte an der Tür, um mit ihm zu sterben, aber die Tür war verschlossen. Rings um ihn her krümmten sich Palikaren, im Todeskampfe zuckend; zwei oder drei, die ohne Wunden oder nur leicht verwundet waren, sprangen durch die Fenster. Zu gleicher Zeit krachte der ganzeBoden, von unten zertrümmert. Mein Vater fiel auf ein Knie, zwanzig Arme streckten sich, mit Säbeln, Pistolen, Dolchenbewaffnet, nach ihm aus; zwanzig Streiche trafen in derselben Sekunde einen einzigen Mann, und mein Vater verschwand in einem von diesenbrüllenden Teufeln angezündeten Feuerwirbel, als obsich die Hölle unter seinen Füßen geöffnet hätte. Ich fühlte, wie ich zuBoden rollte; meine Mutter stürzte ohnmächtig nieder.
Haydee ließ, einen Seufzer ausstoßend, ihre Arme sinken und schaute den Grafen an, als wollte sie ihn fragen, ober mit ihrem Gehorsam zufrieden sei.
Der Graf stand auf, faßte siebei der Hand und sagte in neugriechischer Sprache zu ihr: Beruhige dich, liebes Kind, fasse Mut undbedenke, daß es einen Gott gibt, der die Verräterbestraft.
Das ist eine furchtbare Geschichte, Graf, sagte Albert, ganz erschrocken über HaydeesBlässe; ich mache es mir zum Vorwurf, daß ich so grausam unbescheiden gewesenbin.
Es ist nichts, erwiderte Monte Christo und fuhr, seine Hand auf den Kopf des Mädchens legend, fort: Haydee ist mutig; sie hat in der Erzählung ihrer Schmerzen eine Erleichterung gefunden.
Weil mich meine Schmerzen an deine Wohltaten erinnern, mein Herr, versetzte rasch Haydee.
Albert schaute sie neugierig an, denn sie hatte noch nicht erzählt, was er am meisten zu wissen wünschte, nämlich, wie sie Sklavin des Grafen geworden war.
Haydee sah in denBlicken des Grafen wie in denen Alberts dasselbe Verlangen ausgedrückt und fuhr fort: Als meine Mutter wieder zu sich kam, befanden wir uns vor dem Seraskier. Töte mich, sagte sie, aber schone die Ehre der Witwe Alis. — Du mußt dich nicht an mich wenden, erwiderte Kurschid. — An wen denn? — An deinen neuen Herrn. — Wer ist dies? — Hier steht er. Und Kurschid deutete auf einen von denen, die am meisten zum Tode meines Vatersbeigetragen hatten, fuhr das Mädchen mit dumpfem Zorne fort.
Ihr wurdet also das Eigentum dieses Mannes?
Nein, antwortete Haydee; er wagte nicht, uns zubehalten, und verkaufte uns an Sklavenhändler, die nach Konstantinopel zogen. Wir durchreisten Griechenland und kamen endlich sterbend an der kaiserlichen Pforte an, wo uns Neugierigebedrängten, als meine Mutter, denBlicken der Menge folgend, auf einmal einen Schrei ausstieß und, mir über der Pforte ein Haupt zeigend, niederstürzte. — Über diesem Haupte standen die Worte: Dies ist der Kopf Ali Tependelinis, Paschas von Janina. Weinend suchte ich meine Mutter aufzuheben, sie war tot. Man führte mich nach demBasar; ein reicher Armenier kaufte mich, gabmir Lehrer, ließ mich unterrichten und verlauste mich wieder an den Sultan Mahmud, als ich dreizehn Jahre alt war.
Von dem ich sie um den Smaragd erkaufte, der dem ähnlich war, in dem meine Haschischkügelchen enthalten sind, sagte Monte Christo.
Oh! dubist gut! Dubist groß, mein Herr, sagte Haydee, des Grafen Hand küssend, und ichbin sehr glücklich, daß ich dir gehöre.
Albert war ganzbetäubt von dem, was er vernommen hatte.
Leeren Sie Ihre Tasse, sagte der Graf zu ihm; die Geschichte ist zu Ende.
FünfterBand
Man schreibt uns aus Janina
Franz verließ Noirtiers Zimmer so schwankend und verwirrt, daß Valentine selbst Mitleid mit ihm empfand.
Villefort, der nur einige Worte ohne Zusammenhang gesprochen hatte und in sein Kabinett entflohen war, erhielt zwei Stunden nachher folgendenBrief:
«Nach dem, was mir heute morgen enthüllt worden ist, kann Herr Noirtier von Villefort nicht annehmen, es sei eine Verbindung zwischen seiner Familie und der des Herrn Franz d'Epinay möglich. Herr Franz d'Epinay denkt mit Schrecken daran, daß Herr von Villefort, der, wie es scheint, die Ereignisse kannte, ihm nicht in diesem Gedanken zuvorgekommen ist.«
Wer den Staatsanwalt in diesem Augenblick in seiner Zerknirschung gesehen hätte, würde nicht geglaubt haben, daß er auch nur entfernt an diese Möglichkeit gedacht hätte. In der Tat hatte er ein solches Dazwischentreten seines Vaters schon deshalbfür ganz ausgeschlossen gehalten, weil sich der alte Jakobiner nie die Mühe genommen hatte, ihn über den genauen Verlauf der Ereignisse aufzuklären, und der Staatsanwalt daher stets der Meinung gewesen war, der General von Quesnel sei ermordet worden.
Der schroffeBrief des jungen Mannes, der ihmbis dahin Ehrfurchtbewiesen hatte, verwundete Villeforts Stolz tödlich. Kaumbefand er sich in seinem Kabinett, als seine Frau, deren Lage nach dem Verschwinden des Herrn d'Epinay dem Notar und den Zeugen gegenüber jeden Augenblick peinlicher geworden war, eintrat.
Herr von Villefortbeschränkte sich darauf, ihr zu sagen, infolge einer Erklärung zwischen ihm, Herrn Noirtier und Herrn d'Epinay sei die Heirat als aufgegeben zubetrachten. Es war unangenehm, dies den Wartenden mitzuteilen. Als Frau von Villefort zurückkehrte, sagte sie auch nur, Herr Noirtier habe am Anfang derBesprechung eine Art von Schlaganfall gehabt, und die Unterzeichnung des Vertrags sei dadurch natürlich um einige Tage verschoben.
Die Zuhörer sahen einanderbei dieser Mitteilung erstaunt an und entfernten sich, ohne ein Wort zu sagen.
Zugleich glücklich und erschrocken, umarmte Valentine den schwachen Greis, der mit einem Schlage die Kette zerbrochen hatte, die siebereits für unauflöslich hielt, dankte ihm undbat ihn sodann um Erlaubnis, sich zu ihrer Erholung in ihr Zimmer zurückziehen zu dürfen. Doch statt in ihre Wohnung hinaufzugehen, eilte Valentine durch den Gang und von da durch die kleine Tür in den Garten. Inmitten aller der Ereignisse, die einander drängten, hatte ein dumpfer Schreckenbeständig ihr Herz zusammengepreßt. Jeden Augenblick erwartete sie Morelbleich und drohend erscheinen zu sehen.
Es war in der Tat Zeit, daß sie zu dem Gitter kam. Da Morel das Kommende vermutete, als er Franz mit Herrn von Villefort den Kirchhof verlassen sah, war er ihm nachgefolgt. Erbeobachtete dann, daß er wieder das Haus verließ undbald mit Albert und Chateau‑Renaud zurückkehrte. Nun gabes für ihn keinen Zweifel mehr. Er eilte in sein Gehege, für jedes Ereignisbereit und fest überzeugt, Valentine werde im ersten freien Augenblick zu ihm eilen.
Er täuschte sich nicht; sein an dieBretter gedrücktes Auge sah nach langem, bangem Harren endlich das Mädchen erscheinen, das ohne die gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln nach dem Gitter lief. Mit dem erstenBlicke auf sie war erberuhigt; bei dem ersten Worte, das sie sprach, hüpfte er vor Freude.
Gerettet! sagte Valentine.
Gerettet! wiederholte Morel, der kaum an ein solches Glück glauben konnte, und durch wen?
Durch meinen Großvater. Oh! du mußt ihn sehr liebhaben, Maximilian!
Doch wie war es möglich? fragte Morel; welches seltsame Mittel hat er angewendet?
Valentine öffnete den Mund, um alles zu erzählen; doch siebedachte, daß dem allen ein furchtbares Geheimnis zu Grunde lag, das nicht ihrem Großvater allein gehörte.
Später werde ich dir alles erzählen, sagte sie.
Wann? — Wenn ich einmal deine Fraubin.
Dies hieß das Gespräch auf ein Kapitelbringen, das Morel leicht alles verstehen ließ; er verstand sogar, daß er sich mit dem, was er wußte, begnügen solle, und das fiel ihm auchbei der guten Nachricht nicht schwer. Er willigte jedoch erst ein, sich zu entfernen, als ihm Valentine für den nächsten Abend ein Wiedersehen versprach.
Frau von Villefort war mittlerweile zu Herrn Noirtier hinaufgegangen. Noirtier schaute sie mit dem strengen, düstern Auge an, mit dem er sie gewöhnlich empfing.
Mein Herr, sagte sie, ichbrauche Ihnen nicht erst mitzuteilen, daß Valentines Heirat aufgegeben ist.
Noirtierbliebunbeweglich.
Doch, was Sie nicht wissen, ist der Umstand, daß ich stets gegen diese Heirat gewesenbin, die wider meinen Willen geschlossen werden sollte.
Noirtier schaute seine Schwiegertochter wie ein Mensch an, der eine Erklärung erwartet.
Da nun aus dieser Heirat, die Ihnen, wie ich weiß, so sehr widerstrebte, nichts wird, so komme ich, umbei Ihnen einen Schritt zu tun, den weder Herr von Villefort noch Valentine tun können.
Noirtiers Augen sahen sie fragend an.
Ich komme, Sie zubitten, mein Herr, fuhr Frau von Villefort fort, denn nur ich, die nichts davon hat, bin dazuberechtigt, ich komme, Sie zubitten, Ihrer Enkelin, ich sage nicht Ihre Gunst, die sie stets gehabt hat, sondern Ihr Vermögen zufließen zu lassen.
Noirtiers Augenblieben eine Zeitlang unschlüssig, er suchte offenbar dieBeweggründe dieses Schrittes und konnte sie nicht finden.
Darf ich hoffen, mein Herr, daß Ihre Absichten im Einklang mit derBitte standen, die ich soeben an Sie gerichtet habe? sagte Frau von Villefort.
Ja, machte der Greis.
Dann entferne ich mich, zugleich dankbar und glücklich, sagte sie, grüßte Herrn Noirtier und verließ das Zimmer.
In der Tat ließ der Greis schon andern Tags den Notar kommen. Das erste Testament wurde vernichtet und ein anderes abgefaßt, nach dem sein ganzes Vermögen Valentine unter derBedingung zufiel, daß man sie nicht von ihm trennte.
Neugierige Leuteberechneten hieraus, als Erbin des Marquis und der Marquise von Saint‑Meran und alsBegünstigte ihres Großvaters werde Fräulein von Villefort eines Tags eine Rente von 300 000 Franken haben.
Während die Heirat zwischen Valentine und Herrn d'Epinay in dieBrüche ging, hatte der Graf von Morcerf denBesuch Monte Christos empfangen, und um Danglars seinen Eifer kundzugeben, zog jener seine große Generalsuniform an, die er mit allen seinen Kreuzen hatte schmücken lassen, undbefahl, seinebesten Pferde anzuspannen.
So geschmücktbegaber sich in die Rue de la Chaussee d'Antin und ließ sichbei Danglars melden, der eben seinen Monatsabschlußberechnete. Es war seit einiger Zeit nicht der Augenblick, in dem man denBankierbei guter Laune fand. Beim Anblicke seines alten Freundes nahm Danglars eine majestätische Miene an und setzte sich steif in seinem Lehnstuhle zurecht. Dagegen hatte der sonst so förmliche Morcerf eine freundliche Miene angenommen. In der Überzeugung, seiner Eröffnung würde ein guter Empfang zuteil werden, ging er nicht diplomatisch zu Werke, sondern sagte, mit einem Schritte auf das Ziel losgehend: Baron, hierbin ich. Seit geraumer Zeit drehen wir uns um das, was wir früherbesprochen…
Morcerf erwartete, er würdebei diesen Worten das Gesicht desBankiers, dessen Verdüsterung er seinem Stillschweigen zuschrieb, sich aufheitern sehen; aber Danglars' Gesicht wurde im Gegenteil noch viel kälter und unempfindlicher, weshalbMorcerf mitten in seinem Satze anhielt.
Was haben wirbesprochen, Herr Graf? fragte derBankier, als suchte er vergebens in seinem Geiste die Erklärung dessen, was der Graf sagen wollte.
Oh! Sie sind ein Formenmensch, versetzte der Graf, und Sie erinnern mich daran, daß das Zeremoniellbeobachtet werden muß. Meinetwegen. Da ich nur einen Sohn habe und dies das erstemal ist, daß ich an seine Verheiratung denke, sobin ich noch ein Lehrling hierin; wohl, es mag sein! Und Morcerf erhobsich mit einem gezwungenen Lächeln, machte eine tiefe Verbeugung vor Danglars und sagte: HerrBaron, ich habe die Ehre, Sie um die Hand von Fräulein Eugenie Danglars, Ihrer Tochter, für meinen Sohn, den Vicomte Albert von Morcerf, zubitten.
Doch statt diese Worte wohlwollend aufzunehmen, wie Morcerf sicher erwartet hatte, runzelte Danglars die Stirn, setzte sich, ohne den Grafen, der stehen geblieben war, zum Sitzen einzuladen, und sagte: Herr Graf, ehe ich Ihnen antworte, muß ich überlegen.
Überlegen? entgegnete Morcerf, immer mehr erstaunt, haben Sie seit den acht Jahren, da wir zum erstenmal von dieser Heirat sprachen, nicht Zeit gehabt, sich die Sache zu überlegen?
Herr Graf, sagte Danglars, es kommen täglich Dinge vor, die einen nötigen, eine einmal gemachte Überlegung zu wiederholen.
Wieso? Ichbegreife Sie nicht, Baron.
Ich will damit sagen, mein Herr, daß seit vierzehn Tagen neue Umstände…
Erlauben Sie mir, spielen wir Komödie?
Wie, Komödie?
Ja, wir wollen uns kategorisch erklären.
Das kann mir nur liebsein.
Haben Sie Herrn von Monte Christo gesehen?
Ich sehe ihn sehr häufig, antwortete Danglars, er gehört zu meinen Freunden.
Wohl, bei einem seiner letztenBesuche in Ihrem Hause sagten Sie ihm, ich schiene vergeßlich, unentschlossen, inBeziehung auf diese Heirat. — Das ist wahr.
Nun! hierbin ich. Ichbin weder vergeßlich, noch unentschlossen, wie Sie sehen, denn ich komme, um Sie aufzufordern, Ihr Versprechen zu halten.
Danglars antwortete nicht.
Haben sich Ihre Ansichten sobald geändert? fügte Morcerf hinzu, oder haben Sie mich nur herausgefordert, um mich zu demütigen?
Danglarsbegriff, daß die Sache, wenn er das Gespräch in dem Tone, wie er es angefangen, fortsetzte, eine schlimme Wendung für ihn nehmen konnte.
Herr Graf, sagte er, Sie müssen mit vollem Rechte über meine Zurückhaltung erstaunt sein. Glauben Sie mir, ichbegreife dies undbedaure es sehr. Seien Sie überzeugt, daß mir diese Zurückhaltung durch gebieterische Umstände vorgeschrieben wird.
Das sind Worte in die Luft gesprochen, mein lieber Herr, mit denen sich der erstebestebegnügen könnte. Der Graf von Morcerf ist aber nicht der erstebeste, und wenn ein Mann wie ich einen andern Mann aufsucht, ihn an ein gegebenes Wort erinnert, und dieser Mann sein Wort nicht hält, so hat er wenigstens das Recht, auf der Stelle zu verlangen, daß man ihm einen vernünftigen Grund angibt.
Danglars war feige, aber er wollte es nicht scheinen; von Morcerfs Ton gereizt, erwiderte er: Es fehlt mir auch nicht an einem vernünftigen Grunde.
Was wollen Sie damit sagen?
Daß ich einen vernünftigen Grund habe, daß er aber schwer anzugeben ist.
Sie fühlen doch, mein Herr, entgegnete Morcerf, daß ich mich damit nicht abspeisen lassen kann. Eines ist allerdings sehr klar, nämlich, daß Sie eine Verbindung mit mir ausschlagen.
Nein, mein Herr, sagte Danglars, ich verschiebe nur meinen Entschlußbis auf weiteres.
Doch Sie werden wohl nicht die Anmaßung haben, zu glauben, daß ich mich Ihren Launen füge und demütig auf die Rückkehr Ihrer Gunst warte?
Wenn Sie nicht warten können, Herr Graf, so wollen wir unsere Pläne als nicht geschehenbetrachten.
Der Grafbiß sichbis aufsBlut in die Lippen, um den Ausbruch zurückzudrängen, zu dem ihn sein stolzer, reizbarer Charakter trieb. Da er jedochbegriff, die Lächerlichkeit wäre unter diesen Umständen auf seiner Seite, so ging erbereits zur Tür des Salons, besann sich aberbald wieder eines andern und kehrte zurück. Eine Wolke zog über seine Stirn hin und ließ darauf, statt desbeleidigten Stolzes, die Spur einer unbestimmten Unruhe zurück.
Lieber Herr Danglars, sagte er, wir kennen uns seit langen Jahren und müssen folglich einige Schonung gegeneinander üben. Sie sind mir eine Erklärung schuldig, und es ist doch das mindeste, daß ich erfahre, welchem Unglücklichen Ereignis mein Sohn den Verlust Ihrer guten Absichten inBeziehung auf ihn zuzuschreiben hat.
Esbetrifft den Vicomte nicht persönlich, mehr kann ich Ihnen nicht sagen, antwortete Danglars, der wieder frech wurde, als er sah, daß Morcerf sichbesänftigte.
Und wenbetrifft es denn? fragte Morcerf, dessen Stirn sich mitBlässebedeckte, bebend.
Danglars, dem keines dieser Symptome entging, heftete auf ihn einen ungewöhnlich festenBlick und sagte: Danken Sie mir, daß ich mich nicht näher erkläre.
Ein zweifellos dem unterdrückten Zorne entspringendes nervöses Zittern schüttelte Morcerf, und er erwiderte, sich gewaltsambezwingend: Ichbinberechtigt, eine Erklärung von Ihnen zu verlangen. Haben Sie etwas gegen Frau von Morcerf? Ist mein Vermögen nicht hinreichend? Sind es meine politischen Ansichten…
Nichts von dem allem, sagte Danglars; ich wäre unentschuldbar, denn dies alles ist mir schon jahrelangbekannt. Nein, suchen Sie nicht weiter, lassen Sie uns hierbei stehenbleiben. Einigen wir uns auf dem Worte Aufschub, das weder einenBruch noch eine zweifellose Verbindlichkeitbedeutet. Mein Gott! nichts drängt uns. Meine Tochter ist siebzehn Jahre alt, Ihr Sohn einundzwanzig. Inzwischen schreitet die Zeit fort, sie führt die Ereignisse herbei. Die Dinge, die noch gestern dunkel schienen, sind heute vielleicht klar; oft enthüllen sich an einem Tage die grausamsten Verleumdungen.
Verleumdungen, haben Sie gesagt, mein Herr? rief Morcerf leichenbleich. Man verleumdet mich also?
Herr Graf, wir wollen uns nicht weiter erklären.
Ich soll mich also ruhig dieser Weigerung unterwerfen?
Welche für mich peinlicher ist als für Sie, denn ich rechnete auf die Ehre einer Verbindung mit Ihnen, und eine fehlgeschlagene Heirat schadet immer mehr derBraut, als demBräutigam.
Es ist gut, mein Herr, sprechen wir nicht mehr davon, sagte Morcerf, und seine Handschuhe mit der größten Wut zerknitternd, verließ er das Zimmer.
Danglarsbemerkte wohl, daß es Morcerf nicht ein einzigesmal gewagt hatte, ihn zu fragen, ober, Morcerf, die Ursache sei, warum er sein Wort zurücknehme.
Am Abend fand eine langeBesprechung mit mehreren Freunden statt, und Herr Cavalcanti, der sichbeständig im Damensalon aufgehalten hatte, verließ das Haus zuletzt. Am andern Morgen verlangte Danglars sofort nach den Zeitungen. Als man sie ihmbrachte, schober die andernbeiseite und griff nach dem Impartial, dessen RedakteurBeauchamp war.
Erbrach rasch den Umschlag auf, öffnete ihn mit nervöser Hast, ging gleichgültig über den Pariser Artikel weg undbliebmitboshaftem Lächelnbei einer kurzen Notiz stehen, die mit den Worten anfing: Man schreibt uns aus Janina…
Gut, sagte er, nachdem er gelesen hatte, das ist ein Artikelchen über den Obersten Fernand, das mich aller Wahrscheinlichkeit nach der Mühe überheben wird, ihm nähere Erläuterungen zu geben.
In demselben Augenblick, nämlich als es neun Uhr schlug, erschien Albert von Morcerf, schwarz gekleidet, mit entschiedenem Schritt in dem Hause in den Champs‑Elysees.
Der Herr Graf ist vor etwa einer halben Stunde ausgefahren, sagte der Hausmeister.
Hat erBaptistin mitgenommen? fragte Morcerf.
Nein, Herr Vicomte.
Rufen SieBaptistin, ich will mit ihm sprechen.
Der Hausmeister holte den Kammerdiener und kam einen Augenblick nachher mit ihm zurück.
Mein Freund, sagte Albert, entschuldigen Sie meine Unbescheidenheit, doch ich wollte Sie selbst fragen, obIhr Herr wirklich ausgegangen ist.
Ja, Herr Vicomte.
Auch für mich?
Ich weiß, wie glücklich mein Gebieter ist, den Herrn Vicomte zu empfangen, und würde mich Wohl hüten, ihn sonst abzuweisen.
Sie haben recht, denn ich muß ihn in einer sehr ernsten Angelegenheit sprechen. Glauben Sie, er wird lange ausbleiben?
Nein, denn er hat sein Frühstück auf zehn Uhrbestellt.
Gut, ich werde einen Gang auf den Champs‑Elysees machen und um zehn Uhr wieder hier sein; sagen Sie dem Herrn Grafen, wenn er vor mir zurückkehrt, ichbitte ihn, mich zu erwarten.
Albert ließ vor der Tür des Grafen sein Kabriolett und ging zu Fuß spazieren. –
Als er an der Allee des Veuves vorüber kam, glaubte er die Pferde des Grafen zu erkennen, die vor der Tür einer dort liegenden Schießbahn standen; er näherte sich, und nachdem er die Pferde erkannt, erkannte er auch den Kutscher.
Ist der Herr Graf in der Schießbahn? fragte er diesen.
Als der Kutscher die Fragebejahte, trat Morcerf ein. In dem kleinen Garten stand der Aufwärter.
Verzeihen Sie, sagte dieser, der Herr Vicomte wird wohl die Gefälligkeit haben, einen Augenblick zu warten.
Warum, Philipp? fragte Albert, der als Stammgast über dieses Hindernis erstaunt war.
Weil der Herr, der in diesem Augenblick übt, die Schießbahn für sich allein nimmt und vor niemanden schießt.
Nicht einmal vor Ihnen, Philipp?
Sie sehen, ichbin vor der Tür meiner Loge. Sie kennen den Herrn?
Ich komme, um ihn zu holen; er ist mein Freund.
Ah! dann ist es etwas anderes. Ich will hineingehen und ihnbenachrichtigen.
Und von seiner eigenen Neugierde getrieben, trat Philipp in die Schießhütte. Eine Sekunde nachher erschien Monte Christo auf der Schwelle.
Verzeihen Sie, lieber Graf, daß ich Siebis hierher verfolge, sagte Albert; doch ich muß Ihnen vor allem sagen, daß es nicht der Fehler Ihrer Leute ist und daß ich allein indiskretbin. Ichbegabmich zu Ihnen, man sagte mir, Sie seien ausgefahren, würden jedoch um zehn Uhr zum Frühstück zurückkehren. Ich wolltebis zehn Uhr spazieren gehn und sah hier zufällig Ihre Pferde und Ihren Wagen.
Was Sie mir sagten, gewährt mir die Hoffnung, daß Sie mit mir zum Frühstück kommen.
Nein, ich danke, es handelt sich jetzt nicht um ein Frühstück; vielleicht frühstücken wir später, dochbei Gott! in schlechter Gesellschaft.
Was zum Teufel reden Sie da?
Mein Lieber, ich schlage mich heute.
Sie? und warum?
Der Ehre wegen. — Ah! das ist ernst!
So ernst, daß ich komme, um Sie zubitten, mir einen Dienst zu leisten. — Welchen?
Mein Zeuge zu sein. — Das ist eine wichtige Sache. Wir wollen hier nicht weiter darüber sprechen, sondern nach Hause zurückkehren. Ali, gibmir Wasser zum Händewaschen.
Treten Sie doch ein, Herr Vicomte, sagte Philipp ganz leise, Sie werden etwas Sonderbares sehen.
Morcerf trat in dieBahn. Statt der Plättchen waren Spielkarten an der Wandbefestigt. Morcerf glaubte aus der Ferne, es sei ein völliges Spiel, denn er sah Karten vom Aßbis zum Zweier.
Ah! Ah! sagte Albert, Sie waren ebenbeim Piquetspielen.
Nein, sagte der Graf, ich war damitbeschäftigt, ein Kartenspiel zu machen. — Wieso?
Ja, es sind Asse und Zweier, was Sie dort sehen, nur haben meine Kugeln Dreier, Fünfer, Siebener, Achter, Neuner und Zehner daraus gemacht.
Albert näherte sich. Die Kugeln hatten wirklich vollkommen genau und in vollkommen gleichen Entfernungen die fehlenden Zeichen ersetzt, und das Kartenpapier an den Stellen durchlöchert, wo es hättebemalt sein sollen. Als Morcerf auf die Scheibe zuging, hober auch noch ein paar Schwalben auf, welche die Unklugheit gehabt hatten, imBereiche der Pistolen des Grafen vorüberzufliegen und von diesem geschossen worden waren.
Teufel! rief Morcerf.
Was wollen Sie, lieber Vicomte? sagte Monte Christo, ich muß wohl meine Augenblicke ausfüllen; doch kommen Sie, wir wollen gehen.
Beide stiegen in Monte Christos Wagen, der sie in wenigen Augenblicken zu seiner Wohnungbrachte.
Monte Christo führte Morcerf in sein Kabinett undbezeichnete ihm einen Stuhl. Beide setzten sich.
Nun lassen Sie uns ruhig plaudern, sagte der Graf. Mit wem wollen Sie sich schlagen? — MitBeauchamp. Mit einem Ihrer Freunde?
Man schlägt sich stets mit Freunden.
Esbedarf aber wenigstens eines Grundes.
In seiner Zeitung von gestern abend… doch nehmen Sie, lesen Sie!
Ali reichte Monte Christo eine Zeitung, und dieser las folgende Worte:
Man schreibt uns aus Janina:
«Einebis jetzt in weiten Kreisen unbekannte Tatsache ist zu unserer Kenntnis gekommen: Die Schlösser, welche die Stadtbeschützen, wurden den Türken von einem französischen Offizier übergeben, in den Ali Tependelini sein ganzes Vertrauen gesetzt hatte, er hieß Fernand.«
Nun? fragte Monte Christo, was sehen Sie darin so Ärgerliches für Sie? — Was ich darin sehe?
Ja. Was geht es Sie an, daß die Schlösser von Janina durch einen Offizier namens Fernand übergeben worden sind?
Es geht mich viel an, da mein Vater, der Graf von Morcerf, mit seinem Taufnamen Fernand heißt.
Und Ihr Vater diente Ali Pascha?
Das heißt, er kämpfte für die Unabhängigkeit der Griechen; darin liegt die Verleumdung.
Ei! mein lieber Vicomte, lassen Sie uns vernünftig reden.
Das will ich ja gerade.
Sagen Sie mir doch, wer zum Teufel weiß in Frankreich, daß der Offizier Fernand derselbe Mann ist, wie der Graf von Morcerf, und wer kümmert sich jetzt noch um Janina, das 1822 oder 1823 glaube ich, genommen wurde?
Das ist eben die Schändlichkeit. Man läßt die Zeit darüber hingehen und kommt heute auf vergessene Ereignisse zurück, um einen Skandal daraus hervorgehen zu lassen, der einen Mann in hoher Stellungbefleckt. Ich, der Erbe des väterlichen Namens, will nicht, daß darüber auch nur der Schatten eines Zweifels schwebe. Ich werde zuBeauchamp, dessen Zeitung diese Note veröffentlicht hat, zwei Zeugen schicken, und er wird sie widerrufen.
Beauchamp wird nichts widerrufen.
Dann schlagen wir uns.
Nein, Sie werden sich nicht schlagen, denn er wird Ihnen antworten, es habe in der griechischen Armee vielleicht fünfzig Offiziere namens Fernand gegeben.
Wir werden uns trotz dieser Antwort schlagen. Oh! es ist mein unabänderlicher Wille, daß dies aufhöre… Mein Vater, ein so edler Soldat, eine so erhabene Laufbahn…
Oder er wird in seine Zeitung einrücken: Wir haben Grund, zu glauben, daß dieser Fernand mit dem Herrn Grafen von Morcerf, dessen Taufname ebenfalls Fernand ist, nichts gemein hat.
Ich muß einen vollständigen, unbeschränkten Widerruf haben und werde mich hiermit nichtbegnügen.
Sie schicken ihm also Zeugen? — In.
Sie haben unrecht. — Das heißt, Sie verweigern mir den Dienst, den ich von Ihnen verlange?
Ah! Sie kennen meine Theorie inBeziehung auf das Duell; ich habe Ihnen, wie Sie sich vielleicht erinnern, mein Glaubensbekenntnis hierüber in Rom abgelegt.
Und dennoch, mein lieber Graf, habe ich Sie soebenbei einerBeschäftigung gefunden, welche mit dieser Theorie wenig im Einklange steht.
Mein lieber Freund, Siebegreifen, man muß nie ausschließlich sein. Wenn man mit den Narren lebt, muß man mit Narrheiten rechnen; jeden Augenblick kann irgend ein verbranntes Gehirn, das nicht mehr Ursache hat, mit mir Streit zu suchen, als SiebeiBeauchamp, wegen der erstenbesten Lumperei zu mir kommen oder mir Zeugen schicken, oder mich an einem öffentlichen Ortebeleidigen. Nun wohl, dieses verbrannte Gehirn muß ich töten.
Sie geben also zu, daß Sie sich selbst schlagen würden? — Bei Gott! ganz gewiß.
Warum soll ich mich dann nicht schlagen?
Ich sage durchaus nicht, Sie sollen sich nicht schlagen; ich sage nur, das Duell sei eine ernste Sache, die man überlegen müsse.
Hat er es überlegt, als er meinen Vaterbeschimpfte?
Wenn er es nicht überlegt hat und Ihnen dies zugesteht, so müssen Sie ihm nicht grollen.
Oh! lieber Graf, Sie sind viel zu nachsichtig!
Und Sie viel zu streng. Sehen Sie, ich setze voraus… hören Sie wohl, ich setze voraus… Ärgern Sie sich nicht über das, was ich Ihnen sagen werde.
Ich höre.
Ich setze voraus, die angegebene Sache sei wahr.
Ein Sohn darf eine solche Voraussetzung, wenn die Ehre seines Vaters inBetracht kommt, nicht zugeben.
Mein Gott! wir leben in einer Zeit, wo man so vieles zugeben muß. — Das ist gerade die Schmach dieser Zeit.
Haben Sie vielleicht die Anmaßung, sie reformieren zu wollen? — Ja, soweit es michbetrifft.
Mein Gott, welch ein Starrkopf sind Sie doch, lieber Freund! — Sobin ich nun einmal.
Sind Sie unzugänglich für gute Ratschläge? — Nein, wenn sie von einem Freunde kommen.
Halten Sie mich für Ihren Freund? — Ja.
Nun wohl, so erkundigen Sie sich, ehe Sie Ihre Zeugen zuBeauchamp schicken. — Bei wem?
Bei Haydee zumBeispiel. — Warum eine Frau in diese ganze Geschichte mischen? Was kann sie dabei tun?
Ihnen erklären, daß Ihr Vater keinen Anteil an der Niederlage oder an dem Tode des ihrigen hat, oder Ihnen hierüber Aufklärung geben. Hätte Ihr Vater zufälligerweise das Unglück gehabt…
Ich sagte Ihnenbereits, mein lieber Graf, ich könnte eine solche Voraussetzung nicht zugeben.
Sie schlagen dieses Mittel also aus? — Ich schlage es aus.
Dann einen letzten Rat. — Es sei! doch den letzten.
Schicken Sie keine Zeugen zuBeauchamp! — Erklären Sie sich.
Sie müssen mitBeauchamp reden. Ist er geneigt, zu widerrufen, so muß man ihm das Verdienst des guten Willens lassen, und der Widerruf erfolgt ja trotzdem. Weigert er sich aber, so ist es immer noch Zeit, zwei Fremde ins Geheimnis zu ziehen.
Es werden nicht zwei Fremde, sondern zwei Freunde sein.
Die Freunde von heute sind die Feinde von morgen
Ah! zumBeispiel? — Beauchamp zumBeispiel.
Also… — Also empfehle ich Ihnen Klugheit.
Sie glauben somit, ich sollteBeauchamp selbst aufsuchen? — Ja, allein. Wenn man etwas von der Eitelkeit eines Menschen erhalten will, so muß man diese Eitelkeitbis zum Scheine eines Zwanges schonen.
Ich glaube, Sie haben recht. Gehen Sie! Doch es wäre am Endebesser, gar nicht zu gehen. — Das ist unmöglich.
Machen Sie es also auf diese Art; es wird immer nochbesser sein, als das, was Sie tun wollten.
Doch lassen Sie hören. Wenn es trotz meiner Vorsicht und trotz meines Verfahrens zum Duell kommt, werden Sie mir als Zeuge dienen?
Nein, lieber Vicomte, entgegnete Monte Christo, Sie konnten sehen, daß ich geeigneten Ortes und zu geeigneter Zeit stets zu Ihren Dienstenbereit war; doch der Dienst, den Sie heute von mir verlangen, liegt außerhalbdes Kreises, den ich zu leisten imstandebin.
Warum? — Sie werden es eines Tages erfahren.
Doch inzwischen?
Bitte ich Sie um Nachsicht für ein Geheimnis.
Es ist gut. Ich nehme Franz und Chateau‑Renaud.
Nehmen Sie Franz und Chateau‑Renaud, das wird vortrefflich sein.
Doch wenn ich mich schlage, geben Sie mir wenigstens eine Lektion im Degen oder in der Pistole!
Nein, das ist abermals unmöglich.
Sonderbarer Mann! Sie wollen sich also in nichts mischen? — Durchaus in nichts.
So sprechen wir nicht mehr davon. Gottbefohlen, Graf. — Gottbefohlen, Vicomte.
Morcerf nahm seinen Hut und ging. Vor der Tür fand er sein Kabriolett, und seinen Zorn so gut wie möglichbewältigend, ließ er sich zuBeauchamp fahren, der sich in seinem Redaktionszimmerbefand.
Man meldete ihm Albert von Morcerf. Er ließ sich die Meldung zweimal wiederholen; dann rief er: Herein! Albert erschien. Beauchamp stieß einen Ausruf der Überraschung aus, als er seinen Freund erblickte.
Willkommen, lieber Albert, rief er, dem jungen Manne die Hand reichend; was zum Teufelbringt Sie zu mir? Haben Sie sich verirrt, wie der kleine Däumling, oder wollen Sie nur mit mir frühstücken? Suchen Sie einen Stuhl zubekommen; halt, dort, neben dem Geranium, das mich allein daran erinnert, daß es auf der WeltBlätter gibt, die keine Papierblätter sind.
Beauchamp, erwiderte Albert, ich komme, um über Ihr Journal mit Ihnen zu sprechen.
Sie, Morcerf, was wünschen Sie?
Ich verlange eineBerichtigung.
Sie, eineBerichtigung! Worüber, Albert? Aber setzen Sie sich doch!
Ich danke, erwiderte Albert zum zweiten Male mit einem leichten Zeichen des Kopfes.
Erklären Sie sich!
EineBerichtigung über eine Tatsache, welche die Ehre eines Mitgliedes meiner Familie angreift.
Gehen Sie doch! riefBeauchamp erstaunt; was für eine Tatsache? Das kann nicht sein.
Die Tatsache, die man Ihnen aus Janina mitgeteilt hat. — Aus Janina?
Ja, aus Janina. Wahrlich, Sie sehen aus, als obSie nicht wüßten, was mich hierher führt. — Bei meiner Ehre!..Baptiste, eine Zeitung von gestern!
Es ist nicht nötig, ichbringe Ihnen die meine.
Beauchamp las: Man schreibt uns aus Janina u. s. w.
Siebegreifen, die Sache ist ernster Natur, sagte Morcerf, alsBeauchamp geendigt hatte.
Dieser Offizier ist also Ihr Verwandter? fragte der Journalist.
Ja, antwortete Albert errötend.
Nun, was soll ich tun, um Ihnen angenehm zu sein? sagteBeauchamp mit weichem, freundlichem Tone.
Es wäre mir sehr lieb, Beauchamp, wenn Sie dies widerrufen würden.
Beauchamp schaute Albert mit wohlwollender Aufmerksamkeit an und erwiderte sodann: Hören Sie, das wird uns Anlaß zu einem langen Gespräche geben, denn es ist immer etwas Ernstes um einen Widerruf. Setzen Sie sich, ich will die paar Zeilen noch einmal lesen.
Albert setzte sich, undBeauchamp las die Zeilen noch aufmerksamer als das erstemal.
Nun, Sie sehen, sagte Albert fest, ja schroff, Sie sehen man hat in Ihrer Zeitung ein Mitglied meiner Familiebeleidigt, und ich will einen Widerruf.
Sie… wollen… –
Ja, ich will.
Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie durchaus nicht parlamentarisch sind, mein lieber Vicomte.
Ich will es nicht sein, erwiderte der junge Mann aufstehend, ich verlange den Widerruf einer Meldung, die Sie gestern veröffentlich haben, und ich werde ihn erhalten. Sie sind mein Freund, fuhr Albert mit gepreßten Lippen fort, als er sah, daßBeauchamp seinerseits das Haupt verächtlich zu erheben anfing, Sie sind mein Freund, und als solcher kennen Sie mich hoffentlich hinreichend, um meine Hartnäckigkeit unter solchen Umständen zubegreifen.
Bin ich Ihr Freund, Morcerf, so werden Sie durch Worte, wie ich sie eben gehört, am Ende machen, daß ich es vergesse… Doch ärgern wir uns nicht, oder wenigstens noch nicht,… Sie sind unruhig, gereizt, aufgebracht… Sagen Sie, wer ist der Verwandte, der Fernand heißt?
Es ist ganz einfach — mein Vater, Herr Fernand Mondego, Graf von Morcerf, ein alter Militär, der zwanzig Schlachten gesehen, und dessen edle Narben man nun gern mit Gassenkotbedecken möchte.
Ihr Vater? riefBeauchamp, dann ist es etwas anderes: ichbegreife Ihre Entrüstung, mein lieber Albert… Lesen wir abermals…
Und er las die Note, auf jedes Wort einen Nachdruck legend.
Aber woraus sehen Sie, daß der Fernand dieser Zeitung Ihr Vater ist?
Nirgends, ich weiß es wohl, aber andere werden es sehen. Deshalbwill ich, daß die Sache widerrufen wird.
Bei den Worten» will ich«schlugBeauchamp die Augen zu Morcerf auf, senkte sie aber sogleich wieder und verharrte einige Sekunden im Nachdenken.
Nicht wahr, Sie werden diese Note widerrufen, wiederholte Morcerf mit wachsendem, jedoch verhaltenem Zorn.
Ja, sagteBeauchamp.
Dann ist es gut! — Doch erst, wenn ich mich überzeugt habe, daß die Angabe falsch ist.
Wie? — Ja, die Sache verdient wohl, aufgeklärt zu werden.
Aber was finden Sie denn daran aufzuklären? versetzte Albert ganz außer sich. Wenn Sie nicht glauben, daß es mein Vater ist, so sagen Sie es auf der Stelle; glauben Sie, daß er es ist, so geben Sie mir Rechenschaft davon.
Beauchamp schaute Albert mit jenem ihm eigentümlichen Lächeln an, das die Schattierung aller Leidenschaften auszudrücken vermochte, und erwiderte: Mein Herr, wenn Sie gekommen sind, um Rechenschaft von mir zu verlangen, so hätten Sie nicht von Freundschaft und anderen Dingen sprechen sollen, die ich seit einer halben Stunde anzuhören die Geduld habe. Wollen Sie nun auf dieses Terrain übergehen?
Ja, wenn Sie die Verleumdung nicht widerrufen!
Einen Augenblick Geduld, keine Drohungen, wenn es gefällig ist, Herr Fernand Mondego, Vicomte von Morcerf, ich dulde sie nicht von meinen Feinden und noch viel weniger von meinen Freunden. Sie wollen also, daß ich dieBehauptung über den General Fernand, an der ichbei meinem Ehrenworte keinen Anteil genommen habe, widerrufe?
Ja, ich will es! sagte Albert, dessen Kopf sich zu verwirren anfing.
Sonst werden wir uns schlagen? fuhrBeauchamp mit derselben Ruhe fort.
Ja, erwiderte Albert, die Stimme erhebend.
Wohl! hören Sie meine Antwort, mein lieber Herr: DieseBehauptung ist nicht von mir eingerückt worden, ich kannte sie nicht. Doch Sie haben durch Ihren Schritt meine Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, an der ich festhalte; die Sache wird alsobestehenbleiben, bis sie irgend jemand mit Fug und Recht widerlegt oderbestätigt hat.
Mein Herr, sagte Albert aufstehend, ich werde die Ehre haben, Ihnen meine Zeugen zu schicken; sie werden sich mit Ihnen über den Ort und die Waffenbesprechen.
Sehr gut, mein lieber Herr.
Und heute abend, wenn es Ihnenbeliebt, oder morgen spätestens treffen wir uns.
Nein! nein! Ich werde mich zur Stelle einfinden, wenn es sein muß, doch meiner Ansicht nach ist die Stunde noch nicht gekommen. Ich verlange drei Wochen; dann treffen wir uns, und ich sage Ihnen: Ja, dieBehauptung ist falsch, und widerrufe sie, oder: Ja, die Sache ist wahr, und ich ziehe nach Ihrer Wahl den Degen aus der Scheide, oder nehme die Pistole aus dem Kasten.
Drei Wochen, rief Albert, drei Wochen sind drei Jahrhunderte, während deren ich entehrtbin.
Wären Sie mein Freund geblieben, so hätte ich gesagt: Geduld, Freund. Nun haben Sie sich zu meinem Feinde gemacht, und ich sage Ihnen: Was liegt mir daran, mein Herr!
Wohl, es sei, in drei Wochen! rief Morcerf. Dochbedenken Sie, nach drei Wochen kann Sie weder ein Aufschub, noch eine Ausflucht mehr frei machen…
Herr von Morcerf, sagteBeauchamp, ebenfalls aufstehend, ich kann Sie erst in drei Wochen zur Tür hinauswerfen, und Sie sind erst zu dieser Zeitberechtigt, mir den Kopf zu spalten. Bis dahin ersparen wir uns alles Gebelle zweier Doggen, die einander gegenüber an der Kette liegen.
Hierauf grüßteBeauchamp den jungen Mann mit ernster Miene und ging in seine Druckerei.
Albert entfernte sich, und während er über denBoulevard fuhr, erblickte er Morel, der mit erhobenem Haupte und strahlenden Augen in der Richtung nach der Madeleine vorüberging.
Ah! sagte er seufzend, das ist ein glücklicher Mensch.
Zufällig täuschte er sich nicht.
Die Limonade.
Morel war wirklich sehr glücklich. Herr Noirtier hatte nach ihm geschickt, und es drängte ihn, die Veranlassung dazu zu erfahren. Erbegabsich also in größter Eile nach dem Faubourg Saint‑Honoré, so daß der armeBarrois Mühe hatte, ihm zu folgen. Morel war einunddreißig Jahre alt, Barrois sechzig; Morel war liebestrunken, Barrois von der großen Hitze angegriffen. Als sie am Ziele waren, ließ der alte Diener Morel durch diebesondere Tür eintreten, schloß die Tür des Kabinetts, undbald kündigte ein Streifen des Kleides auf demBoden ValentinesBesuch an, die in ihren Trauergewändern zum Entzücken schön war, Der Traum wurde so süß für Morel, daß er fast die Unterredung mit Noirtier ganz vergessen hätte: dochbald ließ sich der auf demBoden rollende Lehnstuhl des Greises hören, und er erschien.
Noirtier nahm wohlwollend die Danksagungen entgegen, mit denen ihn Morel für die wunderbare Vermittelung überhäufte, die ihn und Valentine vor der Verzweiflung gerettet hatte. Dannbegann Valentine, die schüchtern und fern von Morel da saß, nachdem NoirtiersBlick sie zum Reden aufgefordert hatte: Herr Morel, mein guter Papa Noirtier hat Ihnen tausend Dinge zu sagen, die er mir seit drei Tagen mitgeteilt hat. Heute läßt er Sie rufen, damit ich sie Ihnen mitteile; ich werde Ihnen alles, ohne ein Wort zu ändern, wiederholen, da er mich zu seiner Dolmetscherin gewählt hat.
Oh! ich höre mit der größten Ungeduld, antwortete der junge Mann, sprechen Sie, mein Fräulein.
Valentine schlug die Augen nieder, es war dies ein Vorzeichen, das Morel süß dünkte, denn Valentine war nur im Glücke schwach.
Mein Großvater will dieses Haus verlassen, sagte sie, Barrois sucht eine andere Wohnung für ihn.
Doch Sie, mein Fräulein, entgegnete Morel, Sie, die Sie Herrn Noirtier so teuer sind?
Ich, sagte das Mädchen, werde meinen Großvater nicht verlassen, das ist eine zwischen uns abgemachte Sache. Meine Wohnung wirdbei der seinigen sein. Entweder erhalte ich die Einwilligung des Herrn von Villefort, meinen Aufenthaltbei Papa Noirtier zu nehmen, oder man verweigert es mir. Im ersten Falle gehe ich schon jetzt, im zweiten warte ich meine Volljährigkeit ab, die in zehn Monaten eintritt. Dannbin ich frei, dannbesitze ich ein Vermögen, und mit Genehmigung meines guten Papas halte ich das Versprechen, das ich Ihnen geleistet habe.
Valentine sagte die letzten Worte so leise, saß Morel sie kaum zu hören im stande war.
Habe ich nicht Ihren Gedanken ausgedrückt, guter Papa? fügte Valentine, zum Greise gewendet, hinzu.
Ja, machte der Greis.
Bin ich einmalbei meinem Großvater, so wird Herr Morel mich in Gegenwart dieses guten und würdigenBeschützers sehen können, sagte Valentine. Wenn dasBand, das unsere vielleicht launenhaften oder unwissenden Herzen zu knüpfenbegonnen haben, uns nach unserer Erfahrung ein zukünftiges Glück gewährleistet, dann kann mich Herr Morel von mir verlangen… ich erwarte ihn.
Oh! rief Morel, versucht, vor dem Greise und Valentine niederzuknien; oh! was habe ich denn in meinem Leben Gutes getan, um so viel Glück zu verdienen.
Bis dahin, fuhr das Mädchen mit seiner reinen, ernsten Stimme fort, bis dahin werden wir die Schicklichkeit und den Willen unserer Eltern achten, insofern dieser Wille nicht dahin geht, uns für immer zu trennen; mit einem Worte, wir werden warten.
Und die Opfer, die dieses Wort auferlegt, mein Fräulein, ich schwöre Ihnen, sie zu erfüllen, nicht mit Resignation, sondern mit dem Gefühle des Glückes.
Also keine Unklugheiten mehr, sagte Valentine, mit einem für Maximilian süßenBlicke; gefährden Sie nicht die, mein Freund, die sich von heute an alsbestimmt, rein und würdigbetrachtet, Ihren Namen zu tragen.
Morel legte seine Hand auf sein Herz.
Noirtier schautebeide voll Zärtlichkeit an. Barrois, der im Hintergrunde stehen geblieben war, lächelte, große Schweißtropfen von seiner kahlen Stirn abtrocknend.
Mein Gott! wie heiß es dem gutenBarrois ist! rief Valentine.
Ah! das kommt davon her, daß ich stark gelaufenbin, erwiderteBarrois; doch Herr Morel, ich muß ihm diese Gerechtigkeit widerfahren lassen, lief noch schneller als ich.
Noirtierbezeichnete mit dem Auge eine Platte, auf der eine Flasche mit Limonade und ein Glas standen. Was in der Flasche fehlte, war eine halbe Stunde vorher von Noirtier getrunken worden.
Nimm, guterBarrois, sagte das Mädchen, nimm, denn ich sehe, daß deine Augen gierig nach der Flasche zielen.
Ich sterbe allerdings vor Durst, erwiderteBarrois.
Trink also, versetzte Valentine, und komm in einem Augenblick wieder.
Barrois trug die Platte fort, und kaum war er im Gange, so sah man ihn durch die Tür, die er zu schließen vergessen hatte, das Haupt rückwärts neigen und das Glas, das ihm Valentine gefüllt, leeren.
Valentine und Morel nahmen in Noirtiers Gegenwart voneinander Abschied, als man die Glocke auf Villeforts Treppe ertönen hörte. Valentine schaute nach der Uhr.
Es ist Mittag, sagte sie, heute ist Samstag, guter Papa, ohne Zweifel kommt der Doktor; er wird hierher kommen, und Herr Morel muß gehen, nicht wahr, guter Papa? — Ja, antwortete der Greis.
Barrois! rief Valentine, Barrois, komm! Man hörte die Stimme des alten Dieners antworten: Ich komme.
Barrois wird Siebis zur Tür zurückführen, sagte Valentine zu Morel; und nun erinnern Sie sich, mein Herr Offizier, daß mein guter Papa Ihnen einschärft, keinen Schritt zu wagen, der unser Glück gefährden könnte.
Ich habe versprochen, zu warten, sagte Morel, und ich werde warten.
In diesem Augenblick tratBarrois ein.
Wer hat geläutet? fragte Valentine.
Der Herr Doktor d'Avrigny, erwiderteBarrois, auf seinenBeinen wankend.
Aber was hast du denn, Barrois? fragte Valentine.
Der Greis antwortete nicht, er schaute nur seinen Herrn mit irren Augen an, während er mit seiner krampfhaft zusammengezogenen Hand eine Stütze suchte, um sich aufrecht halten zu können.
Er wird fallen, rief Morel.
Barrois' Zittern vermehrte sich wirklich zusehends, von krampfhaftenBewegungen der Gesichtsmuskeln verstört, verrieten seine Gesichtszüge einen sehr heftigen nervösen Anfall. Er machte einige Schritte auf seinen Herrn zu und sagte: Mein Gott! was habe ich denn? Ich leide… ich sehe nicht mehr… Tausend feurige Punkte durchkreuzen meinen Schädel. Oh! berühren Sie mich nicht, berühren Sie mich nicht!
Die Augen wurden wirklich stier und hervorspringend, und der Kopf fiel zurück, während der untere Teil des Körpers erstarrte.
Valentine stieß erschrocken einen Schrei aus. Morel faßte sie in seine Arme, als wollte er sie gegen eine unbekannte Gefahrbeschützen.
Herr d'Avrigny! Herr d'Avrigny! rief Valentine mit erstickter Stimme, herbei! zu Hilfe!
Barrois drehte sich um, machte drei Schritte rückwärts, stolperte, fiel zu Noirtiers Füßen nieder, stützte seine Hand auf dessen Knie und rief: Mein Herr! mein guter Herr!
In diesem Augenblick erschien Herr von Villefort, durch das Geschrei herbeigezogen, auf der Schwelle.
Morel ließ die halbohnmächtige Valentine los, warf sich zurück, drückte sich in die Ecke des Zimmers und verschwand fast hinter einem Vorhang.
Noirtier kochte in seinein Innern vor Ungeduld und Schrecken, seine Seele flog dem armen Greise zu Hilfe, der mehr sein Freund, als sein Diener war. Man sah den furchtbaren Kampf des Lebens und des Todes auf seiner Stirn. Das Gesicht heftigbewegt, die Augen mitBlut unterlaufen, den Hals zurückgeworfen, lagBarrois, mit den Händen auf denBoden schlagend, vor Noirtier, während seine steif gewordenenBeine eherbrechen zu müssen, als sich zubiegen schienen. Ein leichter Schaum stieg auf seine Lippen, und er atmete schmerzhaft. Erstaunt verweilte Villefort einige Sekunden vor diesemBilde, dasbei seinem Eintritt in das Zimmer seineBlicke fesselte. Dann stürzte er mitbleichem Antlitz nach der Tür und rief: Doktor! Doktor! kommen Sie, kommen Sie!
Gnädige Frau! rief Valentine, zu ihrer Stiefmutter eilend, und sich dabei am Treppengeländer stoßend, kommen Sie schnell, undbringen Sie Ihr Flacon!
Was gibt es denn? fragte die metallartig klingende Stimme der Frau von Villefort.
Aber wo ist denn der Doktor? rief Villefort.
Fran von Villefort stieg langsam die Treppe herab; man hörte dieBretter unter ihren Füßen knacken. In einer Hand hielt sie ein Taschentuch, mit dem sie sich das Gesicht abtrocknete, in der andern ein Flacon mit englischem Salz. Ihr ersterBlick war, als sie zur Tür kam, auf Noirtier gerichtet, dessen Gesicht, abgesehen von einer unter solchen Umständen natürlichen Aufregung, eine vollkommene Gesundheit andeutete; ihr zweiterBlick traf den Sterbenden. Sie erbleichte, und ihr Auge richtete sich wieder auf Noirtier.
Aber in des Himmels Namen! wo ist der Doktor? fragte Villefort; er ging zu Ihnen hinein. Sie sehen, es ist ein Schlaganfall; mit einem Aderlaß kann man ihn retten.
Hat er vor kurzem gegessen? sagte Frau von Villefort, der Frage ihres Gatten ausweichend.
Gnädige Frau, antwortete Valentine, er hat nicht gefrühstückt, doch er ist heute stark gelaufen, um einen Auftrag zubesorgen, den ihn: der gute Papa gegeben hatte. Bei seiner Rückkehr trank er ein Glas Limonade.
Ah! rief Frau von Villefort, warum nicht Wein? Limonade, das ist schlimm.
Die Limonade war geradebei der Hand, in der Flasche des guten Papas; der armeBarrois hatte Durst und trank, was er eben fand.
Frau von Villefortbebte, Noirtier umfaßte sie gleichsam mit einem durchdringendenBlicke.
Er hat einen so kurzen Hals! sagte sie.
Gnädige Frau, sagte Villefort, wo ist Herr d'Avrigny? Antworten Sie mir, im Namen des Himmels!
Er istbei Eduard, der nicht ganz wohl ist, erwiderte sie endlich.
Villefort stürzte nach der Treppe, um ihn selbst zu holen.
Höre, sagte die junge Frau, Valentine ihr Flacon übergebend, man wird ihm ohne Zweifel zur Ader lassen. Ich gehe in mein Zimmer hinaus, denn ich kann den Anblick desBlutes nicht ertragen.
Kaum war sie fort, so trat Morel aus der düstern Ecke hervor, in die er sich zurückgezogen und wo ihnbei der allgemeinenBestürzung niemandbemerkt hatte.
Gehen Sie geschwind, Maximilian! sagte Valentine zu ihm, und warten Sie, bis ich Sie rufe.
Morelbefragte Noirtier durch eine Gebärde. Noirtier, der seine ganze Kaltblütigkeitbehalten hatte, machte ihm einbejahendes Zeichen.
Er drückte Valentines Hand an sein Herz und entfernte sich durch den geheimen Gang. Zu gleicher Zeit traten Villefort und der Doktor durch die entgegengesetzte Tür ein.
Barrois kam allmählich wieder zu sich; die Krise war vorüber, er seufzte und erhobsich auf ein Knie. D'Avrigny und Villefort trugen ihn auf ein Ruhebett.
Wasbefehlen Sie, Doktor? fragte Villefort.
Manbringe mir Wasser und Äther, etwas Terpentinöl und einBrechmittel, Sie haben doch alles im Hause? Sodann entferne sich jedermann!
Ich auch? fragte Valentine schüchtern.
Ja, mein Fräulein, Siebesonders, erwiderte der Doktor mit strengem Tone.
Valentine schaute Herrn d'Avrigny erstaunt an, küßte Herrn Noirtier auf die Stirn und ging hinaus. — Hinter ihr schloß der Arzt die Tür.
Sehen Sie! sagte Villefort, Doktor, er kommt wieder zu sich, es war nur ein Anfall ohneBedeutung.
Herr d'Avrigny lächelte düster und fragte: Wie fühlen Sie sich, Barrois?
Ein wenigbesser, mein Herr.
Können Sie dieses Glas Wasser mit Äther trinken?
Ich will es versuchen, dochberühren Sie mich nicht, es kommt mir vor, als müßte sich der Anfall wiederholen, wenn Sie michberühren, und wäre es auch nur mit der Fingerspitze.
Barrois nahm das Glas, näherte es seinenblauen Lippen und leerte es ungefährbis zur Hälfte.
Wo leiden Sie? — Überall; ich habe furchtbare Krämpfe.
Haben Sie Verdunkelungen, Blendungen? — Ja.
Ein Klingeln in den Ohren? — Gräßlich.
Wann ist dieser Anfall gekommen? — Soeben ganz plötzlich.
Nichts gestern? nichts vorgestern? — Nichts.
Keine Schlafsucht? Keine Schwere? — Nein.
Was haben Sie heute gegessen? — Ich habe nichts gegessen, ich habe nur ein Glas Limonade von dem Herrn getrunken und sonst nichts.
Barrois machte mit dem Kopfe eine Gebärde, um Herrn Noirtier zubezeichnen, der von seinem Lehnstuhle diese furchtbare Szenebetrachtete, ohne daß ihm die geringsteBewegung oder auch nur ein Wort entging.
Wo ist die Limonade? — In der Küche.
Soll ich sie holen, Doktor? fragte Villefort.
Nein, bleiben Sie hier und machen Sie, daß der Kranke den Rest dieses Glases Wasser trinke, ich gehe selbst.
D'Avrigny machte einen Sprung, öffnete die Tür, stürzte nach der Treppe, die nach der Küche führte, und hättebeinahe Frau von Villefort, die ebenfalls nach der Küche ging, umgeworfen. Sie stieß einen Schrei aus.
D'Avrigny achtete nicht daraus; von einem einzigen Gedanken fortgerissen, sprang er die letzten paar Stufen hinab, stürzte in die Küche und erblickte die zu drei Vierteln leere Flasche auf der Platte, auf die er sich warf, wie ein Adler auf seineBeute. Keuchend stieg er dann in das Erdgeschoß hinauf und kehrte ins Zimmer zurück, während Frau von Villefort langsam die Treppe emporstieg, die in ihre Wohnung führte.
Ist dies die Flasche? fragte er. — Ja, Herr Doktor.
Was für einen Geschmack fanden Sie in der Limonade? — Einenbittern Geschmack.
Der Doktor goß ein paar Tropfen Limonade in seine hohle Hand, schlürfte sie mit den Lippen ein und spuckte dann die Flüssigkeit wieder aus.
Es ist dieselbe, sagte er. Und Sie haben auch davon getrunken, Herr Noirtier? — Ja, machte der Greis.
Und Sie haben denselbenbittern Geschmack gefunden? — Ja.
Ach! Herr Doktor, riefBarrois, es packt mich wieder! Mein Gott und Vater, habe Mitleid mit mir!
Der Doktor lief zu dem Kranken.
DasBrechmittel, Villefort, sehen Sie, obes kommt.
Villefort stürzte hinaus und schrie: DasBrechmittel! dasBrechmittel! Hat man es gebracht?
Niemand antwortete. Es herrschte der tiefste Schrecken im Hause.
Wenn ich nur imstande wäre, ihm Luft in die Lunge zublasen, sagte d'Avrigny, im Zimmer umherschauend, vielleicht vermöchte man dem Schlage vorzubeugen. Doch nein! nein! nichts!
Oh! Herr, werden Sie mich so ohne Hilfe sterben lassen? riefBarrois. Oh, ich sterbe! mein Gott! ich sterbe!
Eine Feder! eine Feder! sagte der Doktor.
D'Avrigny erblickte eine auf dem Tische und suchte sie in den Mund des Kranken zu stecken, der mitten unter Krämpfen sich anstrengte, sich zu erbrechen; aber die Kinnbacken waren so zusammengepreßt, daß die Feder nicht hindurch gebracht werden konnte.
Barrois hatte einen noch heftigeren Anfall als das erstemal. Er war von dem Ruhebette auf die Erde herabgesunken und streckte sich steif auf demBoden aus. Der Doktor überließ ihn diesem Anfalle, bei dem er ihm keine Erleichterung verschaffen konnte, ging auf Noirtier zu und sagte hastig und mit leiser Stimme zu ihm: Wiebefinden Sie sich? Gut? — Ja.
Leicht im Magen oder schwer? Leicht? — Ja.
Wie wenn Sie die Pille genommen haben, die ich Ihnen jeden Sonntag geben lasse? — Ja.
HatBarrois Ihre Limonade gemacht? — Ja.
Haben Sie ihn aufgefordert, davon zu trinken? — Nein.
Herr von Villefort? — Nein.
Valentine also? — Ja.
Ein Seufzer vonBarrois, ein Gähnen, das die Knochen seines Kiefers krachen ließ, erregten d'Avrignys Aufmerksamkeit; er verließ Noirtier und lief zu dem Kranken.
Barrois, fragte der Doktor, können Sie sprechen?
Barrois stammelte ein paar unverständliche Worte.
Versuchen Sie es, mein Freund.
Barrois öffnete seineblutigen Augen.
Wer hat die Limonade gemacht? — Ich.
Haben Sie sie sogleich Ihrem Herrn gebracht, nachdem siebereitet war? — Nein.
Sie haben sie irgendwo stehen lassen? — In der Küche; man rief mich.
Wer hat sie hierher gebracht? — Fräulein Valentine.
D'Avrigny schlug sich vor die Stirn und murmelte: Oh! mein Gott!
Doktor! Doktor! riefBarrois, der einen dritten Anfall kommen fühlte.
Wird man denn dasBrechmittel nichtbringen! rief der Doktor.
Hier ist ein Glas, sagte Villefort, zurückkehrend.
Wer hat'sbereitet?
Der Apothekergehilfe, der mit mir gekommen ist.
Trinken Sie!
Unmöglich, Doktor, es ist zu spät: meine Kehle schnürt sich zusammen, ich ersticke! Oh mein Magen, Oh mein Kopf… Oh! welche Hölle… Werde ich lange so leiden?
Nein, nein, mein Freund, antwortete der Doktor, Sie werdenbald nicht mehr leiden.
Oh! ich verstehe! rief der Unglückliche; mein Gott, erbarme dich meiner!
Und einen Schrei ausstoßend, fiel er rückwärts, als obihn derBlitz getroffen hätte.
D'Avrigny legte eine Hand auf sein Herz und hielt einen Spiegel an seine Lippen.
Nun? fragte Herr von Villefort.
Sagen Sie in der Küche, man soll sehr schnell Veilchensirupbringen.
Villefort eilte sogleich hinab.
Erschrecken Sie nicht, Herr Noirtier, sagte d'Avrigny, ichbringe den Kranken in ein anderes Zimmer, um ihm zur Ader zu lassen; dergleichen Anfälle sind gräßlich anzuschauen.
UndBarrois unter den Armen fassend, schleppte er ihn in ein anstoßendes Zimmer; dochbeinahe in demselben Augenblick kehrte er zu Noirtier zurück, um den Rest der Limonade zu nehmen.
Noirtier schloß das rechte Auge.
Nicht wahr, Sie wollen Valentine? Ich will sagen, daß man nach ihr schickt.
Villefort kam wieder herauf; d'Avrignybegegnete ihm im Gange. Nun? fragte er.
Kommen Sie, sagte d'Avrigny und führte ihn in das Zimmer.
Immer noch ohnmächtig? — Er ist tot.
Villefort wich drei Schritte zurück, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und sagte, den Leichnam anschauend, mit unzweideutigem Mitleid: So schnell gestorben!
Ja, sehr schnell, nicht wahr? entgegnete d'Avrigny; doch das darf Sie nicht in Erstaunen setzen: Herr und Frau von Saint‑Meran sind ebenso plötzlich gestorben. Oh! man stirbt schnell in Ihrem Hause, Herr von Villefort.
Wie! rief der Staatsanwalt mit einem Ausdrucke des Abscheus und derBestürzung, Sie kommen wieder auf diesen furchtbaren Gedanken zurück?
Immer, mein Herr, immer, sagte d'Avrigny feierlich, denn er hat mich nicht einen Augenblick verlassen; und damit Sie überzeugt sind, daß ich mich diesmal nicht täusche, so hören Sie wohl, Herr von Villefort: Es gibt ein Gift, das, beinahe ohne irgend eine Spur zurückzulassen, tötet. Ich kenne dieses Gift, ich habe es in allen Erscheinungen, die es erzeugt, studiert, und ich habe es soebenbei dem armenBarrois erkannt, wie ich esbei Frau von Saint‑Meran erkannte. Es gibt ein Mittel, sein Vorhandensein festzustellen: es stellt dieblaue Farbe des von der Säure geröteten Lackmuspapiers wieder her und färbt den Veilchensirup grün. Wir haben kein Lackmuspapier; doch manbringt mir soeben den Veilchensirup, den ich verlangt habe.
Der Doktor öffnete halbdie Tür, nahm aus den Händen der Kammerfrau das Gefäß, auf dessenBoden ein paar Löffel Sirup waren, und schloß die Tür wieder.
Sehen Sie, sagte er zum Staatsanwalt, dessen Herz so heftig schlug, daß man es hätte hören können, hier in dieser Tasse ist Veilchensirup, und in dieser Flasche der Rest der Limonade, von derBarrois getrunken hat. Ist die Limonade rein und unschädlich, so wird der Sirup seine Farbebehalten; ist die Limonade aber vergiftet, so wird der Sirup grün werden. Schauen Sie!
Der Doktor goß langsam einige Tropfen Limonade aus der Flasche in die Tasse, und man sah auf der Stelle auf dem Grunde der Tasse eine Wolke sichbilden, die eine grünliche Farbe annahm. Der Versuch ließ keinen Zweifel übrig.
Der unglücklicheBarrois ist mit der falschen Angostura oder mit Ignatiusbohnen vergiftet worden, sagte d'Avrigny, dafürbürge ich vor den Menschen und Gott.
Villefort sagte nichts, aber er streckte die Arme zum Himmel empor, öffnete seine stieren Augen und sank wie vomBlitze getroffen auf einen Stuhl nieder.
Die Anklage.
D'Avrigny hatte den Staatsanwalt, der eine zweite Leiche in diesem Totenzimmer zu sein schien, bald wieder zu sich gebracht.
Oh! der Tod ist in meinem Hause! rief Villefort.
Sagen Sie das Verbrechen, entgegnete der Doktor.
Herr d'Avrigny, rief Villefort, ich kann Ihnen nicht sagen, was alles in diesem Augenblicke in mir vorgeht; es ist Schrecken, es ist Schmerz, es ist Wahnsinn.
Ja, sagte Herr d'Avrigny mit ausdrucksvoller Ruhe; doch ich glaube, es ist Zeit, daß wir handeln. Ich glaube, es ist Zeit, daß wir dieser Sterblichkeit einen Damm entgegensetzen. Ich meinesteils fühle mich nicht fähig, länger solche Geheimnisse zu tragen, ohne die Hoffnung, bald die Rache für die Gesellschaft und für die Opfer daraus hervorgehen zu sehen.
Villefort schaute düster umher und murmelte: In meinem Hause! in meinem Hause!
Hören Sie, Staatsanwalt, sagte d'Avrigny, seien Sie ein Mann, Ausleger des Gesetzes, ehren Sie sich durch eine völlige Aufopferung!
Sie lassen michbeben, Doktor. Haben Sie jemand im Verdacht?
Ich habe niemand im Verdacht; der Tod klopft an Ihre Tür, er tritt ein und geht, nichtblind, sondern hinterlistig, von Zimmer zu Zimmer. Nun wohl! ich folge seiner Spur, ich erkenne seinen Gang; ich tappe im Finstern umher, denn meine Freundschaft für Ihre Familie, meine Achtung für Sie sind zweiBinden auf meinen Augen! wohl…
Oh! sprechen Sie, sprechen Sie, ich werde Mut haben.
Wohl! mein Herr, Sie habenbei sich, in dem Schoße Ihres Hauses, in Ihrer Familie vielleicht eines von jenen furchtbaren, gräßlichen Phänomenen, wie jedes Jahrhundert irgend eines hervorbringt. Locusta und Agrippina, Brunhilde und Fredegunde. Alle diese Frauen waren jung und schön. Auf ihren Stirnenblühte dieselbeBlume der Unschuld, die man auch auf der Stirn der Schuldigen erblickt, die in Ihrem Hause ist.
Villefort stieß einen Schrei aus, faltete die Hände und schaute den Doktor mit flehender Gebärde an. Dieser aber fuhr ohne Erbarmen fort: Suche, wem das Verbrechen nutzt, lautet ein Grundsatz der Rechtslehre.
Doktor! rief Villefort, ach! Doktor, wie oft ist nicht die Gerechtigkeit der Menschen durch diesen unseligen Grundsatz getäuscht worden. Ich weiß nicht, aber es scheint mir, dieses Verbrechen…
Ah! Sie gestehen doch endlich ein, daß ein Verbrechen obwaltet?
Ja, ich muß es anerkennen, ich kann nicht anders. Doch lassen Sie mich fortfahren! Es scheint mir, sage ich, daß dieses Verbrechen auf mich allein fällt und nicht auf die Opfer. Unter all diesem seltsamen Unglück ahne ich ein schweres Verhängnis für mich.
Oh! Mensch, selbstsüchtigstes von allen Wesen, persönlichstes von allen Geschöpfen, das stets glaubt, die Erde drehe sich, die Sonne glänze, der Tod mähe für seine Person allein. Herr von Saint‑Meran, Frau von Saint‑Meran, Herr Noirtier…
Wie, Herr Noirtier!..
Ah ja! glauben Sie vielleicht, es sei auf den unglücklichenBedienten abgesehen gewesen? Nein, nein: er ist, wie Poloniusbei Shakespeare, für einen andern gestorben. Noirtier sollte die Limonade trinken; Noirtier hat es auch, wie vorausgesehen, getan; der andere hat nur zufällig davon getrunken, und wenn auchBarrois gestorben ist, so sollte doch Noirtier sterben.
Wie kommt es dann, daß mein Vater nicht unterlag?
Ich habe es Ihnenbereits einmal, nach dem Tode der Frau von Saint‑Meran, gesagt, weil sich sein Körper an den Gebrauch gerade dieses Giftes gewöhnt hatte; weil die Dose, unbedeutend für ihn, für jeden andern tödlich war; weil niemand, und auch der Mörder nicht, weiß, daß ich Herrn Noirtiers Lähmung mitBrucinbehandle, während es dem Mörder nicht unbekanntblieb, daßBrucin ein heftiges Gift ist.
Mein Gott! murmelte Villefort, die Hände ringend.
Verfolgen Sie den Gang des Verbrechers; er tötete Herrn von Saint‑Meran. — Oh, Doktor!
Ich würde darauf schwören; das, was man mir von den Symptomen gesagt hat, stimmt zu sehr mit dem überein, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.
Villefort hörte auf zu widersprechen und stieß einen Seufzer aus.
Er tötete Herrn von Saint‑Meran, wiederholte der Doktor, er tötete Frau von Saint‑Meran; es ist eine doppelte Erbschaft zu machen.
Villefort wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Herr Noirtier, fuhr Herr d'Avrigny fort, hatte kürzlich gegen Ihre Familie zu Gunsten der Armen testiert; Herr Noirtier wird verschont, man erwartet nichts von ihm. Doch, er hat sein erstes Testament umgestoßen und ein anderes gemacht, worauf man, ohne Zweifel aus Furcht, er könnte ein drittes machen, auch ihn angreift. Das Testament ist, glaube ich, von vorgestern, Sie sehen, man hat keine Zeit verloren.
Oh! Gnade, Herr d'Avrigny!
Keine Gnade, mein Herr! Ist das Verbrechenbegangen worden, so kommt es dem Arzte zu, die Tatsache zu enthüllen.
Gnade für meine Tochter, Herr! murmelte Villefort.
Sie sehen, Sie haben sie genannt, Sie, ihr Vater?
Gnade für Valentine! Hören Sie, es ist unmöglich. Ich würde lieber mich selbst anklagen! Valentine, ein Herz von Diamant, eine Lilie der Unschuld!
Keine Gnade, Herr Staatsanwalt, das Verbrechen ist unleugbar. Fräulein von Villefort hat selbst die Medikamente eingepackt, die an Herrn von Saint‑Meran abgeschickt worden sind, und Herr von Saint‑Meran ist gestorben. — Fräulein von Villefort hat die Tisanen für Frau von Saint‑Meranbereitet, und Frau von Saint‑Meran ist gestorben. Fräulein von Villefort hat ausBarrois' Händen die Flasche mit Limonade genommen, die der Greis gewöhnlich am Morgen genießt, und der Greis ist nur durch ein Wunder entkommen. Fräulein von Villefort ist die Schuldige! Sie ist die Giftmischerin! Herr Staatsanwalt, ich zeige Fräulein von Villefortbei Ihnen an; tun Sie Ihre Pflicht!
Doktor, ich widerstehe nicht länger, ich verteidige mich nicht mehr, ich glaube Ihnen; doch haben Sie Mitleid, schonen Sie mein Leben, meine Ehre!
Herr von Villefort, erwiderte der Doktor mit wachsender Kraft, es gibt Umstände, wo ich alle Grenzen der albernen menschlichenBedachtsamkeit überschreite. Hätte Ihre Tochter nur ein Verbrechenbegangen, uns ich sähe sie auf ein neues sinnen, so würde ich zu Ihnen sagen: Warnen Sie Ihre Tochter, mag sie den Rest ihres Lebens in einem Kloster zubringen, um zu weinen und zubeten. Hätte sie ein zweites Verbrechenbegangen, so würde ich Ihnen sagen: Hören Sie, Herr von Villefort, hier ist ein Gift, das die Giftmischerin nicht kennt, ein Gift, das keinbekanntes Gegengift hat, ein Gift, schnell wie der Gedanke, rasch wie derBlitz, geben Sie ihr dieses Gift, empfehlen Sie Ihre Seele Gott, und retten Sie so Ihre Seele und Ihr Leben, denn nunmehr gedenkt sie Ihre Tage abzukürzen, und ich sehe sie mit ihrem heuchlerischen Lächeln und ihren sanften Ermahnungen an IhrBett treten… Wehe Ihnen, Herr von Villefort, wenn Sie sich nichtbeeilen, zuerst zu schlagen. Das würde ich Ihnen sagen, hätte sie nur zwei Personen getötet; aber sie hat drei Todeskämpfe gesehen, hat drei Sterbendebetrachtet, bei drei Leichen gekniet; der Henker für die Giftmischerin! der Henker! Sie sprechen von Ihrer Ehre, tun Sie, was ich Ihnen sage!
Villefort rief: Hören Sie, ichbesitze nicht die Kraft, die Sie haben, oder die Sie vielleicht nicht hätten, wenn es sich, statt um meine Tochter, um Ihre Tochter Madeleine handelte.
Der Doktor erbleichte.
Doktor, jeder Sohn einer Frau ist geboren, um zu leiden und zu sterben; ich werde leiden und den Tod erwarten.
Nehmen Sie sich in acht, sagte d'Avrigny, dieser Tod kann langsam sein; Sie werden ihn vielleicht herannahen sehen, nachdem Ihr Vater, Ihre Frau, Ihr Sohn getroffen ist.
Keuchend preßte Villefort den Arm des Doktors und rief:
Hören Sie mich, beklagen Sie mich, helfen Sie mir… Nein, meine Tochter ist nicht schuldig… Schleppen Sie uns vor ein Tribunal; ich werde abermals sagen: Nein, meine Tochter ist nicht schuldig… Es gibt kein Verbrechen in meinem Hause… Ich will nicht, hören Sie, ich will nicht, daß es ein Verbrechen in meinem Hause gibt; denn wenn das Verbrechen irgendwo eintritt, so ist es wie der Tod: es tritt nicht allein ein. Hören Sie, was ist Ihnen daran gelegen, wenn ich ermordet sterbe?… Sind Sie mein Freund, sind Sie ein Mensch, haben Sie ein Herz?… Nein, Sie sind Arzt!.. Wohl! ich sage Ihnen, nein, meine Tochter wird nicht durch mich in die Hände des Henkers geschleppt werden… Ha! das ist ein Gedanke, der mich verzehrt, der mich wie einen Wahnsinnigen aufreibt. Und wenn Sie sich täuschten! Wenn es ein anderer wäre, als meine Tochter!.. wenn ich eines Tages, bleich wie ein Gespenst, käme und zu Ihnen sagte: Mörder, du hast meine Tochter getötet!.. Hören Sie, wenn dies geschähe, ichbin ein Christ, Herr d'Avrigny, und dennoch würde ich mich töten!..
Es ist gut, sagte der Doktor nach kurzem Schweigen, ich werde warten.
Villefort schaute ihn an, als zweifelte er noch an seinen Worten.
Doch wenn eine Person Ihres Hauses krank wird, fuhr Herr d'Avrigny langsam und feierlich fort, wenn Sie sich selbst getroffen fühlen, rufen Sie mich nicht, denn ich werde nicht kommen. Wohl will ich mit Ihnen das furchtbare Geheimnis teilen, aber die Schande und die Reue sollen nicht in meinem Gewissen wachsen und furchtbar werden, wie das Verbrechen und das Unglück in Ihrem Hause wächst und Früchte treibt.
Sie verlassen mich also, Doktor?
Ja, ich kann Ihnen nicht ferner folgen, und ich verweile nicht am Fuße desBlutgerüstes. Eine andere Enthüllung wird kommen und das Ende dieser furchtbaren Tragödie herbeiführen. Gottbefohlen!
Doktor, ich flehe Sie an.
Alle Greuel, die meinen Geistbeflecken, machen mir Ihr Haus verhaßt und unselig. Gottbefohlen, mein Herr.
Ein Wort, nur ein einziges Wort, Doktor! Sie entfernen sich und überlassen mich allen Schrecknissen meiner Lage, Schrecknissen, die Sie durch Ihre Enthüllung noch vermehrt haben. Doch was wird man von dem plötzlichen Tode des armen alten Dieners sagen?
Es ist richtig, sagte der Arzt, geleiten Sie mich zurück!
Der Doktor ging zuerst hinaus, Herr von Villefort folgte ihm; dieBedienten standen unruhig in den Gängen und auf den Treppen, wo der Doktor vorbeikommen mußte.
Mein Herr, sagte d'Avrigny so laut, daß es jeder hörte, der armeBarrois mußte in der letzten Zeit zu viel im Zimmer sitzen; einst gewohnt, mit seinem Herrn sich zu Pferde oder zu Wagen in allen Ländern Europas umherzutreiben, hat ihn der eintönige Dienst am Lehnstuhl getötet. DasBlut ist schwer geworden, er wurde vom Schlage gerührt, und ich erhielt zu spät Nachricht. — Vergessen Sie nicht, fügte er leise hinzu, vergessen Sie nicht, die Tasse mit Veilchensirup in die Asche zu werfen.
Und ohne Villeforts Hand zuberühren, entfernte er sich, geleitet von den Tränen und Wehklagen der Zurückbleibenden.
Am Abend kamen alle Dienstboten Villeforts, die sich in der Küche versammelt und lange miteinanderbesprochen hatten, zu Frau von Villefort undbaten um ihren Abschied. Keine Ermahnung, kein Versprechen höheren Lohnes vermochte sie zurückzuhalten; auf alles, was man sagte, erwiderten sie: Wir wollen gehen, weil der Tod im Hause ist.
Sie gingen also, trotz allerBitten, die man an sie richtete, und äußerten nur, siebedauerten lebhaft, so gute Gebieter undbesonders Fräulein Valentine zu verlassen, die so mild, so wohltätig, so sanft wäre.
Villefort schautebei diesen Worten Valentine an. Sie weinte.
Seltsam! Von den Tränen der Tochter erschüttert, schaute er auch Frau von Villefort an, und es kam ihm vor, als obein flüchtiges, düsteres Lächeln über ihre dünnen Lippen hingeschwebt wäre.
Das Zimmer des ehemaligenBäckers.
Am Abend des Tages, als der Graf von Morcerf mit einer Wut, die sich aus der Weigerung desBankiers erklärt, Danglars' Haus verlassen hatte, fuhr Herr Andrea Cavalcanti, die Haare frisiert und glänzend, den Schnurrbart zugespitzt, mit weißen Handschuhen, auf seinem Phaeton in den Hof desBankiershauses.
Als er zehn Minuten im Salon war, fand er Gelegenheit, Danglars in eine Fenstervertiefung zu ziehen, wo er ihm die Qualen seines Lebens seit der Abreise seines edlen Vaters auseinandersetzte. Seit dieser Abreise, sagte er, habe er in der Familie desBankiers, wo man so wohlwollend gewesen, ihn wie einen Sohn aufzunehmen, alle Garantien des Glückes gefunden, die ein Mensch immer suchen müsse, bevor er sich von den Launen der Leidenschaft hinreißen lasse, — und was die Leidenschaft selbstbetreffe, so habe er das Glück gehabt, ihr in den schönen Augen von Fräulein Danglars zubegegnen.
Danglars hörte mit der größten Aufmerksamkeit; seit einigen Tagen erwartete er diese Erklärung, und als sie endlich kam, erheiterte sich sein Auge ebensosehr, als es sichbei Morcerfs Worten verdüstert hatte. Er wollte indessen den Antrag des jungen Mannes nicht so annehmen, ohne irgend eine Einwendung zu machen.
Herr Andrea, sind Sie nicht ein wenig zu jung, um an das Heiraten zu denken? sagte er.
Nein, mein Herr, erwiderte Cavalcanti, ich wenigstens finde es nicht; in Italien verheiraten sich die vornehmen Herren im allgemeinen jung. Das Leben ist so vielen Wechselfällen unterworfen, daß man das Glück ergreifen muß, sobald es in unsernBereich kommt.
Mein Herr, sagte Danglars, wenn ich nun voraussetze, Ihr Antrag, der mich ehrt, werde von meiner Frau und von meiner Tochter angenommen, so fragt es sich noch, mit wem werden wir über das Materielle verhandeln? Es ist dies, scheint mir, ein wichtiges Geschäft, das die Väter allein zum Heil ihrer Kinder abzumachen wissen.
Mein Vater ist ein weiser Mann. Er hat in Voraussicht des Umstandes, daß ich dasBedürfnis fühlen würde, mich in Frankreich niederzulassen, alle Papiere, die meine Identität erweisen, und einenBrief zurückgelassen, in dem er mir, für den Fall, daß ich eine ihm angenehme Wahl treffe, vom Tage meiner Heirat an eine Rente von 150 000 Franken zusichert. Es ist dies, soviel ichbeurteilen kann, der vierte Teil der Einkünfte meines Vaters.
Ich hatte immer die Absicht, meiner Tochter 500 000 Frankenbei ihrer Verheiratung zu geben; überdies ist sie meine einzige Erbin.
Wohl! sagte Andrea, Sie sehen, die Sache stände vortrefflich, vorausgesetzt, mein Antrag wird von der FrauBaronin Danglars und von Fräulein Eugenie nicht zurückgewiesen. Wir haben dann 175 000 Franken Rente. Nehmen wir an, ichbringe esbei dem Marquis dahin, daß er mir, statt die Rente zubezahlen, das Kapital gibt, so treiben Sie diese zwei oder drei Millionen um, und zwei oder drei Millionen können in geschickten Händen immerhin zehn Prozent eintragen.
Ich nehme immer nur zu vier, sagte derBankier, und sogar zu drei und ein halb. Aberbei meinem Schwiegersohne nehme ich zu fünf, und wir teilen den Nutzen.
Vortrefflich, Schwiegervater, sagte Cavaleanti, der sich von seiner gemeinen Natur hinreißen ließ, die von Zeit zu Zeit den aristokratischen Firnis sprengte, womit er sie zubedecken suchte. Doch sofort sagte er, sich verbessernd: Oh! verzeihen Sie, mein Herr, schon die Hoffnung macht michbeinahe verrückt; wie wäre es erst mit der Wirklichkeit!
Aber, versetzte Danglars, der seinerseits nichtbemerkte, wie dieses, anfangs uneigennützige Gespräch rasch zum Geschäftlichen überging, aber es gibt wohl einen Teil Ihres Vermögens, den Ihnen Ihr Vater nicht verweigern kann?
Welchen Teil? fragte der junge Mann.
Den, welcher von Ihrer Mutter herkommt.
Ah! gewiß, den von meiner Mutter Oliva Corsinari!
Und wie hoch mag sich dieser Vermögensteilbelaufen?
Meiner Treu, sagte Andrea, ich habe hierüber nie nachgedacht; doch ich schätze ihn auf wenigstens zwei Millionen.
Danglars fühlte jene freudigeBeklemmung, wie sie der Geizige fühlt, der einen verlorenen Schatz wiederfindet.
Nun, mein Herr, sagte Andrea, sich mit zärtlicher Achtung vor demBankier verbeugend, darf ich hoffen?…
Mein Herr Andrea, erwiderte Danglars, hoffen Sie und glauben Sie mir, daß die Sache abgeschlossen ist, wenn nicht ein Hindernis von Ihrer Seite den Gang der Angelegenheit aufhält.
Ah! Sie erfüllen mich mit Freude, mein Herr.
Doch, wie kommt es? fragte Danglars nachdenkend, wie kommt es, daß der Graf von Monte Christo, Ihr Patron in der Pariser Welt, nicht mit Ihnen erschienen ist, um dieseBitte an mich zu richten?
Andrea errötete unmerklich und antwortete: Ich war soebenbei dem Grafen; er ist unbestreitbar ein vortrefflicher Mann, aber er hat oft merkwürdige Ideen. Erbilligte mein Vorhaben sehr und sagte mir sogar, er glaube nicht, daß mein Vater einen Augenblick zögern werde, mir das Kapital statt der Rente zu geben; er versprach mir, mich dabei mit seinem Einfluß zu unterstützen; doch er erklärte mir zugleich, persönlich habe er nie die Verantwortung dafür, um eine Hand zubitten, auf sich genommen, und er würde sie auch nie auf sich nehmen. Aber er fügte hinzu, wenn er je dieses Widerstrebenbeklagt habe, so sei es in diesem Falle, denn er denke, diebeabsichtigte Verbindung sei eine schickliche und glückliche. Will er übrigens auch nichts offiziell tun, sobehält er sich doch vor, Ihnen zu antworten, wie er sagt, wenn Sie mit ihm sprechen sollten.
Ah! sehr gut!
Nun, da die Familienangelegenheit glücklichbeendet ist, sagte Andrea mit seinem reizendsten Lächeln, wende ich mich an denBankier.
Was wollen Sie von ihm, lassen Sie hören! entgegnete Danglars, ebenfalls lächelnd.
Übermorgen habe ich so etwa viertausend Franken von Ihnen zubeziehen; doch der Graf hatbegriffen, daß der kommende Monat größere Ausgaben mit sichbringen muß, denen mein jetziges kleines Einkommen nicht entspricht, und so hat er mir diese Anweisung von zwanzigtausend Franken angeboten. Sie ist von seiner Hand unterzeichnet, wie Sie sehen; sind Sie damit zufrieden?
Bringen Sie mir solche Anweisungen für eine Million, und ich nehme sie Ihnen alle ab, sagte Danglars, den Schein in die Tasche steckend. Sagen Sie mir, wann Sie morgen zu Hause sind, und mein Kassenbote kommt zu Ihnen.
Morgen vormittag um zehn Uhr; je eher, destobesser, denn ich möchte morgen aufs Land fahren.
Es sei; morgen um zehn Uhr!
Am andern Tage waren mit einer Pünktlichkeit, die demBankier Ehre machte, die zwanzigtausend Frankenbei dem jungen Manne, der wirklich ausfuhr und zweihundert Franken für Caderousse zurückließ.
Mit dieser Fahrtbezweckte Andrea hauptsächlich, seinem gefährlichen Freunde aus dem Wege zu gehen; auch kam er am Abend so spät als möglich zurück.
Doch kaum war er ausgestiegen, als er den Portier vor sich stehen sah. Mein Herr, der Mensch ist gekommen, sagte er.
Was für ein Mensch? fragte nachlässig Cavalcanti.
Der Mensch, dem Euere Exzellenz die kleine Rente gibt.
Ah! ja, sagte Andrea, der alte Diener meines Vaters. Nun, Sie haben ihm die zweihundert Franken, die ich ihm zurückgelassen, übergeben?
Ja, Exzellenz, pünktlich. Aber er wollte sie nicht nehmen.
Andrea erbleichte. Wie? Er wollte sie nicht nehmen? versetzte er mit leichtbewegter Stimme.
Nein, er wollte mit Eurer Exzellenz sprechen. Ich entgegnete ihm, Sie seien ausgegangen, erbliebhartnäckig; endlich aber schien er sich überzeugen zu lassen und gabmir diesenBrief, den er versiegelt mitgebracht hatte.
Geben Sie! sagte Andrea.
Und er lasbei der Laterne seines Phaetons: Du weißt, wo ich wohne, ich erwarte dich morgen um halbneun.
Andreabetrachtete das Siegel, um zu sehen, obderBrief nicht von Neugierigen aufgemacht sei; das Siegel war jedoch völlig unverletzt.
Sehr gut, sagte er, armer Mensch! Ein vortreffliches Geschöpf!
Und der Portier, von diesen Worten erbaut, wußte nicht, was er mehrbewundern sollte, den jungen Herrn oder den alten Diener.
Spanne rasch aus und komm zu mir herauf! sagte Andrea zu seinem Diener.
Mit zwei Sprüngen war der junge Mann in seinem Zimmer und verbrannte CaderoussesBrief.
Ich habe, sagte er sodann zu dem eintretenden Diener, mit einer Grisette zu tun, der ich weder meinen Titel, noch meinen Stand sagen will; leih mir deine Livree undbringe mir deine Papiere, damit ich, im Falle der Not, in einem Wirtshause schlafen kann.
Fünf Minuten nachher verließ Andrea, völlig verkleidet, das Hotel, nahm einen Wagen und ließ sich zum Wirtshaus zum roten Roß fahren.
Am andern Tage verließ er dieses Wirtshaus, ging über denBoulevardbis zur Rue Menilmontant, bliebvor der Tür des dritten Hauses links stehen und sah sich vergebens nach einem Portier um.
Wen suchen Sie, mein hübscher Junge? fragte die Obsthändlerin gegenüber.
Herrn Palletin, einen ehemaligenBäcker, meine gute Mama, antwortete Andrea.
Hinten im Hofe, links im dritten Stocke.
Andrea schlug denbezeichneten Weg ein und zog übelgelaunt an einer Klingel. Nach einigen Sekunden erschien Caderousses Gesicht hinter dem in der Tür angebrachten Gitter.
Ah! dubist pünktlich, sagte er und öffnete.
Andrea warfbei seinem Eintritte seine Livreemütze von sich, die neben den Stuhl auf die Erde fiel.
Ruhig, ärgere dich nicht, Kleiner, sagte Caderousse. Sieh, ich habe an dich gedacht, schau einmal das gute Frühstück an, das wir genießen werden. Gottes Donner! lauter Dinge, die du gern hast.
Atem schöpfend sog Andrea einen Küchengeruch ein, dessen grobes Aroma auf einen ausgehungerten Magen nicht ohne Reiz sein mochte. Es war eine Mischung von frischem Fett und Knoblauch, wozu noch der Duft von geschmortem Fleisch und vor allem der scharfe Geruch der Muskate und Gewürznelke kam. Dieser Mischgeruch entstieg zwei auf zwei Kohlenbecken stehenden Platten und einer Kasserolle, deren Inhalt in einer Ofenröhre kochte. In dem anstoßenden Zimmer sah Andrea überdies einen ziemlich reinlichen Tisch mit zwei Gedecken, dazu zwei versiegelte Flaschen, die eine grün, die andere gelb, ein gutes MaßBranntwein in einer Flasche und etwas Obst auf einem Teller.
Wie kommt dir das vor, Kleiner? fragte Caderousse, nicht wahr, das duftet? Ah! du weißt, ich war damals ein guter Koch, du erinnerst dich, wie man sich die Finger nach meiner Küche leckte? Du hast zuerst von meiner Küche gekostet und, denk' ich, sie nicht verachtet. Und Caderousse fing an, Zwiebeln abzuklauben.
Schon gut, schon gut, jagte Andrea verdrießlich; bei Gott! wenn du mich gestört hast, damit ich mit dir frühstücke, so soll dich der Teufel holen!
Mein Sohn, sagte Caderousse pathetisch, während man ißt, plaudert man; und dann, du Undankbarer, macht es dir keine Freude, deinen alten Freund einmal zu sehen? Ich meinesteils weine vor Freude.
Schweige doch, Heuchler, versetzte Andrea; du solltest mich lieben?
Ja, ich liebe dich; oder der Teufel soll mich holen! Es ist eine Schwäche, ich weiß wohl, aber sie ist stärker als ich.
Was dich nicht abhält, mich wegen irgend einer Schufterei kommen zu lassen.
Geh doch! rief Caderousse, seinbreites Messer an seiner Schürze abwischend, wenn ich dich nicht liebte, würde ich das elende Leben ertragen, das du mich führen läßt? Sieh doch nur, du trägst auf deinem Rücken das Kleid deinesBedienten, und hast folglich einenBedienten, ich habe keinen und muß mein Gemüse selbst ausklauben. Du machst pfui über meine Küche, weil du an der Tafel des Hotel des Princes oder im Café de Paris speisest. Ich könnte auch speisen, wo ich wollte; nun! warumberaube ich mich dessen? Um meinem kleinenBenedetto keine Mühe zu machen. Gestehe nur, daß ich es könnte, wie?
Ein ganz unzweideutigerBlickbekräftigte den Sinn dieser Worte.
Gut, wir wollen annehmen, du liebst mich, sagte Andrea; warum hast du mich aber hergelockt?
Um dich zu sehen, Kleiner.
Um mich zu sehen, wozu? Da wir zum voraus alles abgemacht haben.
Ei! lieber Freund, gibt es Testamente ohne Kodizille? Doch dubist gekommen, um vor allem zu frühstücken, nicht wahr? Wohl, so setze dich, und laß uns mit diesen Sardellen und dieser frischenButter anfangen, die ich, wie du es gern hast, auf Weinblätter gelegt habe. Ah! ja, du musterst mein Zimmer, meine vier Strohstühle, meineBilder zu drei Franken. Verdammt! was willst du, das ist kein Hotel des Princes!
Dubist alsobereits deiner Lage überdrüssig, dubist nicht mehr glücklich, du, der das Aussehen einesBäckers haben wollte, der sich von den Geschäften zurückgezogen?
Caderousse stieß einen Seufzer aus.
Nun! was kannst du sagen? Hat sich dein Traum nicht verwirklicht?
Ich kann sagen, daß es wirklich ein Traum ist: EinBäcker, der sich zurückgezogen, der ist reich, der hat Renten.
Bei Gott, du hast Renten. — Ich?
Ja, du, da ich dir deine zweihundert Frankenbringe.
Caderousse erwiderte, die Achseln zuckend: Es ist demütigend, so auf ungern gegebenes Geld angewiesen zu sein, das heute oder morgen ausbleiben kann. Du siehst wohl, daß ich für den Fall, daß dein Wohlstand nicht fortdauert, sparen muß. Ei! mein Gott! das Glück ist unbeständig. Ich weiß wohl, daß dein Glück groß ist, Böser, du wirst Danglars' Tochter heiraten.
Wie! Danglars'?
Gewiß Danglars'! Soll ich denn sagen: desBarons von Danglars? Das wäre, als obich sagte: des GrafenBenedetto… Danglars war ein Freund von mir, und wenn er nicht ein schlechtes Gedächtnis hätte, so müßte er mich zu deiner Hochzeit einladen… da er doch auchbei der meinigen gewesen ist… Verdammt! er war damals nicht so stolz, der kleine Kommis des Herrn Morel. Ich speiste mehr als einmal mit ihm und dem Grafen von Morcerf. Du siehst, ich habe schöneBekanntschaften, und wenn ich sie ein wenig kultivieren wollte, so würden wir uns in denselben Salonsbegegnen.
Still doch, deine Eifersucht läßt dich Regenbogen sehen.
Es ist gut, meinBenedetto; man weiß, was man redet. Mittlerweile setze dich und laß uns essen!
Caderousse gabdasBeispiel und fing an, mit gutem Appetit zu frühstücken, wobei er alle Gerichte lobte, die er seinem Gaste vorsetzte. Dieser schien entschlossen, zog herzhaft die Pfropfen aus den Flaschen und griff den mit Öl und Knoblauch geschmorten Kabeljau an.
Ah! Gevatter, sagte Caderousse, es scheint, du söhnst dich mit deinem ehemaligen Haushofmeister aus?
Meiner Treu, ja, erwiderte Andrea, bei dem, jung und kräftig, wie er war, für den Augenblick der Appetit den Sieg über alles andere davontrug.
Und du findest das gut, Spitzbube?
So gut, daß ich nichtbegreife, wie ein Mensch, der so gute Dinge ißt, das Leben schlimm finden kann.
Das kommt davon her, daß mein ganzes Glück durch den einzigen Gedanken verdorben wird, daß ich auf Kosten eines Freundes lebe, nachdem ich mir stets meinen Unterhalt mutig selbst erworben habe.
Oh, was tut's? sagte Andrea. Ich habe genug für zwei, laß dich das nicht kümmern!
Wahrhaftig, nein; doch magst du mir glauben oder nicht, am Ende jedes Monats habe ich Gewissensbisse, so daß ich gestern die zweihundert Franken nicht nehmen wollte.
Ja, du wolltest mit mir sprechen; doch waren es wirklich Gewissensbisse?
Wahre Gewissensbisse; und dann ist mir ein Gedanke gekommen. Es ist erbärmlich, immer auf das Ende des Monats warten zu müssen.
Ei! bemerkte philosophisch Andrea, der entschlossen war, seinen Gefährten kommen zu sehen, ei, vergeht das Leben nicht mit Warten? Ich, zumBeispiel, tue ich etwas anderes? Wohl, ich fasse Geduld, nicht wahr?
Ja, weil du statt elende zweihundert Franken zu erwarten, fünf- oder sechstausend, vielleicht zehn-, vielleicht sogar zwölftausend erwartest; denn dubist ein Geheimniskrämer. Du hattest früher auch immer kleineBörsen, Sparbüchsen, die du dem armen Freunde Caderousse zu entziehen suchtest. Zum Glück hatte der fragliche Freund eine feine Nase.
Du fängst wieder an, abzuschweifen und abermals von der Vergangenheit zu sprechen; wozu soll es nützen, frage ich dich, die Dinge so wiederzukäuen?
Ah! dubist einundzwanzig Jahre alt und kannst die Vergangenheit vergessen; ich zähle fünfzig und muß mich ihrer erinnern. Doch gleichviel, kommen wir auf die Geschäfte zurück. Ich wollte dir sagen, wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich realisieren…
Wie! Du würdest realisieren?
Ja, ich würde mir ein Semester zum voraus erbitten, unter dem Vorwand, ich wolle durch Erwerbung von Grundbesitz politischen Einfluß gewinnen, dann würde ich mich mit meinem Semester aus dem Staube machen.
Halt, halt, halt! rief Andrea, das ist vielleicht nicht so schlecht gedacht.
Mein lieber Freund, iß aus meiner Küche undbefolge meine Ratschläge, du wirst dich dabei physisch und moralisch nicht schlechtbefinden.
Doch warumbefolgst du nicht selbst den Rat, den du mir gibst, warum realisierst du nicht ein Semester, ein ganzes Jahr sogar und ziehst dich nachBrüssel zurück? Statt wie ein ehemaligerBäcker wirst du dann aussehen, wie ein in Ausübung seiner FunktionenbegriffenerBankerottierer.
Wie zum Teufel soll ich mich mit zwölfhundert Franken zurückziehen?
Ah! Caderousse, wie anspruchsvoll du wirst! Vor zwei Monaten starbst dubeinahe vor Hunger.
Der Appetit kommtbeim Essen, sagte Caderousse. Auch habe ich einen Plan gemacht.
Caderousses Pläne erschreckten Andrea noch mehr, als seine Gedanken; die Gedanken waren nur der Keim, der Plan war die Verwirklichung. Laß deinen Plan hören, sagte er, der muß hübsch sein!
Warum nicht? Von wem war der Plan, mittels dessen wir die Anstalt des Herrn So und So verlassen haben? Von mir, denke ich; er war darum nicht schlimmer, wie mir scheint, insofern wir nun hier sind.
Ich leugne das nicht, antwortete Andrea, du ersinnst zuweilen etwas Gutes; doch laß deinen Plan hören!
Sage, fuhr Caderousse fort, kannst du mir, ohne einen Sou auszugeben, so etwa 15 000 Franken zukommen lassen… Nein, mit 15 000 Franken ist es nicht genug, mit weniger als 30 000 Franken ist es mir nicht möglich, ein ehrlicher Mann zu werden.
Nein, sagte Andrea trocken, nein, das kann ich nicht.
Du hast mich, wie es scheint, nichtbegriffen, entgegnete Caderousse kalt und mit ruhiger Miene, ich sagte dir, ohne einen Sou auszugeben.
Soll ich etwa stehlen, damit man uns wieder dorthin führt?
Oh! mir ist es gleichgültig, obman mich wieder packt oder nicht; ichbin ein komischerBursche; weißt du. Ich sehne mich zuweilen nach den Kameraden; es ist nicht wiebei dir, der du ohne Herzbist und sie gern nie wiedersehen möchtest. Andreabebte und erbleichte.
Still, Caderousse, keine Albernheiten, sagte er.
Oh, nein! sei unbesorgt, mein kleinerBenedetto; doch gibmir ein Mittelchen an, wie ich diese dreißigtausend Franken gewinnen kann, ohne daß du dich in irgend etwas zu mischenbrauchst; du läßt mich nur einfach machen.
Wohl! ich werde sehen, sagte Andrea.
Einstweilen jedoch erhöhst du mein Monatgeld auf fünfhundert Franken, nicht wahr, Kleiner? Ich habe eine Leidenschaft, ich möchte gern eine Wirtschafterin nehmen.
Du sollst deine fünfhundert Franken haben, doch es wird mir schwer, mein armer Caderousse… du mißbrauchst…
Bah! rief Caderousse, du schöpfst aus Kassen, die keinen Grund haben.
Man hätte glauben sollen, Ardrea erwartete seinen Gefährtenbei diesem Punkte, so sehr erglänzte sein Auge von einem raschenBlitz, der allerdings sogleich wieder erlosch.
Es ist dies eine Wahrheit, antwortete Andrea, und meinBeschützer ist vortrefflich gegen mich.
Dieser liebeBeschützer, versetzte Caderousse, er gibt dir also monatlich?…
Fünftausend Franken.
So viel tausend, als du mir hundert gibst: in der Tat, nur dieBastarde haben Glück Fünftausend Franken monatlich… was zum Teufel kann man damit alles machen!
Ei, mein Gott! das ist schnell ausgegeben; auchbin ich wie du, ich möchte gern ein Kapital haben.
Ein Kapital… ja… ichbegreife, jeder möchte gern ein Kapital haben.
Wohl! ich werde eins haben.
Und wer wird es dir geben? Dein Prinz?
Ja, mein Prinz; leider muß ich auf seinen Tod warten, weil er mich in seinem Testamentbedacht hat.
Wirklich? Mit wieviel? — Mit fünfmal hunderttausend.
Nicht möglich! — Caderousse, bist du mein Freund?
Auf Leben und Tod! — Wohl, ich werde dir ein Geheimnis mitteilen.
Andrea hielt inne und schaute umher.
Habe keine Furcht, wir sind allein. — Ich glaube, ich habe meinen Vater wiedergefunden. — Deinen wahren Vater oder den Vater Cavalcanti? — Nein, denn dieser ist wieder abgereist. — Und dieser wahre Vater ist…
Nun, Caderousse, ist der Graf von Monte Christo; dubegreifst, nun erklärt sich alles. Er kann es nicht laut gestehen, wie es scheint; doch er läßt mich durch Herrn Cavalcanti anerkennen, dem er hierfür 50 000 Franken gibt.
50 000 Franken, um dein Vater zu sein! Ich hätte es für die Hälfte, für 15 000 Franken, getan. Warum hast du nicht an mich gedacht, Undankbarer?
Wußte ich es, da sich alles machte, während wir dort waren?
Ah! es ist wahr. Und du sagst, durch sein Testament?…
Vermacht er mir fünfmal hunderttausend Franken.
Bist du dessen gewiß?
Er hat es mir gezeigt! Doch das ist noch nicht alles.
Findet sich ein Kodizill dabei?
Wahrscheinlich, worin er mich anerkennt.
Oh! der gute Mann von einem Vater, der allerehrlichste Mann von einem Vater!
Sage mir nun noch einmal, ich hätte Geheimnisse vor dir!
Nein, und dein Vertrauen ehrt dich in meinen Augen. Dein fürstlicher Vater ist also außerordentlich reich?
Ich glaube wohl. Er kennt sein Vermögen selbst nicht. Verdammt, ich sehe es wohl, ich, der zu jeder Stundebei ihm ein- und ausgehen kann. Einmalbrachte ihm einBankdiener 50 000 Franken in einem Portefeuille so dick wie deine Serviette; gesternbrachte ihm seinBankier 100 000 Franken in Gold.
Caderousse warbetäubt; es kam ihm vor, als hätten die Worte des jungen Mannes den Ton des Metalls, und als hörte er Kaskaden von Goldstücken rollen.
Und dubesuchst dieses Haus? — Wann ich will.
Caderoussebliebeinen Augenblick nachdenklich; man konnte leicht sehen, daß er in seinem Innern einen großen Gedanken erwog. Dann rief er plötzlich: Wie gern möchte ich dies alles sehen, und wie schön muß es sein!
Es ist in der Tat prachtvoll!
Wohnt er nicht in der Avenue des Champs‑Elysees?
Ja, Nummer dreißig, in einem schönen, einzeln stehenden Hause zwischen Vorhof und Garten, es läßt sich leicht erkennen.
Wohl möglich; doch es ist weniger das Äußere, was michbeschäftigt, als das Innere. Das schöne Gerät, das man dort finden muß! Sage mir, Andrea, da muß gutbücken sein, wenn derbrave Herr Monte Christo seineBörse fallen läßt?
Oh, mein Gott! es ist nicht der Mühe wert, darauf zu warten, das Geld findet sich in seinem Hause wie das Obst auf einemBaumgute.
Sage, Andrea, du solltest mich einmal dahin führen.
Ist dies möglich? Unter welchem Titel?
Ich werde mich als Parkettwichser vorstellen.
Es sind überall Teppiche gelegt.
Ah verdammt! dann muß ich michbegnügen, die Sache in der Einbildungskraft zu sehen.
Ich glaube, das ist dasbeste.
Suche mir wenigstensbegreiflich zu machen, wie das Anwesen eingeteilt ist.
Ich müßte Papier haben, um einen Plan zu machen.
Hier hast du, rief Caderousse lebhaft und holte aus einem alten Schranke Papier, Tinte und Feder.
Andrea nahm die Feder mit unmerklichem Lächeln undbegann: Das Haus liegt, wie ich dir gesagt habe, zwischen Vorhof und Garten; siehst du, so. Und er machte eine Skizze vom Garten, vom Hof und vom Hause.
Hohe Mauern? — Nein, höchstens achtbis zehn Fuß. — Das ist nicht klug.
Andrea führte seinen Plan weiter aus.
Das Erdgeschoß? fragte Caderousse.
Im Erdgeschoß ein Speisesaal, zwei Salons, einBillardzimmer, die Vorderhaustreppe und eine kleine Geheimtreppe.
Die Fenster? — Die Fenster prächtig, so schön und sobreit, daß ein Mann von deiner Gestalt durch jede Scheibe schlüpfen könnte. Läden, deren man sich jedoch niebedient. Monte Christo ist ein Original und sieht gern in der Nacht den Himmel.
Und dieBedienten, wo schlafen sie?
Oh! die haben ihr eigenes Haus. Denke dir einen hübschen Schuppen rechtsbeim Eingang, auf diesem Schuppen ist eine Anzahl von Zimmern für dieBedienten. Früher war ein Hund da, der im Hofe umherlief, doch man hat ihn nach dem Hause in Auteuilbringen lassen, du weißt, wo du mich erwartet hast? — Ja.
Ich sagte ihm gestern erst: Das ist unklug von Ihnen, Herr Graf, denn, wenn Sie nach Auteuil gehen und Ihre Diener mitnehmen, sobleibt das Haus allein. — Nun! fragte er mich, und sodann? — Sodann wird man Sie an einem schönen Tagebestehlen. — Er antwortete mir: Was tut mir das, wenn man michbestiehlt?
Caderoussebemerkte darauf gegen Andrea: Vielleichtbefindet sich daselbst ein Sekretär mit einer mechanischen Vorrichtung.
Wieso? — Ja, der den Diebin einem Gitter packt und eine Melodie spielt. Man hat mir gesagt, es sei ein solcher auf der letzten Ausstellung gewesen.
Er hat ganz einfach einen Sekretär von Mahagoniholz, an dem ichbeständig den Schlüssel gesehen habe.
Und manbestiehlt ihn nicht? — Nein, die Leute in seinem Dienst sind ihm sehr ergeben.
In diesem Sekretär wird vielleicht Geld sein? — Vielleicht… man kann nicht wissen, was darin ist.
Und wo steht er? — Im ersten Stocke.
Mache mir auch einen Plan vom ersten Stocke.
Andrea nahm wieder die Feder. Im ersten, siehst du, finden sich ein Vorzimmer und ein Salon; rechts Salon, Bibliothek und Arbeitskabinett; links Salon, ein Schlafzimmer und ein Ankleidezimmer. In diesem Ankleidezimmer ist der Sekretär.
Hat das Ankleidezimmer ein Fenster?
Zwei, da und da. Und Andrea zeichnete zwei Fenster an das Zimmer, das auf dem Plane die Eckebildete und sich als minder groß darstellte als das Schlafzimmer.
Fährt er oft nach Auteuil? fragte Caderousse.
Zwei- oder dreimal in der Woche; morgen z. B. soll er dort den Tag und die Nacht zubringen.
Weißt du das gewiß? — Er hat mich dahin zum Mittagessen eingeladen.
Das lasse ich mir gefallen, das ist ein Leben! rief Caderousse; ein Haus in der Stadt, ein Haus auf dem Lande. Und du wirstbei ihm speisen? — Wahrscheinlich.
Wenn du dort speisest, so schläfst du auch dort? — Wenn es mir Vergnügen macht. Ichbinbei dem Grafen wie zu Hause.
Caderousse schaute den jungen Mann an, als wollte er die Wahrheit aus der Tiefe seines Herzens reißen. Aber Andrea zog eine Zigarrenbüchse aus der Tasche, nahm eine Havanna daraus, zündete sie ruhig an undbegann ganz unbefangen zu rauchen.
Wann willst du deine fünfhundert Franken? fragte er Caderousse. — Sobald als möglich.
Wohl, es sei, wenn ich morgen nach Auteuil fahre, lasse ich dir das Geld zurück. Aber nicht wahr, dann ist's genug, du quälst mich nicht mehr? — Nie.
Caderousse wurde so düster, daß Andreabefürchtete, er werde gezwungen sein, diese Veränderung wahrzunehmen. Er verdoppelte daher seine Heiterkeit und Sorglosigkeit.
Wie munter dubist, sagte Caderousse, man möchte fast glauben, du hättestbereits deine Erbschaft in den Händen!
Nein, leider nicht!.. aber an dem Tage, wo ich sie habe… Nun, ich sage dir nur, man wird sich seiner Freunde erinnern.
Ja, da du ein so gutes Gedächtnis hast.
Was denkst du? Ich glaubte, du wolltest etwas von mir erpressen oder mich prellen.
Ich! welch ein Gedanke!
Also, sagte Andrea, hast du noch etwas von mir zu verlangen? Brauchst du etwa meine Weste, willst du meine Mütze? Sprich unverhohlen.
Nein, ich halte dich nicht mehr zurück. Dubist ein glücklicherBursche, antwortete Caderousse, du gehst und findest wieder deine Lakaien, deine Pferde, deinen Wagen und deineBraut. — Jawohl!
Sage doch, ich hoffe, du wirst mir ein schönes Hochzeitsgeschenk an dem Tage machen, wo du die Tochter meines Freundes Danglars heiratest? — Ich habe dirbereits gesagt, das ist eine Einbildung, die du dir in den Kopf gesetzt.
Wieviel Mitgift? Eine Million?
Andrea zuckte die Achseln.
Eine Million also, sagte Caderousse; du wirst nie so viel haben, als ich dir wünsche. — Ich danke.
Oh! es kommt von gutem Herzen, fügte Caderousse lachend hinzu. Warte, ich will dich zurückführen.
Es ist nicht nötig. — Doch.
Warum dies? — Weil an der Tür ein kleiner Kunstgriff angebracht ist; es ist eine Vorsichtsmaßregel, die ich glaubte nehmen zu müssen: Schloß Huret und Fichet, durchgesehen und verbessert von Gaspard Caderousse. Ich mache dir ein ähnliches, wenn du einmal Kapitalistbist.
Ich danke, sagte Andrea, ich werde dich acht Tage vorher davon in Kenntnis setzen lassen.
Sie trennten sich. Caderoussebliebauf dem Vorplatze stehen, bis er Andrea nicht nur die drei Stockwerke hinab, sondern auch durch den Hof hatte gehen sehen; dann kehrte er eilig zurück, schloß sorgfältig wieder seine Tür und fing an, wie ein zünftiger Architekt den Plan zu studieren, den ihm Andrea gemacht hatte.
Der liebeBenedetto, sagte er, ich glaube, es wäre ihm nicht leid, wenn er erben könnte, und der, welcher den Tag vorrückt, wo er die halbe Million einstreichen darf, wird nicht sein schlimmster Freund sein.
Der Einbruch
Am andern Tagebegabsich der Graf von Monte Christo wirklich mit Ali und mehreren Dienern nach Auteuil. Zu dieser Abreise, an die er am Tage vorher so wenig wie Andrea gedacht hatte, bestimmte ihn hauptsächlich die AnkunftBertuccios, der, aus der Normandie zurückgekehrt, Nachrichten vom Hause und von der Korvette überbrachte.
Das Haus warbereit, und die Korvette, die seit acht Tagen in einer kleinenBucht mit ihrer Ausrüstung von sechs Mann vor Anker lag, konnte, nachdem alle Förmlichkeiten erfüllt waren, auf den ersten Wink ihres Gebieters wieder in See gehen. Der Graf lobteBertuccios Eifer und forderte ihn auf, sich zu schneller Abreise fertig zu halten, da sich sein Aufenthalt in Frankreich nicht mehr über einen Monat ausdehnen würde. Ich muß nun vielleicht in einer Nacht von Paris nach Treport reisen, sagte er zu ihm, und will an acht Stellen frische Pferde auf der Straße eingestellt haben, mit denen ich fünfzig Meilen in zehn Stunden zurücklegen kann.
Eure Exzellenz hat schon früher diesen Wunsch kundgegeben, antworteteBertuccio, und die Pferde stehenbereit, ich habe sie selbst angekauft und an den passendsten Orten, nämlich in Dörfern, wo gewöhnlich niemand anhält, untergebracht.
Es ist gut, sagte Monte Christo, ichbleibe einen oder zwei Tage hier, richten Sie sich demgemäß ein!
AlsBertuccio imBegriff war hinauszugehen, um alleBefehle für diesen Aufenthalt zu erteilen, öffneteBaptistin die Tür undbrachte einenBrief.
Was tun Sie hier? fragte der Graf, als er ihn ganz mit Staubbedeckt erblickte, ich habe Sie nicht verlangt, scheint mir?
Ohne zu antworten, näherte sichBaptistin dem Grafen, bot ihm denBrief und sagte: Wichtig und dringend.
Der Graf öffnete denBrief und las:
Herr von Monte Christo wirdbenachrichtigt, daß in dieser Nacht ein Mensch in sein Haus in Paris dringen wird, um Papiere zu stehlen, die er im Sekretär des Ankleidezimmers eingeschlossen glaubt. Man weiß, daß der Graf von Monte Christo mutig genug ist, um nicht seine Zuflucht zur Polizei zu nehmen, deren Einschreiten den, welcher ihm diesen Rat gibt, sehr gefährden müßte. Der Herr Graf kann entweder durch eine vom Schlafzimmer ins Kabinett führende Öffnung oder, indem er sich im Kabinett verbirgt, sich selbst Gerechtigkeit verschaffen. Viele Leute und offenbare Vorsichtsmaßregeln würden sicherlich denBösewicht abschrecken und den Herrn Grafen der Gelegenheitberauben, einen Feind kennen zu lernen, den durch einen Zufall die Person entdeckte, die dem Grafen diesen Rat gibt, die aber wahrscheinlich nicht in der Lage wäre, den Rat zu wiederholen, wenn dieses Unternehmen scheitern und derBösewicht ein anderes versuchen würde.
Der Graf glaubte zuerst, es sei eine Diebslist, eine plumpe Falle, die eine Gefahr hinmalte, um eine andere, größere, zu verdecken. Er wollte denBrief trotz der Empfehlung des ungenannten» Freundes «oder vielleicht gerade deswegen einem Polizeikommissar übergeben lassen, als ihm plötzlich der Gedanke kam, es könnte wirklich ein Feind von ihm sein, den er allein zu erkennen vermöge, und von dem er vorkommendenfalls Nutzen ziehen könnte.
Sie wollen mir nicht meine Papiere stehlen, sie wollen mich töten, sagte Monte Christo; es sind keine Diebe, es sind Mörder. Der Polizeipräfekt soll sich nicht in meine Privatangelegenheiten mischen. Ichbin meiner Treu reich genug, um hierbei seiner Verwaltung jede Ausgabe zu ersparen. Der Graf riefBaptistin zurück. Siebegeben sich sogleich nach Paris undbringen alle Diener hierher, sagte er zu ihm. Ichbrauche alle meine Leute in Auteuil.
Soll nicht irgend jemand zu Hausebleiben?
Warum, sagte der Graf; Siebringen alle Ihre Kameraden mit, vom erstenbis zum letzten; alles übrige aberbleibe im gewöhnlichen Zustande. Die Läden des Erdgeschosses werden geschlossen, das genügt.
Baptistin verbeugte sich und ging.
Der Graf ließ sagen, er werde allein speisen und wolle nur von Alibedient werden. Er aß mit seiner gewöhnlichen Ruhe und Mäßigkeit, bedeutete darauf Ali durch ein Zeichen, er solle ihm folgen, entfernte sich durch die kleine Tür, wandte sich zumBois deBoulogne, als wolle er spazieren gehen, schlug den Weg nach Paris ein, undbefand sich mit Einbruch der Nacht vor seinem dortigen Hause.
Monte Christo lehnte sich an einenBaum und übersah die doppelte Allee, betrachtete die Vorübergehenden und tauchte seinenBlick in die nächsten Straßen, um zu sehen, obnicht irgend jemand im Hinterhalt liege. Nach Verlauf von zehn Minuten hatte er sich völlig überzeugt, daß ihn niemandbelauere. Er lief sogleich mit Ali nach der kleinen Tür, trat rasch ein und erreichte auf der Gesindetreppe, zu der er den Schlüssel hatte, sein Schlafzimmer, ohne einen einzigen Vorhang zu öffnen oder zu verschieben, ohne daß der Portier im Dienerhause seine Rückkehr vermuten konnte.
In seinem Schlafzimmer hieß er Ali still stehen, dann ging er in das Kabinett, verschloß den Sekretär doppelt, nahm den Schlüssel an sich, kehrte zur Tür des Schlafzimmers zurück, riß die doppelte Schließkappe des Riegels abund ging hinein.
Währenddessen legte Ali auf einen Tisch die Waffen, die der Grafbefohlen hatte, nämlich einen kurzen Karabiner und ein Paar Doppelpistolen, deren übereinanderliegende Läufe auf das sicherste zu zielen gestatteten. Sobewaffnet, hielt der Graf das Leben von fünf Personen in seinen Händen.
Es war halbzehn Uhr. Der Graf und Ali aßen eilig ein StückBrot und tranken ein Glas spanischen Wein; dann schobMonte Christo einbewegliches Stück Wandbeiseite, eine Vorrichtung, wie er sie in verschiedenen Zimmern hatte anbringen lassen, so daß er das ganze Nebenzimmer übersehen konnte. Pistolen und Karabiner lagen imBereich seiner Hand, und Ali stand neben ihm, mit einer kleinen arabischen Axtbewaffnet.
Durch ein Fenster des Schlafzimmers, das parallel mit dem des Kabinetts lag, konnte der Graf auf die Straße sehen. So vergingen zwei Stunden. Es herrschte die tiefste Finsternis, und dennoch unterschied Ali vermöge seiner natürlichen Anlage und der Graf, vermöge der auf If erfolgten Anpassung das schwächste Zittern derBäume im Hofe. Das Licht in der Portierloge war schon seit lange erloschen.
Es war anzunehmen, daß der Angriff, wenn überhaupt, durch die Treppe des Erdgeschosses und nicht durch ein Fenster erfolgen würde. Nach der Ansicht des Grafen wollten die Mörder sein Leben und nicht sein Geld. Daher wollten sie wahrscheinlich in sein Schlafzimmer dringen und dahin entweder auf der Geheimtreppe oder durch das Fenster des Kabinetts gelangen.
Er stellte Ali an die Tür der Treppe und überwachte fortwährend das Kabinett. Es schlug drei Viertel auf zwölf Uhr im Invalidenhause; der Westwindbrachte auf seinen feuchten Schwingen den düstern Ton der drei Schläge. Als der letzte Schlag erstarb, glaubte der Graf ein leichtes Geräusch auf der Seite des Kabinetts zu hören. Auf dieses erste Geräusch folgte ein zweites, dann ein drittes; bei dem vierten wußte er, woran er war. Eine feste und geübte Hand warbeschäftigt, die vier Seiten einer Scheibe mit einem Diamanten zu durchschneiden.
Der Graf fühlte, wie sein Herz rascher schlug; er machte jedoch nur ein Zeichen, um Ali in Kenntnis zu setzen. Dieser trat einen Schritt näher zu seinem Herrn.
Monte Christo warbegierig, zu erfahren, mit welchen und mit wieviel Feinden er es zu tun habe. Das Fenster, an dem gearbeitet wurde, lag der Öffnung gegenüber, durch die der Graf das Kabinett überblickte. Seine Augen richteten sich nach diesem Fenster; er sah einen dichteren Schatten von der Finsternis sich abheben, dann wurde eine Scheibe völlig undurchsichtig, als obman von außen einBlatt Papier daran klebte, und endlich krachte die Scheibe, ohne zu fallen. Durch die im Fensterbewerkstelligte Öffnung streckte sich ein Arm herein, der den inneren Riegel suchte. Eine Sekunde nachher drehte sich das Fenster auf seinen Angeln, und ein Mensch kam herein. Dieser Mensch war allein.
Das ist ein keckerBursche, murmelte der Graf.
In diesem Augenblicke fühlte er, daß ihn Ali leicht an der Schulterberührte; er wandte sich um. Ali deutete auf das nach der Straße gehende Fenster des Zimmers. Monte Christo machte drei Schritte nach dem Fenster hin, denn er kannte die ausgezeichnete Feinheit der Sinne seines treuen Dieners. Er sah wirklich einen anderen Menschen, der auf einen Randstein gestiegen war und, wie es schien, zu sehen suchte, wasbei dem Grafen vorging.
Gut! sagte er, es sind zwei, der eine handelt, der andere steht auf der Lauer.
Er hieß Ali den Mann auf der Straße nicht aus dem Gesichte verlieren und wandte sich zum Kabinett zurück.
Der Einbrecher war eingetreten und schaute sich um, die Arme vor sich ausstreckend. Endlich schien er sich orientiert zu haben; es waren zwei Türen im Kabinett, und er schickte sich an, diebeiden Riegel vorzustoßen.
Als er sich der Schlafzimmertür näherte, glaubte Monte Christo, er wolle hereinkommen, und hielt eine Pistolebereit; doch er hörte nur das Geräusch des zugeschobenen Riegels. Es war nur eine Vorsichtsmaßregel: der nächtliche Gast, der nicht wußte, daß der Graf die Schließkappe weggenommen hatte, hielt sich nun für sicher und meinte, völlig unbesorgt vorgehen zu können.
Jetzt zog der Mann aus seiner weiten Tasche etwas, das der Graf nicht erkennen konnte, legte dieses Etwas auf ein Tischchen, ging gerade auf den Sekretär zu undbemerkte, daß der Schlüssel wider sein Erwarten fehlte.
Doch der Einbrecher war ein vorsichtiger Mann, der an alles gedacht hatte. Der Graf hörtebald, wie Eisen an Eisen klirrte, wie vom Schütteln einesBundes formloser Schlüssel, wie sie die Schlosserbenutzen und diebei den Dieben Nachtigallen heißen.
Ah! ah! murmelte Monte Christo mit einem Lächeln der Enttäuschung, es ist nur ein Dieb.
Aber der Mann konnte in der Dunkelheit das passende Werkzeug nicht herausfinden. Er nahm daher seine Zuflucht zu dem Gegenstand, den er auf das Tischchen gelegt hatte, ließ eine Feder spielen, und alsbald warf einbleiches Licht seinen fahlen Widerschein auf die Hände und das Gesicht des Mannes.
Halt! flüsterte Monte Christo, mit einerBewegung des Erstaunens zurückweichend, es ist…
Ali hobseine Axt.
Rühre dich nicht, sagte Monte Christo leise zu ihm, laß deine Axt liegen, wirbrauchen hier keine Waffen mehr. Dann fügte er, seine Stimme noch mehr dämpfend, einige Worte hinzu; denn der Ausruf, den das Erstaunen dem Grafen entrissen hatte, war, obwohl schwach, doch hinreichend gewesen, den Mannbeben zu lassen.
Der Graf hatte Ali einenBefehl gegeben, dieser entfernte sich sogleich und machte von der Wand des Alkovens einen schwarzen Rock und einen dreieckigen Hut los. Währenddessen warf Monte Christo rasch seinen Rock, seine Weste und sein Hemd von sich, und der durch den Spalt der Füllung dringende Lichtstrahl traf ein geschmeidiges Stahlhemd, wie es in Frankreich, wo man jetzt keine Dolche mehr zu fürchten hat, vielleicht zuletzt Ludwig XVI. trug, der seineBrust vor dem Messer schützen wollte und dann mit demBeile in den Hals getroffen wurde.
Diese Tunika verschwandbald unter einer langen Soutane, wie die Haare des Grafen unter einer Perrücke mit Tonsur; der auf die Perrücke gesetzte dreieckige Hut verwandelte den Grafen vollends in einen Abbé.
Der Mann hatte sich indessen, als er nichts mehr hörte, erhoben und ging wieder auf den Sekretär zu, dessen Schloß unter seiner Nachtigall zu krachen anfing.
Gut! murmelte der Graf, der sich ohne Zweifel auf irgend ein Geheimnis der Schlosserei verließ, das dem Diebe, so geschickt er auch sein mochte, nichtbekannt war, gut! du wirst ein paar Minuten zu tun haben; worauf er ans Fenster trat.
Der Mensch, den er hatte auf einen Randstein steigen sehen, war wieder herabgestiegen und ging in der Straße auf und ab. Als ihn Monte Christo noch einmal ins Auge faßte, schlug er sich plötzlich vor die Stirn und ließ über seine halbgeöffneten Lippen ein leichtes Lächeln hinschweben. Dann näherte er sich Ali und sagte leise zu ihm: Bleibe hier in der Dunkelheit verborgen, und welchen Lärm du auch hörst, was auch vorgehen mag, tritt nicht eher ein, alsbis ich dich rufe.
Ali machte mit dem Kopfe ein Zeichen, daß er verstanden habe und gehorchen werde. Hierauf nahm Monte Christo aus einem Schranke eine Kerze, zündete sie an, und in dem Augenblick, wo der Diebgänzlich von dem Schloß in Anspruch genommen war, öffnete er sacht die Tür, wobei er Sorge trug, daß das Licht, das er in der Hand hielt, vollständig auf sein Gesicht fiel.
Die Tür drehte sich so sacht, daß der Diebdas Geräusch nicht hörte, aber zu seinem großen Erstaunen sah er plötzlich, daß sich das Zimmer erleuchtete, und wandte sich um.
Ei! guten Abend, mein lieber Herr Caderousse, sagte Monte Christo, was zum Teufel tun Sie denn zu dieser Stunde hier?
Der AbbéBusoni! rief Caderousse.
Und da er nicht wußte, wie diese seltsame Erscheinungbis zu ihm gekommen war, da er doch die Tür geschlossen hatte, ließ er seinenBund falscher Schlüssel fallen undbliebbestürzt und unbeweglich auf der Stelle. Der Graf stellte sich zwischen Caderousse und das Fenster und schnitt ihm so sein einziges Rückzugsmittel ab.
Der AbbéBusoni! wiederholte Caderousse, den Grafen mit stieren Augen anschauend.
Allerdings der AbbéBusoni; er selbst, in Person, und es freut mich, daß Sie mich wiedererkennen, mein lieber Herr Caderousse; dasbeweist, daß wir ein gutes Gedächtnis haben, denn wenn ich mich nicht täusche, sind esbald zehn Jahre, daß wir uns nicht gesehen.
Diese Ruhe und Ironie erfüllten Caderousse mit einem schwindelartigen Schrecken.
Der Abbé! der Abbé! murmelte er, während seine Zähne klapperten und seine Hände sich krampfhaft zusammenzogen.
Wir wollen also den Herrn Grafen von Monte Christobestehlen? fuhr der vermeintliche Abbé fort.
Mein Herr Abbé, murmelte Caderousse, der das Fenster zu erreichen suchte, das ihm Monte Christo unbarmherzig abschnitt, mein Herr Abbé, ich weiß nicht… ichbitte Sie zu glauben… ich schwöre Ihnen…
Ein Fenster durchschnitten, fuhr der Graf fort, eineBlendlaterne, einBund Nachtigallen, ein halbgesprengter Sekretär, das ist doch klar?
Caderousse ersticktebeinahe in seiner Halsbinde, er suchte eine Ecke, in der er sich verbergen, ein Loch, durch das er verschwinden könnte.
Ah! ich sehe, Sie sind immer noch derselbe, mein Herr Mörder, sagte der Graf.
Herr Abbé, da Sie alles wissen, so wissen Sie auch, daß nicht ich es war, sondern die Carconte; die Richter haben das auch erkannt und mich nur zu den Galeeren verurteilt.
Sie haben also Ihre Zeitbeendigt, da ich Sie hier gerade damitbeschäftigt finde, sich wieder auf die Galeeren zubringen?
Nein, Herr Abbé, es hat mich jemandbefreit.
Dieser Jemand hat der Gesellschaft einen vortrefflichen Dienst geleistet!
Ah! ich hatte jedoch versprochen…
Sie sind also ausgebrochen?
Ach! ja! erwiderte Caderousse in größter Unruhe.
Schlimmer Rückfall… das wird Sie, wenn ich mich nicht täusche, auf den Richtplatzbringen. Schlimm, schlimm, Diavolo! wie die Weltlichen meines Landes sagen.
Herr Abbé, ich gebe einem Zuge nach…
Dasbehaupten alle Verbrecher.
Die Not…
Schweigen Sie doch, sagte verächtlichBusoni, die Not kann dahin führen, daß man ein Almosen fordert, daß man einBrot an der Tür desBäckers stiehlt, aber nicht daß man einen Sekretär in einem Hause sprengt, das man unbewohnt glaubt. War es auch die Not, als Sie den Juwelier Joannès, der Ihnen 45 000 Franken für den Diamanten, den Sie von mir erhalten, auszahlte, ermordeten, um den Diamanten und das Geld zu haben?
Verzeihung, Herr Abbé, Sie haben mich schon einmal gerettet, wenn Sie noch einmal…
Das ermutigt mich nicht.
Sind Sie allein, Herr Abbé, fragte Caderousse, die Hände faltend, oder haben Siebereits Gendarmen in Ihrer Nähe, um mich festzunehmen?
Ichbin ganz allein, antwortete der Abbé, und werde noch einmal Mitleid mit Ihnen haben und Sie gehen lassen welches Unglück auch meine Schwäche nach sich ziehen sollte, wenn Sie mir die volle Wahrheit sagen.
Ah! Herr Abbé, rief Caderousse, sich Monte Christo einen Schritt nähernd, ich kann wohl sagen, daß Sie mein Retter sind.
Siebehaupten, man habe Sie aus demBagnobefreit?
Oh! so wahr ich Caderousse heiße, Herr Abbé.
Wer hat es getan?
Ein Engländer, namens Lord Wilmore.
Ich kenne ihn und werde also erfahren, obSie lügen.
Herr Abbé, ich spreche die reine Wahrheit.
Dieser Engländerbeschützte Sie?
Nicht mich, sondern einen jungen Korsen, der mein Kettengefährte war.
Wie hieß dieser junge Korse? — Benedetto.
Das ist ein Taufname.
Er hatte keinen andern, denn er war ein Findelkind.
Also ist dieser junge Mann mit Ihnen entwichen?
Ja. Wir arbeiteten in Saint‑Mandrierbei Toulon. Während des Mittagsschlafes unserer Wärter gingen wir in einen Winkel, durchsägten unsere Ketten mit einer Feile, die uns der Engländer hatte zukommen lassen, und flüchteten uns schwimmend.
Was ist ausBenedetto geworden?
Ich weiß es nicht. Wir trennten uns in Hyères.
Und um seinerBeteuerung mehr Gewicht zu verleihen, machte Caderousse abermals einen Schritt auf den Abbé zu, der unbeweglich und ruhig stehenblieb.
Sie lügen, sagte der Abbé mit einem unbeschreiblich gebieterischen Ausdruck. Sie lügen! Dieser Mensch ist noch Ihr Freund, und Siebedienen sich seiner vielleicht als Genossen!
Oh, Herr Abbé!..
Wie haben Sie gelebt, seitdem Sie Toulon verlassen? Antworten Sie. — Wie ich konnte.
Sie lügen! wiederholte der Graf zum dritten Male noch gebieterischer, so daß ihn Caderousse erschrocken anschaute.
Sie haben von dem Gelde gelebt, das er Ihnen gegeben.
Ja, es ist wahr, sagte Caderousse, Benedetto ist der Sohn eines vornehmen Herrn.
Wie kann er der Sohn eines vornehmen Herrn sein?
Der natürliche Sohn.
Wie heißt dieser vornehme Herr?
Graf von Monte Christo, der hier wohnt.
Benedetto, der Sohn des Grafen? versetzte Monte Christo ebenfalls erstaunt.
Verdammt! ich muß es wohl glauben, da der Graf selbst einen falschen Vater für ihn gefunden hat, da ihm der Graf viertausend Franken monatlich gibt, da ihm der Graf eine halbe Million vermacht.
Ah! ah! rief der falsche Abbé, der zubegreifen anfing; und wie nennt sich dieser junge Mensch?
Andrea Cavalcanti.
Also ist es der junge Mann, den mein Freund, der Graf von Monte Christo, bei sich empfängt, und der Fräulein Danglars heiraten wird? — Ganz richtig.
Und Sie dulden dies, Elender! Sie, der Sie sein Leben und seineBrandmarkung kennen?
Warum soll ich meinen Kameraden verhindern, glücklich zu werden?
Es ist richtig, es kommt nicht Ihnen zu, Herrn Danglars zu warnen, das ist meine Sache.
Tun Sie das nicht, Herr Abbé!..
Warum nicht?
Wir würden dadurch unserBrot verlieren!
Und Sie glauben, um Elenden, wie ihr seid, dasBrot zu erhalten, werde ich mich zumBegünstiger ihrer ruchlosen Streiche, zum Mitschuldigen ihrer Verbrechen machen?
Herr Abbé… sagte Caderousse, sich abermals nähernd.
Ich werde Herrn Danglars alles sagen.
Donner und Teufel! rief Caderousse, einblankes Messer aus seiner Weste ziehend und den Grafen mitten auf dieBrust stoßend, du wirst nichts sagen, Abbé!
Zu Caderousses großem Erstaunen sprang der Dolch, statt in dieBrust des Grafen zu dringen, stumpf ab. Zu gleicher Zeit packte der Graf mit der linken Hand das Faustgelenk des Mörders und drehte es mit einer solchen Kraft, daß das Messer aus den erstarrten Fingern fiel und Caderousse einen Schmerzensschrei ausstieß. Aber der Graf drehte trotzdem weiter das Handgelenk desBanditen, bis dieser mit ausgerenktem Arme zuerst auf die Knie und dann mit dem Gesicht auf die Erde fiel.
Der Graf stützte seinen Fuß auf Caderousses Kopf und sagte: Ich weiß nicht, was mich zurückhält, dir den Schädel einzutreten, Bösewicht!
Ah! Gnade! Gnade!
Der Graf zog seinen Fuß zurück und rief: Stehe auf!
Caderousse stand auf und sagte, seinen gequetschten Arm streichend: Mein Gott! welche Faust haben Sie, Herr Abbé!
Still! Gott verleiht mir die Kraft, ein wildes Tier, wie dubist, zubändigen; ich handle im Namen Gottes, dessen erinnere dich wohl, Elender, und dich in diesem Augenblick verschonen, heißt abermals den Absichten Gottes dienen. Nimm diese Feder und dieses Papier und schreibe, was ich dir diktieren werde!
Ich kann nicht schreiben, Herr Abbé.
Du lügst; nimm die Feder und schreibe!
Von dem stärkeren Willenbezwungen, setzte sich Caderousse und schrieb: Mein Herr, der Mensch, den Siebei sich empfangen und dem Sie Ihre Tochterbestimmen, ist ein ehemaliger, mit mir aus demBagno von Toulon entwichener Galeerensklave; er hatte die Nummer 59 und ich die Nummer 58. Er hießBenedetto; aber er weiß seinen wahren Namen nicht, da er nie seine Eltern gekannt hat.
Unterzeichne! fuhr der Graf fort.
Sie wollen mich also ins Verderben stürzen?
Wenn ich dies wollte, so würde ich dich in die nächste Wachtstube schleppen; überdies wirst du zu der Stunde, wo dasBillett an seine Adresse abgegeben wird, wahrscheinlich nichts mehr zubefürchten haben. Unterzeichne also!
Caderousse unterzeichnete, und nachdem er noch die Adresse desBarons Danglars daraufgeschrieben hatte, nahm der Abbé dasBillett und sagte: Nun gehe!
Wo hinaus? — Wo du hereingekommenbist.
Sie führen etwas gegen mich im Schilde, Herr Abbé?
Dummkopf, was soll ich denn gegen dich im Schilde führen?
Herr Abbé, sagen Sie mir, daß Sie meinen Tod nicht wollen. — Ich will, was Gott will.
Aber schwören Sie mir, daß Sie mich nicht schlagen werden, während ich hinabsteige.
Feiger Schwachkopf.
Was wollen Sie aus mir machen?
Das frage ich dich. Ich versuchte, einen glücklichen Menschen aus dir zu machen, und du wurdest ein Mörder.
Herr Abbé, wagen Sie noch einen letzten Versuch.
Es sei, sagte der Graf. Höre, du weißt, daß ich ein Mann von Wortbin? — Ja.
Wenn du unversehrt nach Hause kommst, so verlasse Paris, verlasse Frankreich, und ich werde dir überall, wo du auch sein magst, solange du dich ehrlich aufführst, eine kleine Pension zusenden; denn wenn du unversehrt nach Hause kommst, nun wohl…
Nun? fragte Caderoussebebend.
Nun wohl! so glaube ich, daß dir Gott verziehen hat, und werde dir auch verzeihen.
So wahr ich ein Christbin, stammelte Caderousse zurückweichend, ich sterbe vor Angst.
Vorwärts! sagte der Graf, mit dem Finger das Fensterbezeichnend.
Wenigberuhigt durch das Versprechen des Grafen, schwang sich Caderousse auf das Fenster und setzte den Fuß auf die Leiter. Hier hielt er zitternd an.
Nun, steige hinab, sprach der Abbé, die Arme kreuzend.
Caderousse fing an zubegreifen, daß von dieser Seite nichts zubefürchten war, und stieg hinab.
Monte Christo kehrte in sein Schlafzimmer zurück und sah mit einem raschenBlick auf die Straße zuerst Caderousse, der, nachdem er hinabgestiegen war, einen Umweg im Garten machte und seine Leiter an das äußerste Ende der Mauer stellte, um an einem anderen Platze hinauszusteigen, als wo er hereingekommen war.
Dann sah er den Menschen, der zu warten schien, parallel in der Straße fortlaufen und sich hinter dieselbe Ecke stellen, wo Caderousse herabsteigen wollte. Caderousse stieg langsam auf die Leiter und streckte, als er die obersten Stufen erreicht hatte, den Kopf über die Mauerkappe, um sich zu überzeugen, obdie Straße leer sei.
Man sah niemand, man hörte niemand. Auf dem Invalidenhause schlug es ein Uhr.
Da setzte sich Caderousse rittlings auf die Mauerkappe, zog die Leiter an sich, hobsie über die Mauer und fing an hinabzusteigen oder ließ sich vielmehr an den Holmen hinabgleiten, mit einer Geschicklichkeit, die von großer Übung zeugte.
Aber während er so herabrutschte, konnte er nicht mehr anhalten, obwohl er einen Menschen aus dem Schatten hervorstürzen sah, und obwohl ein Arm sich in dem Augenblicke erhob, wo er die Erdeberührte. Dieser Arm stieß ihn so wütend in den Rücken, daß er die Leiter losließ und um Hilfe rief. Ein zweiter Stoß drang in derselben Sekunde in seine Seite, und er stürzte mir dem Ausruf: Mörder! nieder. Als er sich endlich auf der Erde wälzte, faßte ihn sein Gegner undbrachte ihm einen dritten Stoß in dieBrustbei. Caderousse wollte abermals schreien; doch er konnte nur einen Seufzer ausstoßen und ließbebend dasBlut seinen drei Wunden entströmen.
Als der Mörder sah, daß er nicht mehr schrie, hober seinen Kopfbei den Haaren in die Höhe; Caderousse hatte die Augen geschlossen und den Mund verdreht. Der Mörder glaubte, er sei tot, ließ den Kopf zurückfallen und verschwand.
Sobald Caderousse jedoch merkte, daß der andere sich entfernte, richtete er sich auf seinen Ellenbogen auf und rief mit äußerster Anstrengung: Mörder! ich sterbe! zu Hilfe!
Der klägliche Ruf durchdrang die Schatten der Nacht. Es öffnete sich eine Tür der Geheimtreppe, dann die kleine Gartentür, und Ali und sein Herr liefen mit Lichtern herbei.
Die Hand Gottes
Was gibt es? fragte Monte Christo.
Zu Hilfe! wiederholte Caderousse; man hat mich ermordet.
Hier sind wir, Mut gefaßt!
Ah! es ist vorbei. Sie kommen zu spät! Oh die Stöße! Oh dasBlut! Und er fiel in Ohnmacht.
Ali und sein Herr nahmen den Verwundeten und trugen ihn in ein Zimmer. Hier ließ ihn der Graf von Ali auskleiden undbemerkte die drei furchtbaren Wunden, die man ihmbeigebracht hatte.
Mein Gott! sagte er, deine Rache läßt zuweilen auf sich warten, aber ich glaube, sie trifft dann nur um so vollständiger.
Ali schaute seinen Herrn an, als wollte er ihn fragen, was zu tun sei. Suche den Herrn Staatsanwalt von Villefort auf, der im Faubourg Saint‑Germain wohnt, und führe ihn hierher! Im Vorbeigehenbringst du einen Arzt mit!
Ali gehorchte und ließ seinen Herrn mit dem immer noch ohnmächtigen Caderousse allein.
Als der Unglückliche die Augen wieder öffnete, schaute ihn der Graf, der ein paar Schritte von ihm entfernt saß, mit einem düstern Ausdrucke des Mitleids an, und seine Lippen schienen ein Gebet zu murmeln.
Einen Wundarzt, Herr Abbé, einen Wundarzt! — Man istbereits weggegangen, einen zu holen.
Ich weiß wohl, daß es mit dem Leben vorbei ist; aber er kann mir vielleicht so viel Kraft geben, daß ich meine Aussage machen kann.
Sie kennen den Mörder also?
Obich ihn kenne! Ja, es istBenedetto.
Der junge Korse? Ihr Gefährte?
Ja. Nachdem er mir den Plan von dem Hause des Grafen gegeben… ohne Zweifel in der Hoffnung, ich würde ihn töten, und er würde somit sein Erbe, — oder der Graf würde mich töten, und er wäre dadurch von mirbefreit, wartete er auf mich auf der Straße und ermordete mich.
Ich habe auch den Staatsanwalt holen lassen.
Er wird zu spät kommen, sagte Caderousse, ich fühle, wie all meinBlut entströmt.
Warten Sie, sagte Monte Christo, ging aus dem Zimmer und kehrte nach fünf Minuten mit einem Fläschchen zurück, aus dem er auf dieblauen Lippen des Verwundeten dreibis vier Tropfen einer Flüssigkeit goß.
Caderousse stieß einen Seufzer aus.
Oh! stammelte er, Sie gießen mir das Leben ein, wenn doch jemand käme, bei dem ich den Elenden anzeigen könnte.
Soll ich Ihre Aussage aufschreiben? Sie unterzeichnen sie sodann.
Ja… ja… sagte Caderousse, dessen Augenbei der Hoffnung auf Rache funkelten.
Monte Christo schrieb: Ich sterbe, ermordet durch den KorsenBenedetto, meinen Kettengenossen in Toulon unter der Nummer 59.
Eilen Sie! Eilen Sie! sagte Caderousse, ich kann sonst nicht mehr unterzeichnen.
Monte Christo reichte Caderousse die Feder, dieser raffte seine Kräfte zusammen, unterzeichnete, fiel wieder auf sein Lager zurück und sagte: Sie werden das übrige erzählen, Herr Abbé; Sie sagen, er lasse sich Andrea Cavalcanti nennen, er wohne im Hotel des Princes, er… ah! mein Gott, ich sterbe!
Caderousse wurde zum zweitenmale ohnmächtig.
Der Abbé ließ ihn den Geruch des Fläschchens einatmen, der Verwundete öffnete die Augen wieder. Seine Rachgier hatte ihn während seiner Ohnmacht nicht verlassen.
Ah! Sie werden alles sagen, nicht wahr, Herr Abbé?
Alles werde ich sagen, er habe Ihnen ohne Zweifel den Plan dieses Hauses in der Hoffnung gegeben, der Graf würde Sie töten. Ich werde sagen, er habe den Grafen durch einBillettbenachrichtigt; ich werde sagen, in Abwesenheit des Grafen habe ich diesesBillett empfangen und gewacht, um Sie zu erwarten.
Und man wird ihn hinrichten, nicht wahr? versetzte Caderousse, Sie versprechen es mir? Ich sterbe mit dieser Hoffnung, sie wird mir den Tod erleichtern.
Ich werde sagen, er sei hinter Ihnen gekommen, er habe die ganze Zeit gelauert und sei, als er Sie habe weggehen sehen, an die Ecke gelaufen, wo er sich verborgen.
Sie haben also dies alles gesehen?
Erinnern Sie sich meiner Worte: Wenn du unversehrt nach Hause kommst, glaube ich, daß Gott dir verziehen hat, und verzeihe dir ebenfalls.
Und Sie haben mich nicht gewarnt? rief Caderousse, indem er versuchte, sich auf seinen Ellenbogen zu erheben; Sie wußten, daß ichbeim Weggehen ermordet werden würde, und haben mich nicht gewarnt?
Nein, denn in der HandBenedettos sah ich die Gerechtigkeit Gottes, und ich hätte einen fluchwürdigen Frevel zubegehen geglaubt, würde ich mich den Absichten der Vorsehung widersetzt haben.
Die Gerechtigkeit Gottes! Sprechen Sie mir nicht davon, Herr Abbé, wenn es eine Gerechtigkeit Gottes gäbe, so müßten, wie Siebesser wissen, als irgend jemand, gewisse Personen gestraft sein, die es nicht sind.
Geduld, sagte der Abbé mit einem Tone, der den Sterbendenbeben ließ, Geduld!
Caderousse schaute ihn erstaunt an.
Und dann, sagte der Abbé, ist Gott vollBarmherzigkeit gegen alle, wie er es auch gegen dich gewesen ist; er ist Vater, ehe er Richter ist.
Ah! Sie glauben also an Gott?
Wenn ich das Unglück gehabt hätte, bis jetzt nicht an ihn zu glauben, so würde ich esbei deinem Anblick tun.
Caderousse hobdie geballten Fäuste zum Himmel empor.
Höre, sagte der Abbé, die Hand über den Verwundeten ausstreckend, höre, was dieser Gott, den du in deinem letzten Augenblicke verleugnen willst, für dich getan hat. Er hat dir deine Gesundheit, deine Kraft, eine sichere Arbeit, sogar Freunde, kurz ein Leben gegeben, wie es den Menschen erscheinen muß, um süß zu sein. Statt diese Gaben des Herrn zubenutzen, hast du dich der Trägheit, der Trunkenheit hingegeben, und in der Trunkenheit einen deinerbesten Freunde verraten.
Zu Hilfe! rief Caderousse, ichbrauche keinen Priester, sondern einen Arzt; vielleichtbin ich noch nicht auf den Tod verwundet, vielleicht werde ich noch nicht sterben, vielleicht kann man mich noch retten.
Dubist so sicher auf den Tod verwundet, daß du ohne die drei Tropfen, die ich dir soeben gegeben, bereits verschieden wärest. Höre also!
Ah! murmelte Caderousse, was für ein seltsamer Priester sind Sie, der Sie die Sterbenden in Verzweiflungbringen, statt sie zu trösten.
Höre, fuhr der Abbé fort, als du deinen Freund verraten hattest, fing Gott an, nicht dich zu schlagen, sondern zu warnen. Du versankst in Armut und littest Hunger; du hattest die Hälfte deines Lebens statt mit Arbeit mit Neid hingebracht und dachtestbereits an Verbrechen, als Gott ein Wunder für dich tat und dir durch meine Hände mitten in deinem Elend ein für dich glänzendes Vermögen schickte. Doch dieses unverhoffte Vermögen genügte dir nicht mehr, sobald du esbesaßest; du wolltest es verdoppeln, durch welches Mittel? Durch einen Mord. Da faßte dich Gott und führte dich vor die menschliche Gerechtigkeit.
Nicht ich wollte den Juden töten, sondern die Carconte.
Ja, auch gestattete der stetsbarmherzige Gott, daß deine Richter von deinen Worten gerührt wurden und dir das Leben ließen.
Ja, vortrefflich, um mich für mein ganzes Dasein in dasBagno zu schicken: eine schöne Gnade!
Diese Gnade, Elender, hast du doch als eine Gnadebetrachtet, als man sie dir gewährte; dein feiges Herz, das vor dem Tode zitterte, hüpfte vor Freudebei der Ankündigung einer ewigen Schmach, denn du sagtest dir: Es gibt eine Tür amBagno, das Grababer hat keine. Und du hattest recht, denn diese Tür öffnete sich unerwartet für dich; ein Engländerbesuchte Toulon, er hatte das Gelübde getan, zwei Menschen der Ehrlosigkeit zu entziehen, und seine Wahl fällt auf dich und deinen Gefährten. Ein zweites Glück kommt für dich vom Himmel herab, du findest zugleich Gold und Ruhe, du kannst wieder anfangen, das Leben aller redlichen Menschen zu führen. Da versuchst du Gott zum drittenmale. Ich habe nicht genug, sagst du, während du mehr hattest, als je, und dubegehst ein drittes Verbrechen, ohne Grund, ohne Entschuldigung. Gott war müde, Gottbestrafte dich.
Caderousse wurde sichtbar immer schwächer.
Zu trinken! sagte er; ich habe Durst… ichbrenne!
Monte Christo reichte ihm ein Glas Wasser.
VerfluchterBenedetto! sagte Caderousse, das Glas zurückgebend, er wird entkommen!
Niemand wird entkommen, das sage ich dir, Caderousse,…Benedetto wirdbestraft werden.
Dann werden Sie auchbestraft, erwiderte Caderousse, denn Sie haben Ihre Priesterpflicht nicht getan… Sie hättenBenedetto verhindern sollen, mich zu töten.
Ich! sagte der Graf mit einem Lächeln, das den Sterbenden vor Schrecken in Eis verwandelte, ich, Benedetto verhindern, dich zu töten, in dem Augenblick, wo du dein Messer an meinem Panzerhemde zerbrochen hattest!.. Ja, vielleicht;… würde ich dich demütig und voll Reue gefunden haben, so hätte ichBenedetto am Ende abgehalten, dich zu töten; aber ich fand dich hochmütig undblutgierig und ließ Gottes Willen sich erfüllen.
Ich glaube nicht an Gott! heulte Caderousse, du glaubst ebensowenig an ihn, du lügst!
Schweig! sagte der Abbé, Du glaubst nicht an Gott und stirbst, von Gott getroffen!.. Und Gott, der doch nur ein Gebet, eine Träne, ein Wort verlangt, um zu verzeihen… Gott, der den Dolch des Mörders so lenken konnte, daß du auf der Stelle verschieden wärest, Gott hat dir eine Viertelstunde zur Reue gegeben… Gehe also in dich, Unglücklicher, undbereue!
Nein, sagte Caderousse, ichbereue nicht, es gibt keinen Gott, keine Vorsehung, es gibt nur einen Zufall.
Es gibt eine Vorsehung, es gibt einen Gott, sagte Monte Christo, und zumBeweise dient, daß du hier liegst, in Verzweiflung, Gott leugnend, während ich, aufrecht, reich, glücklich, gesund vor dir stehe und die Hände vor diesem Gotte falte, den du leugnen willst, während du im Grunde deines Herzens doch an ihn glaubst.
Aber wer sind Sie denn? fragte Caderousse, seine sterbenden Augen auf den Grafen heftend.
Schau mich wohl an, versetzte der Graf, sich die Kerze an das Gesicht haltend.
Nun! der Abbé… der AbbéBusoni… Monte Christo nahm die entstellende Perrücke abund ließ die schönen, schwarzen Haare zurückfallen, die so harmonisch seinbleiches Gesicht umrahmten.
Oh! rief Caderousse erschrocken, wenn nicht diese schwarzen Haare wären, so würde ich sagen, Sie seien der Engländer, ich würde sagen, Sie seien Lord Wilmore.
Ichbin weder der AbbéBusoni, noch Lord Wilmore, sagte Monte Christo; schauebesser, schaue ferner, schaue in deine ersten Erinnerungen!
In diesen Worten des Grafen lag ein magnetischer Klang, von dem die erschöpften Sinne des Elenden zum letztenmale wiederbelebt wurden. Oh! in der Tat, sagte er, es kommt mir vor, als hätte ich Sie einst gesehen, als hätte ich Sie einst gekannt.
Ja, Caderousse, ja, du hast nach gekannt.
Aber wer sind Sie denn? Und warum lassen Sie mich sterben, wenn Sie mich gekannt haben?
Weil nichts dich retten kann, weil deine Wunden tödlich sind. Wenn du hättest gerettet werden können, so würde ich darin eine letzteBarmherzigkeit des Herrn gesehen haben, und hätte es versucht, das schwöre ich dirbei dem Grabe meines Vaters, dich dem Leben und der Reue zurückzugeben.
Bei dein Grabe deines Vaters! sagte Caderousse, wiederbelebt durch einen letzten Lebensfunken und sich aufrichtend, um den Mann näher anzuschauen, der ihm diesen allen Menschen heiligen Eid geleistet hatte? aber, werbist du denn?
Der Graf hatte unablässig die Fortschritte des Todeskampfes verfolgt. Erbegriff, daß dies das letzte Aufflackern war, näherte sich dem Sterbenden, betrachtete ihn mit einem ruhigen und zugleich traurigenBlicke und sagte ihm in das Ohr: Ichbin…
Und seine kaum geöffneten Lippen ließen einen Namen durchschlüpfen, der so leise gesprochen wurde, daß es schien, als hätte der Graf selbst Furcht, ihn zu hören.
Caderousse, der sich auf die Knie erhoben hatte, streckte die Arme aus, machte einen Versuch, zurückzuweichen, faltete sodann die Hände, hobsie mit einer äußersten Anstrengung zum Himmel empor und sprach: Oh! mein Gott! mein Gott! vergibmir, daß ich dich verleugnet habe; dubestehst, dubist der Vater der Menschen im Himmel und der Richter der Menschen auf Erden. Mein Gott und Herr, ich habe dich lange Zeit mißkannt! Mein Gott und Herr, vergibmir! Mein Gott und Herr, nimm mich auf!
Und die Augen schließend, fiel Caderousse mit einem letzten Schrei und einem letzten Seufzer zurück. — Er war tot.
Einer! sagte geheimnisvoll der Graf, die Augen auf den entstellten Leichnam geheftet.
Zehn Minuten nachher kamen der Arzt und der Staatsanwalt und wurden von dem AbbéBusoni, derbei dem Totenbetete, empfangen.
Beauchamp.
Vierzehn Tage lang war in Paris nur von diesem verwegenen Diebstahlsversuche die Rede; der Sterbende hatte eine Erklärung unterschrieben, dieBenedetto als Mörderbezeichnete.
Caderousses Messer, dieBlendlaterne, der Schlüsselbund und die Kleider, ohne die Weste, die man nicht finden konnte, wurden in der Gerichtskanzlei niedergelegt, während man den Leichnam nach der Morguebrachte.
Der Graf antwortete auf alle Fragen, dieBegebenheit sei vorgefallen, während er in seinem Hause in Auteuil gewesen, und er wisse nur, was ihm der AbbéBusoni gesagt, der ihn an diesem Abend ganz zufällig gebeten habe, die Nachtbei ihm zubringen zu dürfen, um in einigenBüchern seinerBibliothek Studien zu machen.
Bertuccio allein erbleichte, so oft der NameBenedetto in seiner Gegenwart ausgesprochen wurde; aber seineBlässebliebunbeachtet.
Auf den Schauplatz des Verbrechens gerufen, bemächtigte sich Villefort der Angelegenheit und führte die Untersuchung mit dem leidenschaftlichen Eifer, mit dem er in allen Kriminalfällen zu Werke ging. Doch es verliefen drei Wochen, ohne daß die tätigsten Nachforschungen irgend ein Resultat herbeiführten, und man fing an, den Diebstahlsversuch und die Ermordung des Diebes zu vergessen, um sich mit der nahebevorstehenden Verheiratung des Grafen Andrea Cavalcanti mit Fräulein Danglars zubeschäftigen. Diese Heirat war angekündigt, und der junge Mann wurde im Hause desBankiers alsBräutigam empfangen.
Man hatte an Herrn Cavalcanti Vater geschrieben, der die Heirat durchausbilligte und, während er sein ganzesBedauern darüber ausdrückte, daß ihn sein Dienst verhindere, Parma zu verlassen, sichbereit erklärte, das Kapital von hundertundfünfzigtausend Franken Rente zu geben.
Es war verabredet, daß die drei Millionenbei Danglars angelegt werden sollten. Einige Personen versuchten zwar, dem jungen Manne Zweifel über die finanziellen Verhältnisse seines zukünftigen Schwiegervaters einzuflößen, der seit einiger Zeit wiederholte Verluste an derBörse erlitten habe; aber mit einer erhabenen Uneigennützigkeit und einem edlen Vertrauen wies der junge Mann diese Einflüsterungen zurück, von denen er aus Zartgefühl demBaron kein Wort sagte.
DerBaronbetete auch den Grafen Andrea Cavaleanti an. Von Fräulein Eugenie konnte man nicht das gleiche sagen. In ihrem instinktartigen Hasse gegen die Ehe hatte sie sich Andreas als eines Mittels, Morcerf zu entfernen, bedient; nun aber, da sich Andrea ihr zu sehr näherte, fing sie an, einen sichtbaren Widerwillen gegen ihn zu empfinden. Vielleicht hatte es derBaronbemerkt. Er stellte sich aber, alsbemerkte er nichts.
Mittlerweile war dieBeauchamp gewährte Frist abgelaufen. Morcerf hatte übrigens jetzt erkannt, daß Monte Christos Rat, die Sache auf sichberuhen zu lassen, gut gewesen war; denn niemand hatte die Mitteilung auf den Generalbezogen, kein Mensch hatte daran gedacht, in dem Offizier, der das Schloß von Janina ausgeliefert, den edlen in der Pairskammer sitzenden Grafen zu erkennen.
Aber Albert fühlte sich darum nicht minderbeleidigt, denn die Absicht derBeleidigung lag offenbar vor. Überdies hatte die Art und Weise, wieBeauchampbei ihrerBesprechung verfahren war, einebittere Erinnerung in seinem Innern zurückgelassen. Beauchamp selbst hatte man seit dem Tage, an dem ihm Albert denBesuch gemacht, nicht wiedergesehen, und fragte man nach ihm, so hieß es, er sei auf kurze Zeit verreist.
Eines Morgens wurde Albert durch seinen Kammerdiener aufgeweckt, der ihmBeauchamp meldete.
Albert riebsich die Augen, befahl, Beauchamp in seinem kleinen Rauchsalon im Erdgeschoß warten zu lassen, kleidete sich rasch an und ging hinab. Beauchamp schritt im Zimmer auf und ab, bliebaber, als er Morcerf erblickte, stehen.
Der Schritt, den Sie tun, indem Sie sich freiwillig und ohne denBesuch abzuwarten, den ich Ihnen heute zugedacht hatte, bei mir einfinden, scheint mir ein gutes Vorzeichen zu sein, sagte Albert; reden Sie geschwind, darf ich Ihnen die Hand reichen und sagen: Beauchamp, gestehen Sie ein Unrecht undbewahren Sie mir einen Freund? Oder muß ich ganz einfach fragen: Welche Waffen wählen Sie?
Albert, erwiderteBeauchamp traurig, wir wollen uns setzen und miteinander reden.
Es scheint mir im Gegenteil, mein Herr, daß Sie mir zu antworten haben, ehe wir uns setzen.
Albert, erwiderte der Journalist, es gibt Umstände, wo die Schwierigkeit gerade in der Antwort liegt.
Ich werde sie Ihnen leicht machen, mein Herr, indem ich Ihnen die Frage wiederhole: Wollen Sie zurücknehmen, ja oder nein?
Morcerf, manbegnügt sich nicht, ja oder nein auf Fragen zu antworten, bei denen es sich um die Ehre, die gesellschaftliche Stellung, das Leben eines Mannes, wie des Herrn Generalleutnants Grafen von Morcerf, Pairs von Frankreich, handelt.
Was tut man denn?
Man tut, was ich getan habe, Albert; man sagt: Geld, Zeit und Anstrengung kommen nicht inBetracht, wenn Ruf und Interessen einer Familie auf dem Spiele stehen. Man sagt: Manbraucht mehr als Wahrscheinlichkeit, manbraucht Gewißheit, um ein Duell auf Leben und Tod mit einem Manne anzunehmen, dem man drei Jahre lang die Hand gereicht hat; man sagt: Kreuze ich den Degen, oder feure ich eine Pistole auf einen Freund ab, so muß ich mit dem ruhigen Herzen und dem lauteren Gewissen kommen, dessen ein Mannbedarf, wenn sein Arm ihm sein Leben retten soll.
Nun! fragte Morcerf ungeduldig, was soll dasbedeuten?
Das sollbedeuten, daß ich von Jannia komme.
Von Janina? Unmöglich!
Mein lieber Albert, hier ist mein Paß; sehen Sie die Stempel: Genf, Mailand, Venedig, Triest, Delvino, Janina.
Albert schaute auf den Paß und sah dann wieder erstaunt zuBeauchamp auf.
Albert, wären Sie für mich ein Fremder, ein Unbekannter, so würde ich mir, wie Sie wohlbegreifen, keine solche Mühe gegeben haben; aber ich dachte, ich sei Ihnen dieses Zeichen der Achtung schuldig. Ichbrauchte acht Tage zur Reise nach Janina, acht Tage zur Rückkehr. Dazu kamen vier Tage Quarantäne und achtundvierzig Stunden Aufenthalt; das macht gerade drei Wochen. Ichbin in dieser Nacht angekommen und stehe nun vor Ihnen.
Mein Gott, wie viele Umschweife, Beauchamp, warum zögern Sie, mir zu sagen, was ich von Ihnen erwarte?
Es ist in der Tat…
Man sollte glauben, Sie hätten Furcht, zu gestehen, daß Ihr Korrespondent Sie getäuscht hat. — Nein.
Oh! keine Eitelkeit, Beauchamp, gestehen Sie immerhin, Ihr Mut kann nicht in Zweifel gezogen werden.
Oh! das ist es nicht, murmelte der Journalist; im Gegenteil…
Albert erbleichte furchtbar; er versuchte zu sprechen, aber das Wort erstarbauf seiner Zunge.
Mein Freund, sagteBeauchamp mit dem liebevollsten Tone, glauben Sie mir, ich wäre glücklich, Ihnen meine Entschuldigungenbieten zu können, und ichböte sie Ihnen von ganzem Herzen; aber ach!..
Was aber? — Die Meldung hatte recht, mein Freund.
Wie! der französische Offizier… dieser Fernand?
Ja.
Dieser Verräter, der die Schlösser des Mannes übergeben hat, in dessen Diensten er stand…
Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen sage, was ich Ihnen sagen muß, dieser Mann ist Ihr Vater!
Albert machte eine wütendeBewegung, um sich aufBeauchamp zu stürzen; doch dieser hielt ihn mehr noch durch einen sanftenBlick, als durch seine ausgestreckte Hand zurück.
Hier, mein Freund, sagte er, ein Papier aus seiner Tasche ziehend, hier ist derBeweis.
Albert öffnete das Papier; es war eine Erklärung von vier angesehenenBewohnern Janinas, diebestätigten, daß der Oberst Fernand Mondego, Instruktor im Dienste des Wesirs Ali Tependelini, das Schloß von Janina gegen zweitausendBeutel übergeben habe. — Die Unterschriften waren durch den Konsulbeglaubigt.
Albert wankte und fiel wie vernichtet auf einen Stuhl.
Nach einem kurzen, schmerzlichen Stillschweigen schwoll ihm das Herz und ein Tränenstrom entstürzte seinen Augen.
Beauchamp schaute den jungen Mann, der sich dem Übermaß des Schmerzes hingab, mit tiefem Mitleid an, näherte sich ihm und sagte: Albert, nicht wahr, Siebegreifen mich nun? Ich wollte alles sehen, alles selbstbeurteilen, in der Hoffnung, die Erklärung würde günstig für Ihren Vater ausfallen, und ich könnte ihm volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Doch die Erkundigungen, die ich einzog, bestätigten im Gegenteil, daß dieser von Ali Pascha zum Generalgouverneur erhobene Fernand Mondego kein anderer ist, als der Graf von Morcerf. Da kehrte ich zurück und erinnerte mich der Ehre, die Sie mir angetan, mich unter Ihre Freunde zu zählen, und eilte zu ihnen.
Auf seinem Lehnstuhle ausgestreckt, hielt Albert seine Hände vor die Augen.
Ich eilte zu Ihnen, fuhrBeauchamp fort, um Ihnen zu sagen: Albert, die Fehler unserer Väter in diesen wilden Zeiten können die Kinder nichtberühren. Sehr wenige haben die Revolutionen, in deren Mitte wir geboren sind, durchgemacht, ohne daß Kot oderBlut ihre Uniform oder ihr Richterkleidbefleckt hätte. Albert, nun, da ich alleBeweise habe, nun, da ich Herr Ihres Geheimnissesbin, kann mich niemand in der Welt zu einem Zweikampfe zwingen, den Ihnen, ichbin davon fest überzeugt, Ihr Gewissen als ein Verbrechen vorwerfen würde; aber was Sie von mir verlangen können, biete ich Ihnen an. Sollen dieseBeweise, diese Enthüllungen, diese Erklärungen verschwinden? Soll dieses furchtbare Geheimnis zwischen Ihnen und mirbleiben? Meinem Ehrenwort anvertraut, wird es nie über meine Lippen kommen; reden Sie, Freund, wollen Sie dies?
Albert warf sich ihm um den Hals und rief: Ah, edles Herz! — Nehmen Sie, sagteBeauchamp, indem er Albert die Papiere überreichte.
Albert ergriff die Papiere, preßte, zerknitterte sie mit krampfhafter Hand und wollte sie zerreißen; doch in der Furcht, es könnte das kleinste Teilchen, vom Winde fortgeweht, die Kunde weitertragen, verbrannte er siebis auf das letzte Fetzchen an einer Kerze.
Teurer Freund! vortrefflicher Freund! murmelte Albert, während er die Papiere verbrannte.
Möge dies alles wie einböser Traum vergessen werden, sagteBeauchamp, möge es erlöschen, wie diese Funken, möge alles verschwinden, wie der letzte Rauch, der aus der stummen Asche aufsteigt.
Ja, ja, sagte Albert, und esbleibe nur die ewige Freundschaft, die ich meinem Retter weihe; eine Freundschaft, die meine Kinder auf die Ihrigen übertragen werden; eine Freundschaft, die mich stets daran erinnern soll, daß ich dasBlut meiner Adern, das Leben meines Körpers, die Ehre meines Namens Ihnen zu verdanken habe, denn wenn eine solche Sachebekannt geworden wäre, oh! Beauchamp, ich würde mir die Hirnschale zerschmettert haben,… oder, nein, arme Mutter, denn ich hätte dich nicht mit demselben Schlage töten wollen, mit dem ich mich von dieser Welt verbannte.
Dochbald verlor sich wieder diese plötzliche Aufwallung, und Albert verfiel abermals in Traurigkeit.
Nun? fragteBeauchamp, was gibt es denn noch?
Es ist mir, als sei mir etwas vom Herzen gebrochen, antwortete Albert. Hören Sie, Beauchamp, man kann sich nicht so im Nu von der Achtung, von dem Vertrauen, von dem Stolze trennen, den der fleckenlose Name eines Vaters seinem Sohne einflößt. Oh! Beauchamp, Beauchamp! wie werde ich nun meinem Vater ansehen? Werde ich meine Stirn zurückziehen, wenn er ihr seine Lippen, meine Hand, wenn er ihr seine Hand nähert? Oh, Beauchamp, ichbin der unglücklichste Mensch. Ah! meine Mutter, meine arme Mutter! rief Albert durch seine in Tränen gebadeten Augen das Portrait seiner Mutter anschauend; wenn du das gewußt, wieviel hättest du leiden müssen!
Auf, Mut gefaßt, mein Freund! sagteBeauchamp, ihnbei den Händen fassend.
Aber woher kam die Meldung in Ihrer Zeitung? Dahinter steckt ein unbekannter Haß, ein unsichtbarer Feind.
Wohl! ein Grund mehr. Mut gefaßt, Albert! keine Spuren von Aufregung auf Ihrem Gesichte! Bewahren Sie Ihre Kräfte, mein Freund, bis zu dem Augenblicke, wo der Ausbruch erfolgt!
Oh! Sie glauben also, wir seien noch nicht am Ziele? — Ich glaube nichts, mein Freund; doch es ist am Ende alles möglich; sagen Sie mir, heiraten Sie noch Fräulein Danglars?
Warum fragen Sie mich dies im Augenblick, Beauchamp?
Weil mir die Antwort darauf mit dem Gegenstande, der uns zu dieser Stundebeschäftigt, in Verbindung zu stehen scheint.
Wie? rief Albert, dessen Stirn sich entflammte, Sie glauben, Herr Danglars…
Ich frage Sie nur, wie es sich mit Ihrer Heirat verhält. Sehen Sie in meinen Worten nichts anderes, als das, was ich darein legen will, und geben Sie ihnen nicht mehr Gewicht, als sie haben.
Nein, erwiderte Albert, die Heirat ist abgebrochen.
Gut, sagteBeauchamp. Als er aber sah, daß der junge Mann wieder in seine Schwermut verfiel, fügte er hinzu: Glauben Sie mir, es wird dasbeste sein, wir gehen ins Freie. Eine Fahrt nach dem Walde oder ein Spazierritt wird Sie zerstreuen; wir frühstückenbei unserer Rückkehr irgendwo, Sie gehen an Ihre Geschäfte und ich an die meinigen.
Gern, erwiderte Albert, wir gehen zu Fuß aus, ich denke, etwas Anstrengung wird mir gut tun. — Es sei.
Die Freunde gingen auf denBoulevard. Als sie die Madeleine erreicht hatten, sagteBeauchamp: Hören Sie, da wir auf dem Wege sind, wollen wir doch Herrn von Monte Christobesuchen; er wird Sie zerstreuen, denn er versteht esbewunderungswürdig, die Geister zubeschwichtigen, indem er nie fragt. Meiner Ansicht nach sind die Leute, die nie fragen, diebesten Tröster.
Die Reise.
Monte Christo stieß einen Freudenschrei aus, als er die jungen Leutebeisammen sah. Ah! ah! sagte er. Nun, ich hoffe, es ist alles abgemacht, alles aufgeklärt, geordnet?
Ja, sagteBeauchamp. Alberne Gerüchte, die von selbst gefallen sind, und wenn sie sich wiederholen würden, mich nun zum ersten Gegner hätten. Reden wir nicht mehr davon!
Albert wird Ihnen sagen, daß dies meinem Rat entspricht, versetzte der Graf. Hören Sie, fügte er hinzu, Sie sehen mich den abscheulichsten Morgen vollenden, den ich, glaube ich, in meinem Leben gehabt habe.
Was machen Sie, sagte Albert, Siebringen, wie mir scheint, Ordnung in Ihre Papiere?
In meine Papiere? Gott sei Dank, nein! In meinen Papieren herrscht stets eine wunderbare Ordnung, insofern ich keine habe, sondern in die Papiere des Herrn Cavalcanti.
Des Herrn Cavalcanti? fragteBeauchamp.
Ah! ja, wissen Sie nicht, daß dies ein junger Mann ist, den der Graf in die Gesellschaftbringt? fragte Morcerf.
Nein, verstehen wir uns wohl, entgegnete Monte Christo, ichbringe niemand in die Gesellschaft und Herrn von Cavalcanti noch viel weniger als irgend einen andern.
Und der Fräulein Danglars statt meiner heiraten wird, fuhr Albert lächelnd fort, was mich, wie Sie sich leicht denken können, furchtbar angreift.
Wie! Cavalcanti heiratet Fräulein Danglars? riefBeauchamp.
Ei! kommen Sie denn vom Ende der Welt? versetzte Monte Christo. Sie, ein Journalist, wissen nichts davon, während ganz Paris nur von dieser Angelegenheit spricht!
Und Sie, Graf, haben diese Heirat vermittelt?
Ich? Mein Herr Novellist, sagen Sie das ja nicht. Ich, guter Gott! und Heirat vermittelt! Nein, Sie kennen mich nicht; ich habe mich im Gegenteil mit aller Gewalt geweigert, dieBitte vorzubringen.
Ah! ichbegreife, wegen unseres Freundes Albert.
Meinetwegen? sagte der junge Mann, meiner Treu, nein. Der Graf wird mir Gerechtigkeit widerfahren lassen undbezeugen, daß ich ihn im Gegenteil stets gebeten habe, diesen Plan zu vereiteln.
Hören Sie, sagte Monte Christo, ichbin so wenig der Vermittler, daß ich mit dem Schwiegervater und mit dem jungen Manne kalt stehe. Nur Fräulein Danglars, die mir keinenbesonderenBeruf für die Ehe zu haben scheint, bewahrte mir ihre Zuneigung, als sie sah, wie wenig ich dazubeitrug, daß sie auf ihre liebe Freiheit Verzicht leisten sollte. Und Sie sagen, diese Heirat sei dem Abschluß nahe?
Mein Gott! ja, ungeachtet alles dessen, was ich einwenden mochte. Ich kenne den jungen Mann nicht; manbehauptet, er sei reich und von guter Familie; für mich sind dies lauter unbewieseneBehauptungen. Ich habe dies Herrn Danglars sattsam wiederholt, aber er ist ganz verliebt in seinen Luckeser. Es war alles umsonst. Erbeauftragte mich, an den Major zu schreiben und die Papiere zu verlangen, die Sie hier sehen. Ich schicke sie ihm, wasche mir aber, wie Pilatus, die Hände in Unschuld.
Beauchamp fing an, die Gemälde zubetrachten.
Doch, Sie scheinen mir merkwürdig aufgeregt, fuhr Monte Christo fort. Sprechen Sie, was haben Sie?
Ich habe Migräne, sagte Albert.
In diesem Fall, mein lieber Vicomte, kann ich Ihnen ein unfehlbares Mittel vorschlagen, ein Mittel, das mir geholfen hat, so oft ich mich mißgestimmt fühlte.
Welches? fragte der junge Mann.
Die Ortsveränderung.
In der Tat? rief Albert.
Ja, und da ich mich in diesem Augenblick gleichfalls im höchsten Grade mißgestimmt fühle, so ändere ich den Ort meines Aufenthaltes. Ist es Ihnen recht, wenn wir es gemeinschaftlich tun?
Sie mißgestimmt, Graf! warfBeauchamp ein, und worüber?
Bei Gott! Sie haben gut reden; ich wollte Sie sehen, wenn in Ihrem Hause eine Untersuchung angestellt würde.
Eine Untersuchung! Welche Untersuchung?
Die, welche Herr von Villefort gegen meinen Einbrecher führt, der, wie es scheint, ein aus demBagno entwichener Räuber ist.
Ah! es ist wahr, sagteBeauchamp, ich habe von der Sache gehört. Wie ist es denn mit diesem Caderousse?
Er scheint ein Provençale zu sein. Herr von Villefort hat von ihm sprechen hören, als er in Marseille war, und Herr Danglars erinnert sich, ihn gesehen zu haben. Die Folge davon ist, daß sich der Staatsanwalt die Sache sehr zu Herzen nimmt, daß dieselbe, wie es scheint, im höchsten Grade den Polizeipräfekten interessiert, der mir, bewogen durch dieses Interesse, für das ich ihm äußerst dankbarbin, seit vierzehn Tagen alleBanditen hierher schickt, deren man in Paris und Umgegend habhaft werden kann, unter dem Vorwande, es seien Genossen von Caderousse, so daß es in drei Monaten, wenn es so fortgeht, im schönen Frankreich keinen Dieboder Mörder mehr gibt, der nicht den Plan meines Hauses an den Fingern kennt. Ichbin auch entschlossen, es ihnen ganz zu überlassen und so weit zu gehen, als mich die Erde tragen kann. Kommen Sie mit, Vicomte, ich nehme Sie mit.
Sehr gern, aber wohin?
Ans Meer, Vicomte, ans Meer. Ichbin ein Seemann und wurde als kleines Kind in den Armen des alten Ozeans und auf dem Schoße der schönen Amphitrite gewiegt. Ich habe mit dem grünen Mantel des einen und mit dem azurblauen Gewande der andern gespielt, ich liebe das Meer, wie man die Gebieterin seines Herzens liebt, und sehne mich oft danach. Nehmen Sie meinen Vorschlag an? — Ich nehme ihn an.
HerrBeauchamp, wollen Sie mit uns reisen? Ich nehme Sie mit. — Ich danke, ich komme von der See.
Wie! Sie kommen von der See? — Ja. Ich habe eine kleine Reise nach denBorromeischen Inseln gemacht.
Gleichviel, kommen Sie nur! sagte Albert.
Nein, mein lieber Morcerf, es geht nicht an. Überdies, fügte er, die Stimme dämpfend, hinzu, überdies ist es nötig, daß ich in Parisbleibe, um denBriefkasten meiner Zeitung zubewachen.
Ah! Sie sind ein guter, vortrefflicher Freund, sagte Albert; ja, Sie haben recht, überwachen Sie, Beauchamp, und suchen Sie den Feind zu entdecken.
Albert undBeauchamp trennten sich; ihr letzter Händedruck enthielt alles, was ihre Lippen vor einem Fremden nicht aussprechen konnten.
Ein vortrefflicher Junge! sagte Monte Christo, nachdem der Journalist weggegangen war; nicht wahr. Albert?
Ja, ein Mann von Herz, dafür stehe ich Ihnen; ich liebe ihn auch von ganzer Seele. Nun aber, obgleich es mir ziemlich gleichgültig ist, wohin gehen wir?
Nach der Normandie, wenn Sie wollen, dort sind wir ganz unter uns, mit zwei Pferden, um zu rennen, mit Hunden, um zu jagen, und mit einerBarke, um zu fischen.
Das ist es, was ichbrauche, ichbenachrichtige meine Mutter und stehe dann zu IhrenBefehlen.
Aber wird man Ihnen erlauben, mit dem geheimnisvollen Grafen von Monte Christo zu reisen?
Sie haben ein kurzes Gedächtnis, Graf. Sprach ich Ihnen nicht von der vollen Sympathie meiner Mutter für Sie?
Die Frau ändert sich, sagte Franz I.; die Frau ist die Welle, sagt Shakespeare, der eine war ein großer König, der andere ein großer Dichter, und jeder von ihnen mußte die Frau kennen.
Ja, die Frau, doch meine Mutter ist nicht die Frau, es ist eine Frau. — Ich will sagen, daß meine Mutter mit ihren Gefühlen geizig ist, aber wenn sie diese einmal jemand zuwendet, auch für immer treubleibt.
Ah, wirklich! sagte seufzend Monte Christo, und Sie glauben, sie erweise mir die Ehre, mir ein anderes Gefühl zuzuwenden, als das vollkommener Gleichgültigkeit?
Ich habe Ihnen gesagt und wiederhole Ihnen, Sie müssen in der Tat ein einziger Mann sein, daß Sie meiner Mutter ein solches Interesse einflößen können. Wenn wir allein sind, sprechen wir nur von Ihnen.
Und sie sagt Ihnen, Sie sollen mir mißtrauen?
Im Gegenteil, sie sagt: Ich glaube, der Graf ist eine edle Natur, bemühe dich, daß er dich liebt.
Ah, wirklich! rief Monte Christo und wandte die Augen ab.
Siebegreifen also, fuhr Albert fort, daß sie, statt sich meiner Reise zu widersetzen, sie im Gegenteil vollkommenbilligen wird.
Heute abend also, sagte Monte Christo, seien Sie um fünf Uhr hier, wir kommen dann um Mitternacht, oder um ein Uhr in Treport an.
Sie sind offenbar der Mann der Wunder, und Sie werden noch die Eisenbahnen an Schnelligkeit übertreffen.
Damit entfernte sich Albert. Monte Christoblieb, nachdem er ihm lächelnd ein Zeichen mit dem Kopfe gemacht hatte, einen Augenblick nachdenkend und wie in eine tiefeBetrachtung versunken. Endlich aber fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, als wollte er die Träumerei verscheuchen, ging auf das Glöckchen zu und schlug zweimal darauf. Zu dem eintretendenBertuccio sagte der Graf: Ich reise heute abend nach der Normandie ab; bis fünf Uhr haben Sie mehr Zeit, als Siebrauchen. Sie lassen die Stallknechte an der ersten Haltestellebenachrichtigen; Herr von Morcerfbegleitet mich. Gehen Sie.
Ehe der Graf sich entfernte, ging er zu Haydee hinauf, benachrichtigte sie von seiner Abreise, nannte ihr den Ort, wohin er ging, und stellte das ganze Haus zu ihrenBefehlen.
Albert war pünktlich. Seine anfängliche Niedergeschlagenheit wichbald unter dembloßen Einfluß der ganz unglaublichen Schnelligkeit.
Aber wo, zum Teufel, finden Sie denn solche Pferde? fragte Albert, es scheint, Sie lassen sie ausdrücklich züchten.
Ganz richtig, sagte der Graf, vor sechs Jahren fand ich in Ungarn einen ausgezeichneten, wegen seiner Schnelligkeitberühmten Hengst; ich kaufte ihn, ich weiß nicht, für wieviel. In demselben Jahre hatte er 32 Sprößlinge: alle gleich schwarz ohne einen einzigen Flecken, einen Stern auf der Stirn ausgenommen.
Doch was machen Sie mit allen diesen Pferden?
Sie sehen, ich reise damit.
Doch Sie reisen nicht immer.
Wenn ich sie nicht mehrbrauche, so verkauft sieBertuccio, und erbehauptet, er gewinne 30bis 40 000 Franken an ihnen.
Graf, soll ich Ihnen einen Gedanken mitteilen, der mir gekommen ist? — Tun Sie das.
HerrBertuccio muß nach Ihnen der reichste Privatmann Europas sein.
Sie täuschen sich, Vicomte, ichbin fest überzeugt, daß Sie, wenn Sie die TaschenBertuccios umdrehen, nicht für zehn Sous Wert darin fänden.
Warum? fragte der junge Mann; Bertuccio ist also ein Phänomen. Ah! lieber Graf, treiben Sie das Wunderbare nicht zu weit, oder ich glaube Ihnen nicht mehr.
Bei mir gibt es nichts Wunderbares, mein lieber Albert, Zahlen und Vernunft, sonst nichts. Antworten Sie mir: Warum stiehlt ein Intendant?
Verdammt! weil es in seiner Natur liegt, wie mir scheint; er stiehlt, um zu stehlen.
Nein, Sie täuschen sich, er stiehlt, weil er eine Frau, Kinder, eitle Wünsche für sich und seine Familie hat. Er stiehlt hauptsächlich, weil er nicht sicher ist, ober seinen Herrn wieder verlassen muß, weil er sich eine Zukunft schaffen will. Bertuccio aber ist allein auf der Welt, er nimmt aus meinerBörse, ohne mir Rechenschaft zu geben, er ist sicher, daß er mich nie zu verlassen hat.
Warum? — Weil ich keinenBessern finden werde.
Oho, sind Sie dessen so gewiß?
Ganz gewiß. Der gute Diener ist für mich der, bei dem ich ein Recht über Leben und Tod habe.
Und Sie haben das Recht über Leben und Todbei HerrnBertuccio? — Ja, antwortete kalt der Graf.
Es gibt Worte, die das Gespräch schließen, wie eine eiserne Tür; das Ja des Grafen war ein solches Wort. Der Rest der Reise vollzog sich mit derselben Geschwindigkeit; man kam mitten in der Nacht vor dem Tore eines schönen Parkes an. Der Hausmeister stand davor und hielt das Gitter offen.
Es war halbzwei Uhr morgens. Als man Morcerf in sein Zimmer führte, fand er einBad und ein Abendessenbereit. Ein Diener stand zu seinenBefehlen, undBaptistinbediente den Grafen. Albert nahm seinBad, speiste und legte sich schlafen. Die ganze Nacht hindurch wurde er von dem schwermütigen Geräusche der Wellen gewiegt. Als er aufstand, ging er gerade auf das Fenster zu, öffnete es undbefand sich auf einer kleinen Terrasse, wo man das Meer vor sich hatte und hinter sich einen hübschen Park, der nach einem kleinen Wäldchen führte.
In einerBucht von mäßiger Größe schaukelte sich eine kleine Korvette mit schmalem Kiel und hohem Mast, die auf der Spitze eine Flagge mit dem Wappen des Grafen trug. Um die Korvette her lagen mehrere kleine Kähne, die den Fischern derbenachbarten Dörfer gehörten. Hier, wie an allen andern Orten, wo sich der Graf aufhielt, war alles wunderbarbequem eingerichtet. Albert fand in seinem Vorzimmer zwei Flinten und alles für einen Jäger Erforderliche, ein anderes Zimmer im Erdgeschoß enthielt Fischereigeräte.
Der ganze Tag verging mit Jagen und Fischen; man schoß ein Dutzend Fasanen im Park, man fing Forellen in denBächen, man speiste in einem Kiosk zu Mittag, der die Aussicht auf das Meer hatte, und servierte den Tee in derBibliothek.
Am Abend des dritten Tages schlummerte Albert, den dieses Leben ermüdete, ein wenig in einem Lehnstuhl am Fenster, als das Geräusch eines auf der Straße heransprengenden Pferdes den jungen Mann erweckte und aufschauen ließ. Er sah durch das Fenster und erblickte zu seinem größten Erstaunen seinen Kammerdiener aus Paris.
Florentin hier! rief er von seinem Stuhle aufspringend, ist meine Mutter krank? Und er stürzte aus dem Zimmer.
Monte Christo folgte ihm mit den Augen und sah ihn auf den Diener zueilen, der, noch ganz atemlos, aus seiner Tasche einenBrief und eine Zeitung zog.
Von wem ist derBrief? fragte Albert rasch.
Von HerrnBeauchamp, antwortete Florentin. Er ließ mich zu sich kommen, gabmir das zur Reise erforderliche Geld und nahm nur das Versprechen ab, ohne Verzug zu Ihnen zu eilen.
Albert öffnete denBrief. Bei den ersten Zeilen stieß er einen Schrei aus und griff sichtbar zitternd nach der Zeitung. Plötzlich verfinsterten sich seine Augen, und seineBeine schienen unter ihm zu weichen.
Armer, junger Mann! murmelte Monte Christo so leise, daß er selbst den Klang dieser Worte des Mitleids nicht hören konnte; es ist also gewiß, daß die Sünde der Väter auf die Kinderbis in das dritte und vierte Geschlecht zurückfällt!
Inzwischen hatte Albert seine Kräfte wieder gesammelt; er fuhr fort zu lesen, schüttelte seine Haare auf dem schweißbedeckten Haupte und sagte, denBrief und die Zeitung zerknitternd: Florentin, ist dein Pferd imstande, den Weg nach Paris zurückzumachen?
Es ist eine schlechte, hinkende Märe.
Oh! mein Gott! und wie stand es zu Hause, als du fortgingst?
Ziemlich gut; doch als ich von HerrnBeauchamp zurückkam, fand ich die gnädige Frau in Tränen. Sie hatte mich rufen lassen, um sich zu erkundigen, wann Sie zurückkämen. Ich sagte ihr, ich sei imBegriff, Sie im Auftrage des HerrnBeauchamp zu holen. Ihre ersteBewegung war, den Arm auszustrecken, als wollte sie mich zurückhalten, aber nach kurzem Überlegen sagte sie: Ja, gehe, Florentin, und sage ihm, er möge zurückeilen.
Ja, meine Mutter, ja, sagte Albert, ich komme sogleich, sei unbesorgt und wehe dem Schändlichen! Doch vor allem muß ich abreisen. Hierauf kehrte er in das Zimmer zurück, wo er Monte Christo gelassen hatte.
Graf, sagte er, ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, die ich gern noch länger genossen hätte, aber ich muß nach Paris zurückkehren.
Was ist denn vorgefallen? — Ein großes Unglück; doch erlauben Sie mir, abzureisen, es handelt sich um eine Sache, die viel kostbarer ist als mein Leben. Keine Frage, Graf, ichbitte Sie zugleich um ein Pferd!
Meine Ställe stehen zu Ihren Diensten, Vicomte, erwiderte Monte Christo; aber die Anstrengung eines ununterbrochenen Postrittes wird Sie töten, nehmen Sie lieber einen Wagen.
Nein, das würde zu lange dauern, und ichbedarf der Anstrengung, sie wird mir wohl tun.
Monte Christo stand am Fenster und rief: Ali, ein Pferd für Herrn von Morcerf! Schnell, es ist dringend!
Ich danke, rief der junge Mann, sich in den Sattel schwingend und wollte fortjagen, hielt aber noch einmal an und sagte: Sie finden vielleicht meine Abreise seltsam, unnatürlich, wahnsinnig! Siebegreifen vielleicht nicht, wie ein paar Zeilen in einem Journal einen Menschen in Verzweiflungbringen können; nun wohl, lesen Sie diese Nachricht hier, aber erst, wenn ich fortbin, damit Sie meine Schamröte nicht sehen.
Und während der Graf die Zeitung nahm, gabMorcerf dem Roß die Sporen und flog davon.
Der Graf schaute dem jungen Manne mit einem Gefühle unendlichen Mitleids nach, und erst, als er völlig verschwunden war, wandte er seineBlicke auf die Zeitung und las wie folgt:
Der französische Offizier im Dienste Alis, Paschas von Janina, über den vor drei Wochen der Impartial eine Mitteilungbrachte, und der nicht nur die Schlösser von Janina übergab, sondern auch seinen Wohltäter an die Türken verkaufte, hieß wirklich Fernand, wie angegeben wurde. Doch seitdem hat er seinem Namen einen adeligen Titel hinzugefügt.
Er heißt gegenwärtig Graf von Morcerf und ist Mitglied der Kammer der Pairs
So erschien also das furchtbare Geheimnis, dasBeauchamp so edelmütigbegraben hatte, abermals wie ein schreckendes Gespenst zwei Tage, nachdem Albert nach der Normandie abgereist war, in einer andern Zeitung.
Das Urteil.
Um acht Uhr morgens traf AlbertbeiBeauchamp wie derBlitz ein. Der Kammerdiener war unterrichtet; er führte Morcerf in das Zimmer seines Herrn.
Nun! sagte Albert zu ihm.
Armer Freund, ich erwarte Sie, erwiderteBeauchamp.
Hierbin ich. Ichbrauche Ihnen nicht zu sagen, Beauchamp, daß ich Sie für zu rechtschaffen und zu gut halte, um mit irgend jemand hierüber gesprochen zu haben; nein, mein Freund. Überdies ist mir derBote, den Sie mir schickten, einBürge für Ihre Zuneigung, Verlieren wir also keine Zeit mit Umschweifen! Haben Sie eine Ahnung, von welcher Seite dieser Schlag kommt?
Ich werde Ihnen sogleich zwei Worte sagen.
Doch vorher, Freund, müssen Sie mir alle Einzelheiten dieses abscheulichen Verrates mitteilen.
Beauchampberichtete hierauf dem vor Scham und Schmerz niedergebeugten jungen Mann kurz folgendes.
Zwei Tage vorher war der Artikel in einer Zeitung erschienen, die unter dem Einfluß der Regierung stand, was der Sache noch mehr Gewicht verlieh. Beauchamp frühstückte, als ihm die Nachricht zu Gesicht kam; er eilte, ohne sein Mahl zu vollenden, in dasBureau der Zeitung. Obgleich der Redakteur eine andere politische Richtung vertrat wieBeauchamp, war er doch dessen vertrauter Freund.
Als er zu ihm kam, las der Redakteur sein eigenesBlatt.
Ah, bei Gott! riefBeauchamp, da Sie Ihre Zeitung in der Hand haben, mein lieber sobrauche ich Ihnen nicht zu sagen, was mich hierher führt.
Ich wüßte nicht; doch warum kommen Sie?
Wegen des Artikels über Morcerf.
Ah! ja; nicht wahr, das ist seltsam?
So seltsam, daß Sie sich der Gefahr aussetzen, einen sehr zweifelhaften Verleumdungsprozeß an den Hals zubekommen.
Keineswegs; wir haben mit der Zuschrift alleBeweisstücke empfangen und sind fest überzeugt, daß Herr von Morcerf sich ruhig verhalten wird. Überdies heißt es dem Lande einen Dienst leisten, wenn man die Elendenbloßstellt, die der Ehre unwürdig sind, die man ihnen erweist.
Beauchamp war verblüfft.
Aber wer hat Sie denn so gut unterrichtet? fragte er, denn meine Zeitung, welche die Sache zuerst angeregt hatte, mußte sie in Ermangelung vonBeweisen fallen lassen, und wir sind doch mehr dabei interessiert, als Sie, Herrn von Morcerf an den Pranger zu stellen, da er Pair von Frankreich ist und wir die Regierung angreifen.
Lieber Freund, wir sind dem Skandal nicht nachgelaufen, er hat uns aufgesucht. Es kam gestern ein Mensch von Janina an, der den ganzen Aktenstoß mitbrachte, und als wir Anstand nahmen, die Anklage gegen den Grafen zu erheben, bemerkte er, er werde sich an eine andere Zeitung wenden. Sie wissen, Beauchamp, was eine wichtige Nachricht ist; wir wollten uns diese nicht entgehen lassen. Nun ist der Schlag getan; er ist furchtbar und wirdbis an das Ende Europas widerhallen.
Beauchamp entfernte sich in Verzweiflung, um einen Kurier an Morcerf abzuschicken.
Was er aber Albert nicht hatte schreiben können, — denn es geschah nach der Abreise seines Kuriers, — war, was an demselben Tage in der Kammer der Pairs vor sich ging. Fast alle Pairs waren früher erschienen und unterhielten sich über das unselige Ereignis, das die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen und auf eines derbekanntesten Mitglieder des erhabenen Körpers lenken sollte.
Man las mit leiser Stimme den Artikel, man kommentierte ihn und tauschte Erinnerungen aus. Der Graf von Morcerf war unter seinen Standesgenossen nichtbeliebt. Wie alle Emporkömmlinge zeigte er sich übermäßig hochmütig. Als er am andern Morgen zu seiner gewöhnlichen Stunde, ohne Ahnung von der Zeitungsnachricht — denn er hielt und las dasBlatt nicht — vor der Kammer ankam, stieg er aus dem Wagen, schritt mit erhobenem Kopfe, herausforderndem Auge und stolzem Gange durch die Räume und trat in den Saal, ohne das Zögern des Saaldieners und die gezwungenen Grüße seiner Kollegen zubemerken.
Seine Miene und sein Gang erschienen allen hochmütiger als gewöhnlich, und seine Gegenwart schien unter den Umständen sobeleidigend für die auf ihre Ehre eifersüchtige Versammlung, daß alle dadurch noch mehr erbittert wurden. Die Kammerbrannte offenbar vorBegierde, den Kampf zubeginnen. Man sah das anklagende Journal in allen Händen, doch wie gewöhnlich zögerte jeder, die Verantwortlichkeit des Angriffs auf sich zu nehmen. Endlich stieg einer von den ehrenwerten Pairs, ein erklärter Feind des Grafen von Morcerf, feierlich auf die Rednerbühne.
Es herrschte ein furchtbares Stillschweigen; Morcerf allein wußte nichts von der Ursache der ernsten Aufmerksamkeit, die man diesmal einem Redner schenkte, dem man gewöhnlich nicht so gefällig zuhörte. Den Grafen ließ auch die Einleitung ruhig, in der der Redner äußerte, er habe von einer so heiligen, so ernsten Sache, von einer für die Kammer sobedeutungsvollen Frage zu sprechen, daß er die ganze Aufmerksamkeit seiner Kollegen in Anspruch nehme. Jedochbei dem ersten Wort von Janina und vom Obersten Fernand erbleichte der Graf von Morcerf so, daß eineBewegung durch die Versammlung ging, derenBlicke insgesamt auf den Grafen gerichtet waren.
Die moralischen Wunden haben das Eigentümliche, daß sie sich verbergen, aber nicht wieder schließen; stets schmerzhaft, stetsbereit, zubluten, wenn man sieberührt, bleiben sie frisch und klaffend im Herzen.
Als der Artikelbis zum Schlusse gelesen war, setzte der Ankläger seineBedenken auseinander und machte einigeBemerkungen über die Schwierigkeit seiner Aufgabe. Es sei die Ehre des Herrn von Morcerf, es sei die Ehre der ganzen Kammer, die er verteidige, indem er eine Debatte über so heikle persönliche Fragen hervorrufe. Endlich schloß er mit dem Antrage auf eine Untersuchung, die schnell genug eingeleitet werden sollte, um die Verleumdung zu Schanden zu machen, ehe sie Zeit gehabt hätte zu wachsen, und um Herrn von Morcerf in der Stellung, die ihm die öffentliche Meinung längst eingeräumt, wiederherzustellen.
Morcerf war so niedergebeugt, erbebte dermaßenbei dem plötzlichen Hereinbrechen dieses ungeheuren und unerwarteten Ungemachs, daß er kaum mit irrem Auge ein paar Worte zu stammeln vermochte. Diese Verzagtheit, die man ebensogut dem Erstaunen des Unschuldigen, wie der Scham des Schuldigen zuschreiben konnte, erwarbihm wieder einige Sympathien. Wahrhaft edle Menschen sind stets geneigt, mitleidig zu werden, wenn das Unglück ihres Feindes die Grenzen ihres Hasses überschreitet. Der Präsident ließ abstimmen, und es wurde eine Untersuchungbeschlossen.
Man fragte den Grafen, wieviel Zeit erbrauche, um seine Rechtfertigung vorzubereiten. Dieser hatte seinen Mut wiedergewonnen, sobald er nach diesem furchtbaren Schlage noch Leben in sich fühlte.
Meine Herren Pairs, antwortete er, nicht mit der Zeit schlägt man einen Angriff zurück, wie der, den in diesem Augenblicke unbekannte und im Dunkel sichbergende Feinde gegen mich richten; auf der Stelle, mit einem Donnerschlag muß ich denBlitz erwidern, der mich einen Augenblick geblendet hat. Warum wird es mir nicht vergönnt, statt einer solchen Rechtfertigung, meinBlut zu vergießen, um meinen edlen Kollegen zubeweisen, daß ich würdigbin, als ihresgleichen einherzuschreiten!
Diese Worte machten einen günstigen Eindruck.
Ich verlange also, rief er, daß die Untersuchung sobald als möglich stattfinde, und ich werde der Kammer alle erforderlichenBeweisstücke liefern.
Welchen Tagbestimmen Sie? fragte der Präsident.
Ich stelle mich von heute an zur Verfügung der Kammer.
Der Präsident rührte seine Glocke und fragte: Ist die Kammer der Ansicht, daß diese Untersuchung noch heute statthaben soll?
Ja! lautete die einstimmige Antwort der Versammlung.
Man ernannte eine Kommission von zwölf Mitgliedern, welche die von Morcerf zu lieferndenBeweisstücke untersuchen sollte. Die Stunde der ersten Sitzung dieser Kommission wurde auf acht Uhr abends in denBüros der Kammer festgesetzt. Als diese Entscheidung gefaßt war, bat Morcerf um Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen; er mußte dieBeweisstücke zusammenfassen, die er seit langer Zeit aufgehäuft, um einem unvorhergesehenen Sturme Trotz zubieten.
Dies alles erzählteBeauchamp dem jungen Manne.
Albert hörte ihm zu, bald vor Hoffnung, bald vor Zorn, bald vor Scham zitternd, denn er fragte sich, wie es dem Schuldigen gelingen könne, seine Unschuld zubeweisen.
AlsBeauchamp schwieg, fragte Albert: Und dann?
Mein Freund, dieses Wort versetzt mich in eine furchtbare Notwendigkeit. Fassen Sie Mut, Albert, nie haben Sie dessen mehrbedurft.
Albert fuhr mit der Hand über seine Stirn, als wollte er sich seiner eigenen Kraft versichern, wie ein Mensch, der sein Leben zu verteidigen sich anschickt, seinen Panzer versucht und seine Degenklingebiegt. Er fühlte sich stark, denn er hielt sein Fieber für Energie. Reden Sie, sagte er.
Es kam der Abend, fuhrBeauchamp fort, ganz Paris wartete auf den Ausgang der Sache. Vielebehaupteten, Ihr Vater habe sich nur zu zeigen, um die Anklage zuBoden zu schlagen; viele sagten, er werde sich nicht einfinden, andere versicherten, sie hätten ihn nachBrüssel abreisen sehen, manche gingen sogar zur Polizei und fragten, obes wahr sei, daß der Graf seine Pässe genommen habe.
Ich muß Ihnen gestehen, daß ich alles tat, um von einem der Mitglieder der Kommission, einem mirbefreundeten jungen Pair, in die Kammer geführt zu werden. Um sieben Uhr holte er mich abund empfahl mich, ehe jemand gekommen war, einem Saaldiener, der mich in eine Loge einschloß. Ich war durch eine Säule gedeckt und in völliger Dunkelheit und konnte hoffen, die furchtbare Szene, die sich entwickeln sollte, vom Anfangbis zum Ende zu hören und zu sehen.
Herr von Morcerf tratbei dem letzten Schlage der achten Stunde ein. Er hatte einige Papiere in der Hand, und seine Haltung schien ruhig. Gegen seine Gewohnheit war sein Gang einfach, sein Anzug würdig, und er trug nach Art alter Offiziere seinen Rock von obenbis unten zugeknöpft. Seine Erscheinungbrachte diebeste Wirkung hervor; die Kommission war durchaus nicht übelgesinnt, und mehrere Mitglieder gingen dem Grafen entgegen und reichten ihm die Hand.
Albert fühlte, wie sein Herzbei diesemBerichtbeinahebrach, und dennoch regte sich unter seinem Schmerze ein Gefühl der Dankbarkeit; gern hätte er alle diese Menschen umarmen mögen, die seinem Vater während einer so großen Gefährdung seiner Ehre die Hand reichten.
In diesem Augenblick trat ein Diener ein und übergabdem Präsidenten einenBrief. — Sie haben das Wort, Herr von Morcerf, sagte der Präsident, denBrief entsiegelnd.
Der Grafbegann seine Verteidigungsrede, und ich versichere Ihnen, Albert, fuhrBeauchamp fort, er entwickelte eine außerordentlicheBeredsamkeit und Geschicklichkeit; erbrachte Papiere vor, diebewiesen, daß ihn der Wesir von Janinabis zur letzten Stunde mit seinem ganzen Vertrauenbeehrt undbesonders mit einer Unterhandlungbei dem Sultan selbstbeauftragt hatte, wobei es sich um Leben oder Tod gehandelt. Er wies den Ring vor, ein Zeichen des Oberbefehls, mit dem Ali selbst gewöhnlich seineBriefe siegelte und den er ihm gegeben, damit erbei seiner Rückkehr, zu welcher Stunde des Tages oder der Nacht es auch sei, und wäre er sogar in seinem Harem, zu ihm dringen könnte. Unglücklicherweise, sagte er, scheiterte seine Unterhandlung, und als er zurückkam, um seinen Wohltäter zu verteidigen, war erbereits tot. Doch sterbend, behauptete der Graf, habe ihm Ali Pascha, so groß sei sein Vertrauen gewesen, seine erste Favoritin und seine Tochter anvertraut.
Albertbebtebei diesen Worten; denn währendBeauchamp sprach, trat ihm Haydees Erzählung vor sein geistiges Auge, und er erinnerte sich dessen, was die schöne Griechin von dieserBotschaft, von diesem Ringe und von der Art und Weise, wie sie verkauft und in die Sklaverei geführt worden war, gesagt hatte.
Und was war die Wirkung der Rede des Grafen?
Ich gestehe, daß sie mich erschütterte, und ebenso, wie mich, auch die ganze Kommission, sagteBeauchamp. Der Präsident warf die Augen kaum auf denBrief, den man ihm gebracht hatte; dochbei den ersten Zeilen wurde seine Aufmerksamkeit rege, er las das Schreiben, las es abermals, und sagte, seineBlicke auf Herrn von Morcerf heftend: Herr Graf, Sie sagen uns, der Wesir von Janina habe Ihnen seine Frau und seine Tochter anvertraut? — Ja, mein Herr, antwortete Morcerf; doch hierin, wie im übrigen, verfolgte mich das Unglück. Bei meiner Rückkehr waren Wasiliki und ihre Tochter Haydee verschwunden. — Sie kennen diebeiden? — Mein vertrauter Umgang mit dem Pascha und der feste Glaube, den er zu meiner Treue hatte, erlaubten mir, sie mehr als zwanzigmal zu sehen. — Haben Sie irgend eine Ahnung, was aus ihnen geworden ist? — Ja, mein Herr, ich habe sagen hören, sie seien ihrem Kummer und vielleicht ihrer Armut unterlegen. Ich war nicht reich, ich sah mein Leben großen Gefahren preisgegeben und konnte zu meinemBedauern keine Nachforschungen anstellen.
Der Präsident runzelte unmerklich die Stirn und sagte: Meine Herren, Sie haben den Herrn Grafen gehört. Herr Graf, können Sie zur Unterstützung Ihrer Angaben einige Zeugen liefern? — Nein, antwortete der Graf, alle die, welche den Wesir umgaben und mich an seinem Hofe kannten, sind tot oder zerstreut; soviel ich weiß, habe ich diesen furchtbaren Krieg allein überlebt. Ichbesitze nur dieBriefe von Ali Tependelini, die vor Ihren Augen liegen; ichbesitze nur den Ring, das Pfand seines Willens, das Sie hier sehen; ich habe endlich den überzeugendstenBeweis, den ich liefern kann, nämlich die Anonymität des Angriffs, den Mangel jedes Zeugen gegenüber meinem Wort als dem eines ehrlichen Mannes und gegenüber der Unbeflecktheit meines militärischen Lebens.
Ein Gemurmel desBeifalls durchlief die ganze Versammlung; Albert, wäre nichts Neues dazwischen getreten, so hätte Ihr Vater die Sache gewonnen gehabt. Da nahm der Präsident das Wort und sagte: Meine Herren und Sie, Herr Graf, ich denke, es wird Ihnen nicht unangenehm sein, einen sehr wichtigen Zeugen zu hören, der sich von selbst einfindet; dieser Zeuge, wir zweifeln nicht daran, ist nach allem, was uns der Graf gesagt hat, berufen, die vollkommene Unschuld unseres Kollegen darzutun. Hier ist einBrief, den ich soeben empfangen habe; soll er verlesen werden, oder entscheiden Sie, daß wir darüber weggehen und unsbei diesem Zwischenfalle nicht aufhalten?
Herr von Morcerf erbleichte und preßte krampfhaft die Papiere zusammen, die er in der Hand hielt. Die Kommission entschied sich für die Verlesung. DerBrief lautete:
Herr Präsident,
Ich kann der Untersuchungskommission, die mit der Prüfung desBenehmens des Herrn Grafen von Morcerf in Epirus und Macedonienbeauftragt ist, diebestimmteste und sicherste Auskunft geben.
Ich warbeim Tode Ali Paschas an Ort und Stelle; ich wohnte seinen letzten Augenblickenbei; ich weiß, was aus Wasiliki und Haydee geworden ist; ich stelle mich zur Verfügung der Kommission und fordere sogar die Ehre, gehört zu werden. Ich werde in dem Augenblick, wo man Ihnen diesesBillett übergibt, im Vorsaale der Kammer sein.
Und wer ist dieser Zeuge oder vielmehr dieser Feind? fragte der Graf mit einer Stimme, in der eine tiefe Erschütterung nicht zu verkennen war. — Wir werden es erfahren, antwortete der Präsident. Ist die Kommission der Ansicht, daß der Zeuge gehört werden soll? — Ja! ja! sprachen gleichzeitig alle Stimmen. Man rief den Saaldiener, und der Präsident fragte ihn, objemand im Vorsaale warte. — Ja, Herr Präsident, erwiderte der Diener, eine Frau, begleitet von einem Diener. — Alle schauten sich an. Lassen Sie die Frau eintreten, sagte der Präsident.
Fünf Minuten nachher erschien der Diener wieder. Aller Augen waren auf die Tür gerichtet, und ich selbst, sagteBeauchamp, teilte die allgemeine Spannung. Hinter dem Diener ging eine Frau, in einen großen Schleier gehüllt, der sie völlig verbarg.
Der Präsidentbat die Unbekannte, den Schleier zurückzuschlagen, und nun sah man, daß die Frau griechische Kleidung trug, und daß sie jung und außerordentlich schön war.
Ah! rief Morcerf, Haydee!
Wer hat Ihnen das gesagt?
Ach! ich errate es. Doch fahren sie fort, Beauchamp, ichbitte Sie, Sie sehen, ichbin ruhig und stark.
Herr von Morcerf, fuhrBeauchamp fort, schaute diese Frau mit einer Mischung von Angst und Erstaunen an. Für ihn sollte Leben oder Tod aus diesem reizenden Munde kommen.
Der Präsidentbot der jungen Frau mit der Hand einen Stuhl an; doch sie deutete durch ein Zeichen mit dem Kopfe an, sie wolle stehenbleiben.
Gnädige Frau, sagte der Präsident, Sie haben der Kommission geschrieben und sich angeboten, ihr Auskunft über dieBegebenheiten in Janina zu geben; Sie sind IhrerBehauptung nach Augenzeugin gewesen. — Das war ich auch, sagte die Unbekannte mit einem Tone voll rührender Traurigkeit und mit jenem den Orientalen eigenen Wohlklang. — Erlauben Sie mir, Ihnen zubemerken, daß Sie damals noch sehr jung waren, versetzte der Präsident. — Ich war vier Jahrs alt; doch da diese Ereignisse die höchsteBedeutung für mich hatten, so verlor sich kein Umstand aus meinem Geiste, entging keine Einzelheit meinem Gedächtnis. — WelcheBedeutung hatten für Sie diese Ereignisse, und wer sind Sie, daß diese große Katastrophe einen so tiefen Eindruck auf Sie hervorgebracht hat? — Es handelte sich um Leben oder Tod meines Vaters, antwortete das Mädchen; ich heiße Haydee undbin die Tochter von Ali Tependelini, Pascha von Janina, und von Wasiliki, seiner vielgeliebten Frau.
Diebescheidene und zugleich stolze Röte, diebei diesen Worten die junge Frau mit Purpur übergoß, das Feuer ihresBlickes, die Majestät ihrer Erscheinungbrachten eine unaussprechliche Wirkung auf die Versammlung hervor. Der Graf aber konnte nicht entsetzter sein, wenn einBlitz herabgefallen wäre und zu seinen Füßen einen Abgrund geöffnet hätte.
Gnädige Frau, sagte der Präsident, nachdem er sich ehrfurchtsvoll verbeugt hatte, erlauben Sie mir eine einfache Frage, die keinen Zweifel enthält und die letzte sein wird: Können Sie die Wahrheit IhrerBehauptung erweisen?
Ich kann es, mein Herr, sagte Haydee, unter ihrem Schleier ein Säckchen von parfümiertem Atlas hervorziehend; denn hier ist mein Geburtsschein, von meinem Vater abgefaßt und von seinen obersten Offizieren unterzeichnet; und hierbei meinem Geburtsschein ist mein Taufschein; mein Vater hatte nämlich eingewilligt, daß ich in der Religion meiner Mutter erzogen würde, und der Archimandrit von Macedonien hat diesem Scheine sein Siegel aufgedrückt. Hier ist endlich die Urkunde über den Verkauf meiner Person und meiner Mutter an den armenischen Kaufmann El‑Kobbir seitens des fränkischen Offiziers, der sichbei seinem schändlichen Handel mit der Pforte als seinenBeuteanteil Frau und Tochter seines Wohltäters vorbehalten hatte, die er für die Summe von 1000Beuteln, d. h. für ungefähr 400 000 Franken, feil gab.
Bei diesen schrecklichen Anschuldigungen, welche die Versammlung mit finsterem Stillschweigen aufnahm, überzog sich das Gesicht des Grafen mit grünlicherBlässe, und seine Augen wurden vonBlut unterlaufen.
Immer ruhig, aber viel drohender, als dies eine andere in ihrem Zorne gewesen wäre, überreichte Haydee dem Präsidenten die in arabischer Sprache abgefaßte Verkaufsurkunde.
Einer von den edlen Pairs, der die arabische Sprache während des Feldzuges in Ägypten erlernt hatte, las:
Ich, El‑Kobbir, Sklavenhändler und Lieferant des Harems Seiner Hoheit, erkenne hiermit, daß ich von dem fränkischen Herrn Grafen von Monte Christo einen Smaragd im Werte von zweitausendBeuteln als Preis für eine christliche, elf Jahre alte Sklavin, namens Haydee, anerkannte Tochter des verstorbenen Ali Tependelini, Paschas von Janina, und von Wasiliki, seiner Favoritin, erhalten habe, welche an mich vor sieben Jahren mit ihrerbald darauf gestorbenen Mutter durch einen fränkischen Obersten, im Dienste des Wesire Ali Tependelini, namens Fernand Mondego, verkauft worden ist. Der erwähnte Verkauf ist für Rechnung unseres erhabenen Sultans geschehen, von dem ich den Auftrag hatte, den Smaragd zu erwerben.
Ausgefertigt in Konstantinopel mit Vollmacht Seiner Hoheit im Jahre 1247 der Hedschra.
Unterzeichnet:
El‑Kobbir.
Die gegenwärtige Urkunde wird, um ihr volle Glaubwürdigkeit und Echtheit zu verleihen, mit dem kaiserlichen Siegel versehen werden, das der Verkäufer derselbenbeidrucken zu lassen sich verbindlich macht.
Neben der Unterschrift des Kaufmanns sah man das Siegel des Großherrn. Auf diese Vorlesung folgte ein furchtbares Stillschweigen; der Graf konnte seine Gedanken nur durch denBlick ausdrücken, und dieser unwillkürlich auf Haydee gehefteteBlick schien von Flammen undBlut zu sein.
Gnädige Frau, sagte der Präsident, kann man nicht den Herrn Grafen von Monte Christobefragen, der sich, wie ich glaube, bei Ihnen in Paris findet?
Der Graf von Monte Christo, mein zweiter Vater, ist seit drei Tagen in der Normandie.
Doch wer hat Ihnen diesen Schritt geraten, für den Ihnen die Kammer dankbar ist, und der auch nach Ihren Leiden nur natürlich erscheinen kann.
Mein Herr, antwortete Haydee, dieser Schritt ist mir von meiner kindlichen Ehrfurcht und von meinem Schmerze eingegeben worden. Gott vergebe mir! Obgleich Christin, dachte ich stets daran, meinen erhabenen Vater zu rächen. Als ich den Fuß auf die Erde Frankreichs setzte, als ich erfuhr, der Verräter wohne in Paris, waren meine Augen und Ohrenbeständig offen. Ich lebe zurückgezogen in dem Hause meines edlenBeschützers, doch ich lebe so, weil ich den Schatten und die Stille liebe, die mir in meinen Gedanken und in der Sammlung meines Geistes zu leben gestatten. Aber der Graf von Monte Christo umgibt mich mit seiner väterlichen Sorge, und alles, was das Leben ausmacht, ist mir vertraut, wenn es auch nur, wie aus der Ferne an mein Ohr schlägt. So lese ich alle Zeitungen, wie man mir alle illustriertenBlätter und alle Musikalien zukommen läßt; ich erfuhr daher, was heute morgen in der Kammer der Pairs vorgefallen war, und was heute abend geschehen sollte… dann schriebich. Der Graf hatte während dieser ganzen Zeit keinen Teil an Ihrem Schritte?
Er weiß durchaus davon, und ich fürchte sogar, er mißbilligt ihn, wenn er ihn erfährt. Es ist indessen ein schöner Tag für mich, fuhr das Mädchen fort, einen flammendenBlick zum Himmel aufschlagend, dieser Tag, an dem ich endlich Gelegenheit finde, meinen Vater zu rächen!
Der Graf hatte während dieser ganzen Zeit nicht ein einziges Wort gesprochen; seine Kollegen schauten ihn an undbeklagten ohne Zweifel den unter der Anklage einer Frau erfolgenden Zusammenbruch eines angesehenen Lebens: Sein Unglück prägte sich allmählich in den finsteren Zügen seines Antlitzes aus.
Herr von Morcerf, sagte der Präsident, erkennen Sie in dieser Frau die Tochter von Ali Tependelini, Pascha von Janina? — Nein, sagte Morcerf, indem er sich zu erheben versuchte, es ist dies ein von meinen Feinden angezetteltes Gewebe.
Haydee, die ihre Augen auf die Tür geheftet hatte, wandte sich ungestüm um, stieß, als sie den Grafen wieder aufrecht sah, einen furchtbaren Schrei aus und rief: Du erkennst mich, nicht; wohl, aber ich erkenne dich! Dubist Fernand Mondego, der fränkische Offizier, der die Truppen meines edlen Vaters unterrichtete. Dubist es, der die Schlösser von Janina übergeben hat! Du hast, von ihm nach Konstantinopel geschickt, um mit dem Sultan über Leben oder Tod deines Wohltäters zu unterhandeln, einen falschen Ferman zurückgebracht, in dem ihm vollständigeBegnadigung zugestanden war. Dubist es, der mit diesem Ferman den Ring des Paschas erhielt, der dirbei Selim, dem Feuerwächter, Gehorsam verschaffen sollte; dubist es, der Selim erdolchte und meine Mutter und mich verkaufte! Mörder! Mörder! Du hast noch auf deiner Stirn dasBlut deines Herrn; schaut alle!
Diese Worte wurden mit einer solchen Kraft undBegeisterung der Wahrheit gesprochen, daß aller Augen sich nach der Stirn des Grafen wandten und er selbst mit der Hand danach fuhr, als obAlisBlut noch warm daran klebte.
Sie erkennen also ganzbestimmt in Herrn von Morcerf den Offizier Fernand Mondego?
Obich ihn erkenne! rief Haydee. Oh! meine Mutter! Sie sagte zu mir: Mein Kind! Du warst frei, du hattest einen Vater, der dich liebte, du warstbestimmt, beinahe eine Königin zu sein! Schau diesen Menschen wohl an, er hat dich zur Sklavin gemacht, er hat auf einem Spieße das Haupt deines Vaters fortgetragen, er hat uns verkauft! Schau genau seine rechte Hand an, sie hat einebreite Narbe; würdest du sein Gesicht vergessen, so müßtest du ihn an dieser Hand wiedererkennen, in die der Kaufmann El‑Kobbir ein Goldstück nach dem andern hat fallen lassen! — Obich ihn wiedererkenne! Oh! er mag nur sagen, ober mich nicht wiedererkennt!
Jede Silbe fiel wie ein Messer auf Morcerf und schnitt einen Teil seiner Energie ab; bei den letzten Worten verbarg er rasch und unwillkürlich seine in der Tat von einer Wunde verstümmelte Hand und fiel, in düstere Verzweiflung versunken, auf seinen Stuhl zurück.
Herr von Morcerf, sagte der Präsident, lassen Sie sich nicht niederbeugen, antworten Sie! Die Gerechtigkeit des Pairshofes ist erhaben und gleich für alle, wie die Gerechtigkeit Gottes; sie wird Sie nicht durch Ihre Feinde zuBoden treten lassen, ohne Ihnen die Mittel zu gönnen, sie zubekämpfen. Wollen Sie neue Nachforschungen? Soll ichBefehle zu einer Reise von zwei Kammermitgliedern nach Janina geben?
Morcerf antwortete nicht. — Da schauten sich die Mitglieder der Kommission voll Schrecken an. Man kannte den energischen und heftigen Charakter des Grafen. Esbedurfte einer furchtbaren Niederschmetterung, um die Widerstandskraft dieses Mannes zu vernichten.
Die Tochter von Ali Tependelini, sagte der Präsident nach einer Pause, hat also wirklich die Wahrheit gesagt? Sie ist also wirklich der furchtbare Zeuge, dem der Schuldige kein Nein zu entgegnen wagt? Sie haben also wirklich dies allesbegangen, dessen man Siebeschuldigt?
Der Graf warf einenBlick umher, dessen verzweifelter Ausdruck Tiger gerührt hätte, seine Richter aber nicht zu entwaffnen vermochte. Mit einer ungestümenBewegung riß er seinen Rock auf, der ihn zu ersticken drohte, und stürzte wie ein Wahnwitziger aus dem Saal; einen Augenblick ertönte noch sein Tritt im Gange, dann erschütterte das Rollen des Wagens, der ihn im Galopp davonführte, den Palast.
Meine Herren, sagte der Präsident, als es wieder still geworden war, ist der Herr Graf von Morcerf der Untreue, des Verrates und der Unwürdigkeit überwiesen? — Ja, antworteten einstimmig alle Mitglieder der Kommission.
Haydee hatte der Sitzungbis zum Endebeigewohnt; sie hörte über den Grafen das Urteil fällen, ohne daß ein Zug ihres Gesichtes Freude oder Mitleid ausdrückte. Dann zog sie ihren Schleier wieder vor das Gesicht, grüßte majestätisch und ging hinweg.
Die Forderung.
Nunbenutzte ich das Stillschweigen und die Dunkelheit des Saales, um mich, ohne gesehen zu werden, zu entfernen, mit einem im Gedanken an dich gebrochenen Herzen, schloßBeauchamp seinenBericht.
Albert hielt seinen Kopf zwischen seinen Händen, hobsein Antlitz rot und in Tränen gebadet empor, ergriffBeauchamp am Arm und sagte: Freund, mein Leben ist aus; ich muß den Menschen suchen, der mich mit seiner Feindschaft verfolgt. Sobald ich diesen Menschen kenne, töte ich ihn, oder er tötet mich; ich zähle jedoch auf die Stütze Ihrer Freundschaft, Beauchamp, wenn dieses Gefühl in Ihrem Herzen noch nicht durch Verachtung ertötet ist.
Verachtung, mein Freund? Wie können Sie so sprechen! Nein, Gott sei Dank, wir leben nicht mehr in einer Zeit, wo ein ungerechtes Vorurteil die Söhne für die Handlungen der Väter verantwortlich macht. Überschauen Sie Ihr ganzes Leben, Albert; es ist freilich erst ein Anfang, aber nie war die Morgenröte eines schönen Tages reiner, als Ihr Sonnenaufgang. Nein, Albert, glauben Sie mir, Sie sind jung, Sie sind reich; verlassen Sie Frankreich, alles vergißt sich schnell in diesem großenBabylon. Sie kommen in drei oder vier Jahren zurück, und niemand denkt mehr an das, was vorgefallen ist, noch viel weniger an das, was sich vor sechzehn Jahren ereignete.
Ich danke, lieberBeauchamp, ich danke für die vortreffliche Absicht, die Ihnen diese Worte eingibt; aber Siebegreifen, da ich in dieser Angelegenheit persönlichbeteiligtbin, kann ich sie nicht aus demselben Gesichtspunkte ansehen, wie Sie. Ich wiederhole Ihnen, Beauchamp, wenn Sie noch mein Freund sind, wie Sie sagen, so helfen Sie mir die Hand finden, die den Schlag geführt hat.
Es sei! Ist es Ihre Absicht, Nachforschungen nach einem Feinde anzustellen, so stelle ich sie mit Ihnen an. Und ich werde ihn finden, denn meine Ehre ist hierbeibeinahe ebensosehrbeteiligt, wie die Ihrige.
Dannbeginnen wir auf der Stelle, ohne Verzug unsere Nachforschungen. Jede Minute Verzug ist eine Ewigkeit für mich; der Denunziant ist noch nichtbestraft, er kann also hoffen, er werde nichtbestraft werden; undbei meiner Ehre! wenn er dies hofft, so täuscht er sich.
Wohl, so hören Sie, Morcerf.
Ah! Beauchamp, ich sehe, Sie wissen etwas; Sie geben mir das Leben wieder!
Ich sage Ihnen nicht, es sei Gewißheit, Albert, aber es ist wenigstens ein Licht im Dunkel; folgen wir diesem Lichte, und es wird uns vielleicht zum Ziele führen.
Sprechen Sie, die Ungeduld verzehrt mich.
Gut! ich will Ihnen erzählen, was ich Ihnen nicht sagen wollte, als ich von Janina zurückkam. Hören Sie also! Ich ging natürlich zum erstenBankier der Stadt, um Erkundigungen einzuziehen; nach zwei Worten sagte er mir, ehe ich den Namen Ihres Vaters ausgesprochen hatte: Ah, sehr gut! ich errate, was Sie hierher führt. — Wieso? — Weil ich vor kaum vierzehn Tagen über denselben Gegenstandbefragt wordenbin und zwar von einem PariserBankier, namens Danglars.
Er? rief Albert; er verfolgt in der Tat seit langer Zeit meinen Vater mit seiner Eifersucht und seinem Hasse; er, der angebliche Volksmann, der es dem Grafen von Morcerf nicht verzeihen kann, daß er Pair von Frankreich ist. Und dann, das Abbrechen des Heiratsplanes, ohne irgend eine Ursache anzugeben… ja, ja, er ist's.
Erkundigen Sie sich, aber erhitzen Sie sich nicht zum voraus; erkundigen Sie sich, und wenn die Sache wahr ist…
Oh, wenn die Sache wahr ist, rief der junge Mann, so soll er mir allesbezahlen, was ich gelitten habe.
Nehmen Sie sich in acht, Morcerf, er ist ein alter Mann.
Oh! seien Sie unbesorgt, Siebegleiten mich, Beauchamp; feierliche Dinge müssen vor Zeugen verhandelt werden. Ist Danglars der Schuldige, so hat er vor dem Ende dieses Tages zu leben aufgehört, oder ichbin tot. Bei Gott! Ich will meiner Ehre ein schönes Leichenbegängnisbereiten.
Wohl! Albert, sind solche Entschlüsse einmal gefaßt, so muß man sie auf der Stelle in Ausführungbringen. Sie wollen zu Herrn Danglars gehen? Vorwärts!
Vor dem Hause desBankiers sahen sie den Wagen des Herrn Andrea Cavalcanti stehen.
Ah! bei Gott! das geht gut! sagte Albert düster. Will sich Herr Danglars nicht mit mir schlagen, so töte ich seinen Schwiegersohn. Ein Cavalcanti muß sich schlagen.
Man meldete Albert demBankier, derbei seinem Namen, da er wußte, was am Tage vorher vorgefallen war, ihm den Eintritt verweigern ließ. Aber es war zu spät; Albert folgte demBedienten, stieß die Tür auf und drang mitBeauchamp in das Kabinett desBankiers.
Mein Herr! rief dieser, steht es mir nicht frei, zu empfangen, wen ich will? Es scheint mir, Sie vergessen sich auf eine sonderbare Weise.
Nein, mein Herr, erwiderte Albert mit kaltem Tone, es gibt Umstände, wo man, wenn man sich keiner Feigheit schuldig machen will, wenigstens für gewisse Personen zu Hause sein muß.
Was wollen Sie von mir, mein Herr?
Ich will, sagte Albert, sich demBankier nähernd, — ohne daß es schien, alsbemerke er Cavalcanti, der am Kamin lehnte — ich will Ihnen eine Zusammenkunft in einem verborgenen Winkel vorschlagen, wo uns zehn Minuten lang niemand stören wird; von den zwei Personen, die sich treffen werden, bleibt eine unter denBäumen.
Danglars erbleichte. Cavalcanti machte eineBewegung. Albert wandte sich zu dem jungen Manne um und sagte: Mein Gott! kommen Sie auch, wenn Sie wollen, Herr Graf; Sie haben das Recht, dabei zu sein, Sie gehören ja fast zur Familie, und ich gewähre solche Zusammenkünfte so vielen Menschen, als sie annehmen wollen.
Cavalcanti schaute Danglars erstaunt an; dieser erhobsich mit Anstrengung und trat zwischen die jungen Leute. Der Angriff Alberts auf Andrea ließ ihn hoffen, AlbertsBesuch sei einer andern Ursache zuzuschreiben, als der, die er zuerst vorausgesetzt hatte.
Mein Herr, sagte er zu Albert, wenn Sie hierher kommen, um mit diesem Herrn Streit zu suchen, weil er Ihnen vorgezogen wurde, sobemerke ich Ihnen, daß ich das vor den Staatsanwaltbringen werde.
Sie täuschen sich, mein Herr, entgegnete Morcerf mit düsterem Lächeln, ich spreche von nichts weniger, als Heiratsangelegenheiten, und ich wende mich an diesen Herrn nur, weil er sich in unsere Verhandlung mischen zu wollen schien. Und dann haben Sie recht, ich suche heute mit jedem Streit; doch seien Sie unbesorgt, Herr Danglars, der Vorrang gebührt Ihnen.
Mein Herr, sagte Danglars, bleich vor Zorn und Angst, ichbemerke Ihnen, wenn mir das Unglück widerfährt, einen wütenden Hund auf meinem Wege zu treffen, so töte ich ihn, und weit entfernt, mich schuldig zu fühlen, glaube ich damit der Gesellschaft einen Dienst zu leisten. Wenn Sie nun wütend sind und mich zubeißen versuchen, so sage ich Ihnen, ich werde Sie töten. Ist es denn meine Schuld, daß Ihr Vater entehrt ist?
Ja, Elender! rief Morcerf, es ist deine Schuld!
Danglars machte einen Schritt rückwärts.
Meine Schuld! sagte er, sind Sie verrückt? Was weiß ich davon? War ich in Griechenland? Habe ich Ihrem Vater geraten, die Schlösser Alis zu verkaufen, zu verraten…
Still! sagte Albert dumpf. Sie sind es, der die ganze schändliche Geschichte heuchlerisch und hinterlistig angezettelt hat. — Ich?
Ja, Sie! Woher kommt die Enthüllung?
Mir scheint, die Zeitung hat es Ihnen gesagt, aus Janina, bei Gott!
Wer hat nach Janina geschrieben, um Erkundigungen über meinen Vater einzuziehen?
Ich denke, jeder kann nach Janina schreiben.
Es hat nur eine Person geschrieben und zwar Sie!
Ich habe allerdings geschrieben; doch ich glaube, wenn man seine Tochter an einen jungen Mann verheiratet, kann man Erkundigungen über die Familie einziehen; es ist dies nichtbloß ein Recht, sondern auch eine Pflicht.
Sie haben geschrieben, während Sie doch schon wußten, welche Antwort Ihnen zukommen würde.
Ich! oh, ich schwöre Ihnen, rief Danglars mit einem Vertrauen und mit einer Sicherheit, die vielleicht weniger von seiner Furcht, als von der Teilnahme herrührten, die er im Grunde für den unglücklichen jungen Mann fühlte, ich schwöre Ihnen, nie hätte ich daran gedacht, dorthin zu schreiben. Kannte ich die Katastrophe von Ali Pascha?
Es hat Sie also jemand angetrieben, zu schreiben?
Gewiß.
Wer?… vollenden Sie…?
Bei Gott! das ist ganz einfach; ich sprach von der Vergangenheit Ihres Vaters, ich sagte, die Quelle seines Vermögens sei stets dunkel geblieben. Die Person fragte mich, wo sich Ihr Vater dieses Vermögen gemacht hätte. Ich antwortete: In Griechenland. Da sagte sie mir: Nun, so schreiben Sie nach Janina!
Und wer hat Ihnen diesen Rat gegeben?
Bei Gott! der Graf von Monte Christo, Ihr Freund.
Albert undBeauchamp schauten sich an.
Mein Herr, sagteBeauchamp, der noch nicht das Wort genommen hatte, es scheint mir, Sie klagen den Grafen an, weil er in diesem Augenblick von Paris entfernt ist und sich nicht rechtfertigen kann?
Ich klage niemand an, antwortete Danglars, und werde in Gegenwart des Herrn Grafen von Monte Christo wiederholen, was ich soeben vor Ihnen gesagt habe.
Und der Graf weiß, welche Antwort Ihnen zugekommen ist? — Ja, ich habe sie ihm gezeigt.
Wußte er, daß der Taufname meines Vaters Fernand und sein Familienname Mondego war?
Ja, ich hatte es ihm längst gesagt; übrigens tat ich hierbei nur, was jeder andere an meiner Stelle getan hätte, und vielleicht noch weniger. Als am Tage nach dieser Antwort Ihr Vater meine Tochter offiziell von mir verlangte, schlug ich ihm ihre Hand allerdings unumwunden ab, doch ohne Erklärung, ohne Lärm. Warum sollte ich auch Lärm machen! Was war mir an der Ehre oder der Schande des Herrn von Morcerf gelegen? Das ließ die Rente weder steigen noch fallen.
Albert fühlte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Es unterlag keinem Zweifel mehr, Danglars verteidigte sich mit der Gemeinheit, aber zugleich auch mit der Sicherheit eines Menschen, der, wenn nicht die volle Wahrheit, doch wenigstens einen Teil der Wahrheit sagt, allerdings nicht aus Gewissenhaftigkeit, sondern aus Schrecken. Und dann stellte sich ihm alles, was er vergessen oder nichtbeachtet hatte, wieder vor Augen. Monte Christo wußte alles, da er die Tochter Ali Paschas gekauft hatte, und hatte trotzdem Danglars den Rat gegeben, nach Janina zu schreiben. Während ihm die Antwort schonbekannt war, hatte er Alberts Wunsche, Haydee vorgestellt zu werden, nachgegeben; bei ihr hatte er das Gespräch auf Alis Tod gelenkt und Haydees Erzählung nicht verhindert. Hatte er nicht überdies ihn selbst gebeten, den Namen seines Vaters nicht vor Haydee auszusprechen? Endlich hatte er Albert in dem Augenblick, wo der Lärm losbrechen sollte, nach der Normandie geführt. Es unterlag keinem Zweifel mehr, allesberuhte aufBerechnung, und Monte Christo war ohne Zweifel im Einverständnis mit den Feinden seines Vaters.
Albert nahmBeauchamp in eine Ecke und teilte ihm alle seine Gedanken mit.
Sie haben recht, sagteBeauchamp, Herr Danglars ist an dem, was vorgefallen, nur äußerlichbeteiligt, und Sie müssen von Monte Christo eine Erklärung verlangen.
Albert wandte sich um und sagte zu Danglars: Mein Herr, Siebegreifen, daß ich mich mit Ihrer Aussage nicht ohne weiteresbegnügen kann; ich muß erst sehen, obIhre Anschuldigungenbegründet sind, und ich will mich auf der Stelle hiervonbei Herrn von Monte Christo überzeugen.
Er entfernte sich mitBeauchamp, ohne sich im geringsten um Cavalcanti zubekümmern. Danglars geleitete ihn zur Tür und erneuerte die Versicherung, daß keinBeweggrund persönlichen Hasses ihn gegen den Grafen von Morcerf antreibe.
Die Beleidigung.
Vor der Tür desBankiers hieltBeauchamp Morcerf zurück und sagte: Sie wollen von Herrn von Monte Christo eine Erklärung verlangen. Überlegen Sie einen Augenblick, Morcerf, ehe Sie zu dem Grafen gehen, die ernsteBedeutung Ihres Schrittes.
Ist er ernster, als wenn ich zu Herrn Danglars gehe?
Ja; Herr Danglars ist ein Geldmensch, und Sie wissen, die Geldmenschen kennen zu genau das Kapital, das sie wagen, um sich so leicht zu schlagen. Der andere ist im Gegenteil ein Edelmann, wenigstens wie es scheint; doch fürchten Sie nicht, daß unter dem Edelmann einBravo steckt?
Ich fürchte nur, einen Menschen zu treffen, der sich nicht schlägt.
Oh! seien Sie unbesorgt, sagteBeauchamp, der wird sich schlagen. Nehmen Sie sich in acht, ich fürchte, er schlägt sich nur zu gut.
Freund, entgegnete Morcerf mit einem schönen Lächeln, das ist es, was ich wünsche; und das größte Glück, das mir widerfahren kann, ist, für meinen Vater getötet zu werden.
Ihre Mutter wird darüber sterben.
Arme Mutter! versetzte Albert, mit der Hand über seine Augen fahrend, ich weiß es wohl, dochbesser, sie stirbt hierüber, als sie stirbt vor Schande.
Sie sind also fest entschlossen, Albert? — Vorwärts!
Sie stiegen in ihren Wagen und ließen sich zum Grafen fahren. Als sie ausgestiegen waren, eilte Albert so schnell vorwärts, daß ihm der Freund kaum zu folgen vermochte. Baptistin empfing sie. Der Graf war von der Reise zurückgekommen, aber er saß imBade und hatte verboten, irgend jemand zu empfangen.
Doch nach demBade? — Wird der Graf in die Oper fahren.
Sind Sie dessen gewiß? — Vollkommen; der Herr Graf hat seine Pferde auf Punkt acht Uhrbestellt.
Sehr gut, versetzte Albert; mehr wollte ich nicht wissen. Dann sich zuBeauchamp wendend, sagte er: Beauchamp, ich zähle darauf, daß Sie mich in die Operbegleiten. Wenn Sie können, bringen Sie Chateau‑Renaud mit.
Beauchamp verließ Albert, nachdem er ihm versprochen, ihn abzuholen.
Nach Hause zurückgekehrt, benachrichtigte Albert Franz, Debray und Morel von seinem Wunsche, sie ebenfalls in der Oper zu sehen. Dannbesuchte er seine Mutter, die seit den Ereignissen des vorhergehenden Tages ihre Tür für jedermann verschlossen hatte. Er fand sie, vom Schmerz über die öffentliche Demütigung niedergeschmettert, imBette. Alberts Anblickbrachte auf sie die Wirkung hervor, die man davon erwarten konnte; sie drückte ihrem Sohne die Hand undbrach in ein Schluchzen aus.
Albertbliebeinen Augenblick stumm vor demBette seiner Mutter stehen. Man sah an seinembleichen Gesichte und an seiner gerunzelten Stirne, daß sein Racheentschluß sich immer mehr in seinem Herzen abstumpfte.
Meine Mutter, sagte Albert, kennen Sie irgend einen Feind des Herrn von Morcerf?
Mercedesbebte, denn sie hattebemerkt, daß der junge Mann nicht» von meinem Vater «sagte.
Mein Freund, sagte sie, die Menschen in der Stellung des Grafen haben viele Feinde, die sie nicht kennen. Und die Feinde, die man nicht kennt, sind die gefährlichsten.
Ja, ich weiß dies und wende mich daher an Ihren Scharfsinn. Meine Mutter, Sie sind eine so kluge Frau, daß Ihnen nichts entgeht.
Warum sagst du mir dies?
Weil Sie zumBeispielbemerkten, daß an unseremBallabend der Graf von Monte Christo nichtsbei uns hat nehmen wollen.
Mercedes erhobsich zitternd und rief: Herr von Monte Christo? Wie hängt das mit der Frage zusammen, die du an mich richtest?
Sie wissen, Herr von Monte Christo ist fast ein Orientale, und um ihre volle Rachefreiheit zubewahren, essen und trinken die Orientalen nichtsbei ihren Feinden.
Herr von Monte Christo unser Feind, sagst du, Albert? entgegnete Mercedes, weißer werdend, als das Tuch, das siebedeckte. Wer hat dir das gesagt? Warum? Dubist toll, Albert. Herr von Monte Christo hat uns nur Freundliches erwiesen; er hat dir das Leben gerettet, und du selbst hast ihn uns vorgestellt. Oh! ichbitte dich, mein Sohn, wenn du einen solchen Gedanken hegtest, so verbanne ihn, und wenn du auf meineBitte etwas gibst, sobleibe in gutem Einvernehmen mit ihm.
Meine Mutter, versetzte der junge Mann mit düsteremBlicke, Sie haben Ihre Gründe, daß Sie mir sagen, ich solle diesen Mann schonen.
Ich! rief Mercedes… und sie errötete ebenso schnell wie sie erbleicht war, und wurdebeinahe in demselben Augenblicke nochbleicher, als zuvor.
Ja, allerdings, Ihr Grund ist, daß der Graf unsBöses zufügen kann, nicht so?
Mercedesbebte und erwiderte, einen forschendenBlick auf ihren Sohn heftend: Du sprichst seltsam mit mir und hast, wie mir scheint, sonderbare Vorurteile. Was tat dir der Graf? Vor drei Tagen reistest du mit ihm in die Normandie; vor drei Tagenbetrachtete ich ihn als deinenbesten Freund, und du warst derselben Meinung.
Ein ironisches Lächeln umschwebte Alberts Lippen. Mercedes sah dieses Lächeln und erriet mit ihrem doppelten Instinkte der Frau und der Mutter alles; aber klug und stark, verbarg sie ihre Unruhe und ihrBeben.
Albert ließ das Gespräch fallen; nach einem Augenblick knüpfte es die Gräfin wieder an.
Dubist gekommen, um mich zu fragen, wie es mir gehe, sagte sie; ich antworte dir offen, ich fühle mich unwohl. Du solltest dich einrichten, Albert, mir Gesellschaft zu leisten, ich möchte nicht allein sein.
Meine Mutter, ich stände zu IhrenBefehlen, und Sie wissen wie gern, wenn mich nicht eine wichtige Angelegenheit zwänge, Sie heute abend zu verlassen.
Ah! gut, erwiderte Mercedes mit einem Seufzer, geh, Albert, ich will dich nicht zum Sklaven deiner kindlichen Liebe machen.
Albert stellte sich, als hörte er nicht, grüßte seine Mutter und ging.
Kaum war der junge Mann fort, als Mercedes einen vertrauten Diener rufen ließ; diesembefahl sie, Albert überall zu folgen, wohin er gehen würde, und ihr sogleich Meldung zu machen. Dann läutete sie ihrer Kammerfrau und ließ sich, so schwach sie war, ankleiden, um auf jeden Fallbereit zu sein.
Der demBedienten erteilte Auftrag war nicht schwer zu vollziehen. Albert kehrte in seine Wohnung zurück und kleidete sich äußerst sorglich an. Zehn Minuten vor acht Uhr kamBeauchamp.
Beide stiegen in Alberts Wagen, und dieser rief, da er keinen Grund hatte, zu verbergen, wohin er fuhr, ganz laut: In die Oper.
In seiner Ungeduld kam er vor dem Aufziehen des Vorhangs. Chateau‑Renaud, vonBeauchamp unterrichtet, saß auf seinem Sperrsitze. Erbemühte sich durchaus nicht, Albert abzuraten, sondernbeschränkte sich darauf, dem Freunde die Versicherung zu wiederholen, er stehe zu seiner Verfügung.
Debray war noch nicht eingetroffen; doch Albert wußte, daß er seltenbei einer Vorstellung der Oper ausblieb. Albert irrtebis zum Aufziehen des Vorhangs im Theater umher. Er hoffte, Monte Christo entweder im Gange oder auf der Treppe zu treffen. Dann ging er an seinen Platz und setzte sich im Orchester zwischen Chateau‑Renaud undBeauchamp.
Doch seine Augen verließen Monte Christos Loge nicht, die während des ersten Aktes hartnäckig geschlossenblieb. Endlich am Anfange des zweiten Aktes, als Albert zum hundertsten Male seine Uhrbefragte, öffnete sich die Tür der Loge: Monte Christo trat schwarzgekleidet ein und stützte sich auf das Geländer, um in den Saal zu schauen, dort gewahrte er einenbleichen Kopf und funkelnde Augen, die gierig seineBlicke anzuziehen schienen, und erkannte Albert. Ohne irgend eine seine Gedanken verratendeBewegung zu machen, setzte er sich, zog sein Opernglas hervor und schaute nach einer anderen Seite.
Doch während es den Anschein hatte, alsbemerke er Albert nicht, verlor ihn der Graf nicht aus dem Auge, und als der Vorhang am Ende des zweiten Aktes fiel, folgte sein unfehlbarerBlick dem jungen Mann, der, begleitet von seinen Freunden, das Orchester verließ. Dann erschien derselbe Kopf wieder in einer Loge der seinigen gegenüber. Der Graf fühlte, daß der Sturm gegen ihn losbrach, und als er den Schlüssel im Schlosse seiner Loge drehen hörte, wußte er, obgleich er in diesem Augenblick lächelnd mit dem neben ihm sitzenden Morel sprach, wasbevorstand, und war auf alles gefaßt.
Die Tür öffnete sich. Jetzt erst wandte sich Monte Christo um und erblickte Albert zitternd und leichenblaß. Hinter ihm standenBeauchamp und Chateau‑Renaud.
Sieh da! rief er mit jener wohlwollenden Höflichkeit, die gewöhnlich seinen Gruß von den Alltagsgrüßen unterschied, mein Reiter ist am Ziele angelangt. Guten Abend, Herr von Morcerf.
Und das Gesicht dieses Mannes, der auf eine so seltsame Weise seiner Herr war, drückte die vollkommenste Herzlichkeit aus.
Nun erst erinnerte sich Morel desBriefes, den er vom Vicomte empfangen, und worin ihn dieser ohne eine andere Erklärung gebeten hatte, sich in der Oper einzufinden, und erbegriff, daß etwas Furchtbares vor sich gehen sollte.
Wir kommen nicht hierher, um heuchlerische Höflichkeiten und falsche Freundschaftsbezeugungen auszutauschen, sagte der junge Mann; wir kommen, um eine Erklärung von Ihnen zu fordern, Herr Graf.
Die zitternde Stimme des jungen Mannes drang kaum durch seine geschlossenen Zähne.
Eine Erklärung in der Oper? sagte der Graf mit dem ruhigen Tone und dem durchdringenden Auge des stets seiner selbst sicheren Mannes. So wenig ich mit den Pariser Gewohnheiten vertrautbin, so hätte ich doch nicht geglaubt, daß man hier Erklärungen zu fordern pflege.
Wenn sich jedoch die Leute verleugnen lassen, sagte Albert, unter dem Vorwande, sie seien imBad, so muß man sich an sie wenden, wo man sie trifft.
Ichbin nicht so schwer zu treffen, denn noch gestern, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, waren Siebei mir.
Gestern, mein Herr, entgegnete der junge Mann, dessen Kopf in Flammen geriet, gesternbefand ich michbei Ihnen, weil ich nicht wußte, wer Sie waren.
Bei diesen Worten hatte Albert die Stimme dergestalt erhoben, daß die Inhaber derbenachbarten Logen, sowie die Personen, die sich in den Gängenbefanden, ihn hörten, stehenblieben und sich umsahen.
Woher kommen Sie denn, mein Herr? sagte Monte Christo, scheinbar ohne jede Erregung. Ich glaube, Sie erfreuen sich nicht Ihres ganzen Verstandes.
Wenn ich Ihre Treulosigkeitbegreife, und es mir gelingt, Ihnenbegreiflich zu machen, daß ich mich rächen will, werde ich noch vernünftig genug sein, versetzte Albert wütend.
Mein Herr, ich verstehe Sie nicht, erwiderte Monte Christo, und wenn ich Sie auch verstände, so würden Sie immer noch zu laut sprechen. Ichbin hierbei mir und alleinberechtigt, meine Stimme über andere zu erheben. Gehen Sie, mein Herr!
Und Monte Christo wies Albert mit einerbewundernswert gebieterischen Gebärde die Tür.
Ah! ich werde es wohl dahinbringen, daß Sie hinausgehen, sagte Albert, krampfhaft seinen Handschuh zerknitternd, den der Graf nicht aus dem Gesichte verlor.
Gut, gut! erwiderte phlegmatisch Monte Christo, Sie suchen Streit mit mir, mein Herr, das sehe ich; doch eines, Vicomte, merken Sie sich: es ist eine schlechte Sitte, mit Geschrei herauszufordern, Herr von Morcerf.
Ein Gemurmel des Erstaunens durchliefbei diesem Namen wie ein Schauer die Zuhörer dieser Szene. Seit dem vorhergehenden Tage war der Name Morcerf in aller Mund.
Besser als alle und zuerst von allenbegriff Albert die Anspielung und machte eineBewegung, seinen Handschuh dem Grafen ins Gesicht zu schleudern; aber Morel faßte ihnbei der Faust, währendBeauchamp und Chateau‑Renaud, in der Furcht, die Szene könne die Grenzen einer Herausforderung überschreiten, ihn von hinten zurückhielten.
Monte Christo aber streckte, ohne aufzustehen und nur seinen Stuhl neigend, die Hand aus, zog aus den krampfhaft zusammengepreßten Fingern des jungen Mannes den feuchten Handschuh und sagte mit einem furchtbaren Ausdrucke: Mein Herr, ich nehme Ihren Handschuh als geworfen an und werde Ihnen denselben um eine Kugel gewickelt zurückschicken. Nun gehen Sie von hier weg, oder ich rufe meine Diener und lasse Sie hinauswerfen.
Trunken, verwirrt, mitblutigen Augen machte Albert zwei Schritte rückwärts.
Morelbenutzte diese Gelegenheit, um die Tür wieder zu schließen. Monte Christo ergriff sein Doppelglas und fing an hindurchzuschauen, als obnichtsBesonderes vorgefallen wäre. Dieser Mann hatte ein Herz von Erz und ein Gesicht von Marmor. Morel neigte sich an sein Ohr und sagte zu ihm: Was haben Sie ihm getan?
Ich? Nichts, persönlich wenigstens, sagte Monte Christo.
Diese seltsame Szene muß doch einen Grund haben?
Die Geschichte des Grafen von Morcerfbringt den unglücklichen jungen Mann ganz außer sich.
Haben Sie denn Anteil daran?
Die Kammer ist durch Haydee von dem Verrate seines Vaters unterrichtet worden.
Man hat mir in der Tat davon erzählt, sagte Morel, doch ich wollte nicht glauben, daß die griechische Sklavin die Tochter Ali Paschas ist. — Es ist die reine Wahrheit.
Oh! mein Gott, ichbegreife nun alles, und diese Szene ist absichtlich herbeigeführt worden. — Wieso?
Ja. Albert schreibt mir, ich möchte mich heute abend in der Oper einfinden; er wollte mich also zum Zeugen der von ihmbeabsichtigtenBeleidigung haben.
Wahrscheinlich, sagte Monte Christo mit seiner unstörbaren Ruhe.
Aber was werden Sie mit ihm machen?
Mit Albert? versetzte Monte Christo in demselben Tone, was ich mit ihm machen werde, Maximilian? So wahr Sie hier sind und ich Ihnen die Hand drücke, töte ich ihn morgen vormittag um zehn Uhr; das werde ich machen.
Morel nahm ebenfalls Monte Christos Hand in die seinige undbebte, als er diese kalte und ruhige Hand fühlte.
Ah! Graf, sagte er, sein Vater liebt ihn so sehr!
Sagen Sie mir das nicht! rief Monte Christo mit der ersten Regung des Zornes, der ihn zu fassen schien, er mag leiden!
Morel ließ erstaunt die Hand fallen.
Graf! Graf! sagte er.
Lieber Maximilian, sagte der Graf, hören Sie doch, wiebewunderungswürdig Duprez die Worte singt: O Mathilde! idole de mon âme!..Bravo! Bravo!
Morel sah, daß hier jedes weitere Wort überflüssig war, und wartete. Der Vorhang, der am Ende der Szene mit Albert aufging, gingbald wieder herunter. Man klopfte an die Tür.
Herein, rief Moute Christo, ohne daß seine Stimme die geringsteBewegung erriet. Beauchamp trat ein.
Guten Abend, HerrBeauchamp, grüßte Moute Christo, als ober den Journalisten an diesem Abend zum ersten Male sähe; setzen Sie sich doch!
Beauchamp grüßte, trat ein und setzte sich.
Mein Herr, sagte er zu Monte Christo, ichbegleitete soeben, wie Sie wahrnehmen konnten, Herrn von Morcerf.
Das heißt, Sie wollen sagen. Sie haben miteinander zu Mittag gespeist, erwiderte lachend Monte Christo. Ichbin glücklich, zubemerken, mein lieber HerrBeauchamp, daß Sie nüchterner sind, als er.
Mein Herr, sagteBeauchamp, ich gestehe, Albert hat unrecht gehabt, in Hitze zu geraten, und ich komme auf meine eigene Rechnung, um Entschuldigung zubitten. Nun aber, da dies geschehen ist, hoffe ich, Sie werden mir eine Erklärung geben über Ihre Verbindungen mit den Leuten in Janina. Dann zwei Worte über die junge Griechin…
Genug, genug, mein Herr! fiel ihm der Graf ins Wort. Ich sehe, Sie verlangen für Ihren Freund Erklärungen von mir. So sagen Sie dem Vicomte. In unserbeider Adern fließtBlut, das wir zu vergießen Lust haben, morgen vor zehn Uhr werde ich die Farbe des seinigen gesehen haben.
Esbleibt also nur noch übrig, die Anordnungen des Zweikampfes festzustellen.
Das ist mir vollkommen gleichgültig, entgegnete Monte Christo; es war also unnötig, mich im Schauspiel wegen einer solchen Lappalie zu stören. In Frankreich schlägt man sich mit Degen oder auf Pistolen; in den Kolonien greift man zurBüchse; in Arabien nimmt man den Dolch. Sagen Sie Ihrem Klienten, daß ich ihm, obgleichbeleidigt, die Wahl der Waffen überlasse und alles ohne Widerrede annehme; alles, hören Sie wohl? Sogar den Zweikampf durch das Los, was immer albern ist. Dochbei mir ist es etwas anderes, ichbin sicher, zu gewinnen.
Sicher, zu gewinnen! wiederholteBeauchamp, den Grafen mitbestürztem Auge anschauend.
Ganz gewiß, sagte Monte Christo, leicht die Achseln zuckend. Sonst würde ich mich nicht mit Herrn von Morcerf schlagen. Ich werde ihn töten, es muß sein, es wird sein. Nur die Stunde und die Waffe lassen Sie mich heute abend wissen, ich lasse nicht gern auf mich warten.
Auf Pistolen, morgens um acht Uhr, im Walde von Vincennes, sagteBeauchamp, ganz aus der Fassung gebracht.
Gut, mein Herr, sagte Monte Christo; da nun alles in Ordnung ist, so lassen Sie mich dem Gesange zuhören, ichbitte Sie, und sagen Sie Ihrem Freunde Albert, er möge heute abend nicht wiederkommen; lassen Sie ihn nach Hause gehen und schlafen.
Beauchamp entfernte sich, im höchsten Grade erstaunt.
Sagen Sie, sprach Monte Christo, sich gegen Morel umwendend, nicht wahr, ich kann auf Sie zählen?
Gewiß, Sie können über mich verfügen, Graf;… und wer ist Ihr zweiter Zeuge?
Ich kenne niemand, dem ich diese Ehre erweisen möchte, als Ihnen, Morel, und Ihrem Schwager Emanuel. Glauben Sie, Emanuel würde mir diesen Dienst leisten?
Ich stehe für ihn, wie für mich, Graf.
Gut! mehrbrauche ich nicht. Morgen früh um sieben Uhrbei mir, nicht wahr?
Wir werden uns einfinden.
Die Nacht.
Fünf Minuten nach Schluß der Oper war der Graf zu Hause und rief Ali, von dem er sich seine Pistolenbringen ließ, dann prüfte er die Waffen mit einer für einen Mann, der sein Leben ein wenig Pulver undBlei anvertraut, sehr natürlichen Sorgfalt.
Er war eben imBegriff, die Waffe in die Hand zu nehmen und sich den Zielpunkt auf einem kleinen Plättchen von Eisenblech, das ihm als Scheibe diente, zu wählen, als die Tür seines Kabinetts sich öffnete undBaptistin eintrat.
Doch ehe dieser ein Wort gesprochen hatte, erblickte der Graf durch die offengebliebene Tür eine verschleierte Frau, dieBaptistin gefolgt war und im Halbschatten des anstoßenden Zimmers stand.
Sie gewahrte den Grafen, eine Pistole in der Hand, sie sah zwei Degen auf dem Tische und stürzte herein.
Baptistinbefragte seinen Herrn mit demBlicke. Der Graf machte ein Zeichen, Baptistin entfernte sich und schloß die Tür hinter sich.
Wer sind Sie, gnädige Frau? fragte der Graf.
Die Unbekannte schaute umher, um sich zu versichern, daß sie allein war, verneigte sich, als wollte sie niederknien, faltete die Hände und rief mit einem Tone der Verzweiflung: Edmond! Sie werden meinen Sohn nicht töten!
Der Graf machte einen Schritt rückwärts, stieß einen schwachen Schrei aus, ließ seine Waffe fallen und erwiderte: Welchen Namen haben Sie da ausgesprochen, Frau von Morcerf?
Den Ihrigen, rief sie, ihren Schleier zurückschlagend, den ich allein nicht vergessen habe. Edmond, nicht Frau von Morcerf kommt zu Ihnen, sondern Mercedes.
Mercedes ist tot, gnädige Frau, sagte Monte Christo, und ich kenne niemand dieses Namens mehr.
Mercedes lebt, mein Herr, und Mercedes erinnert sich, denn sie allein hat Sie erkannt, als sie Ihr Antlitz erblickte, und sogar ohne Sie zu sehen, Edmond, schon am Tone Ihrer Stimme, und seit dieser Zeit folgt sie Ihnen Schritt für Schritt, sie überwacht Sie, sie fürchtet Sie, und sie hatte nicht nötig, die Hand zu suchen, von der der Schlag ausging, der Herrn von Morcerf niederwarf.
Fernand wollen Sie sagen, versetzte Monte Christo mitbitterer Ironie; da wir uns der Namen wieder erinnern, so wollen wir diesen nicht vergessen.
Monte Christo sprach den Namen Fernand mit einem solchen Tone des Hasses aus, daß Mercedes fühlte, wie ein Schauer des Schreckens ihren Leibdurchlief.
Sehen Sie, Edmond, daß ich mich nicht getäuscht habe, rief sie, und daß ich recht hatte, Ihnen zu sagen: Schonen Sie meinen Sohn!
Und wer sagt Ihnen, daß ich gegen Ihren Sohn aufgebrachtbin?
Mein Gott! niemand; aber eine Mutter ist mit dem doppelten Gesichtebegabt. Ich habe alles erraten, ichbin ihm in die Oper gefolgt und habe, in einer Loge verborgen, alles gesehen.
Wenn Sie alles gesehen haben, so haben Sie auch gesehen, daß mich Fernands Sohn öffentlichbeleidigte, sagte Monte Christo mit furchtbarer Ruhe.
Hören Sie. Mein Sohn hat Sie auch erraten; er schreibt Ihnen die Unglücksfälle zu, die seinen Vater treffen.
Gnädige Frau, Sie verwechseln die Sache; es sind nicht Unglücksfälle, es ist eine Strafe. Nicht ichbin es, der Herrn von Morcerf schlägt, es ist die Vorsehung, die ihnbestraft.
Und warum treten Sie an die Stelle der Vorsehung? rief Mercedes. Warum erinnern Sie sich, wenn sie vergißt? Was ist Ihnen, Edmond, an Janina und seinem Wesir gelegen? Welches Unrecht hat Ihnen Fernand Mondego dadurch zugefügt, daß er Ali Tependelini verraten?
Das geht auch nur den fränkischen Kapitän und Wasilikis Tochter an. Sie haben recht, was kümmert's mich? Und wenn ich geschworen habe, mich zu rächen, so ist es weder an dem fränkischen Kapitän, noch an dem Grafen von Morcerf, sondern an dem Fischer Fernand, dem Gatten der Katalonierin Mercedes.
Oh! rief die Gräfin, welch eine furchtbare Rache für einen Fehler, den ein Mißgeschick michbegehen ließ! Denn die Schuldigebin ich, Edmond, und wenn Sie sich an jemand zu rächen haben, so ist es an mir, weil es mir an Kraft gebrach, gegen Ihre Abwesenheit und meine Einsamkeit zu kämpfen.
Doch warum war ich abwesend, warum waren Sie einsam? — Weil Sie im Gefängnis saßen.
Und warum wurde ich verhaftet, warum saß ich im Gefängnis? — Ich weiß es nicht.
Ja, Sie wissen es nicht, gnädige Frau, wenigstens hoffe ich dies. Nun, ich will es Ihnen sagen. Ich wurde verhaftet, ich war Gefangener, weil unter der Laube der Reserve, am Vorabend des Tages, an dem ich Sie heiraten sollte, ein Mensch namens Danglars einenBrief geschrieben hatte, den der Fischer Fernand selbst auf die Post zubringen übernahm.
Monte Christo ging an einen Sekretär, zog eine Schublade auf, aus der er ein vergilbtes Papier nahm und legte dieses Papier vor Mercedes' Angin. Es war derBrief von Danglars an den Staatsanwalt.
Mercedes las voll Schrecken die Denunziation.
Oh! mein Gott, rief sie, mit der Hand über ihre von Schweißbefeuchtete Stirn fahrend; dieserBrief…
Ich habe ihn um 200 000 Franken gekauft, und das war noch wohlfeil, da er mir heute gestattet, mich in Ihren Augen von jeder Schuld freizusprechen.
Und der Erfolg diesesBriefes?
Sie wissen, war meine Verhaftung; doch Sie wissen nicht, wie lange diese Haft gedauert hat; Sie wissen nicht, daß ich vierzehn Jahre, eine Viertelstunde von Ihnen entfernt, in einem Kerker des Kastells If geschmachtet habe. Sie wissen nicht, daß ich jeden Tag in diesen vierzehn Jahren das Gelübde der Rache erneuert habe, das ich am ersten Tage aussprach, und ich wußte nicht einmal, daß Sie Fernand, meinen Denunzianten, geheiratet hatten, und daß mein Vater gestorben, vor Hunger gestorben war!
Gerechter Gott! rief Mercedes wankend.
Aber ich habe dies erfahren, als ich das Gefängnis nach vierzehn Jahren wieder verließ, und darum habe ich geschworen, mich an Fernand zu rächen, und ich räche mich.
Und Sie wissen gewiß, daß Fernand dies getan hat?
Bei meiner Seele. Übrigens ist das nicht schlechter, als wenn man als Franzose durch Adoption zu den Engländern übergeht, als Spanier von Geburt gegen die Spanier kämpft und in Alis Solde Ali verrät und ermordet. Was war im Vergleich dazu derBrief, den Sie gelesen? Ein schlauer Kniff, den die Frau, die diesen Menschen heiratet, ich gestehe undbegreife dies, verzeihen muß, den aber der Geliebte, der sie heiraten sollte, nicht vergißt. Wohl! die Franzosen haben sich nicht an dem Verräter gerächt, die Spanier haben den Verräter nicht erschossen, in seinem Grabe liegend, hat Ali den Verräter unbestraft gelassen; doch ich, verraten, ermordet, ebenfalls in ein Grabgeworfen, bin aus diesem Grabe durch Gottes Gnade hervorgegangen undbin es Gott schuldig, daß ich mich räche; er schickt mich zu diesem Zwecke hierher, und hierbin ich.
Die arme Frau ließ ihren Kopf und ihre Hände sinken; ihreBeinebogen sich unter ihr, und sie fiel auf die Knie.
Verzeihen Sie mir, Edmond, sagte sie, verzeihen Sie, meinetwegen, denn ich liebe Sie noch!
Die Würde der Gattin zügelte den Ausdruck ihrer Worte. Ihre Stirn neigte sich, daß siebeinahe denBodenberührte. Der Graf eilte auf sie zu und hobsie auf. Auf einem Stuhle sitzend, konnte sie nur durch ihre Tränen sein männliches Gesichtbetrachten, aus dem Schmerz und Haß abermals drohend sich ausprägten.
Daß ich das verfluchte Geschlecht nicht niedertrete! murmelte er, daß ich Gott ungehorsam werde, der mich zu seinerBestrafung wiedererweckt hat, unmöglich, gnädige Frau, es kann nicht sein!
Edmond, sagte die arme Mutter, alle Mittel versuchend; mein Gott! wenn ich Sie Edmond nenne, warum nennen Sie mich nicht Mercedes?
Mercedes! wiederholte Monte Christo, Mercedes! ja wohl! Sie haben recht, es ist noch süß für mich, diesen Namen auszusprechen, und zum erstenmale seit langer Zeit klingt er so klar von meinen Lippen. Oh! Mercedes, ich habe Ihren Namen mit den Seufzern der Schwermut, mit dem Stöhnen des Schmerzes, mit dem Röcheln der Verzweiflung ausgesprochen; ich habe ihn ausgesprochen, von der Kälte zu Eis erstarrt, auf dem Stroh meines Kerkers kauernd; ich habe ihn ausgesprochen, verzehrt von der Hitze und mich auf den Platten meines Gefängnisses wälzend. Mercedes, ich muß mich rächen, denn vierzehn Jahre lang habe ich gelitten, vierzehn Jahre lang habe ich geweint, geflucht, nun muß ich mich rächen, Mercedes!
Rächen Sie sich, Edmond, rief die arme Mutter, aber rächen Sie sich an den Schuldigen, rächen Sie sich an mir, rächen Sie sich nicht an meinem Sohne!
Es steht geschrieben im heiligenBuche, antwortete Monte Christo, die Sünden der Eltern sollen auf ihre Kinder zurückfallenbis in das dritte und vierte Glied. Da Gott diese seine eigenen Worte seinem Propheten diktiert hat, warum sollte ichbesser sein als Gott?
Weil Gott vor den Menschen die Zeit und die Ewigkeit hat.
Monte Christo stieß ein Stöhnen aus.
Edmond! fuhr Mercedes, die Arme gegen den Grafen ausstreckend, fort, seitdem ich Sie kenne, habe ich Ihren Namen angebetet, Ihr Andenken geehrt, Edmond! Oh, zwingen Sie mich nicht, dieses edleBild zu trüben, das unablässig in dem Spiegel meines Herzens widerstrahlte. Edmond, wenn Sie alle Gebete kennen würden, die ich für Sie an Gott richtete, solange ich hoffte, Sie wären noch am Leben, und seitdem ich Sie für tot hielt! Ja für tot, man sagte, Sie hätten fliehen wollen, Sie wären in das Leichentuch eines Toten geschlüpft, und sodann vom Kastell herabin das Meer geschleudert worden; der Schrei, den Sie, auf den Felsen zerschellend, ausgestoßen, habe Ihre verwegene Tat und zugleich Ihren Tod verkündet. Wohl! Edmond, ich schwöre Ihnenbei dem Haupte des Sohnes, für den ich zu Ihnen flehe, Edmond, zehn Jahre lang sah ich jede Nacht Menschen, die etwas auf einem Felsen schaukelten; zehn Jahre lang hörte ich einen furchtbaren Schrei, der mich eisig erschauern ließ, so daß ich erwachte. Und auch ich, Edmond, oh! glauben Sie mir, auch ich, so sehr ich schuldig war, habe viel gelitten!
Haben Sie gefühlt, wie Ihr Vater während Ihrer Abwesenheit verhungert ist? rief Monte Christo, haben Sie die Frau, die Sie liebten, dem Nebenbuhler die Hand reichen sehen, während Sie in der Tiefe des Abgrundes röchelten?
Nein, doch ich habe den, welchen ich liebte, bereit gesehen, der Mörder meines Sohnes zu werden!
Mercedes sprach diese Worte mit einem so mächtigen Schmerz, mit einem so verzweiflungsvollen Ausdruck, daß sich derBrust des Grafen ein schmerzliches Schluchzen entriß. Der Löwe warbezähmt, der Rächer warbesiegt.
Was verlangen Sie von mir? sagte er; daß Ihr Sohn lebe? Wohl! er wird leben!..
Mercedes stieß einen Schrei aus, der zwei Tränen unter den Augenlidern des Grafen hervorquellen ließ; doch sie verschwanden sofort wieder, denn ohne Zweifel hatte Gott einen Engel geschickt, um sie zu sammeln, da sie viel kostbarer waren in den Augen des Herrn, als die kostbarsten Perlen.
Oh! rief sie, die Hand des Grafen ergreifend und an ihre Lippen drückend, oh! Dank, Dank, Edmond! Nunbist du so, wie ich dich immer geträumt, wie ich dich geliebt habe. Oh! nun kann ich es dir sagen.
Um so eher, erwiderte Monte Christo, als der arme Edmond nicht mehr viel Zeit haben wird, von Ihnen geliebt zu werden. Der Tod kehrt in das Grab, das Gespenst kehrt in die Nacht zurück.
Was sagen Sie, Edmond? — Ich sage, da Sie esbefehlen, Mercedes, so muß ich sterben.
Sterben! Und wer sagt dies? Wer spricht vom Sterben? Woher kommen Ihnen diese Todesgedanken?
Sie können nicht annehmen, daß ich, öffentlich, im Angesicht eines ganzen Saales, in Gegenwart der Freunde Ihres Sohnes herausgefordert undbeleidigt, noch länger leben mag. Was ich nach Ihnen am meisten auf der Welt geliebt, Mercedes, dasbin ich, das heißt, meine Würde, das heißt diese Kraft, durch die ich über andere Menschen erhaben war; diese Kraft war mein Leben; Siebrechen sie, und ich sterbe.
Doch der Zweikampf wird nicht stattfinden, Edmond, da Sie verzeihen.
Er wird stattfinden, sagte feierlich Monte Christo, nur wird statt desBlutes Ihres Sohnes meines fließen.
Mercedes stieß einen gewaltigen Schrei aus und stürzte auf Monte Christo zu, doch plötzlich hielt sie an und sagte: Edmond, es ist ein Gott über uns, da Sie leben, da ich Sie wiedergesehen, und ichbaue auf ihn aus der Tiefe meines Herzens. Indem ich auf seine Hilfe hoffe, verlasse ich mich auf Ihr Wort. Sie haben gesagt, mein Sohn werde leben; nicht wahr, er wird leben?
Ja, er wird leben, sagte Monte Christo, erstaunt, daß Mercedes seine eigene Aufopferung ohne weiteren Protest angenommen hatte.
Mercedes reichte dem Grafen die Hand und sagte, während ihre Augen sich mit Tränenbefeuchteten: Edmond, wie schön ist es von Ihnen, wie groß ist das, was Sie soeben getan, wie erhaben ist es, mit einer Frau Mitleid zu haben, die kaum mit einem Schimmer von Hoffnung vor Sie trat! Ach! ichbin mehr durch den Kummer als durch die Jahre alt geworden und kann meinen Edmond nicht einmal mehr durch einenBlick an jene Mercedes erinnern, die er nicht müde wurde anzuschauen. Oh! glauben Sie nur, Edmond, ich habe Ihnen gesagt, daß auch ich gelitten; ich wiederhole Ihnen, es ist sehr traurig, sein Leben hingehen zu sehen, ohne sich einer einzigen Freude zu erinnern, ohne eine einzige Hoffnung zubewahren. Aber ich wiederhole Ihnen auch, Edmond, es ist groß, es ist schön, es ist erhaben, zu verzeihen, wie Sie es getan haben!
Mercedes schaute noch einmal den Grafen mit einer Miene an, die zugleich ihr Erstaunen, ihreBewunderung und ihre Dankbarkeit ausdrückte. Dann sagte sie innig:
Edmond, ich habe Ihnen nur noch ein Wort zu sagen. Sie werden sehen, daß, wenn meine Stirn erbleicht ist, wenn meine Augen erloschen sind, wenn Mercedes in ihren Zügen sich selbst nicht mehr gleicht, Sie werden sehen, daß das Herz immer noch das gleiche Gefühl hegt! Leben Sie wohl, Edmond; ich habe vom Himmel nichts mehr zu verlangen!.. Ich habe Sie wiedergesehen, und so groß und edel gesehen wie einst. Gottbefohlen, Edmond… und Dank!
Doch der Graf antwortete nicht.
Mercedes öffnete die Tür des Kabinetts und war verschwunden, ehe er aus der tiefen, schmerzlichen Träumerei erwachte, in die ihn die plötzliche Verrückung seines Rache- und Lebenszieles versenkt hatte.
Es schlug ein Uhr im Invalidenhause, als der Graf von Monte Christobei dem Geräusch des Wagens, der Frau von Morcerf fortführte, den Kopf erhob.
Ich Wahnsinniger, sagte er, daß ich mir nicht an dem Tage, wo ich mich zu rächenbeschloß, das Herz ausgerissen habe!
Das Duell.
Nach Mercedes Entfernung versankbei Monte Christo altes wieder in Schatten. Wie! sagte er zu sich selbst, während sich die Lampe und die Kerzen traurig verzehrten und die Diener ungeduldig im Vorzimmer warteten; wie, das so langsam vorbereitete, mit so viel Mühe und so vielen Sorgen errichtete Gebäude ist mit einem einzigen Schlage, mit einem einzigen Worte, mit einem Hauche eingestürzt! Wie! Dieses Ich, das ich für etwas hielt, dieses Ich, auf das ich so stolz war, dieses Ich, das ich in den Kerkern des Schlosses If so klein gesehen und dann so groß zu machen gewußt hatte, wird morgen ein Häuflein Staubsein! Ach! es ist nicht der Tod des Körpers, was ichbeklage. Was ist der Tod für mich? Eine weitere Stufe in der Ruhe und zwei weitere in der Stille. Nein, es ist nicht das Dasein, was ichbeklage, es ist die Zertrümmerung meiner so mühsam ausgearbeiteten und aufgebauten Entwürfe. Die Vorsehung, von der ich glaubte, sie sei mit mir, war also dagegen?
Die Last, fast so schwer wie eine Welt, die ich aufhobundbis an das Ziel tragen zu können glaubte, entsprach meinem Wunsche, aber nicht meiner Kraft; meinem Willen, aber nicht meiner Macht, und ich muß sie schon auf der Hälfte des Weges niederlegen. Oh! ich werde wieder Fatalist werden, ich, den vierzehn Jahre der Verzweiflung und sechzehn Jahre der Hoffnung zu einem Gottesverehrer gemacht haben!
Und dies alles, mein Gott! weil mein Herz, das ich für tot hielt, nur entschlummert war, weil es erwachte, weil es schlug, weil ich dem Schmerze dieses Herzschlages nachgab, den die Stimme einer Frau in der Tiefe meinerBrust wieder zum Leben erweckte. Und dennoch, fuhr der Graf, sich immer mehr in die Gedanken an den nächsten Tag vertiefend, fort, und dennoch ist es unmöglich, daß diese Frau, ein so edles Herz, aus Selbstsucht eingewilligt hat, mich, den Mann voll Kraft und Leben, töten zu lassen! Es ist unmöglich, daß siebis zu diesem Grade die mütterliche Liebe, oder vielmehr den mütterlichen Wahnsinn treibt! Es gibt Tugenden, deren Übertreibung ein Verbrechen wäre. Nein, sie wird irgend eine pathetische Szene ersonnen haben, sie wird kommen und sich zwischen die Degen werfen, uns das wird das Erhabene lächerlich machen.
Die Röte des Stolzes stieg Monte Christo auf die Stirn.
Lächerlich, wiederholte er, und die Lächerlichkeit wird auf mich zurückfallen… Ich, lächerlich! Lieber sterben. Dummheit! Dummheit! rief er endlich, so den Edelmut üben und sich wie eine träge Zielscheibe vor den Pistolenlauf eines jungen Mannes stellen! Nie wird er glauben, daß mein Tod ein Selbstmord sei, und dennochbin ich es der Ehre meines Andenkens schuldig, daß die Welt erfährt, ich habe freiwillig meinenbereits zum Schlage erhobenen Arm aufgehalten, und mich mit dem gegen andere so mächtigbewaffneten Arm selbst geschlagen. Es muß sein, und ich werde es tun.
Und er nahm eine Feder, zog ein Papier aus dem geheimen Fache seinesBüros und fügte unten an die Schrift, die nichts anderes war, als sein nach seiner Ankunft in Paris gemachtes Testament, einen Nachtrag, der die Ursache seines Todes auch demBlödesten klar legte.
Mein Gott! ich tue dies, sagte er, die Augen zum Himmel aufschlagend, ich tue dies ebensowohl für deine Ehre, als für die meinige. Oh, mein Gott! ich habe mich seit zehn Jahren als den Abgesandten deiner Rachebetrachtet, und es soll sich kein Elender wie dieser Morcerf, es soll sich kein Danglars, kein Villefort einbilden, der Zufall habe sie von ihrem Feindebefreit. Sie mögen erfahren, daß die Vorsehung, diebereits ihreBestrafungbeschlossen, nur durch die Macht meines Willens eine Änderung gestattete, daß die Strafe nur aufgeschoben ist und in der andern Welt ihrer harrt, und daß sie für die Zeit nur die Ewigkeit eingetauscht haben.
Während er so in der düsteren Ungewißheit und den üblen Träumen eines durch den Schreck erweckten Menschen schwebte, begann der Tag an den Fenstern zu erscheinen und unter seinenbleichen Händen das Papier zu erhellen, auf das er diese seine letzte Rechtfertigung geschrieben hatte. Plötzlich drang ein leichtes Geräusch an sein Ohr. Er glaubte etwas wie einen erstickten Seufzer gehört zu haben; er wandte den Kopf, schaute umher und sah niemand. Nun wiederholte sich aber das Geräusch deutlich.
Da stand er auf, öffnete sacht die Tür des Salons und sah auf einem Lehnstuhle mit niederhängenden Armen und geneigtembleichem Kopf Haydee, die sich quer vor die Tür gesetzt hatte, damit er nicht, ohne sie zu sehen, hinausgehen könnte, die aber nach langem Wachen von dem übermächtigen Schlafbezwungen worden war.
Das Geräusch der Tür weckte sie nicht, und Monte Christo heftete einenBlick voll Weichheit und Mitleid auf sie.
Sie hat sich erinnert, daß sie einen Sohnbesitzt, sagte er, und ich habe vergessen, daß ich eine Tochterbesitze. Dann fuhr er, traurig den Kopf schüttelnd, fort: Arme Haydee! sie wollte mich sehen, sie wollte mich sprechen, sie hat etwasbefürchtet oder erraten… Ah! ich kann nicht von hinnen, ohne ihr Lebewohl zu sagen, ich kann nicht sterben, ohne sie irgend jemand anzuvertrauen.
Und er kehrte sacht an seinen Platz zurück und schriebunter die ersten Zeilen:
Ich vermache Maximilian Morel, Kapitän der Spahis und Sohn meines ehemaligen Patrons Pierre Morel, Reeders in Marseille, zwanzig Millionen, wovon ein Teil von ihm seiner Schwester Julie und seinem Schwager Emanuel angeboten werden soll, wenn er nicht glaubt, ein solcher Vermögenszuwachs könne ihrem Glücke schaden. Diese zwanzig Millionen sind in meiner Grotte in Monte Christo vergraben, deren GeheimnisBertuccio kennt.
Ist sein Herz frei, und er will Haydee, die Tochter Alis, des Paschas von Janina, heiraten, die ich mit der Liebe eines Vaters erzogen habe, und die für mich die Liebe und Zärtlichkeit einer Tochter gehabt hat, so wird er dadurch meinen letzten Wunsch erfüllen.
Gegenwärtiges Testament hatbereits Haydee zur Erbin meines übrigen Vermögens gemacht, das in Ländereien, englischen, und holländischen Renten und in dem Mobiliar in meinen verschiedenen Palästen und Häusernbesteht, was sich nach Abzug dieser zwanzig Millionen und der verschiedenen Legate zu Gunsten meiner Diener immer noch auf sechzig Millionenbelaufen mag.
Er vollendete eben die letzte Zeile, als ein hinter ihm ausgestoßener Schrei die Feder seinen Händen entfallen ließ. Haydee, sagte er, du hast gelesen?
Erweckt vom Tageslicht, das auf ihre Augenlider fiel, hatte sie sich in der Tat erhoben und dem Grafen genähert, ohne daß er ihre leichten und überdies vom Teppich gedämpften Tritte gehört hatte.
Oh! Herr, sprach sie, die Hände faltend, warum schreibst du zu einer solchen Stunde? Warum vermachst du mir dein ganzes Vermögen? Du verläßt mich?
Ich will eine Reise machen, liebes Kind, sagte Monte Christo mit einem Ausdrucke voll unendlicher Schwermut und Zärtlichkeit, und wenn mir Unglück widerführe… Der Graf hielt inne.
Nun?… fragte Haydee mit einerBestimmtheit, die der Graf nicht an ihr kannte.
Nun, wenn mir das Unglück widerführe, sagte Monte Christo, so will ich, daß meine Tochter glücklich sei.
Haydee schüttelte traurig den Kopf und sagte: Du denkst an den Tod, oh Herr?
Es ist ein heilsamer Gedanke, wie der Weise sagt. Wohl! wenn du stirbst, sagte sie, so vermache dein Vermögen anderen, denn ichbrauche nichts mehr.
Und sie nahm das Papier und zerriß es in vier Stücke, die sie mitten in das Zimmer warf. Doch diese für eine Sklavin so ungewöhnliche Energie hatte ihre Kräfte erschöpft, und sie fiel ohnmächtig zuBoden. Monte Christo neigte sich auf sie herabund hobsie in seinen Armen empor; und als er dieses schöne, bleiche Antlitz, diese schönen, geschlossenen Augen, diesen schönen, unbelebten Körper sah, kam ihm zum erstenmale der Gedanke, sie liebe ihn vielleicht auf andere Weise, als wie eine Tochter ihren Vater liebt.
Ach! murmelte er mit einer tiefen Entmutigung, ich hätte vielleicht noch glücklich sein können!
Dann trug er Haydee in ihr Gemach, übergabsie hier, noch ohnmächtig, den Händen ihrer Frauen, kehrte in sein Kabinett zurück, das er rasch schloß, und schriebnun das zerrissene Testament noch einmal. Als er vollendete, ließ sich das Geräusch eines in den Hof fahrenden Wagens hören. Monte Christo näherte sich dem Fenster und sah Maximilian und Emanuel aussteigen.
Gut, sagte er, es war Zeit! Und er versiegelte sein Testament mit einem dreifachen Siegel.
Nach einem Augenblick hörte er das Geräusch von Tritten im Salon und öffnete selbst. Morel erschien auf der Schwelle, zwanzig Minuten vor der verabredeten Stunde.
Ich komme vielleicht zubald, Herr Graf, sagte er, aber ich gestehe offen, ich konnte keine Minute schlafen, und so war es im ganzen Hause. Um wieder ich selbst zu werden, mußte ich Sie stark in Ihrer mutigen Sicherheit sehen.
Monte Christo vermochte diesemBeweise von Zuneigung nicht zu widerstehen, und er reichte dem jungen Manne nicht die Hand, sondern öffnete ihm seine Arme.
Morel, sagte er mitbewegter Stimme, es ist ein schöner Tag für mich, der Tag, an dem ich mich von einem Manne, wie Sie sind, geliebt fühle… Guten Morgen, Herr Emanuel. Sie kommen also mit mir, Maximilian?
Bei Gott! erwiderte der junge Mann, haben Sie daran gezweifelt?
Ich hatte jedoch unrecht…
Hören Sie, ichbeobachtete Sie gestern während der ganzen Herausforderungsszene, ich dachte die ganze Nacht hindurch an Ihre Sicherheit und sagte mir, wenn nicht alles trügt, muß die Gerechtigkeit für Sie sein.
Ich danke, Morel.
Dann schlug der Graf einmal auf das Glöckchen und sagte zu Ali, der sogleich eintrat: Laß dies zu meinem Notar tragen. Es ist mein Testament, Morel. Wenn ich totbin, nehmen Sie Kenntnis davon.
Wie! rief Morel, Sie tot?
Ei! muß man nicht auf alles gefaßt sein, lieber Freund? Doch, Morel, sagte der Graf, Sie sahen mich nie mit Pistolen schießen? — Nein.
Wohl, wir haben noch Zeit, sehen Sie!
Monte Christo nahm seine Pistolen, klebte ein Kreuzaß an die Scheibe und schoß mit vier aufeinander folgenden Schüssen, die vier Zweige des Kreuzes weg. Bei jedem Schusse erbleichte Morel.
Er untersuchte die Kugeln, mit denen Monte Christo dieses Kraftstück ausführte, und sah, daß sie nicht dicker waren, als Rehschrote.
Das ist furchtbar, sagte er, sehen Sie, Emanuel! Dann wandte er sich an Monte Christo mit den Worten: Graf, im Namen des Himmels, töten Sie Albert nicht, der Unglückliche hat eine Mutter!
Das ist richtig, sagte Monte Christo, und ich habe keine.
Diese Worte wurden in einem Tone gesprochen, der Morelbeben ließ.
Sie sind derBeleidigte, Graf, und schießen zuerst.
Ich schieße zuerst.
Oh! das habe ich erlangt, oder vielmehr gefordert.
Auf wieviel Schritte? — Auf zwanzig.
Ein furchtbares Lächeln zog über die Lippen des Grafen hin, als er sagte: Morel, vergessen Sie nicht, was Sie soeben gesehen haben.
Ich rechne nur auf Ihre Aufregung, um Albert zu retten, sprach der junge Mann.
Ich aufgeregt? entgegnete Monte Christo.
Oder auf Ihren Edelmut, mein Freund; bei der Sicherheit Ihres Schusses kann ich Ihnen nur eines sagen, was lächerlich wäre, wenn ich es einem anderen sagen würde.
Was?
Zerschmettern Sie ihm den Arm, verwunden Sie ihn, aber töten Sie ihn nicht.
Morel, hören Sie noch folgendes; ichbedarf keiner Aufmunterung, Herrn von Morcerf zu schonen; Herr von Morcerf, das künde ich Ihnen zum voraus an, wird so geschont sein, daß er ruhig mit seinen Freunden zurückkommt, während ich…
Nun! Sie?
Oh! Mich wird man zurücktragen.
Gehen Sie! rief Maximilian außer sich.
Es ist, wie ich Ihnen sage, mein lieber Morel, Herr von Morcerf wird mich töten.
Morel schaute den Grafen wie ein Mensch an, der nicht mehrbegreift.
Was ist Ihnen seit gestern abendbegegnet?
Es ist mirbegegnet, wasBrutus am Vorabend der Schlacht von Philippibegegnete: ich habe ein Gespenst gesehen.
Und dieses Gespenst?
Dieses Gespenst sagte mir, ich habe genug gelebt.
Maximilian und Emanuel schauten einander an; Monte Christo zog seine Uhr und sagte: Gehen wir, es ist sieben Uhr, und die Zusammenkunft ist auf Punkt acht Uhrbestellt.
Ein angespannter Wagen wartete; Monte Christo stieg mit seinen Zeugen ein. Als man durch den Flur ging, bliebMonte Christo vor einer Tür stehen, um zu horchen; Maximilian und Emanuel, die aus Diskretion einige Schritte vorausgegangen waren, glaubten ihn seufzen zu hören. Schlag acht war man an dem verabredeten Platze.
Wir sind an Ort und Stelle und kommen zuerst, sagte Morel, den Kopf durch den Kutschenschlag steckend.
Der Herr wird mich entschuldigen, versetzteBaptistin, der seinem Gebieter mit unsäglichem Schrecken gefolgt war, ich glaube dort unter denBäumen einen Wagen zubemerken.
Monte Christo sprang leicht aus seiner Kalesche und gabEmanuel und Maximilian die Hand, um ihnen aussteigen zu helfen. Maximilian hielt die Hand des Grafen in der seinigen zurück und sagte: Das gefällt mir, das ist eine Hand, wie ich sie gernbei einem Manne sehe, dessen Leben auf seiner guten Sacheberuht.
Ich erblicke wirklich zwei junge Männer, die auf und abgehen und zu warten scheinen, sagte Emanuel.
Monte Christo zog Morel ein paar Schritte hinter seinen Schwager zurück und fragte ihn: Max, ist Ihr Herz frei?
Morel schaute Monte Christo erstaunt an.
Ich verlange kein Geständnis von Ihnen, mein Freund, ich richte eine einfache Frage an Sie; antworten Sie ja oder nein, mehr verlange ich nicht von Ihnen.
Ich liebe ein Mädchen, Graf.
Lieben Sie es innig? — Mehr als mein Leben.
Da entgeht mir abermals eine Hoffnung, sagte Monte Christo. Dann murmelte er mit einem Seufzer: Arme Haydee!
In der Tat, Graf, rief Morel, wenn ich Sie weniger kennen würde, müßte ich Sie für minder tapfer halten, als Sie sind.
Weil ich an jemand denke, den ich verlassen soll, und seufze? Morel, versteht sich ein Soldat so wenig auf den Mut! Beklage ich das Leben? Was ist mir an Leben oder Sterben gelegen, mir, der zwanzig Jahre zwischen Leben und Tod zugebracht hat? Seien Sie übrigens unbesorgt, diese Schwäche, wenn man es eine Schwäche nennen darf, ist nur für Sie vorhanden. Ich weiß, daß die Welt ein Salon ist, den man höflich und anständig, das heißt grüßend und seine Spielschuldenbezahlend, verlassen muß.
Gut! das heiße ich sprechen, sagte Morel. Doch haben Sie Ihre Waffen mitgebracht?
Ich? Warum? Ich hoffe, diese Herren werden die ihrigen haben.
Ich will mich erkundigen.
Morel ging aufBeauchamp und Chateau‑Renaud zu. Als diese MaximiliansBewegungbemerkten, traten sie ihm einige Schritte entgegen. Die drei jungen Leute grüßten sich, wenn nicht freundlich, doch höflich.
Verzeihen Sie, meine Herren, sagte Morel, doch ich sehe Herrn von Morcerf nicht.
Er hat uns heute morgen sagen lassen, er würde erst an Ort und Stelle mit uns zusammentreffen.
Übrigens kommt hier ein Wagen, bemerkte Chateau‑Renaud.
Es kam wirklich in scharfem Trabe ein Wagen herbei.
Meine Herren, sagte Morel, ohne Zweifel haben Sie Pistolenbei sich, Herr von Monte Christo erklärt, er leiste auf sein Recht, sich der seinigen zubedienen, Verzicht.
Wir sahen diese Zartheit von seiten des Grafen vorher, Herr Morel, antworteteBeauchamp, und ichbrachte die Pistolen mit, die ich mir vor acht Tagen gekauft habe. Sie sind ganz neu und haben noch niemand gedient; wollen Sie sie untersuchen?
HerrBeauchamp, erwiderte Morel, sich verbeugend, wenn Sie mir versichern, Herr von Morcerf kenne diese Waffen nicht, so genügt mir natürlich Ihr Wort.
Meine Herren, sagte Chateau‑Renaud, nicht Morcerf ist in diesem Wagen angekommen, sondern Franz und Debray.
Sie hier, meine Herren! sagte Chateau‑Renaud, mit jedem einen Händedruck austauschend, und durch welchen Zufall?
Albert hat unsbitten lassen, wir möchten uns hier einfinden.
Beauchamp und Chateau‑Renaud sahen sich erstaunt an.
Meine Herren, versetzte Morel, ich glaube zubegreifen.
Lassen Sie hören.
Gestern nachmittag erhielt ich einenBrief von Herrn von Morcerf, der michbat, in die Oper zu kommen.
Und ich auch, sagte Debray.
Und ich auch, sprach Franz.
Und wir auch, sagten Chateau‑Renaud undBeauchamp.
Sie sollten nach seinem Willenbei der Herausforderung gegenwärtig sein, fuhr Morel fort, und sollen nun auch seinem Zweikampfebeiwohnen.
Ja, meinten alle, so wird es sein.
Doch Albert kommt immer noch nicht, murmelte Chateau‑Renaud, es sind zehn Minuten darüber.
Hier kommt er, riefBeauchamp, er ist zu Pferde und reitet, von seinemBedientenbegleitet, mit Windeseile.
Welche Unklugheit, sagte Chateau‑Renaud, zu Pferde zu kommen, um sich auf Pistolen zu schlagen! Ich habe ihm doch eine so gute Lektion gegeben!
Und dann, sehen Sie, sagteBeauchamp, mit einem Kragen an der Halsbinde, mit offenem Rock und weißer Weste; warum hat er sich nicht einen schwarzen Fleck auf den Magen zeichnen lassen, das wäre noch einfacher gewesen.
Währenddessen war Albertbis auf zehn Schritte herangekommen? er hielt sein Pferd an, sprang zuBoden und warf die Zügel seinemBedienten zu.
Albert warbleich und hatte rote, geschwollene Augen; man sah, daß er die ganze Nacht keine Sekunde geschlafen. Über sein ganzes Antlitz war ein Ausdruck traurigen Ernstes gebreitet, wie man ihn sonst niebei ihm sah.
Ich danke, meine Herren, daß Sie die Güte gehabt haben, meiner Einladung zu entsprechen, sagte er, glauben Sie mir, ichbin Ihnen für dieses Zeichen der Freundschaft im höchsten Maße erkenntlich.
Morel hatte, als sich Morcerf näherte, zehn Schritte rückwärts gemacht und stand entfernt.
Auch Ihnen gebührt mein Dank, Herr Morel, sagte Albert. Kommen Sie zu uns, Sie sind nicht zuviel hier.
Mein Herr, erwiderte Maximilian, Sie wissen vielleicht nicht, daß ich Zeuge Ihres Gegnersbin.
Ich war dessen nicht gewiß, doch vermutete ich es. Destobesser! je mehr Ehrenmänner hier anwesend sind, desto mehr werde ich michbefriedigt fühlen.
Herr Morel, sagte Chateau‑Renaud, Sie können dem Herrn Grafen von Monte Christo ankündigen, daß Herr von Morcerf eingetroffen ist und daß wir zu seiner Verfügung stehen.
Morel machte eineBewegung, um sich seines Auftrages zu entledigen. Beauchamp zog zu gleicher Zeit sein Pistolenkästchen aus dem Wagen.
Warten Sie, meine Herren, sagte Albert, ich habe Herrn von Monte Christo ein paar Worte zu sagen.
Unter vier Augen? fragte Morel.
Nein, vor allen.
Alberts Zeugen schauten sich erstaunt an; Franz und Debray wechselten leise ein paar Worte, und Morel kehrte, freudig über diesen unerwarteten Zwischenfall, zu dem Grafen zurück, der mit Emanuel spazieren ging.
Was will er von mir? fragte Monte Christo.
Ich weiß nicht; er verlangt mit Ihnen zu sprechen.
Oh! er versuche Gott nicht durch eine neueBeleidigung!
Ich glaube nicht, daß dies seine Absicht ist, entgegnete Morel.
Der Graf ging, von Maximilian und Morelbegleitet, vorwärts; sein ruhiges, heiteres Antlitz stand in seltsamem Widerspruch zu dem verstörten Antlitz Alberts, der sich ihm mit den vier jungen Leuten näherte.
Drei Schritte voneinanderblieben Albert und der Graf stehen.
Meine Herren, nähern Sie sich, sagte Albert; kein Wort von dem, was ich Herrn von Monte Christo zu sagen die Ehre haben werde, soll verloren gehen, denn was ich sage, mögen Sie jedem wiederholen, der es hören will, so seltsam meine Rede auch erscheinen mag.
Ich warte, mein Herr, sagte der Graf.
Herr Graf, begann Albert mit einer anfangs zitternden Stimme, die jedoch immer mehr Sicherheit gewann, Herr Graf, ich machte Ihnen zum Vorwurf, daß Sie dasBenehmen des Herrn von Morcerf in Epirusbekannt machten, denn so schuldig auch Herr von Morcerf war, so glaubte ich doch nicht, Sie seienberechtigt, ihn zubestrafen. Heute aber weiß ich, daß Sie dieses Recht haben. Nicht der Verrat Fernand Mondegos gegen Ali Pascha macht mich sobereitwillig, Sie zu entschuldigen, sondern der Verrat des Fischers Fernand gegen Sie und das unerhörte Unglück, das die Folge dieses Verrats gewesen ist. Auch sage ich und erkläre ich laut: Ja, mein Herr, Sie haben recht gehabt, sich an meinem Vater zu rächen, und ich, sein Sohn, danke Ihnen, daß Sie nicht mehr getan haben.
Hätte derBlitz mitten unter die Zuschauer dieser unerwarteten Szene geschlagen, sie wären sicherlich nicht erstaunter gewesen, alsbei dieser Erklärung.
Monte Christo erhoblangsam die Augen zum Himmel mit einem Ausdrucke unendlicher Dankbarkeit und konnte nicht genugbewundern, wie die aufbrausende Natur Alberts, dessen Mut er in Rom kennen gelernt hatte, sich so völlig unter diese Demütigungbeugte. Er erkannte Mercedes' Einfluß undbegriff, wie deren edles Herz sich dem Opfer nicht widersetzt hatte, von dem es zum voraus wußte, daß es unnötig sein sollte.
Wenn Sie nun meine Entschuldigungen genügend finden, mein Herr, sagte Albert, sobitte ich Sie, geben Sie mir Ihre Hand.
Das Auge feucht, dieBrustbeklommen, den Mund halbgeöffnet, reichte Monte Christo Albert seine Hand, die dieser mit einem Gefühle drückte, das einem ehrfurchtsvollen Schrecken glich.
Meine Herren, sagte er, Herr von Monte Christo hat die Güte, meine Entschuldigungen anzunehmen; ich hatte voreilig gegen ihn gehandelt. Die Eile ist eine schlechte Ratgeberin, ich handelte schlecht. Nun ist mein Fehler wieder gutgemacht. Ich hoffe, die Welt wird mich nicht für feig halten, weil ich getan, was mir mein Gewissenbefohlen. Doch in jedem Falle, sollte man meinen Schritt falsch auffassen, sagte der junge Mann, stolz das Haupt erhebend, und als richtete er eine Aufforderung an seine Freunde und an seine Feinde, in jedem Fall würde ich diese Ansicht über mich in das rechte Geleise zubringen wissen.
Was hat sich denn in der letzten Nacht ereignet? fragteBeauchamp Chateau‑Renaud; es scheint mir, wir spielen hier eine traurige Rolle.
In der Tat, was Albert getan, ist entweder sehr erbärmlich oder sehr schön, antwortete derBaron.
Ah! lassen Sie hören? fragte Franz Debray, was soll dasbedeuten? Wie! der Graf von Monte Christo entehrt Herrn von Morcerf, und er hat recht in den Augen seines Sohnes? Hätte ich zehn Janina in meiner Familie, so würde ich mich verpflichtet fühlen, mich zehnmal zu schlagen.
Die Stirn gesenkt, die Arme schlaff, niedergebeugt unter der Last von vierundzwanzig Jahren der Erinnerung, dachte Monte Christo weder an Albert, noch anBeauchamp, noch an Chateau‑Renaud, noch an irgend einen von denen, die sich auf dem Platze fanden, sondern er dachte an die mutige Frau, die ihn um das Leben ihres Sohnes gebeten, der er das seinige angeboten, und die es ihm durch das furchtbare Geständnis eines Familiengeheimnisses gerettet, das in dem jungen Manne das Gefühl der Sohnesliebe für immer austilgte.
Stets die Vorsehung, murmelte er. Ah! heute erst weiß ich ganz gewiß, daß ich der Abgesandte Gottesbin.
Mutter und Sohn.
Der Graf von Monte Christo grüßte die fünf jungen Männer mit einem Lächeln voll Schwermut und Würde und stieg mit Emanuel und Maximilian wieder in seinen Wagen.
Albert, Beauchamp und Chateau‑Renaudblieben allein zurück. Der junge Mann heftete auf seine Zeugen einenBlick, der sie, ohne schüchtern zu sein, doch um ihre Ansicht über das, was vorgefallen war, zu fragen schien.
Meiner Treu, Freund! sagteBeauchamp, erlauben Sie mir, Ihnen Glück zu wünschen; das ist eine sehr unerwartete Entwickelung einer höchst unangenehmen Geschichte.
Albertbliebstumm und in Träumerei versunken. Chateau‑Renaudbegnügte sich, seinen Stiefel mit seinem Stocke zu peitschen. Gehen wir nicht? sagte er nach peinlichem Stillschweigen.
Wann es Ihnenbeliebt, erwiderteBeauchamp; lassen Sie mir nur Zeit, Herrn von Morcerf mein Kompliment zu machen, er hat heute einenBeweis von so ritterlichem, von so… seltenem Edelmut abgelegt!
Sicher; ich für meine Person wäre dazu unfähig gewesen, versetzte Chateau‑Renaud mit immer kälterem Tone.
Meine Herren, unterbrach sie Albert, ich glaube, Sie haben nichtbegriffen, daß zwischen Herrn von Monte Christo und mir etwas sehr Ernstes vorgefallen ist…
Doch! doch! entgegneteBeauchamp rasch; es werden aber nicht alle Pariser imstande sein, Ihren Heldenmut zubegreifen, und früher oder später dürften Sie sich genötigt sehen, ihnen die Sache energischer zu erklären, als es für die Gesundheit Ihres Körpers und für die Dauer Ihres Lebens zuträglich sein möchte. Soll ich Ihnen einen Freundesrat geben? Gehen Sie nach Neapel, nach St. Petersburg, in Länder, wo man im Punkte der Ehre vernünftiger ist, als unsere verbrannten Pariser Gehirne. Sind Sie einmal dort, so schießen Sie mit der Pistole aus Leibeskräften und üben sich in Quarten und Terzen vom Morgenbis in die Nacht. Dann hat man Sie so weit vergessen, daß Sie in einigen Jahren unbehelligt nach Frankreich zurückkehren können, oder Sie sind geübt genug in der Handhabung der Waffen, um Ihre Ruhe wiederzuerobern. Nicht wahr, ich habe recht, Herr von Chateau‑Renaud?
Ichbin vollkommen Ihrer Meinung, antwortete der Edelmann, nichts ruft so viele ernste Duelle hervor, als der Rücktritt von einem Duell.
Ich danke, meine Herren, erwiderte Albert mit kaltem Lächeln, ich werde Ihren Ratbefolgen, nicht weil Sie mir ihn geben, sondern weil es meine Absicht war, Frankreich zu verlassen. Ich danke Ihnen auch für den Dienst, den Sie mir dadurch geleistet, daß Sie mir als Zeugen dienten. Er ist tief in mein Herz eingegraben, da ich nach den Worten, die ich soeben gehört, mich mir noch seiner erinnere.
Chateau‑Renaud undBeauchamp schauten sich an, der Eindruck warbeibeiden derselbe, und der Ton, mit dem Morcerf seinen Dank ausgedrückt, trug das Gepräge solcher Entschlossenheit an sich, daß die Lage für alle peinlich geworden wäre, wenn das Gespräch fortgedauert hätte.
Gottbefohlen, Albert, sagte plötzlichBeauchamp, dem jungen Manne eine Hand reichend, ohne daß dieser aus seiner Lethargie zu erwachen schien.
Er ergriff in der Tat die Hand nicht.
Gottbefohlen! sagte Chateau‑Renaud, in der linken Hand sein Stöckchen haltend und mit der rechten grüßend.
Alberts Lippen murmelten kaum: Gottbefohlen! SeinBlick war deutlicher, er enthielt ein ganzes Kapitel von gepreßtem Zorn, stolzer Verachtung und edler Entrüstung. Erbeobachtete noch eine Zeitlang eine unbewegliche, schwermütige Haltung; dann machte er sein Pferd vomBaume los, sprang leicht in den Sattel und ritt im Galopp nach Paris zurück. Eine Viertelstunde nachher war er im Hofe des Hotels der Rue du Helder.
Als er vom Pferde stieg, glaubte er dasbleiche Gesicht seines Vaters in dessen Schlafzimmer zu erblicken; Albert wandte seufzend den Kopf abund kehrte in seinen Pavillon zurück.
Hier warf er einen letztenBlick auf alles, was ihm das Leben seit seiner Kindheit so süß und so glücklich gemacht hatte. Erbeschaute noch einmal diese Gemälde, deren Gesichter ihm zu lächeln, deren Landschaften Saft und glühende Farben anzunehmen schienen. Dann holte er das Porträt seiner Mutter herunter und nahm es aus dem goldenen Rahmen. Hierauf ordnete er seine schönen türkischen Waffen, seine Gewehre, seine Trinkschalen, seine kunstreichenBronzen, durchsuchte seine Schränke, warf in eine Schublade seines Sekretärs alles Taschengeld, das erbei sich trug, fügte die tausend Nippsachen hinzu, die sein Zimmerbelebt hatten, machte von allem ein genaues Inventar und legte dieses auf die am meisten in die Augen fallende Stelle eines Tisches.
Als er diese Arbeitbegann, war sein Diener, trotz AlbertsBefehl, ihn allein zu lassen, in sein Zimmer getreten.
Was wollen Sie? fragte ihn Morcerf mit mehr traurigem, als zornigem Tone.
Verzeihen Sie, Herr Vicomte, erwiderte der Kammerdiener, Sie haben mir allerdings verboten, Sie zu stören, aber der Herr Graf von Morcerf läßt mich rufen. Ich wollte mich nicht zu dem Herrn Grafenbegeben, ohne vorher IhreBefehle zu hören.
Warum dies?
Weil der Herr Graf ohne Zweifel weiß, daß ich den Herrn Vicomte auf den Platzbegleitet habe, und wenn er mich rufen läßt, so geschieht es ohne Zweifel, um mich über das, was vorgefallen ist, zubefragen. Was soll ich antworten?
Die Wahrheit.
Also werde ich sagen, das Duell habe nicht stattgefunden?
Sie sagen, ich habe michbei dem Herrn Grafen von Monte Christo entschuldigt; gehen Sie!
Der Kammerdiener verbeugte sich und verließ das Zimmer. Albert ging wieder an sein Inventar. Als er damit fertig war, näherte er sich dem Fenster und sah seinen Vater in seine Kalesche steigen und ausfahren.
Kaum war die Tür des Hotels wieder hinter dem Grafen geschlossen, als Albert sich nach dem Zimmer seiner Mutter wandte, und da niemand anwesend war, ihn zu melden, so drang erbis in Mercedes' Schlafzimmer undblieb, während ihm das Herz anschwoll von dem, was er sah, und von dem, was er erriet, auf der Schwelle stehen.
Als obdiesebeiden Körper eine Seelebelebt hätte, machte Mercedes in ihrer Wohnung, was Albert in der seinigen getan hatte. Alles war in Ordnung gebracht: die Spitzen, die Schmucksachen, die Juwelen, das Weißzeug und das Geld lagen im Grunde der Schubladen aufgereiht, deren Schlüssel die Gräfin sorgfältig sammelte.
Albert sah alle diese Vorbereitungen; erbegriff sie und fiel mit dem Ausrufe: Meine Mutter! Mercedes um den Hals.
Dieser ganze Aufwand von energischer Entschlossenheit, den er ohne weiteres für sich aufgewendet hatte, erschreckte ihnbei seiner Mutter. Was tun Sie denn? fragte er.
Was hast du getan? erwiderte sie.
Oh! meine Mutter, rief Albert sobewegt, daß er kaum sprechen konnte, es istbei Ihnen etwas anderes, alsbei mir; nein, Sie können nicht das gleichebeschlossen haben, wie ich; denn ich will Ihnen eben mitteilen, daß ich Ihrem Hause und… Ihnen Lebewohl sage.
Albert, ich reise auch. Ich gestehe, ich rechnete darauf, mein Sohn würde michbegleiten. Habe ich mich getäuscht?
Meine Mutter, erwiderte Albert mit Festigkeit, ich kann Sie dieses Schicksal nicht teilen lassen, das ich mir erwähle. Ich muß fortan ohne Namen und ohne Vermögen leben. Um die Lehrzeit dieses rauhen Daseins durchzumachen, muß ich von einem Freunde dasBrot entleihen, das ichbis zu dem Augenblick essen werde, wo ich anderes verdiene.
Du, mein armes Kind, rief Mercedes, du sollst Armut erdulden, sollst Hunger fühlen? Oh! sage dies nicht, du würdest alle meine Entschließungen umstoßen.
Doch nicht die meinigen, Mutter, entgegnete Albert. Ichbin jung, stark und mutig und habe seit gestern gelernt, was der Wille vermag. Es gibt Menschen, die so viel gelitten, und nicht nur nicht gestorben sind, sondern sich sogar ein neues Glück auf den Trümmern aller Hoffnungen, die ihnen Gott gegeben, aufgebaut haben! Ich habe dies erfahren, meine Mutter, ich habe diese Menschen gesehen, ich weiß, daß sie sich aus der Tiefe des Abgrundes, in den sie ihre Feinde gestoßen, mit so viel Kraft und Ruhm wieder erhoben, daß sie ihre ehemaligenBesiegerbeherrschten. Nein, meine Mutter, nein; ich habe von diesem Augenblick an mit der Vergangenheit gebrochen und nehme nichts mehr von ihr an, nicht einmal meinen Namen; denn Siebegreifen, Ihr Sohn kann nicht den Namen eines Menschen führen, der vor andern erröten muß!
Albert, mein Kind, wenn ich ein stärkeres Herz gehabt hätte, so würde ich dir diesen Rat gegeben haben; dein Gewissen hat gesprochen, während meine erloschene Stimme schwieg; höre auf dein Gewissen! Du hattest Freunde, Albert, brich für den Augenblick mit ihnen, aber im Namen deiner Mutter, verzweifle nicht! Das Leben ist noch schön in deinem Alter, mein Albert, denn dubist kaum zweiundzwanzig Jahre alt, und da ein so reines Leben wie das deine eines fleckenlosen Namensbedarf, so nimm den meines Vaters an; er hieß Herrera. Ich kenne dich, Albert, welche Laufbahn du auch verfolgen magst, du wirst diesen Namen in kurzer Zeitberühmt machen. Dann erscheine wieder in der Welt, glänzender durch den Schimmer deines vergangenen Unglücks, und wenn dies trotz aller meiner Voraussetzungen nicht so sein soll, so laß mir wenigstens die Hoffnung, mir, die nur noch diesen einen Gedanken hat, mir, die keine Zukunft mehr vor sich sieht und für die das Grabauf der Schwelle dieses Hausesbeginnt.
Ich werde nach Ihren Wünschen tun, meine Mutter, sagte der junge Mann; ja, ich teile Ihre Hoffnungen; der Herr des Himmels wird unsbei Ihrer Reinheit undbei meiner Unschuld nicht verfolgen. Doch da wir entschlossen sind, handeln wir schnell. Herr von Morcerf hat das Hotel vor ungefähr einer halben Stunde verlassen; die Gelegenheit ist günstig, um Lärm und Erklärungen zu vermeiden.
Ich erwarte dich, mein Sohn, sagte Mercedes.
Albert lief sogleich nach demBoulevard, von wo er einen Fiaker zurückbrachte, der sie aus dem Hotel wegfahren sollte. Er erinnerte sich eines kleinen Hauses in der Rue des Saints Pères, wo seine Mutter einebescheidene, aber anständige Wohnung finden würde; er kehrte also zurück, um die Gräfin zu holen.
In dem Augenblick, wo der Fiaker vor dem Hause anhielt und Albert ausstieg, näherte sich ihm ein Mann und übergabihm einenBrief. Albert erkannte den Intendanten.
Vom Grafen, sagteBertuccio und entfernte sich sogleich.
Albert nahm denBrief, öffnete ihn, las ihn, ging mit Tränen in den Augen und erschüttertem Herzen zu Mercedes und gabihr das Schreiben, ohne ein Wort zu sprechen. Mercedes las:
Albert!
Wenn ich Ihnen zeige, daß ich den Plan durchschaut habe, den Sie eben ausführen wollen, so glaube ich Ihnen damit auch zu zeigen, daß ich das Zartgefühlbegreife. Sie sind nun frei, Sie verlassen das Hotel des Grafen und wollen Ihre Mutter an einen verborgenen Ortbringen; dochbedenken Sie wohl, Sie sind ihr mehr schuldig, als Sie ihr je vergelten können, Sie armes, edles Herz. Behalten Sie für sich den Kampf, fordern Sie für sich das Leiden, aber ersparen Sie ihr das Elend, das von Ihren ersten Anstrengungen untrennbar ist; denn sie verdient nicht einmal den Widerschein des Unglücks, das sie heute trifft, und nach dem Willen der Vorsehung soll nicht der Unschuldige mit dem Schuldigen leiden.
Ich weiß, daß Siebeide imBegriffe sind, Ihr Haus zu verlassen, ohne etwas mitzunehmen. Suchen Sie nicht zu entdecken, wie ich es erfahren habe. Ich weiß es.
Hören Sie, Albert! Ich kam vor vierundzwanzig Jahren freudig und stolz in mein Vaterland zurück; ich hatte eineBraut, Albert, eine heilige Jungfrau, die ich anbetete, und ichbrachte ihr 150 Louisd'or zurück, die ich mühsam durch rastlose Arbeit gesammelt hatte. Dieses Geld war für siebestimmt, und da ich wußte, wie treulos das Meer ist, sobegrubich unsern Schatz in dem Gärtchen des Hauses, das mein Vater in Marseillebewohnte.
Ihre Mutter, Albert, kennt das kleine, liebe Haus ganz gut. Als ich kürzlich nach Paris reiste, kam ich durch Marseille. Ichbesuchte dieses Haus mit den schmerzlichsten Erinnerungen und untersuchte am Abend mit dem Spaten in der Hand den Winkel, wo ich meinen Schatzbegraben hatte. Die eiserne Kassette war noch an demselben Platz, niemand hatte sieberührt; sie liegt in der Ecke, die ein schöner, von meinem Vater an meinem Geburtstage gepflanzter Feigenbaum mit seinem Schattenbedeckt.
Nun, Albert, dieses Geld, das einst das Leben und die Ruhe der Frau unterstützen sollte, die ich anbetete, findet durch einen seltsamen und schmerzlichen Zufall heute dieselbe Anwendung. Oh! verstehen Sie meinen Gedanken, verstehen Sie den Gedanken des Mannes, der dieser armen Frau Millionenbieten könnte und ihr ein Stück schwarzesBrot zurückgibt, das unter meinem Dache seit dem Tage vergessen worden ist, wo ich von der Geliebten getrennt wurde.
Sie sind ein edler Mensch, Albert, doch vielleicht nichtsdestoweniger von Stolz oder Groll verblendet; wenn Sie mich zurückweisen, wenn Sie von einem andern das fordern, was ich Ihnen zubietenberechtigtbin, so sage ich, es sei nicht edelmütig von Ihnen, das Leben Ihrer Mutter zurückzuweisen, wenn es von einem Manne geboten wird, dessen Vater Ihr Vater in den Schrecknissen des Hungers und der Verzweiflung hat sterben lassen.
Als Mercedes dies gelesen, schlug sie die Augen mit einem unaussprechlichen Ausdruck zum Himmel auf. Ich willige ein, sagte sie; er istberechtigt, die Mitgift zubezahlen, die ich in ein Klosterbringen werde.
Und indem sie denBrief auf ihr Herz legte, nahm sie ihren Sohn am Arm und ging mit festerem Schritte, als sie vielleicht selbst erwartet hatte, zur Treppe.
Der Selbstmord.
Monte Christo war indessen mit Maximilian ebenfalls in die Stadt zurückgefahren. Am Tor trafen sieBertuccio, der hier unbeweglich wie eine Schildwache wartete. Monte Christo streckte den Kopf durch den Kutschenschlag, wechselte mit leiser Stimme ein paar Worte mit ihm, und der Intendant verschwand.
Sehen Sie, wie ich Ihnen Glück gebracht habe! sagte Morel, als er mit dem Grafen allein war.
Gewiß; deshalbmöchte ich Sie stetsbei mir haben.
Das ist wunderbar! fuhr Morel, seinen eigenen Gedankenbeantwortend, fort.
Was denn? fragte Monte Christo.
Was soeben vorgefallen ist.
Ja, versetzte der Graf mit einem Lächeln. Sie haben das wahre Wort gesagt, Morel, es ist wunderbar.
Denn Albert ist sonst mutig.
Sehr mutig, sagte Monte Christo, ich habe ihn schlafen sehen, während der Dolch über seinem Haupte hing.
Und ich weiß, daß er sich zehnmal geschlagen und sehr gut geschlagen hat; bringen Sie das mit seinemBenehmen an diesem Morgen in Einklang!
Stets Ihr Einfluß, versetzte Monte Christo lächelnd.
Es ist ein Glück für Albert, daß er nicht Soldat ist. Entschuldigungen an Ort und Stelle! bemerkte der junge Kapitän den Kopf schüttelnd.
Oh, sagte der Graf mit sanftem Tone, verfallen Sie nicht in die Vorurteile gewöhnlicher Menschen, Morel; bedenken Sie, daß Albert, da er tapfer ist, nicht feig sein kann, daß er irgend einen Grund haben muß, zu handeln, wie er gehandelt hat, und daß folglich seinBenehmen mehr heldenmütig, als sonst etwas ist.
Ganz gewiß; doch ich sage, wie der Spanier: Er ist heute minder tapfer gewesen, als gestern.
Nicht wahr, Sie frühstücken mit mir, Morel? fragte der Graf, das Gespräch abbrechend.
Morel lächelte und schüttelte den Kopf.
Sie müssen aber doch irgendwo frühstücken?
Wenn ich jedoch keinen Hunger habe?
Ah! rief der Graf, ich kenne nur zwei Gefühle, welche so den Appetit abschneiden: den Schmerz — und der scheint mirbei Ihrer Heiterkeit ausgeschlossen — und die Liebe. Nach dem, was Sie mir über Ihr Herz gesagt haben, ist es mir Wohl erlaubt, zu glauben…
Meiner Treu! Graf, ich sage nicht nein.
Und Sie erzählen mir das nicht, Maximilian? versetzte der Graf so lebhaft, daß man sah, welchen Anteil er an dem Herzensgeheimnis nahm.
Nicht wahr, Graf, ich zeigte Ihnen heute morgen, daß ich ein Herz habe?
Statt jeder Antwort reichte Monte Christo dem jungen Manne die Hand.
Wohl! fuhr Maximilian fort, seitdem dieses Herz nicht mehr mit Ihnen im Walde von Vincennes ist, ist es anderswo, wo ich es wiederfinden werde.
Gehen Sie, sagte langsam der Graf, lieber Freund, doch ichbitte Sie, wenn Sie auf ein Hindernis stoßen, so erinnern Sie sich, daß ich einige Macht auf dieser Weltbesitze, daß ich glücklichbin, diese Macht für die Leute anzuwenden, die ich liebe, und daß ich Sie liebe, Morel.
Gut! sagte der junge Mann, ich werde mich dessen erinnern, wie sich selbstsüchtige Kinder ihrer Eltern erinnern, wenn sie ihrerbedürfen. Bedarf ich Ihrer, so wende ich mich an Sie, Graf.
Gut! ich verlasse mich auf Ihr Wort, Gottbefohlen!
Auf Wiedersehen!
Man war vor die Tür des Hauses der Champs‑Elysées gelangt, vor demBertuccio wartete. Monte Christo öffnete den Schlag, Morel sprang auf das Pflaster und entfernte sich sofort, während Monte Christo raschBertuccio voran die Treppe hinaufschritt.
Nun? fragte er den Intendanten.
Sie ist imBegriff, ihr Haus zu verlassen.
Und ihr Sohn?
Sein Kammerdiener denkt, er werde dasselbe tun.
Monte Christo nahmBertuccio mit sich in sein Kabinett, schriebden erwähntenBrief an Albert und übergabihn dem Intendanten.
Gehen Sie rasch, sagte er; doch lassen Sie auch Haydeebenachrichtigen, daß ich zurückgekehrtbin.
Hierbin ich, sagte Haydee. Sie warbei dem Geräusch des Wagens schnell herabgestiegen, und ihr Gesicht strahlte vor Freude, als sie den Grafen unversehrt wiedersah. Bertuccio entfernte sich.
Alles Entzücken eines Mädchens, das einen geliebten Vater wiedersieht, die ganze wahnsinnige Freude einer Liebenden, deren angebeteter Geliebte wiederkehrt, fühlte Haydee während der ersten Augenblicke dieser von ihr so ungeduldig erwarteten Rückkehr.
Wenn auch weniger laut sich äußernd, war darum die Freude Monte Christos doch nicht minder groß; für die Herzen, die lange gelitten haben, ist die Freude, was der Tau für die Erde, wenn die Sonne sie ausgetrocknet hat. Seit einigen Tagenbegriff Monte Christo etwas, woran er lange nicht zu glauben wagte, daß es nämlich zwei Mercedes auf der Welt gab, daß er noch glücklich sein könnte.
Sein von Wonne entflammtes Auge tauchte sich sehnsuchtsvoll in Haydees feuchteBlicke, als plötzlich die Tür sich öffnete. Der Graf faltete die Stirn.
Herr von Morcerf! sagteBaptistin, als obdieses einzige Wort seine Entschuldigung enthielte.
Das Antlitz des Grafen hellte sich in der Tat auf.
Welcher? sagte er, der Vicomte oder der Graf?
Mein Gott! rief Haydee, ist es denn noch nicht zu Ende!
Ich weiß nicht, obes zu Ende ist, vielgeliebtes Kind, sagte Monte Christo, das Mädchenbei den Händen fassend; aber ich weiß, daß du nichts zu fürchten hast.
Oh! es ist doch der Elende…
Dieser Mensch vermag nichts über mich, Haydee, nur von seinem Sohne hattest du etwas zu fürchten.
Wie habe ich auch gelitten, du wirst es nie erfahren, Herr.
Monte Christo lächelte und sagte, die Hand über dem Haupte des Mädchens ausstreckend: Bei dem Grabe meines Vaters schwöre ich dir, Haydee, wenn Unglück geschieht, so widerfährt es nicht mir.
Ich glaube dir, Herr, als obGott zu mir spräche, sagte das junge Mädchen und reichte dem Grafen seine Stirn. Monte Christo drückte auf diese reine und schöne Stirn einen Kuß, der zwei Herzen heftiger schlagen ließ.
Oh, mein Gott! solltest du es denn gestatten, daß ich noch einmal lieben könnte? murmelte der Graf und führte die schöne Griechin zu einer Geheimtreppe, während er zuBaptistin sagte: Lassen Sie den Grafen von Morcerf in den Salon treten.
Während Mercedes in ihrer Wohnung ihre Juwelen zusammenlegte, ihre Schubladen verschloß, ihre Schlüssel sammelte, um alles in Ordnung zurückzulassen, bemerkte sie nicht, daß einbleicher, düsterer Kopf an der Glasscheibe einer Tür erschien, der, ohne gesehen zu werden, alles gewahrte, was drinnen vorging.
Von dieser Glasscheibebegabsich der Mann mit dembleichen Gesichte in das Schlafzimmer des Grafen von Morcerf, wo er mit krampfhafter Hand den Vorhang eines auf den Hof gehenden Fensters aufhob. Erbliebzehn Minuten unbeweglich, stumm, auf die Schläge seines Herzens horchend.
Da kam Albert zurück, bemerkte, daß sein Vater seine Rückkehr hinter einem Vorhangbeobachtete, und wandte den Kopf ab. Das Auge des Grafen erweiterte sich; er wußte, daß Albert den Grafen furchtbarbeleidigt hatte und daß eine solcheBeleidigung in allen Ländern der Welt einen Zweikampf auf Leben und Tod nach sich zog. Albert kehrte aber unversehrt zurück, und er selbst war folglich gerächt.
EinBlitz unbeschreiblicher Freude erleuchtete sein finsteres Antlitz; aber vergebens hoffte er, sein Sohn werde in sein Zimmer kommen, ihm seinen Triumph mitzuteilen.
Da ließ der Graf Alberts Diener holen, den, wie erwähnt, sein Herr ermächtigt hatte, nichts vor dem Grafen zu verbergen.
Zehn Minuten nachher sah man auf der Freitreppe den General von Morcerf in einem schwarzen Oberrocke, mit schwarzenBeinkleidern und schwarzen Handschuhen erscheinen.
Er hatte ohne Zweifel vorher seineBefehle gegeben, denn kaumberührte er die letzte Stufe der Treppe, als sein Wagen vorfuhr. Sein Kammerdiener warf zwei umhüllte Degen in den Wagen; dann schloß er den Schlag und setzte sich neben den Kutscher.
Nach den Champs‑Elysées, rief der General, zu dem Grafen von Monte Christo. Rasch!
Die Pferdebäumten sich unter dem Peitschenschlage und hielten nach fünf Minuten vor dem Hause des Grafen. Herr von Morcerf öffnete selbst den Schlag, sprang, während der Wagen noch rollte, wie ein junger Mensch in die Allee, läutete und verschwand mit seinem Diener in der Tür.
Eine Sekunde später meldeteBaptistin Herrn von Monte Christo den Grafen von Morcerf, und Monte Christo gab, Haydee zurückführend, denBefehl, den Grafen von Morcerf in den Salon treten zu lassen. Der General maß zum dritten Male den Salon in seiner ganzen Länge, als er, sich umwendend, Monte Christo auf der Schwelle erblickte.
Ah! es ist Herr von Morcerf, sagte ruhig Monte Christo ich glaubte, schlecht gehört zu haben.
Ja, ichbin es, sagte der Graf, wobei er seine Lippen furchtbar zusammenzog.
Ich habe also nur noch die Ursache zu erfahren, die mir das Vergnügen verschafft, den Herrn Grafen von Morcerf so frühzeitigbei mir zu sehen, versetzte Monte Christo.
Sie haben heute morgen einen Gang mit meinem Sohn getan, sagte der General.
Sie wissen dies?
Ich weiß auch, daß mein Sohn gute Gründe gehabt hat, einen Zweikampf mit Ihnen zu wünschen und alles zu tun, was er vermochte, um Sie zu töten.
In der Tat, er hatte sehr gute Gründe; doch Sie sehen, daß er mich trotz dieser Gründe nicht getötet und sich nicht einmal geschlagen hat.
Und erbetrachtete Sie doch als die Ursache der Schande seines Vaters, als die Ursache des gräßlichen Unheils, das in diesem Augenblick mein Haus niederbeugt.
Es ist wahr, sagte Monte Christo mit furchtbarer Ruhe; als mitwirkende, nicht als hauptsächlichste Ursache.
Ohne Zweifel haben Sie eine Entschuldigung vorgebracht oder ihm eine Erklärung gegeben?
Ich habe ihm keine Erklärung gegeben, und er hat sich entschuldigt.
Welchem Umstande schreiben Sie diesesBenehmen zu?
Ohne Zweifel der Überzeugung, daß ein anderer mehr schuldig ist in dieser Angelegenheit als ich.
Und wer war dieser andere? — Sein Vater.
Es mag sein, sagte der Graf erbleichend; doch Sie wissen, daß sich der Schuldigste nicht gern von seiner Schuld überzeugen läßt.
Ich weiß es… ich erwartete auch, was in diesem Augenblicke geschieht.
Sie erwarteten die Feigheit meines Sohnes?
Herr Albert von Morcerf ist kein Feiger!
Ein Mensch, der einen Degen in der Hand hält, und imBereiche dieses Degens einen Todfeind hat, ist ein Feigling, wenn er sich nicht schlägt! Warum ist er nicht hier, daß ich es ihm sagen könnte!
Mein Herr, entgegnete Monte Christo, ich nehme an, Sie haben mich nicht aufgesucht, mir Ihre Familienangelegenheiten mitzuteilen. Sagen Sie dies Herrn Albert selbst, er weiß vielleicht, was er Ihnen zu antworten hat.
Oh! nein! nein! versetzte der General mit einem schnell verschwindenden Lächeln auf seinen Lippen; Sie haben recht, ichbin nicht deshalbgekommen! Ichbin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich Sie ebenfalls als meinen Feindbetrachte! Ichbin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich Sie aus Instinkt hasse, daß es mir scheint, als hätte ich Sie stets gekannt, stets gehaßt; daß es an uns ist, uns zu schlagen, da sich die jungen Leute jetzt nicht mehr schlagen… Ist dies auch Ihre Ansicht, mein Herr?
Vollkommen. Als ich Ihnen sagte, ich hätte dies vorhergesehen, meinte ich vor allem die Ehre IhresBesuchs.
Destobesser… Ihre Vorkehrungen sind also getroffen?
Sie sind es stets, mein Herr.
Sie wissen, daß wir uns schlagen, bis einer auf der Stellebleibt! sagte der General, vor Wut mit den Zähnen knirschend.
Bis einer auf der Stellebleibt, wiederholte Monte Christo, den Kopf leicht von oben nach untenbewegend.
Vorwärts also, wirbedürfen keine Zeugen.
In der Tat, das ist unnötig, wir kennen uns so gut! Im Gegenteil, wir kennen uns nicht.
Bah! sagte Monte Christo, wir wollen doch sehen. Sind Sie nicht der Soldat Fernand, der am Vorabend der Schlacht von Waterloo desertiert ist? Sind Sie nicht der Leutnant Fernand, der der französischen Armee in Spanien als Spion gedient hat? Sind Sie nicht der Kapitän Fernand, der seinen Wohltäter Ali verraten, verkauft, ermordet hat? Und machen nicht alle diese Fernand zusammen den Generalleutnant, Grafen von Morcerf, Pair von Frankreich, aus?
Oh! rief der General, durch diese Worte wie durch ein glühendes Eisen getroffen. Elender, der du mir meine Schande in dem Augenblick vorwirfst, wo du mich töten willst, nein, ich habe dir nicht gesagt, ich sei dir unbekannt. Ich weiß wohl, Dämon, daß du in die Nacht meiner Vergangenheit gedrungenbist und jede Seite meines Lebensbeleuchtet hast. Aber vielleicht liegt noch mehr Ehre in mirbei meiner Schmach, als in dir, bei deiner prunkhaften Außenseite. Denn dich kenne ich nicht, mit Gold und Edelsteinen gestickter Abenteurer! Du läßt dich in Paris den Grafen von Monte Christo nennen, in Italien Simbad den Seefahrer, in Malta, was weiß ich? Doch ich frage dich nach deinem wirklichen Namen, um ihn in dem Augenblicke auszusprechen, wo ich dir mit meinem Degen das Herz durchbohre.
Der Graf von Monte Christo erbleichte furchtbar, sein wildes Auge entzündete sich in verzehrendem Feuer; er machte einen Sprung in das anstoßende Kabinett, riß in einer Sekunde seinen Oberrock, seine Weste und seine Halsbinde vom Leibe, zog eine kleine Seemannsjacke an und setzte einen Matrosenhut auf, unter dem seine langen, schwarzen Haare herabrollten.
So kehrte er furchtbar, unversöhnlich zurück und schritt mit gekreuzten Armen auf den General zu, der, sein Verschwinden nichtbegreifend, ihn erwartete und nun seine Zähne klappern und seineBeine unter sichbrechen fühlte, zurückwich und erst still stand, als seine krampfhaft zusammengezogene Hand auf einem Tische einen Stützpunkt fand.
Fernand! rief der Graf von Monte Christo, von meinen hundert Namenbrauche ich dir nur einen zu sagen, um dich niederzuschmettern; doch diesen Namen, nicht wahr, du errätst ihn? Oder vielmehr, du erinnerst dich seiner? Denn, trotz meines Kummers, trotz meiner Qualen, zeige ich dir heute ein Gesicht, welches das Glück der Rache verjüngt, ein Gesicht, das du seit deiner Verheiratung mit Mercedes, meiner Verlobten, oft in deinen Träumen gesehen haben mußt.
Mit zurückgeworfenem Kopf, ausgestreckten Händen und starremBlick verschlang der General schweigend dieses furchtbare Schauspiel; dann suchte er die Wand als Stütze, wankte langsambis zur Tür, durch die er rückwärts hinausging, wobei ihm nur ein finsterer, kläglicher, herzzerreißender Schrei entfuhr, der Schrei: Edmond Dantes.
Dann schleppte er sich mit Seufzern, die nichts Menschliches hatten, bis in den Säulengang des Hauses, durchschritt den Hof wie ein Trunkener und fiel in die Arme seines Kammerdieners, mit unverständlicher Stimme die Worte: Nach Hause! nach Hause! murmelnd.
Die frische Luft und die Scham vor seinen Leuten setzten ihn unterwegs instand, seine Gedanken zu sammeln; die Fahrt war jedoch kurz, und je mehr sich der Graf seiner Wohnung näherte, desto mehr fühlte er seine Schmerzen sich erneuern. Einige Schritte vom Hause ließ er halten und stieg aus.
Das Tor des Hotels war weit geöffnet; sehr erstaunt darüber, daß man ihn zu diesem herrlichen Gebäude rief, stand ein Fiakerkutscher neben seinem Gefährt im Hofe. Der Graf schaute den Fiaker voll Schrecken an und eilte in seine Zimmer.
Zwei Personen stiegen die Treppe herab; er konnte ihnen eben noch, in sein Kabinett schleichend, ausweichen. Es waren Mercedes und ihr Sohn, die das Hotel verließen. Sie gingen dicht an dem Unglücklichen vorüber, der hinter dem Damastvorhange fast vom seidenen Kleide Mercedes' gestreift wurde und in seinem Gesichte den warmen Atem seines Sohnes fühlte, als dieser die Worte sprach: Mut, meine Mutter! Kommen Sie, wir sind hier nicht mehr zu Hause.
Die Worte verklangen, die Tritte entfernten sich. Der General erhobsich, mit seinen Händen krampfhaft an dem Damastvorhange hängend; er preßte das furchtbarste Schluchzen zurück, das je derBrust eines zugleich von seiner Frau und seinem Sohne verlassenen Mannes entstiegen.
Bald hörte er den eisernen Kutschenschlag des Fiakers zuschlagen. Dann vernahm er die Stimme des Kutschers, das Rollen des schweren Wagens erschütterte die Fensterscheiben, und der Graf von Morcerf stürzte in sein Schlafzimmer, um noch einmal alles, was er in der Welt geliebt hatte, zu sehen. Doch der Fiaker entfernte sich, ohne daß Mercedes' oder Alberts Kopf am Schlage erschien, um dem einsamen Hause, dem verlassenen Gatten und Vater den letztenBlick, das letzte Lebewohl, das letzteBedauern, das heißt die Verzeihung zu gönnen.
In der Sekunde, wo die Räder des Fiakers über das Straßenpflaster davonrollten, erscholl ein Schuß, und ein dunkler Rauch drang durch eine von der Gewalt der Lufterschütterung zerbrochene Scheibe des Schlafzimmers.
Valentine.
Man errät, wo Morel zu tun hatte, und wem sein Eilen galt. Als er Monte Christo verließ, ging er jedoch langsam nach dem Villefortschen Hause — langsam, denn es drängte ihn, mit seinen Gedanken allein zu sein.
Er kannte die Stunde gut, zu der Valentine, an Noirtiers Frühstück teilnehmend, vor Störung sicher war. Noirtier und Valentine hatten ihm zweiBesuche in der Woche zugestanden, und er kam, von seinem Rechte Gebrauch zu machen.
Valentine erwartete ihn. Unruhig, fast verwirrt, nahm sie ihnbei der Hand und führte ihn zu ihrem Großvater. Diese heftige Unruhe rührte davon her, daß Valentine von dembevorstehenden Duell zwischen Morcerf und Monte Christo gehört hatte. Sie ahnte schon, Morel würde Monte Christos Zeuge sein, und fürchtete, er werdebei seiner Unerschrockenheit ebenfalls in einen Zweikampf verwickelt werden.
Manbegreift, welche unbeschreibliche Freude Morel in den Augen seiner Geliebten lesen konnte, als sie erfuhr, die furchtbare Angelegenheit habe einen ebenso glücklichen, wie unerwarteten Ausgang gehabt.
Valentine ließ Morel neben dem Greise sitzen, setzte sich selbst auf den Sessel, worauf seine Füße ruhten, und sagte: Nun lassen Sie uns ein wenig von unsern Angelegenheiten reden. Sie wissen, daß der gute Papa den Gedanken gehabt hat, das Haus zu verlassen und seine Wohnung außerhalbdes Villefortschen Hauses zu nehmen.
Ja, gewiß, ich erinnere mich und habe diesem Plan meinen vollenBeifall geschenkt.
Und wissen Sie, sagte Valentine, welchen Grund der gute Papa für seine Absicht angibt?
Noirtier schaute seine Enkelin an, um ihr mit dem Auge Schweigen aufzuerlegen; doch Valentine sah ihn nicht an, ihre Augen, ihrBlick, ihr Lächeln gehörten nur Morel.
Oh! welchen Grund auch Herr Noirtier angeben mag, rief Morel, ich erkläre, daß er gut ist.
Vortrefflich; erbehauptet, die Luft des Faubourg Saint Honoré sei für mich nicht gesund.
In der Tat, Valentine, Herr Noirtier könnte recht haben; ich finde, daß Ihre Gesundheit seit vierzehn Tagen etwas gelitten hat.
Ja, ein wenig, das ist wahr, antwortete Valentine; auch hat sich der gute Papa zu meinem Arzte gemacht, und da er alles weiß, so habe ich das größte Vertrauen zu ihm.
Sie leiden also wirklich, Valentine? fragte Morel rasch. Oh! mein Gott, das nennt man nicht leiden; ich fühle eine allgemeine Unbehaglichkeit, und sonst nichts. Ich habe den Appetit verloren, und es kommt mir vor, als hielte mein Magen einen Kampf aus, um sich an etwas zu gewöhnen.
Noirtier verlor keines von Valentines Worten.
Und welcheBehandlungbefolgen Sie für diese unbekannte Krankheit?
Oh! das ist ganz einfach, ich verschlucke jeden Morgen einen Löffel von dem Trank, den man für meinen Großvaterbringt; wenn ich sage einen Löffel, so meine ich, ich habe mit einem angefangen, und nunbin ichbeim vierten. Mein Großvaterbehauptet, es sei ein Heilmittel für alles.
Valentine lächelte, doch es lag etwas Trauriges, Leidendes in diesem Lächeln. Trunken vor Liebe schaute sie Maximilian schweigend an; sie war sehr schön, doch ihreBlässe hatte einen matten Ton angenommen, ihre Augen glänzten von einem glühenderen Feuer als gewöhnlich, und ihre sonst perlmutterweißen Hände schienen von gelblichem Wachs zu sein.
Von Valentine richtete der junge Mann seine Augen auf Noirtier. Dieserbetrachtete mit innigem, prüfendemBlick das geliebte, liebende Mädchen und folgte, wie Morel, den Spuren eines tiefen Leidens, das, für das Auge der andern unsichtbar, dem des Großvaters und des Geliebten nicht entging.
Doch ich dachte, der Trank, von dem Siebereits vier Löffel nehmen, sei für Herrn Noirtier verschrieben?
Ich weiß, daß er sehrbitter ist, erwiderte Valentine, sobitter, daß mir alles, was ich darauf trinke, denselben Geschmack zu haben scheint.
Noirtier schaute seine Enkelin mit fragendemBlicke an.
Ja, guter Papa, versetzte Valentine, es ist so. Soeben, ehe ich zu Ihnen ging, trank ich ein Glas Zuckerwasser; ich ließ die Hälfte davon stehen, sobitter schmeckte das Wasser.
Noirtier erbleichte undbedeutete durch ein Zeichen, er wolle sprechen. Valentine stand auf, um das Wörterbuch zu holen, und Noirtier folgte ihr in sichtbarer Angst mit den Augen.
DasBlut stieg in der Tat dem Mädchen in den Kopf, seine Wangen färbten sich. Halt! rief sie, immer noch voll Heiterkeit, das ist sonderbar! bin ichblind? Hat mich etwa die Sonne in die Augen getroffen?
Und sie stützte sich auf das Fenstersims.
Es scheint keine Sonne her, sagte Morel, noch mehr durch den Ausdruck Noirtiers als durch Valentines Unpäßlichkeitbeunruhigt, und lief auf seineBraut zu.
Das Mädchen lächelte und sagte: Beruhige dich, guter Papa, beruhigen Sie sich, Maximilian, es ist nichts, es ist schon vorbei; stille doch!.. Ist das nicht das Geräusch eines Wagens, was ich im Hofe höre?
Sie öffnete die Tür, lief an ein Fenster im Gange und kehrte eilig zurück.
Ja, sagte sie, es ist Frau Danglars und ihre Tochter, die uns einenBesuch machen wollen. Gottbefohlen, ich fliehe, denn man würde mich doch holen, oder vielmehr auf Wiedersehen! Bleiben Siebei dem guten Papa, ich verspreche Ihnen, denBesuch nicht zurückzuhalten.
Morel folgte ihr mit den Augen, sah sie die Tür zumachen und hörte sie die kleine Treppe hinaussteigen, die zugleich zu Frau von Villefort und in ihr Zimmer führte.
Sobald sie verschwunden war, bedeutete der Greis Morel, er solle das Wörterbuch nehmen. Nach Verlauf von zehn Minuten hatte der junge Mann Noirtiers Gedanken folgendermaßen übersetzt: Suchen Sie das Glas Wasser und die Flasche in Valentines Zimmer.
Morel läutete sogleich dem Diener, derBarrois ersetzt hatte, und erteilte ihm in Noirtiers Namen denBefehl.
Der Diener kam nach einem Augenblick zurück. Er hatte Flasche und Glas völlig leer gefunden. Noirtier machte hierauf ein Zeichen, daß er sprechen wolle.
Warum sind das Glas und die Flasche leer? fragte er mit Hilfe des Wörterbuchs. Valentine sagte, sie habe nur die Hälfte des Glases getrunken.
Ich weiß es nicht, antwortete derBediente; doch die Kammerfrau ist in Valentines Zimmer; vielleicht hat sie es geleert.
Fragen Sie die Kammerfrau, sagte Morel.
Der Diener ging hinaus, kambeinahe in derselben Minute wieder zurück und meldete: Fräulein Valentine ist durch ihr Zimmer gegangen, um sich in das der Frau von Villefort zubegeben, und da sie Durst hatte, so trank sie, was im Glase übrig war; die Flasche hat Herr Eduard geleert, um einen Teich für seine Enten daraus zu machen.
Noirtier schlug die Augen zum Himmel auf, wie ein Spieler, der seine ganze Habe auf einen Wurf setzt. Von da an hefteten sich die Augen nach der Tür und verließen diese Richtung nicht mehr.
Diebefreundeten Damen waren eben in den Salon getreten und hatten Frau von Villefortbegrüßt, als Valentine eintrat.
Liebe Freundin, sagte dieBaronin, während sich die jungen Mädchenbei den Händen nahmen, ichbin gekommen, um Ihnen die nahebevorstehende Verheiratung meiner Tochter mit dem Prinzen Cavalcanti mitzuteilen.
So erlauben Sie mir, Ihnen meine aufrichtigen Glückwünsche auszusprechen, antwortete Frau von Villefort. Der Herr Prinz Cavalcanti scheint ein junger Mann von seltenen Eigenschaften zu sein.
Hören Sie, versetzte dieBaronin lächelnd, wenn wir als Freundinnen sprechen, so muß ich Ihnen sagen, daß uns der Prinz noch nicht das zu sein scheint, was er sein soll. Es ist an ihm noch etwas von dem Ungelenken, woran wir Französinnen auf den erstenBlick einen italienischen oder deutschen Edelmann erkennen. Er offenbart jedoch ein sehr gutes Herz, viel Feinheit des Geistes, und was die sonstigen Verhältnissebetrifft, sobehauptet Herr Danglars, sein Vermögen sei majestätisch; dies ist sein Ausdruck.
Und dann, sagte Eugenie, in einem Albumblätternd, setzen Sie nur noch dazu, daß Sie eine ganzbesondere Neigung für den jungen Mann haben.
Ichbrauche Sie wohl nicht zu fragen, obSie diese Neigung teilen? versetzte Frau von Villefort.
Ich! entgegnete Eugenie mit ihrer gewöhnlichenBestimmtheit; oh, nicht im mindesten, gnädige Frau. Ich fühle mich nicht für denBeruf geschaffen, mich an die Sorgen einer Haushaltung und die Launen eines Mannes zu ketten. Ich möchte Künstlerin werden und frei über mein Herz, meine Person und meine Gedanken verfügen. Da ich indessen wohl oder übel heiraten muß, so kann ich nur der Vorsehung danken, daß sie mir wenigstens Herrn Albert von Morcerfs Abneigung verschafft hat; ohne diese Vorsehung wäre ich heute die Frau eines seiner Ehre verlustigen Mannes.
Es ist wahr, sagte dieBaronin, es fehlte wenig, so hätte meine Tochter Herrn Albert geheiratet. Dem General lag viel daran; er kam sogar, um von Herrn Danglars ihre Hand zu erzwingen; wir ließen ihn aber schön ablaufen.
Aber fällt denn die Schande des Vaters auch auf den Sohn? sagte schüchtern Valentine. Herr Albert scheint mir ganz unschuldig an dem Verrat des Generals.
Verzeihen Sie, liebe Freundin, versetzte die Männerfeindin; Albert verdient sein Teil davon. Nachdem er gestern Herrn von Monte Christo in der Oper herausgefordert, hat er sich heute auf dem Kampfplatzebei ihm entschuldigt.
Unmöglich! rief Frau von Villefort.
Ach! teure Freundin, sagte Frau Danglars, es ist so, ich habe es durch Herrn Debray erfahren, derbei der Erklärung zugegen war.
Valentine wußte auch die Wahrheit, aber sie sagte nichts. Durch ein Wort in ihre Erinnerungen zurückversetzt, befand sie sich in Gedanken wieder in Noirtiers Zimmer, wo sie Morel erwartete.
In diese innereBetrachtung versunken, hatte sie aufgehört, an dem Gespräche teilzunehmen, als plötzlich Frau Danglars' Hand sich auf ihren Arm stützte und sie ihrer Träumerei entzog.
Was wünschen Sie, gnädige Frau? fragte Valentine, bei derBerührung zusammenfahrend wie von einem elektrischen Schlage.
Meine liebe Valentine, sagte dieBaronin, Sie sind jedenfalls leidend?
Ich? entgegnete das Mädchen, mit der Hand über seine glühende Stirne fahrend.
Ja, beschauen Sie sich nur im Spiegel; Sie sind drei‑bis viermal hintereinander im Verlaufe einer Minute erbleicht und errötet.
Dubist in der Tat sehrbleich! rief Eugenie.
Oh, das tut nichts, Eugenie, ichbin seit einigen Tagen so.
So wenig schlau Valentine auch war, sobegriff sie doch, daß sie nun Gelegenheit hatte, sich zu entfernen. Überdies kam ihr Frau von Villefort zu Hilfe, indem sie sagte: Entferne dich, Valentine, du leidest wirklich; trinke ein Glas Wasser, und du wirst dich erholen.
Valentine küßte Eugenie, verbeugte sich vor Frau Danglars und verließ das Zimmer.
Das arme Kind, sagte Frau von Villefort, als Valentine verschwunden war, esbeunruhigt mich ernstlich, und es sollte mich nicht wundern, wenn ihr irgend ein Unfall widerführe.
Valentine war indessen in einer Aufregung, von der sie sich keine Rechenschaft geben konnte, durch Eduards Zimmer gegangen und hatte sodann die kleine Treppe zu Noirtiers Wohnung erreicht. Sie stieg alle Stufenbis auf die letzten drei hinab; sie hörtebereits Morels Stimme, als plötzlich eine Wolke vor ihren Augen hinzog, ihr starrer Fuß verfehlte die Stufe, ihre Hände hatten nicht mehr die Kraft, sich am Geländer zu halten, sie streifte an der Wand hin und rollte die drei letzten Stufen hinab.
Morel machte einen Sprung, öffnete die Tür und sah die Geliebte auf demBoden liegen. Rasch hober sie in seine Arme und trug sie in einen Lehnstuhl. Dann öffnete sie wieder die Augen.
Oh, ich Ungeschickte! sagte sie, fieberhaft schnell sprechend, ich weiß mich also nicht mehr zu halten.
Sie haben sich doch nicht verletzt, Valentine? rief Morel. Oh, mein Gott! mein Gott!
Valentine schaute umher; sie sah in Noirtiers Augen den größten Schrecken sich abspiegeln.
Beruhige dich, guter Papa, sagte sie, indem sie zu lächeln suchte; es ist nichts… nur ein Schwindel.
Abermals eine Ohnmacht! sagte Morel, die Hände faltend. Oh! nehmen Sie sich in acht, Valentine, ich flehe Sie an.
Nein, versetzte Valentine, nein, ich sage Ihnen, daß alles vorüber ist, und daß es nichts war. Nun lassen Sie mich Ihnen eine Neuigkeit mitteilen: in acht Tagen verheiratet sich Eugenie, und in drei Tagen findet ein großes Fest, ein Verlobungsmahl, statt. Wir alle sind eingeladen, mein Vater, Frau von Villefort und ich… wenigstens soviel ich verstanden habe.
Wann wird die Reihe an uns kommen? Oh! Valentine, Sie, die Sie so viel über Ihren guten Papa vermögen, bemühen Sie sich, daß er Ihnen antwortet: Bald! Solange Sie nicht mir gehören, Valentine, ist es mir immer, als obSie mir entgehen könnten.
Oh! antwortete Valentine mit einer krampfhaftenBewegung, Maximilian, Sie sind zu ängstlich für einen Offizier, der, wie man sagt, nie die Furcht gekannt hat. Und siebrach in ein scharfes, schmerzliches Gelächter aus, ihre Arme wurden steif, ihr Kopf fiel auf den Stuhl zurück, und siebliebohneBewegung.
Morel riefbei diesem Anblick um Hilfe, worauf die Kammerfrau und dieBedienten sofort herbeieilten.
Valentine war so kalt, sobleich, so leblos, daß die Diener, ohne zu hören, was man ihnen sagte, von der Furcht erfaßt wurden, diebeständig in einem verfluchten Hause wachte, und um Hilfe rufend, in die Gänge stürzten.
Frau Danglars und Eugenie entfernten sich soeben und erfuhren gerade noch die Ursache des Aufruhrs.
Ich sagte es Ihnen! rief ihnen Frau von Villefort zu; die arme Kleine!
Das Geständnis.
In demselben Augenblick hörte man die Stimme des Herrn von Villefort aus seinem Kabinett rufen: Was gibt es denn?
Morelbefragte mit demBlicke Noirtier; dieser hatte wieder seine ganze Kaltblütigkeit erlangt undbezeichnete ihm mit dem Auge das Kabinett, in das er sich schon einmal unter ähnlichen Umständen geflüchtet hatte.
Gleich darauf stürzte Villefort in das Zimmer, lief auf Valentine zu und faßte sie in seine Arme. Einen Arzt!.. Herrn d'Avrigny! Oder ich gehe vielmehr selbst, rief er und lief aus dem Zimmer.
Durch die andere Tür entfloh Morel. Eine schreckliche Erinnerung regte sich in seinem Herzen: die Unterredung zwischen Villefort und dem Doktor, die er in der Nacht, in der Frau von Saint‑Meran starb, gehört hatte. Die Symptome, die dem TodeBarrois' vorhergegangen, schienen ihm dieselben zu sein, die er, wenn auch in etwas geringerem Grade, bei Valentine wahrgenommen hatte. Zugleich tönte an sein Ohr die Stimme des Grafen von Monte Christo, der ihm kaum zwei Stunden vorher gesagt hatte: Wenn Sie etwasbrauchen, Morel, so kommen Sie zu mir, ich vermag viel. Diesen Helfer wollte er nun aufsuchen.
Inzwischen fuhr Herr von Villefortbei Herrn d'Avrigny vor; er läutete so heftig, daß ihm der Portier mit erschrockener Miene öffnete. Villefort stürzte nach der Treppe, ohne daß er die Kraft hatte, etwas zu sagen. Der Portier kannte ihn und rief ihm nur nach: In seinem Kabinett, Herr Staatsanwalt!
Villefort stießbereits die Tür auf.
Ah! sagte der Doktor, Sie sind es? –
Ja, ichbin es und frage Sie, obwir allein sind. Doktor, mein Haus ist ein verfluchtes Haus!
Wie! sagte dieser scheinbar kalt, jedoch mit tiefer innerer Erschütterung, haben Sie abermals einen Kranken?
Ja, Doktor! rief Villefort, mit krampfhafter Hand seine Haare fassend, ja!
In d'AvrignysBlick lag: Ich habe es Ihnen vorher gesagt. Dann sprachen seine Lippen langsam: Wer soll denn in Ihrem Hause sterben, und welches neue Opfer wird Sie vor Gott der Schwäche anklagen?
Ein schmerzliches Schluchzen entwand sich dem Herzen des Geängsteten, er näherte sich dem Arzte, faßte ihn am Arm und antwortete: Valentine! die Reihe ist an Valentine! Ihre Tochter! rief d'Avrigny, erschreckt.
Sie sehen, daß Sie sich täuschten, murmelte der Staatsanwalt, kommen Sie, schauen Sie meine Tochter an, und Sie werden sie wegen Ihres Verdachtes auf ihrem Schmerzenslager um Verzeihungbitten.
So oft Sie michbenachrichtigten, war es zu spät, sagte Herr d'Avrigny; doch gleichviel, ich gehe. Eilen wir!
Oh! diesmal, Doktor, werden Sie mir meine Schwäche nicht mehr vorwerfen. Diesmal werde ich den Mörder kennen lernen und treffen.
Suchen wir das Opfer zu retten, ehe wir an die Rache denken, sagte d'Avrigny; kommen Sie!
Inzwischen war Morelbei Monte Christo angekommen. Der Graf saß in seinem Kabinett und las sorgenvoll einBillett, das ihmBertuccio in der Eile geschickt hatte. Als er Morel, der ihn vor kaum zwei Stunden verlassen hatte, melden hörte, erhobder Graf das Haupt.
Für Morel, wie für den Grafen hatte sich während dieser zwei Stunden ohne Zweifel viel ereignet, denn der junge Mann, der ihn mit einem Lächeln auf den Lippen verlassen, kam mit verstörtem Gesichte zurück.
Er stand auf, eilte Morel entgegen und rief: Was gibt es denn, Maximilian? Sie sindbleich, und Ihre Stirn trieft von Schweiß.
Morel fiel auf einen Stuhl und erwiderte: Ja, ichbin schnell gelaufen, ich mußte Sie sprechen. Ichbedarf Ihrer. Sie können mir vielleichtbei einer Sache Hilfe leisten, wo sonst niemand helfen kann. — Reden Sie! — Graf, wollen Sie mir erlauben, Baptistin wegzuschicken und in einem Ihnenbekannten Hause Nachrichten einzuziehen? — Ichbin zu Ihrer Verfügung, und Sie mögen also noch viel mehr über meineBedienten verfügen.
Morel ging hinaus, riefBaptistin und sagte ihm leise einige Worte. Der Kammerdiener eilte fort.
Morel erzählte nun, ohne die Namen zu nennen, dem Grafen, welches Geheimnis er aus dem im Garten des Staatsanwaltsbelauschten nächtlichen Gespräch erfahren habe, und Monte Christo hörte scheinbar mit der größten Ruhe zu.
Nun! endete Maximilian, der Tod ist zum dritten Male eingekehrt, und weder der Herr des Hauses, noch der Doktor hat etwas gesagt; der Tod wird vielleicht zum vierten Male treffen. Graf, wozu glauben Sie, daß mich die Kenntnis dieses Geheimnisses verpflichtet?
Mein lieber Freund, Sie scheinen mir eine Geschichte zu erzählen, die jeder von uns auswendig weiß. Ich kenne das Haus, wo Sie dies gehört haben, oder kenne wenigstens ein ähnliches: ein Haus, wo sich ein Garten, ein Familienvater, ein Doktor findet, ein Haus, wo sich drei seltsame, unerwartete Todesfälle ereignet haben. Wohl, schauen Sie mich an, mich, der nichts erlauscht hat, und dennoch dies alles so gut weiß wie Sie… habe ich Gewissensbedenken? Nein! das geht mich nichts an. Sie sagen, ein Würgeengel scheine dieses Haus dem Zorne des Herrn zubezeichnen; wer sagt Ihnen denn, daß Ihre Voraussetzung nicht Wirklichkeit ist? Wenn die Gerechtigkeit und nicht der Zorn Gottes dieses Haus trifft, Maximilian, so wenden Sie den Kopf abund lassen Sie die Gerechtigkeit Gottes ihren Gang gehen.
Morelbebte. Es lag zugleich etwas Finsteres, Feierliches und Furchtbares in dem Tone des Grafen.
Überdies, fuhr er mit so scharf veränderter Stimme fort, daß man hätte glauben sollen, diese letzten Worte kämen nicht mehr aus dem Munde desselben Menschen, — überdies, wer sagt Ihnen, daß es wieder anfangen wird?
Es fängt wieder an, Graf, rief Morel, und deshalbbin ich zu Ihnen gelaufen.
Was soll ich tun, Morel? Soll ich etwa den Herrn Staatsanwalt in Kenntnis setzen?
Monte Christo sprach diese Worte mit solchem Ausdrucke, daß Morel plötzlich aufstand und rief: Graf! Graf! nicht wahr, Sie wissen, von wem ich spreche? Allerdings, mein guter Freund, und ich will es Ihnen dadurchbeweisen, daß ich Namen nenne. Sie sind am Todesabend des Herrn von Saint‑Meran im Garten des Herrn von Villefort gewesen. Sie haben Herrn von Villefort mit Herrn d'Avrigny über den Tod des Herrn von Saint‑Meran und über den nicht minder erstaunlichen Tod seiner Gattin sprechen hören. Herr d'Avrigny sagte, er glaube an eine Vergiftung, oder sogar an zwei Vergiftungen, und Sie, der vor allen ehrliche Mann, sind seitdem in Gewissensnöten, obSie dieses Geheimnis enthüllen, oder obSie schweigen sollen. So lassen Sie doch die Leute schlafen, wenn sie schlafen, und schlummern Sie selbst um Gotteswillen, Sie, den keine Gewissensbisse am Schlummern hindern.
Ein furchtbarer Schmerz prägte sich in Morels Zügen aus; er ergriff die Hand des Grafen und rief: Aber, es fängt wieder an, sage ich Ihnen!
Nun wohl, erwiderte der Graf, erstaunt über diese Hartnäckigkeit, die er nichtbegriff, während er Maximilian noch aufmerksamer anschaute, lassen Sie es wieder anfangen; es ist eine Atriden‑Familie! Gott hat sie verurteilt, und sie werden seinem Spruche unterliegen, sie werden verschwinden. Vor drei Monaten war es Herr von Saint‑Meran; vor zwei Monaten war es Frau von Saint‑Meran; kürzlich war esBarrois; heute ist es der alte Noirtier oder die junge Valentine.
Sie wußten es? rief Morel so erschrocken, daß Monte Christobebte, er, den des Himmels Einsturz unempfindlich gefunden hätte. Sie wußten es und sagten nichts?
Was ist mir denn daran gelegen! versetzte Monte Christo, die Achseln zuckend, kenne ich diese Leute?
Aber ich, rief Morel, brüllend vor Schmerz, ich liebe sie!
Sie lieben, wen? rief Monte Christo aufspringend und Morels Hände ergreifend.
Ich liebebis zur Raserei, ich liebe wie ein Mensch, der all seinBlut hingeben würde, um ihr eine Träne zu ersparen, ich liebe Valentine von Villefort, die man in diesem Augenblicke ermordet! Hören Sie wohl, ich liebe sie, und frage Gott und Sie, wie ich sie retten kann?
Monte Christo stieß einen Schrei aus und rief, die Hände ringend: Unglücklicher! du liebst die Tochter eines verfluchten Geschlechtes!
Nie hatte Morel einen ähnlichen Ausdruck gesehen, nie hatte ein so furchtbares Auge vor seinem Gesicht geflammt, nie hatte der Geist des Schreckens, den er so oft auf den Schlachtfeldern oder in den mörderischen Nächten Algeriens erschaut, so düstere Flammen um ihn her geschleudert. — Er wich erschrocken zurück.
Monte Christo schloß ein paar Sekunden lang nach diesem Ausbruche, wie von innerenBlitzen geblendet, die Augen. Während dieser Sekunden sammelte er sich mit solcher Gewalt, daß man nach und nach die wellenförmigenBewegungen seiner von Stürmen schwellendenBrust sich legen sah, wie sich nach dem Gewitter unter der Sonne die stürmischen, schäumenden Wogen glätten.
Dann hober seinebleiche Stirn empor und sagte mit leichtbebender Stimme: Ich, der unempfindlich, und neugierig dastand, ich, der die Entwickelung dieser furchtbaren Tragödiebetrachtete; ich, der einem schlimmen Genius ähnlich über dasBöse lachte, das die Menschen unter dem Schutze des Geheimnisses tun — ich fühle mich nun selbst gebissen von der Schlange, deren krummen Gang ichbetrachtete, und zwar ins Herz gebissen.
Morel stieß einen dumpfen Seufzer aus.
Auf! auf! genug der Klagen, fuhr der Graf fort, seien Sie stark, seien Sie ein Mann, seien Sie voll Hoffnung, denn ichbin da, ich wache über Sie.
Morel schüttelte traurig den Kopf.
Ich sage Ihnen, Sie sollen hoffen, verstehen Sie mich? rief Monte Christo. Erfahren Sie, daß ich nie lüge, daß ich mich nie täusche. Es ist Mittag, Maximilian, danken Sie dem Himmel, daß Sie am Mittag gekommen sind, statt erst am Abend zu kommen. Hören Sie, was ich Ihnen sagen werde, Morel; es ist Mittag; wenn Valentine noch nicht tot ist, so wird sie nicht sterben.
Oh! mein Gott! mein Gott! rief Morel, ich habe sie sterbend zurückgelassen.
Monte Christo legte seine Hand an die Stirn. Was ging in diesem von furchtbaren Geheimnissenbeschwerten Kopfe vor? Er hobdie Stirn noch einmal, und diesmal war er ruhig wie das Kindbeim Erwachen.
Maximilian, sagte er, kehren Sie still nach Hause zurück; ichbefehle Ihnen, nichts zu tun, keinen Schritt zu versuchen, über Ihr Antlitz nicht den Schatten einer Unruhe schweben zu lassen, ich werde Ihnen Nachricht geben.
Mein Gott! mein Gott! Graf, Sie erschrecken mich mit Ihrer Kaltblütigkeit. Vermögen Sie etwas gegen den Tod? Sind Sie mehr als ein Mensch?
Und der junge Mann, den keine Gefahr je einen Schritt zurückweichen ließ, wich, von einem unsäglichen Schrecken erfaßt, zurück. Doch Monte Christo schaute ihn jetzt mit einem zugleich so schwermütigen und so sanften Lächeln an, daß Maximilian Tränen in seinen Augen fühlte.
Ich vermag viel, antwortete der Graf. Gehen Sie, ich muß allein sein, mein Freund.
Ohne Widerstreben drückte Morel dem Grafen die Hand und entfernte sich.
Villefort und d'Avrigny waren indessen in größter Eile nach dem Hotel des Staatsanwalts gefahren. Bei ihrer Rückkehr war Valentine noch ohnmächtig, und der Arzt untersuchte die Kranke mit der von den Umständen gebotenen Sorgfalt.
An seinen Lippen und seinenBlicken hängend, erwartete Villefort das Resultat der Prüfung. Bleicher, als das Mädchen, gieriger auf eine Lösung, als Villefort selbst, wartete Noirtier ebenfalls.
Endlich sprach d'Avrigny langsam die Worte: Sie lebt noch.
Noch? rief Villefort, oh! Doktor, welch ein furchtbares Wort haben Sie da ausgesprochen!
Ja, sagte der Doktor, ich wiederhole meineBehauptung; sie lebt noch, und ichbin darüber erstaunt.
Doch sie ist gerettet? — Ja, da sie lebt.
In diesem Momentbegegnete derBlick d'Avrignys demBlicke Noirtiers. Er erglänzte von so außerordentlicher Freude, daß der Arzt sich dadurchbetroffen fühlte.
Er ließ das Mädchen, dessenbleiche, weiße Lippen sich kaum noch vom übrigen Gesicht abhoben, wieder auf den Stuhl fallen und sagte zu Villefort: Rufen Sie gefälligst die Kammerjungfer des Fräuleins.
Villefort ließ den Kopf seiner Tochter los, den er unterstützte, und lief weg, um die Kammerjungfer zu rufen.
Sobald Villefort die Tür zugemacht hatte, näherte sich d'Avrigny Herrn Noirtier und fragte ihn: Sie haben mir etwas zu sagen?
Der Greisblinzelte auf eine ausdrucksvolle Weise mit den Augen; es war dies, wie man sich erinnert, seinbejahendes Zeichen.
Gut, ich werdebei Ihnenbleiben.
In diesem Augenblick kehrte Villefort mit der Kammerjungfer zurück; hinter dieser ging Frau von Villefort.
Aber was hat denn das liebe Kind? rief sie:… sie ging von mir weg, beklagte sich zwar etwas über Unpäßlichkeit, doch ich glaubte, es sei von keinerBedeutung.
Und die junge Frau näherte sich Valentine mit Tränen in den Augen und mit allen Zeichen der Zuneigung einer wahren Mutter, und nahm siebei der Hand.
D'Avrigny schaute Noirtier fortwährend an; er sah, wie seine Augen sich erweiterten, wie seine Wangen zitterten und erbleichten, wie der Schweiß auf seiner Stirn perlte.
Oh! stieß er unwillkürlich hervor, während er der Richtung derBlicke des Greises folgte, das heißt, seine Augen auf Frau von Villefort heftete. Diese sagte wiederholt: Das arme Kind wirdbesser in seinem Zimmer sein. Kommen Sie, Fanny, wir wollen Valentine zuBettebringen.
Der Arzt, der in diesem Vorschlag ein Mittel sah, mit Noirtier allein zubleiben, erklärte dies für dasbeste, verbot aber, sie irgend etwas anderes nehmen zu lassen, als was er verordnen würde.
Man trug Valentine weg; sie hatte wieder dasBewußtsein erlangt, vermochte aber weder sich zubewegen, noch zu sprechen, so sehr waren ihre Glieder durch die Erschütterung, die sie erlitten, gelähmt. Sie hatte indessen die Kraft, mit einemBlicke ihren Großvater zu grüßen, dem man, als man sie wegtrug, die Seele zu entreißen schien.
D'Avrigny folgte der Kranken, gabweitere Vorschriften, hieß Villefort selbst zum Apotheker fahren, dort die verordneten Tränkebereiten lassen, sie selbst zurückbringen und ihn im Zimmer seiner Tochter erwarten.
Nachdem er abermals eingeschärft, Valentine nichts nehmen zu lassen, ging er wieder zu Herrn Noirtier hinab, schloß sorgfältig die Tür, überzeugte sich, daß niemand horchte, und sagte: Mein Herr, Sie wissen etwas über die Krankheit Ihrer Enkelin? — Ja, machte der Greis.
Hören Sie, wir haben keine Zeit zu verlieren, ich will Sie fragen, und Sie antworten mir. Haben Sie den Unfall vorhergesehen, der heute Valentinebegegnet ist? — Ja.
D'Avrigny dachte einen Augenblick nach, näherte sich sodann Noirtier und fuhr fort: Verzeihen Sie mir, was ich Ihnen sagen werde; doch in der furchtbaren Lage, in der wir unsbefinden, darf kein Anzeichen vernachlässigt werden. Haben Sie den armenBarrois sterben sehen?
Noirtier schlug die Augen zum Himmel auf.
Wissen Sie, woran er gestorben ist? — Ja.
Glauben Sie, sein Tod sei natürlich gewesen?
Etwas wie ein Lächeln trat auf die trägen Lippen Noirtiers. Es ist Ihnen also der Gedanke gekommen, Barrois sei vergiftet worden? — Ja. — Glauben Sie, das Gift, dem er unterlegen ist, sei für ihnbestimmt gewesen? — Nein.
Meinen Sie, dieselbe Hand, dieBarrois statt eines andern getroffen, treffe heute Valentine? — Ja. — Sie wird also ebenfalls unterliegen? fragte d'Avrigny, einen tiefenBlick auf Noirtier heftend. — Nein, erwiderte dieser mit triumphierender Miene. — Sie hoffen also? fragte d'Avrigny erstaunt. — Ja. — Was hoffen Sie?
Der Greis machte durch die Augenbegreiflich, er könne nicht antworten.
Ah! ja, das ist wahr, murmelte d'Avrigny.
Dann sagte er: Sie hoffen, der Mörder würde müde werden? — Nein. — Also hoffen Sie, das Gift werde ohne Wirkung auf Valentine sein? — Ja. — Denn nicht wahr, ichbelehre Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, man habe sie in der Tat zu vergiften gesucht?
Der Greis machte mit den Augen ein Zeichen, das keinen Zweifel in dieserBeziehung übrig ließ.
Wie hoffen Sie dann, daß Valentine entkommen werde?
Noirtier hielt hartnäckig seine Augen auf einen Punkt geheftet; d'Avrigny folgte der Richtung seiner Augen und sah, daß sie auf eine Flasche zielten, die den Trank enthielt, den man ihm jeden Morgenbrachte.
Ah! ah! sagte d'Avrigny, plötzlich von einem Gedanken erleuchtet, sollten Sie den Einfall gehabt haben… — Noirtier ließ ihn nicht vollenden. Ja, machte er. — Sie gegen das Gift zu verwahren? — Ja. — Indem Sie Valentine allmählich daran gewöhnten, da Sie mich haben sagen hören, es kommeBrucin in den Trank, den ich Ihnen gebe. — Ja, ja, ja, machte der Greis, entzückt, verstanden zu werden. — Und Sie gewöhnten sie an dieses Getränk und wollten dadurch die Wirkungen eines solchen Giftes aufheben?
Dieselbe triumphierende Freudebei Noirtier.
Und es ist Ihnen wirklich gelungen! rief d'Avrigny. Ohne diese Vorsichtsmaßregel wäre Valentine heute getötet, getötet ohne die Möglichkeit einer Hilfe; der Schlag war heftig, doch sie wurde nur erschüttert, und diesmal wenigstens wird Valentine nicht sterben.
Eine übermenschliche Freude glänzte in den mit einem Ausdrucke unsäglicher Dankbarkeit zum Himmel aufgeschlagenen Augen des Greises.
In dieser Minute kam Villefort zurück.
Hier, Doktor, sagte er, hier ist das Verlangte. — Dieser Trank ist in Ihrer Gegenwartbereitet worden? — Ja. — Er ist nicht aus Ihren Händen gekommen? — Nein.
D'Avrigny nahm die Flasche, goß ein paar Tropfen von ihrem Inhalt in seine hohle Hard und verschluckte sie.
Gut, sagte er, gehen wir zu Valentine! Ich werde dort meine Vorschriften geben, und Sie selbst, Herr von Villefort, wachen darüber, daß niemand davon abgeht.
In dem Augenblick, wo der Doktor in das Zimmer Valentines, von Villefortbegleitet, zurückkehrte, mietete ein italienischer Priester das an das Hotel des Herrn von Villefort anstoßende Haus.
Man konnte nicht erfahren, was die drei Mieter dieses Hausesbewogen hatte, zwei Stunden nachher auszuziehen. Aber es ging allgemein das Gerücht in der Gegend, das Haus ruhe nicht fest auf seinem Grunde und drohe einzustürzen, was den neuen Mieter aber durchaus nicht abhielt, noch an demselben Tage gegen fünf Uhr einzuziehen.
Der Mietvertrag wurde für drei Jahre abgeschlossen und der Hauszins von dem neuen Mieter namens Signor GiacomoBusoni sechs Monate vorausbezahlt.
Es wurden sogleich Arbeiter gerufen, und noch in derselben Nacht sahen einige Verspätetebeim Vorübergehen mit Erstaunen Zimmerleute und Maurer mit Ausbesserung des wankenden Hausesbeschäftigt.
SechsterBand.
Der Vertrag.
Drei Tage nachher, gegen fünf Uhr abends, in dem Augenblick, wo Monte Christo eben ausfahren wollte, besuchte ihn Herr Andrea Cavalcanti, so vor Glück strahlend, als sei er imBegriff, eine Prinzessin zu heiraten.
Ei! guten Morgen, lieber Herr von Monte Christo! sagte er zu dem Grafen, den er auf der obersten Stufe traf.
Ah! Herr Andrea! erwiderte der Angeredete mit halbspöttischem Tone, wiebefinden Sie sich?
Vortrefflich, wie Sie sehen. Ich habe über tausenderlei Dinge mit Ihnen zu sprechen.
Nachdem Andrea aus die Aufforderung des Grafen im Salon des ersten Stockwerks Platz genommen hatte, sagte er mit lachender Miene: Sie wissen, daß die Zeremonie heute abend stattfindet?
Allerdings; ichbekam gestern einenBrief von Herrn Danglars. Sie sind nun also glücklich, Herr Cavalcanti? Sie schließen eine sehr wünschenswerte Verbindung; auch ist Fräulein Danglars sehr hübsch.
Jawohl, sagte Cavalcanti etwas kleinlaut.
Sie istbesonders sehr reich, wie ich glaube?
Sehr reich, glauben Sie? wiederholte der junge Mann.
Allerdings; man sagt, Herr Danglars verhehle wenigstens die Hälfte seines Vermögens.
Und erbekennt sich zu fünfzehnbis zwanzig Millionen! rief Andrea mit einem vor Freude funkelndenBlicke.
Abgesehen davon, daß dieses ganze Vermögen Ihnen zufließen wird, da Fräulein Danglars die einzige Tochter ist. Überdies kommt Ihr eigenes Vermögen — Ihr Vater hat mir dies wenigstens gesagt — dem IhrerBrautbeinahe gleich. Doch lassen wir die Geldsachebeiseite. Wissen Sie, Herr Andrea, daß Sie die Sache geschickt durchgeführt haben?
Nicht schlecht, sagte der junge Mann; ich war für die Diplomatie geboren.
Wohl, die diplomatische Laufbahn wird Ihnen offen stehen… Also das Herz ist auch gefangen?
In der Tat, ichbefürchte es.
Liebt man Sie ein wenig?
Es muß wohl sein, da man mich heiratet, erwiderte Andrea mit siegreichem Lächeln. Doch vergessen wir eines nicht. Es ist mirbeständig eine merkwürdige Unterstützung zuteil geworden.
Bah! Durch Zufall.
Nein, durch Sie.
Durch mich? Lassen Sie das, Prinz, sagte Monte Christo mit absichtlicherBetonung des Titels. Was konnte ich für Sie tun? Genügten nicht Ihr Name, Ihre gesellschaftliche Stellung und Ihr Verdienst?
Nein, nein; Sie mögen sagen, was Sie wollen, ichbehaupte, Herr Graf, daß die Stellung eines Mannes, wie Sie, mehr getan hat, als mein Name, meine gesellschaftliche Stellung und mein Verdienst.
Sie täuschen sich ganz und gar, mein Herr, sagte Monte Christo, der die Absicht des jungen Mannes durchschaute. Sie haben meine Protektion erst erlangt, nachdem ich von dem Einfluß und dem Vermögen Ihres Herrn Vaters Kenntnis genommen; denn wer hat im ganzen mir, der Sie nie gesehen hat und ebensowenig den erhabenen Urheber Ihrer Tage, das Glück verschafft, Sie kennen zu lernen? Zwei von meinen Freunden, Lord Wilmore und der AbbéBusoni. Wer hat mich ermutigt, nicht Ihnen alsBürgschaft zu dienen, sondern Sie zu patronisieren? Der in Italien sobekannte und geehrte Name Ihres Vaters; persönlich kenne ich Sie nicht.
Diese unerschütterliche Ruhe und Leichtigkeit ließen Andreabegreifen, daß er für den Augenblick unter dem Drucke einer stärkeren Hand als die seine war, stand und daß sich dieser Druck nicht so leichtbrechen ließ.
Sagen Sie, Herr Graf, fuhr er fort, ist das Vermögen meines Vaters wirklich groß?
Es scheint so.
Wissen Sie nicht, obdie Mitgift, die er mir versprochen hat, angekommen ist?
Ich habe die schriftliche Ankündigung erhalten, und die drei Millionen sind aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Wege.
Ich werde sie also wirklich erhalten?
Verdammt! rief der Graf, es scheint mir, es hat Ihnenbis jetzt nicht an Geld gefehlt.
Andrea war so erstaunt, daß er einen Augenblick in Sinnen versank.
Mein Herr, sagte er, aus seiner Träumerei erwachend, ich habe nur noch eineBitte an Sie zu richten, die Sie verstehen werden, selbst wenn sie Ihnen unangenehm sein sollte.
Sprechen Sie.
Ich kam durch mein Vermögen mit vielen ausgezeichneten Leuten in Verbindung und habe, wenigstens für den Augenblick, eine Menge Freunde. Doch wenn ich mich jetzt sozusagen im Angesicht der ganzen Pariser Gesellschaft verheirate, so muß ich mich in Ermangelung der väterlichen Hand durch einen Mann mit erhabenem Namen und zweifellosem Ansehn an den Altar führen lassen; mein Vater kommt aber nicht nach Paris, nicht wahr?
Er ist alt, mit Wundenbedeckt und leidet, wie er sagt, so sehr, daß ihn jede Reise an den Rand des Grabesbringt.
Ichbegreife und komme daher, dieBitte an Sie zu wagen, ihn zu ersetzen.
Ah! mein lieber Herr, nachdem ich so lange mit Ihnen zu verkehren das Glück gehabt habe, kennen Sie mich so wenig, daß Sie eine solcheBitte an mich richten? Verlangen Sie eine halbe Million von mir, und Sie werden mich, ans mein Ehrenwort, eher dazu geneigt finden. Ich, der ein Serail in Kairo, in Smyrna und in Konstantinopel hat, soll den Vorsitzbei einer Hochzeit führen? Niemals!
Sie schlagen es also ab?
Ja; ich würde es abschlagen, selbst wenn Sie mein Sohn wären.
Ah! rief Andrea verblüfft, wie soll ich es machen?
Sie haben hundert Freunde, wie Sie soeben selbst sagten.
Gewiß; doch Sie stellten mich Herrn Danglars vor.
Keineswegs! In Wahrheit war es so: Ich habe Sie mit ihm in Auteuil speisen lassen, und Sie haben sich ihm selbst vorgestellt. Teufel! das ist ein Unterschied.
Ja, doch Sie trugen zu meiner Verheiratungbei.
Ich? Ganz und gar nicht, ichbitte Sie, mir dies zu glauben. Erinnern Sie sich doch, was ich Ihnen geantwortet habe, als Sie zu mir kamen und michbaten, Fräulein Danglars' Hand für Sie zu verlangen. Oh! ich vermittle nie Heiraten, mein Prinz, das istbei mir ein fester Grundsatz.
Andreabiß sich auf die Lippen.
Doch Sie werden wenigstens anwesend sein?
Wird ganz Paris erscheinen? — Oh! gewiß.
Gut! ich werde es machen, wie ganz Paris.
Sie werden den Vertrag unterzeichnen?
Oh! ich sehe darin nichts Unangemessenes, und meineBedenklichkeiten gehen nicht so weit.
Nun, da Sie mir nicht mehr gewähren wollen, so muß ich mich mit dembegnügen, was Sie mir geben. Doch ein letztes Wort, Herr Graf.
Was denn? Sprechen Sie.
Die Mitgift meiner Fraubeträgt 500 000 Franken?
Diese Zahl hat mir Herr Danglars selbst genannt.
Soll ich sie in Empfang nehmen, oder in den Händen des Notars lassen?
Anständigerweise verfährt man so: Ihrebeiden Notare verabredenbei Abschluß des Vertrages eine Zusammenkunft für den nächsten, oder den zweiten Tag. Dann tauschen sie die Mitgiften aus, worüber sie sich gegenseitig Scheine geben. Ist dann die Hochzeit gefeiert, so stellen sie die Millionen zu Ihrer Verfügung, da Sie das Haupt der Gemeinschaft sind.
Ich glaube, sagte Andrea mit schlecht verhehlter Unruhe, eine Äußerung meines Schwiegervaters gehört zu haben, er wolle unsere Fonds in Eisenbahnaktien anlegen.
Ah! das ist doch nach allgemeiner Ansicht ein Mittel, Ihre Kapitalien in einem Jahre wenigstens zu verdreifachen. Der HerrBaron Danglars versteht zu rechnen.
Somit geht alles vortrefflich, abgesehen von Ihrer Weigerung, die mich im höchsten Grade schmerzt.
Schreiben Sie diese einzig und allein einem unter solchen Umständen natürlichenBedenken zu.
Gut, sagte Andrea, es sei, wie Sie wollen, heute abend um neun Uhr.
Auf Wiedersehen.
Und trotz eines leichten Widerstrebens Monte Christos, der aber ein zeremoniöses Lächelnbeibehielt, ergriff Andrea die Hand des Grafen, drückte sie, sprang in seinen Wagen und verschwand.
Die vier Stunden, die ihmbis neun Uhrblieben, wandte Andrea zuBesuchen an, um die von ihm erwähnten Freunde zu veranlassen, mit allem Luxus ihrer Equipagenbei demBankier zu erscheinen.
Um halbneun Uhr abends waren der große Salon im Danglarsschen Hause, die an diesen Salon anstoßende Galerie, und die drei andern Salons des Stockes, die tausend Kerzenbestrahlten, von einer parfümierten Menge erfüllt, die viel weniger die Sympathie anzog, als das unwiderstehlicheBedürfnis, da zu sein, wo man etwas Neues zu sehen hoffen durfte.
Fräulein Eugenie war mit der zierlichsten Einfachheit angetan; ein Kleid von weißer Seide, eine halbin ihren rabenschwarzen Haaren verlorene weiße Rosebildeten ihren ganzen Schmuck.
Dreißig Schritte von ihr plauderte Frau Danglars mit Debray, Beauchamp und Chateau‑Renaud. Andrea, der am Arme eines derbekanntesten Pariser Stutzer einherschritt, entwickelte diesem seine maßlosen Pläne für sein zukünftiges Leben, und wie er durch seinen Luxus selbst die verwöhnten Pariser in Erstaunen setzen wollte.
Die Menge wanderte durch diese Salons, wie ein Strom von Türkisen, Rubinen, Smaragden und Diamanten. Wie überall konnte man auch hierbemerken, daß die ältesten Frauen am meisten geschmückt waren, und daß sich die Häßlichsten am hartnäckigsten vordrängten. Wollte man sich einer schönen weißen Lilie, einer süßen, duftenden Rose erfreuen, so mußte man sie verborgen in irgend einem Winkel hinter einer turbangeschmückten Mutter oder einer mit einem Paradiesvogel koiffierten Tante suchen.
In dem Augenblicke, wo der Zeiger der massiven Pendeluhr auf ihrem goldenen Zifferblatt neun Uhr anzeigte, erklang nach anderenberühmten Namen aus Finanz-, Offizier- oder Gelehrtenkreisen, welche der Saaldienerbeim Eintreffen derbetreffenden Personen in das allgemeine Gesumme und Gelächter hineinrief, auch der Name des Grafen von Monte Christo, und wie von einem elektrischen Schlage getroffen, wandte sich die ganze Versammlung der Tür zu.
Der Graf war schwarz und mit seiner gewöhnlichen Einfachheit gekleidet, statt jedes Schmuckes trug er nur auf seiner weißen Weste eine ganz feine, goldene Kette.
Der Graf gewahrte mit einem einzigen Umblicke Frau Danglars an einem Ende des Salons, Herrn Danglars am andern, und Eugenie vor sich.
Er näherte sich zuerst derBaronin, die mit Frau von Villefort plauderte, und ging dann geradeswegs, so sehr lichtete sich vor ihm das Gedränge, auf Eugenie zu, die er mit so ausgesuchten Wortenbegrüßte, daß die stolze Künstlerin davonbetroffen war. Neben ihr stand Fräulein Luise d'Armilly; sie dankte dem Grafen für die Empfehlungsbriefe, die er ihr so zuvorkommend für Italien gegeben habe, und von denen sie, wie sie sagte, ungesäumt Gebrauch machen werde. Als er diese Damen verließ, wandte er sich um undbefand sich Danglars gegenüber, der sich ihm genähert hatte, um ihm die Hand zu drücken.
Sobald diese drei gesellschaftlichen Pflichten erfüllt waren, bliebMonte Christo stehen und schaute gleichgültig umher.
Die Notare traten in diesem Augenblick ein und legten ihrebekritzelten Papiere auf die goldgestickte Samtdecke einesbereitstehenden Tisches. Der Vertrag wurde unter tiefem Schweigen vorgelesen. Doch gleich darauf erhobsich der Lärm in den Salons doppelt so stark wie zuvor. Diese glänzenden Summen, derberauschende Klang der Millionen vervollständigten mit ihremBlendwerk den Eindruck, den die in einembesonderen Zimmer ausgestellte Aussteuer nebst den Diamanten der jungen Frau auf die neidischen Gäste gemacht hatte.
Von seinen Freunden umringt, beglückwünscht, umschmeichelt, begann Andrea an die Wirklichkeit seines Traumes zu glauben und war imBegriff, den Kopf zu verlieren.
Der Notar nahm feierlich die Feder und sagte: Meine Herren, man unterzeichne den Vertrag.
DerBaron sollte zuerst unterzeichnen, dann derBevollmächtigte von Herrn Cavalcanti Vater, dann dieBaronin, dann die zukünftigen Ehegatten.
DerBaron nahm die Feder und unterzeichnete, dann kam derBevollmächtigte. DieBaronin näherte sich am Arme der Frau von Villefort. Mein Freund, sagte sie, die Feder ergreifend, ist es nicht zum Verzweifeln? Ein unerwarteter Zwischenfallbei der Mord- und Diebstahlsgeschichte, deren Opferbeinahe der Herr Graf von Monte Christo gewesen wäre, beraubt uns des Glückes, Herrn von Villefort hier zu sehen.
Oh, mein Gott! sagte Danglars und dachtebei sich, das ist mir ganz gleichgültig!
Mein Gott! sprach Monte Christo hinzutretend, ichbefürchte, die unwillkürliche Ursache dieser Abwesenheit zu sein.
Wie! Sie, Graf? sagte Frau Danglars, indem sie unterzeichnete; wenn dem so ist, so nehmen Sie sich in acht, ich werde es Ihnen nie mehr verzeihen.
Andrea spitzte die Ohren.
Sie erinnern sich, sagte der Graf, mitten unter dem tiefsten Stillschweigen, daßbei mir der Unglückliche gestorben ist, der michberauben wollte, dann aber anscheinend von seinem Genossen ermordet wurde?
Ja, sagte Danglars.
Nun, um ihm zu helfen, hatte man ihn entkleidet und seine Kleider in eine Ecke geworfen, worauf sie im Auftrage des Gerichtes in Verwahrung genommen wurden, wobei man aber die Weste vergaß.
Andrea erbleichte sichtbar und zog sich ganz sacht nach der Tür; er sah am Horizont eine Wolke heraufziehen, die ihm einen Sturm zu verkünden schien.
Diese Weste hat man nun heute, ganz mitBlutbedeckt und in der Herzgegend durchlöchert, gefunden.
Die Damen stießen einen Schrei aus, und zwei oder drei machten sichbereit, in Ohnmacht zu fallen.
Manbrachte sie mir, niemand konnte erraten, wem dieser traurige Fetzen gehöre; ich allein dachte, es sei wahrscheinlich die Weste des Opfers. Plötzlich fühlte mein Kammerdiener, der die traurige Reliquie untersuchte, ein Papier in der Tasche und zog es heraus; es war einBrief, an wen? An Sie, Baron.
An mich? rief Danglars.
Oh! mein Gott, ja, an Sie; es gelang mir, Ihren Namen unter demBlute zu lesen, mit dem dasBillettbefleckt war, antwortete Monte Christo, unter allgemeinen Ausrufen der Verwunderung.
Aber… fragte Frau Danglars, ihren Gatten unruhig anschauend, was hindert dies Herrn von Villefort…
Das ist ganz einfach, gnädige Frau, erwiderte Monte Christo, diese Weste und dieserBrief sindBeweisstücke; ich habe darum auchBrief und Weste zu dem Herrn Staatsanwalt geschickt. Siebegreifen, HerrBaron, der gesetzliche Weg ist der sicherste in Kriminalsachen; vielleicht war es ein hinterlistiger Streich gegen Sie.
Andrea schaute Monte Christo starr an und verschwand in den zweiten Salon.
Das ist möglich, sagte Danglars, war der Ermordete nicht ein ehemaliger Galeerensklave?
Ja, antwortete der Graf, ein ehemaliger Galeerensklave, namens Caderousse.
Danglars erbleichte leicht, Andrea verließ den zweiten Salon und erreichte das Vorzimmer.
Unterzeichnen Sie doch, sagte Monte Christo, ich sehe, daß meine Erzählung einige Aufregung verursacht hat, undbitte Sie, FrauBaronin, und Fräulein Danglars um Verzeihung.
DieBaronin übergabdie Feder dem Notar.
Herr Prinz Cavalcanti, sagte der Notar, Herr Prinz Cavaleanti, wo sind Sie?
Andrea! Andrea! wiederholten mehrere Stimmen von jungen Leuten, diebereits mit dem edlen Italiener zu einem solchen Grade von Vertraulichkeit gelangt waren, daß sie ihn mit seinem Taufnamen riefen.
Rufen Sie doch den Prinzen, sagen Sie ihm, es sei die Reihe an ihm, zu unterzeichnen! rief Danglars einem Diener zu.
Doch in demselben Augenblick strömte die Menge der Anwesenden in den Hauptsalon zurück, als obein furchtbarer Schreck über sie hereingebrochen wäre.
Es war allerdings Grund vorhanden, zurückzuweichen, denn ein Gendarmerieoffizier stellte zwei Gendarmen vor die Tür des Salons und ging inBegleitung eines mit seiner Schärpe umgürteten Polizeikommissars auf Danglars zu.
Frau Danglars stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Danglars, der sich selbstbedroht glaubte, zeigte seinen Gästen ein von Schrecken entstelltes Gesicht.
Was gibt es denn, mein Herr? fragte Monte Christo, dem Kommissar entgegengehend.
Wer von Ihnen, meine Herren, fragte derBeamte, heißt Andrea Cavalcanti?
Ein Schrei des Erstaunensbrach aus allen Ecken des Saales hervor. Man suchte; man fragte.
Aber was ist es denn mit diesem Andrea Cavalcanti? fragte Danglars ganz verwirrt.
Er ist ein aus demBagno in Toulon entsprungener Galeerensklave.
Und welches Verbrechen hat erbegangen?
Er ist angeklagt, sagte der Kommissar mit seiner unerschütterlichen Stimme, einen Menschen, namens Caderousse, seinen ehemaligen Kettengenossen, im Augenblick, wo dieser aus dem Hause des Herrn Grafen von Monte Christo kam, ermordet zu haben.
Monte Christo schaute rasch umher.
Andrea war verschwunden.
Die Straße nach Belgien.
Einige Augenblicke nach der Szene der Verwirrung, welche die unerwartete Erscheinung des Gendarmerieoffiziers und die Enthüllung des Polizeikommissars hervorgebracht hatten, leerte sich das große Danglarssche Hotel mit einer Geschwindigkeit, als wäre einer der Gäste von der Pest oder der Cholerabefallen worden.
In dem Hotel desBankiers waren nur Danglars, der, in sein Kabinett eingeschlossen, vor dem Gendarmerieoffizier seine Aussagen machte, Frau Danglars in ihremBoudoir und Eugenie zurückgeblieben, die sich mit ihrer unzertrennlichen Freundin, Fräulein Luise d'Armilly, in ihr Zimmer zurückgezogen hatte.
Oh! mein Gott! mein Gott! diese furchtbare Geschichte! sagte die junge Tonkünstlerin; wer konnte dies vermuten? Herr Andrea Cavalcanti… ein Mörder… aus demBagno entsprungen… ein Galeerensklave!..
Ein ironisches Lächeln zog Eugenies Lippen zusammen.
In der Tat, ich war prädestiniert, sagte sie. Ich entgehe Morcerf, um in Cavalcantis Hände zu fallen.
Oh! verwechsele den einen nicht mit dem andern, Eugenie.
Schweige, alle Männer sind Schändliche, bis jetzt verachtete ich sie, nun hasse ich sie.
Was werden wir machen?
Was wir in drei Tagen machen sollten… abreisen.
Also heiratest du nicht mehr, du willstbeständig…
Höre, Luise, ich habe einen Abscheu vor diesem Leben der Gesellschaft, das stets geordnet, abgemessen, geregelt ist, wie unser Notenpapier. Was ich immer gewünscht, gewollt, erstrebt habe, ist das Leben einer Künstlerin, das freie Leben, das unabhängige Leben, wobei man nur sich selbst Rechenschaft abzulegen hat. Hierbleiben, warum? Damit man es in einem Monat abermals versucht, mich zu verheiraten — mit wem? Mit Herrn Debray vielleicht, wie man es einen Augenblick im Sinne hatte. Nein, Luise, nein, der Vorfall heute abend wird mir zur Entschuldigung dienen; ich suchte ihn nicht, ich verlangte ihn nicht, Gott schickt ihn mir, und er ist willkommen.
Wie stark und mutig dubist, sagte dasblonde, schwächliche Mädchen zu seinerbraunen Gefährtin.
Kennst du mich noch nicht? Also, zunächst der Reisewagen?
Ist zum Glück seit drei Tagen gekauft.
Unser Paß? — Hier ist er!
Eugenie entfaltete mit ihrer gewöhnlichen Festigkeit ein Papier und las: Herr Leon d'Armilly, einundzwanzig Jahre alt; Gewerbe: Künstler; Haare: schwarz; Augen: schwarz; reist mit seiner Schwester.
Durch wen hast du dir diesen Paß verschafft?
Als ich zu Herrn von Mont: Christo ging und ihn umBriefe an die Direktoren der Theater in Rom und Neapelbat, drückte ich ihm meineBefürchtungen darüber aus, daß ich allein reisen sollte. Erbegriff mich vollkommen, bot an, mir einen Männerpaß zu verschaffen, und zwei Tage nachher erhielt ich diesen, dem ich mit meiner Hand die Worte: Reist mit seiner Schwester, beigefügt habe.
Wirbrauchen also nur noch unsern Koffer zu packen und abzureisen.
Überlege es wohl, Eugenie.
Oh! ich habe es wohl überlegt? ichbin es müde, von nichts sprechen zu hören, als vonBilanzen, Monatsabschlüssen, von Steigen und Fallen der Rente, von spanischen Fonds, von Haytischen Papieren. Statt dessen, Luise, begreifst du! die Luft, die Freiheit, der Gesang der Vögel, die Ebenen der Lombardei, die Kanäle Venedigs, die Paläste Roms, das Gestade Neapels. Wievielbesitzen wir, Luise?
Dasbefragte Mädchen zog aus einem eingelegten Sekretär ein kleines Portefeuille mit Schloß, öffnete es und zählte dreiundzwanzigBanknoten.
Dreiundzwanzigtausend Franken, sagte Luise.
Und für wenigstens ebensoviel Perlen, Diamanten und Juwelen, sagte Eugenie. Wir sind mit 45 000 Franken reich, wir können zwei Jahre lang wie Prinzessinnen, oder vier Jahre lang anständig leben. Doch ehe sechs Monate vergehen, haben wir, du mit deiner Musik, ich mit meiner Stimme, unser Kapital verdoppelt. Vorwärts! Übernimm du das Geld, ich übernehme das Kistchen mit den Edelsteinen, so daß, wenn eine von uns das Unglück hätte, ihren Schatz zu verlieren, die andere immer noch den ihrigenbesäße. Und nun den Koffer, rasch den Koffer.
Mit einer wunderbaren Geschäftigkeit fingen diebeiden an, in einem Koffer alle Gegenstände aufzuhäufen, die sie für ihre Reise nötig zu haben glaubten.
Gut, nun schließe den Koffer, während ich die Kleider wechsele, sagte Eugenie.
Sie zog eine Schublade auf, aus der sie einenblauseidenen Regenmantel für Fräulein d'Armilly nahm, mit dem diese sofort ihre Schulternbedeckte, und einen vollständigen Männeranzug, von den Stiefelchenbis zum Oberrock, nebst einem Vorrat von Wäsche. Mit einer Geschwindigkeit, diebewies, daß sie nicht zum ersten Male Männerkleider anzog, schlüpfte Eugenie in ihre Stiefelchen, in dieBeinkleider, band sich eine Krawatte um, knöpfte die Westebis zum Halse zu und legte den Oberrock an, der ihre zarte, schön gewachsene Gestalt hervorhob.
Oh! In der Tat, das ist sehr gut! sagte die Tonkünstlerin, Eugenie mitBewunderung anschauend; doch diese schönen, schwarzen Haare, wird sie ein Männerhut zusammenhalten?
Du wirst es sehen, sagte Eugenie.
Mit der linken Hand die Flechte ergreifend, die ihre langen Finger kaum umspannen konnten, faßte sie mit der rechten eine große Schere, undbald fiel das weiche, glänzende Haar zu den Füßen des Mädchens nieder. Als die obere Flechte abgeschnitten war, ging Eugenie zu denen an den Schläfen über, die sie nach und nach ebenfalls abschnitt, ohne daß ihr die geringste Klage entschlüpfte; ihre Augen, unter ihren ebenholzschwarzenBrauen, funkelten im Gegenteil freudiger als gewöhnlich.
Oh! die herrlichen Haare! sagte Luise mitBedauern.
Ei! bin ich nicht so hundertmalbesser dran? rief Eugenie, die zerstreuten Locken ihres ganz männlich gewordenen Kopfes glättend, und findest du mich nicht schöner?
Oh! Dubist schön, immer schön! rief Luise. Doch wohin gehen wir?
NachBelgien, wenn du willst, es ist die nächste Grenze. Wir erreichenBrüssel, Lüttich, Aachen; wir fahren den Rhein hinaufbis nach Straßburg, reisen durch die Schweiz und steigen über den St. Bernhard nach Italien hinab; bist du damit einverstanden?
Jawohl! — Wasbetrachtest du?
Ichbetrachte dich. In der Tat, dubist anbetungswürdig; man sollte meinen, du entführst mich.
Ei, bei Gott! man würde recht haben.
Und die Freundinnen, von denen man hätte meinen sollen, sie seien in Tränen versunken, brachen in ein Gelächter aus.
Nachdem sie ihre Lichter ausgelöscht, öffneten die Flüchtlinge, spähend und horchend, die Tür eines Ankleidezimmers, das auf eine in den Hof führende Gesindetreppe ging. Eugenie schritt voran und hielt mit einer Hand den Henkel des Koffers, den an dem entgegengesetzten Henkel Fräulein d'Armilly kaum mit ihrenbeiden Händen aufzuheben vermochte. Der Hof war leer, und nurbeim Portier war noch Licht. Auf Eugenies Verlangen, die Tür zu öffnen, ging er einige Schritte vor, um die Person zu erkennen, die hinausgehen wollte; als er aber einen jungen Mann sah, der ungeduldig seinBeinkleid mit seinem Stöckchen peitschte, öffnete er auf der Stelle. Sogleich schlüpfte Luise wie eine Eidechse durch die halboffene Tür und sprang leise hinaus. Scheinbar ruhig folgte ihr Eugenie.
Es kam ein Dienstmann vorüber, dem man den Koffer übergab. Die jungen Mädchenbezeichneten ihm als Ziel ihrer Wanderung die Rue de la Victoire No. 26 und marschierten hinter dem Mann her, dessen Gegenwart Luiseberuhigte.
Man kam an das angegebene Ziel. Eugeniebefahl, den Koffer niederzusetzen, gabdem Manne etwas Münze und schickte ihn fort, nachdem sie an den Laden geklopft hatte.
Dieser Laden war der einer zum vorausbenachrichtigten Wäscherin; sie hatte sich noch, nicht zuBette gelegt und öffnete.
Fräulein, sagte Eugenie, lassen Sie vom Portier den Wagen vorziehen und schicken Sie ihn nach der Post, um die Pferde zu holen. Hier sind fünf Franken für seine Mühe.
Die Wäscherin sah ganz erstaunt aus, doch da sie verabredetermaßen zwanzig Louisd'orbekommen sollte, so machte sie nicht die geringsteBemerkung.
In einer Viertelstunde kam der Hansmeister mit einem Postillon und mit Pferden zurück.
Hier ist der Paß, sagte der Postillon; welchen Weg schlagen wir ein, junger Herr?
Die Straße nach Fontainebleau, antwortete Eugenie mit einer fast männlich klingenden Stimme.
Was sagst du? fragte Luise.
Ich gebe einen falschen Weg an, erwiderte Eugenie; die Frau, der wir zwanzig Louisd'or geschenkt haben, kann uns für vierzig verraten; auf demBoulevard nennen wir eine andere Richtung. Und das Mädchen sprang in den vortrefflich zum Schlafen eingerichteten Wagen.
Du hast immer recht, Eugenie, sagte die Gesanglehrerin, neben ihrer Freundin Platz nehmend.
Eine Viertelstunde nachher fuhr der Postillon, auf den rechten Weg gewiesen, durch dieBarriere Saint‑Martin.
Herr Danglars hatte keine Tochter mehr.
Das Wirtshaus zur Glocke.
Jetzt lassen wir Fräulein Danglars und ihre Freundin auf der Straße nachBrüssel dahinfahren und kehren zu dem armen Andrea Cavalcanti zurück, der auf eine so unselige Weise mitten im Aufschwünge seines Glückes ausgehalten wurde. Er war trotz seines noch sehr wenig vorgerückten Alters ein äußerst gewandter und gescheiter Junge. Wir sahen ihnbei dem ersten Geräusche im Salon sich der Tür nähern, zwei Zimmer durchschreiten und endlich verschwinden. In einem von diesen Zimmern war derBrautschatz der Verlobten ausgestellt, Schmuckkästchen mit Diamanten, Kaschmirschale, Brüsseler Spitzen, englische Schleier, kurz alle jene lockenden Dinge, deren Name schon das Herz der jungen Mädchen hüpfen läßt.
Beim Durchschreiten dieses Zimmers raffte Andrea die wertvollsten Schmuckstücke an sich und fühlte sich nun, mit diesem Reisegeld versehen, um so leichter im stande, durch das Fenster zu springen und den Händen der Gendarmen zu entschlüpfen. Groß und schlank, dabei muskulös wie ein Spartaner, lief er eine Viertelstunde lang, ohne auf die Richtung zu achten, einzig und allein in der Absicht, sich von dem gefährlichen Orte zu entfernen, wo man ihn hatte festnehmen wollen.
Bin ich verloren? fragte er sich. Nein, wenn ich mehr hinter mich zubringen vermag als meine Feinde. Meine Rettung ist folglich eine einfache Meilenfrage geworden.
In diesem Augenblick sah er einen Mietswagen vor sich, dessen schweigsamer Kutscher eine Pfeife rauchte.
He! Freund, riefBenedetto, ist Ihr Pferd müde?
Müde! Jawohl! es hat den ganzen lieben langen Tag nichts getan. Vier elende Fahrten machen mit Trinkgeld sieben Franken, und ich muß demBesitzer zehn geben!
Wollen Sie zu den sieben Franken noch zwanzig verdienen?
Mit Vergnügen. Was muß ich tun?
Etwas sehr Leichtes, wenn Ihr Pferd nicht zu müde ist.
Ich sage Ihnen, es wird gehen, wie ein Zephir, ichbrauche nur zu wissen, in welcher Richtung.
In der Richtung von Louvres. Es handelt sich einfach darum, einen von meinen Freunden wieder einzuholen, mit dem ich morgenbei Chapelle‑en‑Serval jagen soll. Wollen Sie es versuchen?
Mit größtem Vergnügen.
Wenn wir ihn nicht von hierbisBourget einholen, sobekommen Sie zwanzig Franken, wenn wir ihnbis Louvres nicht einholen, dreißig.
Und wenn wir ihn einholen?
Vierzig! sagte Andrea, der einen Augenblick gezögert hatte, dann aberbedachte, daß er dabei nichts wage.
Gut! rief der Kutscher. Also vorwärts!
Andrea stieg ein, und der Kutscher fuhr schnell darauf los. Bald wurde sein Wagen von einer Kalesche überholt, die zwei Postpferde im Galopp fortzogen.
Ah! sagte Cavalcanti seufzend zu sich selbst, wenn ich diese Kalesche, diese guten Pferde undbesonders den Paß hätte, dessen manbedurfte, um sie zubekommen!
Diese Kalesche war aber die, welche Fräulein Danglars und Fräulein d'Armilly fortführte.
Als sie endlich in Louvres ankamen, sagte Andrea: Ich sehe jetzt offenbar, daß ich meinen Freund nicht einhole. Hier sind dreißig Franken, ichbleibe im Roten Rosse über Nacht und nehme in dem ersten Wagen, den ich finde, einen Platz.
Andrea legte dem Kutscher sechs Fünffrankenstücke in die Hand und sprang leicht auf das Straßenpflaster.
Der Kutscher steckte freudig die Summe in die Tasche und fuhr im Schritt wieder nach Paris zurück. Andrea stellte sich, als ober nach dem Gasthofe zum Roten Rosse ginge, nachdem er aber einen Augenblick an der Tür stehen geblieben war und das Geräusch des Wagens in der Ferne sich hatte verlieren hören, setzte er seinen Weg fort, und machte mit gymnastischen Schritten einen Lauf von zwei Meilen. Hier — er mußte ganz nahebei Chapelle‑en‑Serval sein — ruhte er aus, um einen Entschluß zu fassen und einen Plan zu entwerfen.
Ohne Paß die Eilpost oder die gewöhnliche Post zu nehmen, war unmöglich. Daß er in dem Departement der Oise, einem derbestbewachten Frankreichs, nichtbleiben konnte, war einem in Kriminalsachen so erfahrenen Menschen wie Andrea ebenfalls klar. Er setzte sich daher an den Rand eines Grabens, ließ seinen Kopf in die Hände fallen und dachte nach. Zehn Minuten nachher hober den Kopf wieder empor; sein Entschluß war gefaßt.
Erbedeckte eine ganze Seite des Paletots, den er im Vorzimmer vom Haken zu nehmen und über seinenBallstaat zu knöpfen Zeit gehabt hatte, mit Staub, ging nach Chapelle‑en‑Serval und klopfte kühn an die Tür des einzigen Wirtshauses der Gegend. Der Wirt öffnete.
Mein Freund, sagte Andrea, ich wollte von Mortefontaine nach Senlis reiten, als mein Pferd einen Seitensprung machte und mich abschleuderte. Ich muß notwendig noch heute nacht nach Compiegne, wenn ich nicht meiner Familie die größte Unruhe verursachen soll. Können Sie mir nicht ein Pferd leihen?
Wohl oder übel hat ein Wirt immer ein Pferd. Der Wirt rief den Hausknecht, befahl, den Schimmel zu satteln, und weckte seinen siebenjährigen Sohn, der hinter dem Herrn aufsitzen sollte.
Andrea gabdem Wirt 20 Franken und ließ, während er sie aus der Tasche zog, absichtlich eine Visitenkarte mit dem Namen eines vornehmenBekannten auf denBoden fallen, um den Wirt zu dem Glauben zubringen, er habe sein Pferd an diesen Herrn vermietet.
Der Schimmel ging nicht schnell, doch einen gleichmäßigen Schritt; in drei und einer halben Stunde war Andrea in Compiegne, es schlug vier, als er auf den Marktplatz kam. Hier entließ er das Kind und wandte sich zu dem Wirtshaus zur Glocke, wo er schon früherbei Jagdausflügen eingekehrt war; denn erbedachte ganz richtig, daß er dreibis vier Stunden vor sich habe, und daß es dasbeste sei, sich durch einen guten Schlaf und ein gutes Mahl gegen die künftigen Anstrengungen zu wappnen.
Mein Freund, sagte Andrea zu dem Kellner, der öffnete, ich komme von Saint‑Jean‑au‑Bois, wo ich zu Mittag gespeist habe, ich wollte den Wagen nehmen, der um Mitternacht durchfährt, verirrte mich aber und laufe seit vier Stunden im Walde umher. Geben Sie mir eines von den hübschen Zimmern, die nach dem Hofe gehen, undbringen Sie mir ein kaltes Huhn nebst einer FlascheBordeaux.
Andrea sprach mit der vollkommensten Ruhe; er hatte die Zigarre im Mund und die Hände in den Taschen seines Paletots, seine Kleider waren elegant, seinBart frisch rasiert; er sah in der Tat aus wie ein verspäteter Edelmann aus der Nachbarschaft.
Während der ahnungslose Kellner sein Zimmerbereitete, stand die Wirtin auf. Andrea empfing sie mit dem reizendsten Lächeln; er fragte sie, ober nicht Nr. 3 haben könnte, das erbei seinem letzten Aufenthalte in Compiegne gehabt habe. Leider war Nr. 3 von einem jungen Mannebesetzt, der mit seiner Schwester reiste.
Andrea schien in Verzweiflung, er tröstete sich nur, als ihm die Wirtin versicherte, Nr. 7 habe ganz dieselbe Lage, wie Nr. 3. In seinem inzwischen vorbereiteten Zimmer fand Andrea ein zartes Huhn, eine Flasche alten Wein und ein helles knisterndes Feuer. Er speiste mit so gutem Appetit, als obnichts vorgefallen wäre. Dann legte er sich nieder und versankbald in einen vortrefflichen Schlaf.
Andreas Plan war folgender: Mit Tagesanbruch stand er auf, verließ das Wirtshaus, erreichte den Wald, erkaufte, unter dem Vorwand, Malerstudien zu machen, die Gastfreundschaft einesBauern und verschaffte sich den Anzug eines Holzhauers und eine Axt. Mit künstlich gebräunten Händen und Gesichtszügen wollte er, nurbei Nacht marschierend und tagsüber sich verbergend, von Wald zu Wald zur nächsten Grenze gelangen und sich dabeibewohnten Orten nur nähern, um von Zeit zu Zeit ein StückBrot zu kaufen.
War die Grenze überschritten, so machte Andrea seine Diamanten zu Geld und war mit Einschluß von zehnBanknoten, die er für den Fall der Not immerbei sich trug, abermals imBesitze von 50 000 Franken. Dabei rechnete er darauf, die Familie Danglars werde alles aufbieten, den Lärm über die ihr peinliche Geschichte zu ersticken.
Um früher aufzuwachen hatte Andrea die Läden nicht geschlossen; erbegnügte sich, den Riegel an der Tür vorzuschieben und auf seinem Nachttische ein gewisses sehr scharfes und spitziges Messer von vortrefflich gehärtetem Stahlbereit zu legen.
Als er nach langem, erquickendem Schlafe erwachte, war sein erster Gedanke, er habe zu lange geruht. Er sprang aus demBette, lief ans Fenster und sah einen Gendarm durch den Hof gehen.
Ein Gendarm ist schon für einen harmlosen Menschen einebemerkenswerte Erscheinung, für jedes furchtsame Gewissen ist seine Uniform aber ein entsetzliches Schreckbild.
Warum ein Gendarm? fragte sich Andrea.
Dann sagte er sich plötzlich: Ein Gendarm in einem Gasthof ist nichts Auffälliges; ich will mich also nicht wundern, sondern rasch ankleiden; ich warte, bis er weggegangen ist, und mache mich sodann aus dem Staube. Bald darauf trat er abermals ans Fenster und hobzum zweiten Male den Musselinvorhang auf.
Der erste Gendarm war nicht nur nicht weggegangen, sondern der junge Mann erblickte eine zweite Uniform, unten an der Treppe, der einzigen, auf der er hinabgehen konnte, während ein dritter Gendarm, zu Pferde und den Karabiner in der Faust, als Schildwache am Hoftore hielt.
Teufel! Man sucht mich, war Andreas erster Gedanke.
Blässe überströmte seine Stirn, und er schaute ängstlich umher. Sein Zimmer hatte nur einen Ausgang nach der allenBlicken ausgesetzten äußeren Galerie.
Ichbin verloren! war sein zweiter Gedanke.
Für einen Menschen in Andreas Lagebedeutete Verhaftung: Schwurgericht, Verurteilung, Tod, ohneBarmherzigkeit.
Einen Augenblick preßte er krampfhaft seinen Kopf zwischen seine Hände. Während dieses Augenblicks wäre er vor Angstbeinahe verrückt geworden. Dochbald sprang aus der Welt der seinen Kopf durchkreuzenden Gedanken ein Hoffnungsstrahl hervor; einbleiches Lächeln trat auf seine entfärbten Lippen und auf seine zusammengezogenen Wangen. Er schaute umher: die Gegenstände, die er suchte, fanden sich auf dem Marmor eines Sekretärs, nämlich Feder, Tinte und Papier. Er tauchte die Feder in die Tinte und schriebmit fester Hand folgende Zeilen aus einBlatt Papier:
Ich habe kein Geld, um zubezahlen, bin aber kein unehrlicher Mensch; ich lasse als Unterpfand diese Nadel zurück, die zehnmal mehr wert ist, als meine Zeche. Aus Scham habe ich mich schon mit Tagesanbruch davongemacht.
Er nahm seine Nadel aus seiner Halsbinde und legte sie auf das Papier. Hernach zog er den Riegel zurück, öffnete die Tür ein wenig, als ober siebeim Weggehen offen gelassen hätte, schlüpfte in den Kamin wie ein Mensch, der an solche gymnastische Übungen gewöhnt ist, verwischte mit seinen Füßen die Spur seiner Tritte in der Asche und fing an, in der gebogenen Röhre, die ihm noch den einzigen Weg der Rettungbot, hinaufzuklettern.
In diesem Augenblick kam der erste Gendarm, der Andrea aufgefallen war, die Treppe herauf; der Polizeikommissar ging ihm voran, und unten an der Treppebliebder zweite Gendarm stehen.
Welchem Umstände hatte Andrea diesen frühen Polizeibesuch zu verdanken? Mit Tagesanbruch spielten die Telegraphen in allen Richtungen und mahnten die Polizei, eifrig nach Caderousses Mörder zu forschen.
Compiegne ist eine königliche Residenz, eine Jagdstadt, eine Garnisonstadt und im Überfluß mitBehörden, Gendarmen und Polizeikommissaren versehen; die Nachsuchungenbegannen also sogleich nach Ankunft des telegraphischenBefehls, und da das Gasthaus zur Glocke das erste Gasthaus der Stadt ist, so machte man natürlich hier den Anfang. Die Schildwache, die dem Gasthofe gegenüber vor dem Rathause stand, erinnerte sich, einige Minuten nach vier Uhr einen jungen Mann auf einem Schimmel mit einemBauernknaben gesehen zu haben, der Mann sei auf dem Platze abgestiegen, habe denBauernknaben und das Pferd entlassen, an den Gasthof geklopft und dort Einlaß gefunden.
Auf Grund dieser Angaben gingen der Polizeikommissar, der Gendarm und einBrigadier auf Andreas Tür zu.
Oh! oh! rief derBrigadier, ein in Gaunerstreichen wohl erfahrener alter Fuchs, eine offene Tür ist ein schlechtes Zeichen! Ich wollte lieber, sie wäre dreifach verriegelt. Der Vogel ist ausgeflogen.
Der Zettel auf dem Tische und die wertvolle Nadel schienen die Annahme der Flucht zubestätigen.
DerBrigadier schaute umher, senkte seinenBlick unter dasBett, öffnete die Vorhänge, die Schränke und stand endlich vor dem Kamin still.
Hier war die Möglichkeit eines Ausgangs gegeben und darum, obwohl Andreas Vorsicht jede Spur verwischt hatte, doch sorgfältige Nachforschung geboten.
DerBrigadier ließ sich ein Reisbündel und Strohbringen und legte Feuer daran.
Das Feuer ließ dieBacksteine krachen; eine undurchsichtige Rauchsäule drängte sich durch die Röhren und stieg zum Himmel empor, aber einen Erfolg hatte das Manöver nicht.
Seit seiner Jugend im Kampfe mit der Gesellschaft, stand Andrea einem Gendarmen an List nicht nach. Er hatte denBrand vorhergesehen, war auf das Dach geklettert und kauerte sich hinter den Schornstein.
Einen Augenblick hoffte er, gerettet zu sein, denn er hörte denBrigadier den Gendarmen zurufen: Er ist nicht mehr da! Doch als erbehutsam den Hals ausstreckte, sah er, daß die Gendarmen, statt sich zurückzuziehen, wie esbei einer solchen Ankündigung natürlich gewesen wäre, im Gegenteil ihre Aufmerksamkeit verdoppelten.
Er schaute sich nun ebenfalls um: das Rathaus, ein kolossales Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, erhobsich wie ein düsterer Wall zu seiner Rechten, und durch die Öffnungen desBaudenkmals konnte man in alle Winkel und Ecken des Daches schauen, wie man von einemBerge herabins Tal schaut.
Andrea sagte sich, er werde auf der Stelle den Kopf desBrigadiers an einer von den Öffnungen erscheinen sehen. War er einmal entdeckt, so war er auch verloren — eine Jagd auf den Dächernbot ihm keine Hoffnung auf Entkommen. Erbeschloß also, nicht durch denselben Kamin, sondern durch einen ähnlichen hinabzusteigen.
Er suchte mit den Augen einen Kamin, aus dem er keinen Rauch hervorkommen sah, erreichte ihn, über das Dach hinkriechend, und verschwand durch seine Öffnung, ohne wahrgenommen worden zu sein.
In derselben Sekunde öffnete sich ein kleines Fenster des Rathauses und ließ den Kopf des Gendarmerie‑Brigadiers erscheinen. Einen Augenblickbliebdieser Kopf unbeweglich, wie eines von den steinernen Reliefs, welche das Gebäude zieren; dann verschwand er wieder.
Kalt und ruhig wie das Gesetz, dessen Vertreter er war, ging derBrigadier, ohne auf die tausend Fragen der versammelten Menge zu antworten, über den Platz und kehrte in den Gasthof zurück.
Nun, wie steht es? fragten die Gendarmen.
Meine Söhne, antwortete derBrigadier, der Räuber muß sich wirklich sehr frühzeitig heute morgen aus dem Staube gemacht haben; doch wir schicken Leute auf die Straße von Villers‑Cotterets und Noyon und durchstreifen den Wald, wo wir ihn zweifellos finden werden.
Der ehrenwerte Mann hatte kaum dieses Wort gesprochen, als ein langer Schreckensruf, begleitet von einem heftigen Klingeln einer Glocke, durch das Haus erscholl.
Oh! oh! was ist das? rief derBrigadier. Das ist ein Reisender, der große Eile zu haben scheint, sprach der Wirt. Wo läutet man? — In Nummer 3.
Laufe dahin, Kellner!
In diesem Augenblick verdoppelten sich das Geschrei und der Lärm der Glocke. Der Kellner wollte hinlaufen.
Nein, nein! sagte derBrigadier, den dienstbaren Geist zurückhaltend; es kommt mir vor, als wollte der, welcher läutet, etwas anderes, als einen Kellner; wir wollen ihm einen Gendarmen schicken. Wer wohnt in Nummer 3?
Der kleine junge Mann, der gestern abend mit seiner Schwester angekommen ist und ein Zimmer mit zweiBetten verlangt hat.
Die Glocke erscholl zum dritten Male mit angstvollen Tönen.
Herbei! Herr Kommissar! rief derBrigadier, folgen Sie mir undbeschleunigen Sie Ihre Schritte.
Warten Sie einen Augenblick, sagte der Wirt; zu Nr. 3 führen zwei Treppen, eine äußere und eine innere.
Gut! sagte derBrigadier, ich wähle die innere, das ist mein Departement. Sind die Karabiner geladen?
Ja, Brigadier.
Gut! so wachen Sie an der äußern Treppe, und, wenn er fliehen will, geben Sie Feuer auf ihn! Es ist ein großer Verbrecher, wie der Telegraph sagt.
Mit dem Polizeikommissar verschwand derBrigadier auf der innern Treppe.
Andrea war sehr geschicktbis auf zwei Drittel des Kamines hinabgestiegen; doch hier war sein Fuß ausgeglitten, und er war mit größerer Schnelligkeit undbesonders mit mehr Geräusch, als ihm liebwar, hinabgerutscht. Wäre das Zimmer verlassen gewesen, so hätte dies nichts zubedeuten gehabt, doch zum Unglück war esbewohnt.
Zwei Frauen, die in einemBett schliefen, wurdenbei dem Geräusch wach. IhreBlicke richteten sich nach dem Punkte, von wo der Lärm kam, und sie sahen durch die Öffnung des Kamins einen Menschen erscheinen.
Eine von denbeiden Frauen, eineBlonde, war es gewesen, die den furchtbaren Schrei ausstieß, von dem das ganze Haus widerhallte, während die andere nach der Klingelschnur stürzte und mit aller Gewalt daran zog.
Andrea hatte, wie man sieht, Unglück.
Barmherzigkeit! rief er, bleich, verwirrt, ohne die Personen anzuschauen, an die er sich wandte, rufen Sie nicht, retten Sie mich! Ich will Ihnen nichtsBöses tun.
Andrea, der Mörder! rief eine von den jungen Frauen.
Eugenie, Fräulein Danglars! murmelte Cavalcanti, vom Schrecken zum höchsten Erstaunen übergehend.
Zu Hilfe! zu Hilfe! schrie Fräulein d'Armilly, die Glocke aus Eugenies Händen nehmend und noch kräftiger läutend, als ihre Gefährtin.
Retten Sie mich, man verfolgt mich! sagte Andrea, die Hände faltend; Barmherzigkeit, Gnade, liefern Sie mich nicht aus!
Es ist zu spät, man kommt herauf, erwiderte Eugenie.
So verbergen Sie mich irgendwo! Sie sagen, Sie haben ohne Grund Furcht gehabt; Sie wenden den Verdacht abund retten mir das Leben.
Gut! es sei, sagte Eugenie; kehren Sie in den Kamin zurück, durch den Sie gekommen sind, Unglücklicher; gehen Sie und wir werden nichts sagen.
Da ist er! Da ist er! rief eine Stimme auf dem Vorplatz, ich sehe ihn!
DerBrigadier hatte wirklich sein Auge an das Schlüsselloch gedrückt und gesehen, wie Andrea flehend vor den Frauen stand.
Ein heftiger Kolbenschlag sprengte das Schloß, zwei weitere Schläge sprengten die Riegel; die Tür fiel zerschmettert nach innen.
Andrea lief an die andere Tür, die nach der Galerie des Hofes ging, und öffnete sie, um hinauszustürzen.
Diebeiden Gendarmen standen mit ihren Karabinern da und schlugen auf ihn an.
Andreabliebstehen; bleich, mit etwas zurückgeneigtem Körper hielt er sein unnützes Messer in der krampfhaft zusammengepreßten Hand.
Fliehen Sie doch! rief Fräulein d'Armilly, in deren Herzen das Mitleid in demselben Maße zunahm, in dem der Schreck daraus verschwand, fliehen Sie doch!
Oder töten Sie sich! sagte Eugenie mit dem Tone und der Gebärde einer jener Vestalinnen, die im Zirkus dem siegreichen Gladiator mit dem Daumenbefahlen, seinem niedergeworfenen Gegner das Lebenslicht vollends auszublasen.
Andreabebte und schaute das Mädchen mit einem verächtlichen Lächeln an, welchesbewies, daß sein verdorbenes Wesen diesen Appell an die Ehre nicht verstand.
Der Brigadier trat mit dem Säbel in der Faust auf ihn zu.
Vorwärts, sagte Cavalcanti, stecken Sie wieder ein, meinbraver Mann! Es ist nicht der Mühe wert, so viel Lärm zu machen, da ich mich selbst ergebe.
Dabei streckte er seine Hände aus, um Schellen daran legen zu lassen.
Die jungen Mädchen schauten voll Schrecken die häßliche Metamorphose an, die vor ihren Augen vorging: der Mann aus der vornehmen Welt legte seine Hülle abund wurde wieder derBagnoflüchtling.
Andrea wandte sich gegen sie um und fragte mit unverschämtem Lächeln: Haben Sie keinen Auftrag an Ihren Herrn Vater, Fräulein Eugenie, denn aller Wahrscheinlichkeit kehre ich nach Paris zurück.
Eugenie verbarg ihren Kopf in ihrenbeiden Händen.
Oh! oh! sagte Andrea, Sicbrauchen sich nicht zu schämen; ichbin Ihnen nichtböse, daß Sie mir mit der Post nachgeeilt sind; war ich nicht so gut wie Ihr Gatte?
Hierauf ging Andrea hinaus und ließ die Flüchtlinge der Scham und dem Spott der Menge preisgegeben zurück.
Eine Stunde nachher stiegenbeide in ihren Frauenkleidern in die Reisekalesche. Man hatte das Tor des Gasthofes geschlossen, um sie denBlicken der Leute möglichst zu entziehen; doch sie mußten nichtsdestoweniger durch eine doppelte Hecke von Neugierigen mit flammenden Augen und murmelnden Lippen fahren. Eugenie ließ die Vorhänge herab, aber wenn sie nichts sah, so hörte sie doch, und das laute Hohngelächter drangbis zu ihr.
Oh! warum ist die Welt nicht eine Wüste? rief sie, sich an dieBrust des Fräuleins d'Armilly werfend, während ihre Augen von Wut funkelten.
Am andern Tage stiegen sie im Hotel de Flandres inBrüssel ab. — Andrea war am Abend vorher in die Liste der Gefangenen der Conciergerie eingetragen worden.
Das Gesetz.
Während Danglars mit schweißbedeckter Stirnbeim Anschauen der vor ihm liegenden ungeheuren Kolonnen seiner Passiva dem Gespenste desBankerotts entgegenstarrte, wollte dieBaronin, nachdem sie sich von der ersten heftigsten Erschütterung des niederschmetternden Schlages, der sie getroffen, erholt hatte, bei Lucien Debray Rat holen, fand ihn aber nicht daheim.
Wieder in ihrem Zimmer angelangt, pochte sie an Eugenies Tür. Als sie keine Antwort erhielt, versuchte sie hineinzugehen; aber die Riegel waren vorgeschoben. Frau Danglars glaubte, von der furchtbaren Aufregung des Abends ermüdet, habe sich Eugenie zuBette gelegt und sei eingeschlafen.
Fräulein Eugenie, antwortete die Kammerfrau auf ihre Frage, ist mit Fräulein d'Armilly in ihr Zimmer zurückgekehrt; dann tranken sie miteinander Tee, und hierauf verabschiedeten sie mich mit derBemerkung, siebedürften meiner nicht mehr.
Frau Danglars legte sich hierauf ohne einen Schatten von Verdacht nieder, konnte aber in Erinnerung an die Vorgänge des Tages nicht einschlafen. Der Vorfall erschien ihr in immer trüberem Lichte, je mehr sie darüber nachdachte. Eugenie, sagte sie sich, ist verloren, und wir sind es ebenfalls. Die Geschichte, so wie sie dargestellt werden wird, bedeckt uns mit Schmach, denn in einer Gesellschaft, wie die unsere, sind gewisse Lächerlichkeiten einfach unerträglich und nicht wieder gutzumachen. Welch ein Glück, murmelte sie, daß Gott Eugenie den seltsamen Charakter gegeben hat, der mir oft solche Sorgebereitete.
Dann dachte sie wieder an Cavalcanti. Dieser Andrea war ein Elender, ein Dieb, ein Mörder, und dennochbesaß er Manieren, die auf eine gute Erziehung hindeuteten. Erbesaß anscheinend ein großes Vermögen; ehrenhafte Leute liehen ihm ihre Unterstützung.
Wie soll man klar in diesem Irrsale sehen? An wen sich wenden, um aus dieser grausamen Lage zu kommen? Da fiel ihr Herr von Villefort ein. An diesenbeschloß sie sich zu wenden. Er würde ihr, in Erinnerung an die Vergangenheit, sicherbeistehen, und er würde dann die Sache allmählich sich im Sande verlaufen oder wenigstens Cavalcanti fliehen lassen. Erstbei diesem Gedanken schlief sie ruhig ein.
Am andern Morgen um 9 Uhr stand sie auf und kleidete sich an, verließ heimlich das Hotel, stieg in einen Fiaker und ließ sich nach dem Hause des Herrn von Villefort fahren.
Seit einem Monatbot dieses Haus den finstern Anblick eines Lazaretts, in dem die Pest ausgebrochen ist. Ein Teil der Zimmer war von außen und von innen geschlossen, die Läden öffneten sich nur von Zeit zu Zeit einen Augenblick, um etwas Luft einzulassen; dann sah man am Fenster den verstörten Kopf einesBedienten erscheinen; das Fenster schloß sich wieder, und die Nachbarn fragten sich ganz leise: Werden wir heute abermals einen Sarg aus dem Hause des Staatsanwalts kommen sehen?
Frau Danglars wurdebei dem Anblicke dieses verödeten Hauses von einem Schauerbefallen; sie stieg aus, näherte sich mit zitternden Knien der geschlossenen Tür und läutete. Erst als zum dritten Male die Glocke ertönte, kam ein Portier und öffnete die Tür nur einen Zoll weit.
Öffnen Sie doch! sprach dieBaronin.
Sagen Sie mir zuerst, gnädige Frau, wer sind Sie? fragte der Portier.
Wer ichbin? Sie kennen mich ja.
Wir kennen niemand mehr, gnädige Frau.
Sie sind ein Narr, rief dieBaronin.
Gnädige Frau, es istBefehl. Entschuldigen Sie mich! Sagen Sie Ihren Namen und was Sie wollen.
Oh, was soll das heißen? Ich werde michbei Herrn von Villefort über die Unverschämtheit seiner Leutebeklagen.
Gnädige Frau, das ist keine Unverschämtheit, es ist Vorsicht; niemand darf hier herein ohne Erlaubnis des Herrn Doktor d'Avrigny, oder ohne mit dem Herrn Staatsanwalt gesprochen zu haben.
Wohl! Gerade mit dem Herrn Staatsanwalt habe ich zu tun. Vorwärts! Hier ist meine Karte, bringen Sie sie Ihrem Herrn.
Der Portier schloß die Tür und ließ Frau Danglars auf der Straße. Einen Augenblick nachher öffnete sich die Tür abermals, diesmal hinreichend, um derBaronin Durchgang zu gewähren; sie ging hinein, und die Tür schloß sich hinter ihr.
So sehr Frau Danglars von ihrem eigenen Ungemach, das sie hergeführt hatte, beunruhigt war, so kam ihr doch der Empfang, der ihr hier zuteil geworden war, so unwürdig vor, daß sie sich vor allem hierüberbeklagte.
Doch Villefort hobsein vom Schmerz gebeugtes Haupt empor und schaute sie mit einem so traurigen Lächeln an, daß die Klagen auf ihren Lippen erstarben.
Entschuldigen Sie meine Diener wegen eines Schreckens, aus dem ich ihnen keinen Vorwurf machen kann.
Sie sind also auch unglücklich? sagte dieBaronin.
Ja, gnädige Frau. Und Siebegreifen, was mich hierher führt?
Sie wollen von dem sprechen, was vorgefallen ist, nicht wahr?
Ja, mein Herr, ein furchtbares Unglück.
Das heißt ein Unfall.
Ein Unfall!
Ach! gnädige Frau, entgegnete der Staatsanwalt mit unzerstörbarer Ruhe, ichbin dahin gekommen, daß ich nur unwiederbringliche Dinge ein Unglück nenne.
Glauben Sie, daß man es vergessen wird?
Alles vergißt sich. Ihre Tochter wird sich morgen verheiraten, wo nicht heute; in acht Tagen, wenn nicht morgen. Was aber den Verlust desBräutigamsbetrifft, so glaube ich nicht, daß Sie diesen sehr zubeklagen haben.
Frau Danglars schaute Villefort an, denn sie war über diesebeinahe spöttische Ruhe ganz, erstaunt.
Bin ich zu einem Freunde gekommen? fragte sie mit einem Tone voll schmerzlicher Würde.
Sie wissen, daß dies der Fall ist, antwortete Villefort, dessenbleiche Wangen sichbei dieser Versicherung mit einer leichten Rötebedeckten.
So seien Sie liebevoller, mein teurer Villefort, sagte dieBaronin, sprechen Sie mit mir als Freund und nicht als Staatsbeamter, und wenn ich unendlich unglücklichbin, so sagen Sie mir nicht, ich solle heiter sein.
Villefort verbeugte sich und erwiderte: Gnädige Frau, ich habe seit drei Monaten, wenn ich von Unglück sprechen höre, die ärgerliche Gewohnheit, an das meinige zu denken, und unwillkürlich nimmt mein Geist eine selbstsüchtige Vergleichung vor. Darum kam mir Ihr Unglück gegen das meinige nur wie ein Unfall vor; darum erschien mir neben meiner traurigen Lage die Ihrige alsbeneidenswert; doch das verdrießt Sie, und wir wollen darüber weggehen. Sie sagten, gnädige Frau? Ich wollte von Ihnen erfahren, mein Freund, wie es mit demBetrüger jetzt steht?
Betrüger! wiederholte Villefort; Sie wollen offenbar gewisse Dinge mildern und andere übertreiben; Herr Andrea Cavalcanti oder vielmehr HerrBenedetto einBetrüger! Sie täuschen sich, gnädige Frau, Benedetto ist ein Mörder.
Mein Herr, ich leugne die Richtigkeit IhrerBemerkung nicht, doch je mehr Sie sich mit Strenge gegen diesen Unglücklichen waffnen, desto härter treffen Sie unsere Familie. Vergessen Sie ihn einen Augenblick, statt ihn zu verfolgen; lassen Sie ihn fliehen!
Sie kommen zu spät, dieBefehle sindbereits gegeben.
Nun! wenn man ihn verhaftet… Glauben Sie, man werde ihn verhaften? — Ich hoffe es.
Wenn man ihn verhaftet; nun so lassen Sie ihn im Gefängnis!
Der Staatsanwalt machte ein verneinendes Zeichen.
Wenigstensbis meine Tochter verheiratet ist.
Unmöglich, gnädige Frau, die Justiz hat ihre strengen Formen.
Selbst für mich? versetzte dieBaronin, halbernst, halblächelnd.
Für alle, und für mich, wie für die andern.
Ah! rief dieBaronin, ohne in Worte umzusetzen, was siebei diesem Ausruf dachte.
Ja, ich weiß, was Sie sagen wollen, versetzte Villefort, Sie spielen auf die in der Welt verbreiteten furchtbaren Gerüchte an, alle die Todesfälle, die mich seit drei Monaten in Trauer kleiden, auch Valentines schwere Erkrankung seien nicht natürlich?
Ich dachte nicht daran, erwiderte lebhaft Frau Danglars.
Doch, gnädige Frau, Sie dachten daran, und das war kein Unrecht, denn Sie mußten notwendig daran denken, und Sie sagten sich ganz leise: Du, der du das Verbrechen verfolgst, verantworte dich. Warum gibt es au deiner Seite Verbrechen, die unbestraftbleiben?
Die Baronin erbleichte.
Nicht wahr, Sie sagten sich das? — Ich gestehe es.
Ich will Ihnen antworten, und Villefort näherte seinen Stuhl dem der Frau Danglars; dann stützte er seinebeiden Hände auf seinen Schreibtisch und sprach mit einem dumpferen Tone als gewöhnlich: Es gibt Verbrechen, die unbestraftbleiben, weil man die Verbrecher nicht kennt und ein unschuldiges Haupt statt eines schuldigen zu treffenbefürchtet; doch wenn die Verbrecherbekannt sind, so sollen sie, bei dem lebendigen Gott, sterben, gnädige Frau, wer sie auch sein mögen. Nachdem Sie meinen Eid, den ich halten werde, gehört haben, wagen Sie es noch, mich um Gnade für den Elenden zubitten?
Ei! mein Herr, sind Sie sicher, daß er so schuldig ist, wie manbehauptet?
Hören Sie, hier liegen die ihnbetreffenden Akten: Benedetto wurde zuerst im Alter von sechzehn Jahren zu fünf Jahren Galeeren wegen Fälschung verurteilt; Sie sehen, der junge Mensch versprach etwas; dann ist er entwichen, dann Mörder geworden.
Und wer ist dieser Unglückliche?
Weiß man das? Ein Vagabund, ein Korse.
Er ist also von niemand reklamiert worden?
Von niemand; man kennt seine Verwandten nicht.
Doch der andere war aus Lucca?
Auch ein Gauner, wie er, vielleicht sein Genosse.
DieBaronin faltete die Hände und flüsterte mit ihrem süßesten und einschmeichelndsten Tone: Villefort!
Um Gotteswillen, gnädige Frau, entgegnete der Staatsanwalt mit einer trockenen Festigkeit, um Gotteswillen, verlangen Sie doch von mir nicht dieBegnadigung eines Schuldigen. Werbin ich denn? Das Gesetz, das Gesetz. Hat das Gesetz Augen, Ihre Traurigkeit zu sehen? Hat das Gesetz Ohren, Ihre weiche Stimme zu hören? Hat das Gesetz ein Gedächtnis für Ihre zarten Gedanken? Nein, gnädige Frau, das Gesetzbefiehlt, und wenn esbefohlen hat, schlägt es! Sie werden mir sagen, ich sei ein lebendiges Wesen und kein Kodex, ein Mensch und keinBuch. Schauen Sie mich an, gnädige Frau, schauen Sie um mich her! Haben die Menschen mich alsBruderbehandelt, haben sie mich geliebt? Haben sie mich geschont? Hat jemand Gnade für Herrn von Villefort verlangt? Nein! Nein! Nein! Geschlagen, stets geschlagen! Als Frau, das heißt als Sirene, schauen Sie michbeharrlich mit dembezaubernden, ausdrucksvollen Auge an, das mich daran erinnert, daß ich erröten muß. Wohl! es sei, ja, erröten über das, was Sie wissen, und vielleicht noch über etwas anderes! Doch, seitdem ich gefehlt habe und vielleicht ärger als die andern gefehlt habe, habe ich die Kleider der andern geschüttelt, um das Geschwür darunter zu finden, und ich habe es immer gefunden; ich sage noch mehr, ich habe es mit Glück, mit Freude gefunden, dieses Siegel der Schwäche oder der menschlichen Verkehrtheit! Denn jeder Mensch, den ich als schuldig erkannte, und jeder Schuldige, den ich schlug, erschien mir als ein neuerBeweis dafür, daß ich selbst keine häßliche Ausnahme war! Ah! die ganze Welt istböse, beweisen wir dies, und schlagen wir denBösen!
Villefort sprach diese Worte mit einer fieberhaften Wut, die ihm eine wildeBeredsamkeit verlieh.
Oh, mein Herr! rief dieBaronin, Sie sind unbarmherzig gegen die andern! Wohl, so sage ich Ihnen, man wird unbarmherzig gegen Sie sein!
Es sei! sagte Villefort, seine Arme mit drohender Gebärde zum Himmel emporstreckend.
Verschieben Sie wenigstens den Prozeß des Unglücklichen, wenn er verhaftet wird, bis zur nächsten Schwurgerichtstagung; das gibt doch sechs Monate zum Vergessen.
Nein, ich habe noch fünf Tage, und die Voruntersuchung ist fertig. Bedenken Sie auch, daß ich ebenfalls vergessen muß! Wenn ich arbeite, wie ich es Tag und Nacht tue, dann gibt es Augenblicke, wo ich mich nicht mehr erinnere, und dannbin ich glücklich nach Art der Toten, und das ist immer nochbesser als leiden.
Er ist entflohen; so lassen Sie ihn entfliehen! Die Saumseligkeit ist eine geringe Nachsicht.
Aber ich sagte Ihnenbereits, daß es zu spät ist; mit Tagesanbruch hat der Telegraph gespielt, und zu dieser Stunde…
Herr Staatsanwalt, sagte der eintretende Kammerdiener, hier eine Depesche aus dem Ministerium.
Villefort nahm denBrief und entsiegelte ihn rasch.
Frau Danglarsbebte vor Schrecken, Villefort vor Freude.
Verhaftet! rief Villefort; man hat ihn in Compiegne verhaftet, es ist vorbei.
Frau Danglars erhobsich kalt undbleich.
Leben Sie wohl, mein Herr! sagte sie.
Leben Sie wohl, gnädige Frau! erwiderte der Staatsanwalt fast freudig und führte siebis zur Tür zurück.
Dann trat er an einen Schreibtisch, schlug mit dem Rücken seiner rechten Hand auf denBrief und sagte: Gut, ich hatte eine Fälschung, drei Diebstähle und zweiBrandstiftungen, es fehlte mir nur ein Mord — hier ist er; die Tagung wird hübsch sein.
Die Erscheinung.
Valentine war noch nicht völlig wiederhergestellt; von unwiderstehlicher Müdigkeitbezwungen, hütete sie dasBett. Den Tag hindurch wurde sie noch etwas frisch erhalten durch Noirtiers Gegenwart, der sich zu seiner Enkelin tragen ließ und, sie mit seinem väterlichenBlickebewachend, bei ihrblieb; wenn sodann Villefort aus dem Justizpalaste zurückkam, verweilte er ebenfalls ein paar Stundenbei ihr. Um sechs Uhr zog sich Villefort in sein Kabinett zurück; um 8 Uhr erschien Herr d'Avrigny, der selbst den für die Krankebereiteten Trankbrachte; dann trug man Noirtier weg. Eine vom Arztbestellte Wärterinbliebzurück und entfernte sich erst gegen elf Uhr, wenn Valentine entschlummert war. Sie übergabhierauf die Schlüssel von Valentines Zimmer Herrn von Villefort, so daß man nur durch Frau von Villeforts Wohnung oder durch das Zimmer des kleinen Eduard zu der Kranken gelangen konnte.
Jeden Morgen kam Morel zu Noirtier, um Erkundigungen einzuziehen; doch erschien er sonderbarerweise von Tag zu Tag weniger unruhig zu sein. Einmal ging es von Tag zu Tagbei Valentinebesser, obgleich sie noch einer heftigen Aufregung preisgegeben war; sodann hatte ihm auch Monte Christo damals gesagt, wenn Valentine in zwei Stunden nicht tot wäre, so würde sie gerettet werden. Valentine lebte aber noch, und es warenbereits vier Tage vorüber. Die nervöse Aufregung verfolgte Valentinebis in ihren Schlaf oder vielmehrbis in den schlafsüchtigen Zustand, der auf ihr Wachsein folgte. Dann geschah es, daß sie in der Stille der Nacht und in dem Halbdunkel, das im Räume um sie her herrschte, jene Schatten erblickte, die das Zimmer der Krankenbevölkern, und die auf den Schwingen des Fiebers schweben. Dann kam es ihrbald vor, als obsie das drohende Antlitz ihrer Stiefmutter erblickte, bald als obMorel seine Arme nach ihr ausstreckte, bald als obsie ihr sonst fernstehende Wesen, wie den Grafen von Monte Christo, gewahrte! Alles schien ihr in diesen fieberhaften Augenblickenbeweglich und schwankend, und dies dauertebis um drei oder vier Uhr morgens, wo einbleierner Schlaf sich ihrerbemächtigte und siebis zum Tage gefesselt hielt.
Am Abend des Tages, als Valentine Eugenies Flucht und die VerhaftungBenedettos erfahren hatte, ereignete sich eine seltsame Szene in dem so sorgfältig geschlossenen Gemach. Die Wärterin hatte sich ungefähr seit zehn Minuten entfernt. Seit einer Stunde etwa von dem jede Nacht wiederkehrenden Fieber heimgesucht, ließ Valentine den gegen ihren Willen unbotmäßigen Kopf die rastlose Arbeit des Gehirnes fortsetzen, das sich in unablässiger Wiederholung derselben Gedanken oder in Erzeugung derselbenBilder erschöpfte. Von dem Dochte der Nachtlampe gingen tausend und abertausend Strahlen mit seltsamen Zeichen aus, als es Valentine plötzlich. schien, als schiebe sich ihreBibliothek, die neben dem Kamine in einer Mauervertiefung stand, beiseite, ohne daß die Angeln, auf denen sich eine Tür zu drehen schien, das geringste Geräusch hervorbrachten.
In jedem andern Augenblick hätte Valentine die Glocke genommen und um Hilfe gerufen; doch in der Lage, in der sie sichbefand, erschreckte sie nichts mehr. Sie hatte dasBewußtsein, alles, was ihren Sinnen sich vorstellte, sei eine Ausgeburt ihres Deliriums.
Hinter der Tür erschien eine menschliche Gestalt.
Valentine war infolge ihres Fiebers zu sehr vertraut mit solchen Erscheinungen, um darüber zu erschrecken; sie riß nur die Augen weit auf, in der Hoffnung, Morel zu erkennen.
Die Gestalt schritt auf ihrBett zu, dannbliebsie stehen und schien mit tiefer Aufmerksamkeit zu horchen.
In diesem Augenblick fiel ein Strahl der Lampe auf das Gesicht des nächtlichenBesuchers.
Valentine wartete regungslos, überzeugt, es sei nur ein Traum, und dieser Mensch werde, wie es in den Träumen geschieht, verschwinden oder sich in irgend eine andere Person verwandeln.
Sieberührte nur ihren Puls, und als sie ihn heftig schlagen fühlte, erinnerte sie sich, dasbeste Mittel, diese lästigen Erscheinungen verschwinden zu lassen, sei, zu trinken. Die Frische des Getränkes, das in der Absichtbereitet war, die Aufregung, über die sich Valentinebei dem Doktorbeklagte, zubeseitigen, linderte das Fieber und schärfte die Geisteskräfte.
Valentine streckte also die Hand aus, um ihr Glas von der kristallenen Trinkschale zu nehmen; doch während sie ihren zitternden Arm ausstreckte, machte die Erscheinung abermals, und noch lebhafter als zuvor zwei Schritte auf dasBett zu und gelangte so nahe zu Valentine, daß sie ihren Hauch hörte und den Druck ihrer Hand zu fühlen glaubte. Diesmal überstieg der Anschein der Wirklichkeit alles, was Valentinebis dahin erfahren hatte; sie fing an, sich für völlig wach zu halten; sie hatte dasBewußtsein, bei voller Vernunft zu sein, undbebte.
Der Druck, den Valentine gefühlt, hatte ihren Arm zurückhalten wollen.
Dann nahm diese Gestalt, von der sich ihrBlick nicht losmachen konnte, und die übrigens mehr einenbeschützenden alsbedrohlichen Eindruck machte, das Glas, hielt es an die Nachtlampe undbeschaute prüfend den Trank. Offenbar genügte die Augenprüfung nicht, denn dieser Mensch, oder vielmehr dieses Gespenst, schöpfte einen Löffelvoll aus dem Glase und verschluckte ihn.
Valentine schaute das, was vor ihren Augen vorging, mit größtem Erstaunen an. Sie glaubte wohl, alles werdebald verschwinden, um einem andern Gemälde Platz zu machen; doch, statt wie ein Schatten zu entweichen, trat der Mensch näher zu ihr und sagte, Valentine das Glas reichend, mit erschütterter Stimme: Nun, trinken Sie!
Valentinebebte. Es war das erstemal, daß eine von ihren Erscheinungen in so lebendigen Tönen zu ihr sprach. Sie öffnete den Mund, um einen Schrei auszustoßen.
Der Mensch legte einen Finger auf seine Lippen.
Der Graf von Monte Christo! murmelte sie.
An dem Schrecken, der sich in Valentines Augen ausprägte, an dem Zittern ihrer Hände, an der raschen Gebärde, mit der sie sich unter ihre Tücher steckte, konnte man den letzten Kampf des Zweifels gegen die Überzeugung erkennen; doch die Gegenwart Monte Christos zu einer solchen Stunde, sein phantastischer, geheimnisvoller, unerklärlicher Eintritt durch eine Wand erschienen Valentines erschüttertem Gehirn als etwas Unmögliches.
Rufen Sie nicht, erschrecken Sie nicht, sagte der Graf; hegen Sie keinen Schimmer von Verdacht, keine Spur von Unruhe; der, den Sie vor sich sehen, ist der ehrfurchtsvollste Freund, von dem Sie nur immer träumen konnten.
Valentine fand keine Antwort; sie hatte eine solche Furcht vor dieser Stimme, die ihr die wirkliche Gegenwart des Sprechendenbewies, daß sie ihre Stimme nicht damit zu verbinden wagte; doch ihr erschrockenerBlick sagte: Wenn Ihre Absichten rein sind, warumbefinden Sie sich hier?
Hören Sie mich, sagte der Graf, der ihre Herzensregung verstand, oder vielmehr schauen Sie mich an! Sie sehen meine geröteten Augen und mein ungewöhnlichbleiches Gesicht; seit vier Nächten wache ich über Sie, beschütze Sie, erhalte ich Sie für unseren Freund Maximilian.
EineBlutwoge der Freude stieg rasch in die Wangen der Kranken; denn der von dem Grafen ausgesprochene Name erstickte den Rest des Mißtrauens, den er ihr eingeflößt.
Maximilian!.. wiederholte Valentine, so süß kam es ihr vor, diesen Namen auszusprechen; Maximilian! er hat Ihnen also alles gestanden?
Alles. Er hat mir gesagt, Ihr Leben sei das seinige, und ich versprach ihm, Sie würden leben.
Sie versprachen ihm, ich würde leben? — Ja.
In der Tat, mein Herr, Sie sagten vorhin etwas von Wachen und Schutz. Sind Sie denn Arzt?
Ja, derbeste, den Ihnen der Himmel in diesem Augenblick schicken kann, das mögen Sie mir glauben.
Sie sagten, Sie hätten gewacht? fragte Valentine unruhig; wo denn? Ich habe Sie nicht gesehen. Der Graf streckte die Hand in der Richtung derBibliothek aus.
Ich war hinter jener Tür verborgen, sagte er; jene Tür führt in das anstoßende Haus, das ich gemietet habe.
Valentine wandte mit einerBewegung schamhaften Stolzes die Augen abund sagte voll Schrecken: Mein Herr, was Sie getan haben, istbeispiellos wahnsinnig, und der Schutz, den Sie mir gewähren, sieht einerBeleidigung sehr ähnlich.
Valentine, sagte der Graf, während der langen Nachtwachen sah ich nur, welche Leute zu Ihnen kamen, welche Nahrungsmittel man Ihnenbereitete, welche Getränke man Ihnen vorsetzte. Erschienen mir diese Getränke gefährlich, so trat ich ein, wie ich soeben eingetretenbin, leerte Ihr Glas und setzte an die Stelle des Giftes ein wohltätiges Getränk, das statt des Todes, den man Ihnenbereitet hatte, das Leben in Ihren Adern kreisen ließ.
Gift! Tod! rief Valentine, die abermals unter der Herrschaft einer fieberhaften Sinnestäuschung zu stehen glaubte; was sagen Sie da, mein Herr?
Still, mein Kind, erwiderte Monte Christo, einen Finger auf seine Lippen legend, ich habe gesagt Gift und Tod; doch trinken Sie zuerst hiervon — der Graf zog aus seiner Tasche ein Fläschchen, das einen roten Saft enthielt, und goß ein paar Tropfen davon in ein Glas — und wenn Sie getrunken haben werden, nehmen Sie diese Nacht nichts mehr.
Valentine streckte die Hand aus; doch kaum hatte diese das Glasberührt, als sie sie voll Schrecken wieder zurückzog.
Monte Christo nahm das Glas, trank die Hälfte davon, reichte es Valentine, und diese verschluckte lächelnd den Rest.
Oh! ja, sagte sie, ich erkenne den Geschmack meiner nächtlichen Getränke, den Geschmack dieses Wassers, das meinerBrust ein wenig Frische, meinem Gehirn ein wenig Ruhe verlieh. Ich danke, mein Herr, ich danke.
So haben Sie seit vier Nächten gelebt, Valentine, sagte der Graf. Doch wie lebte ich? Oh, welche grausamen Stunden ließen Sic mich durchmachen? Oh! welche furchtbaren Qualen ließen Sie mich ausstehen, wenn ich in Ihr Glas das tödliche Gift gießen sah, wenn ich fürchtete, Sie hätten Zeit, es zu trinken, ehe ich Zeit gehabt hätte, es in den Kamin zu schütten!
Sie sagen, mein Herr, sprach Valentine, im höchsten Maße erschrocken, Sie sagen, Sie haben tausend Qualen ausgestanden, als man in mein Glas das tödliche Gift gegossen? Doch wenn Sie Gift in mein Glas gießen sahen, so mußten Sie auch die Person sehen, die es hineingoß?
Ja.
Valentine richtete sich auf, zog über ihre schneeweißeBrust den gesticktenBattist, noch feucht von dem kalten Schweiße des Fiebers, mit dem sich der noch eisigere Schweiß des Schreckens zu vermischen anfing, und wiederholte: Sie haben sie gesehen?
Ja, sagte zum zweiten Male der Graf.
Was Sie mir da sagen, ist gräßlich, mein Herr, denn Sie wollen mich irgend etwas Höllisches glauben lassen. Wie! Im Hause meines Vaters, in meinem Zimmer, auf meinem Schmerzenslager fährt man fort, mich zu ermorden? Oh! Entfernen Sie sich, mein Herr, Sie führen mein Gewissen in Versuchung, Sie schmähen die Güte Gottes! Es ist unmöglich, es kann nicht sein.
Sind Sie denn die erste, welche diese Hand schlägt? Haben Sie nicht in Ihrer Umgebung Herrn von Saint‑Meran, Frau von Saint‑Meran, Barrois fallen sehen? Hätten Sie nicht Herrn Noirtier fallen sehen, wäre sein Körper nicht durch diebeständige Aufnahme von Gift gegen die tödliche Wirkung gefeit?
Oh! mein Gott! Deshalbalso verlangt der gute Papa seit einem Monat von mir, daß ich alle seine Getränke mit ihm teile?
Und diese Getränke, rief Monte Christo, nicht wahr, sie haben einenbitteren Geschmack, wie getrocknete Orangenschalen?
Ja, mein Gott, ja!
Oh! das erklärt mir alles, sagte Monte Christo; er weiß auch, daß man hier vergiftet, und vielleicht, wer hier vergiftet. Er hat Sie, sein vielgeliebtes Kind, gegen die tödliche Substanz schützen wollen. Deshalbleben Sie noch, was ich mir nicht erklären konnte, nachdem man Ihnen vor vier Tagen ein Giftbeigebracht, das sonst immer tödlich ist.
Aber wer ist denn der Meuchler, der Mörder?
Ich frage Sie ebenfalls: Haben Sie nie jemand in der Nacht in Ihr Zimmer eintreten sehen?
Doch wohl. Oft kam es mir vor, als sähe ich Schatten erscheinen, sich nähern, sich entfernen, verschwinden; doch ich hielt sie für Ausgeburten meines Fiebers, und soeben, als Sie selbst eintraten, glaubte ich lange, ich hätte entweder das Fieber oder ich träumte.
Also kennen Sie die Person nicht, die Ihnen das Leben nehmen will?
Nein. Warum sollte jemand meines Tod wünschen?
Sie werden sie kennen lernen, versetzte Monte Christo horchend.
Wie dies? fragte Valentine, voll Schrecken umherschauend.
Weil Sie heute abend weder das Fieber, noch das Delirium haben, weil Sie vollkommen wach sind, weil es soeben Mitternacht schlägt und dies die Stunde der Mörder ist.
Mein Gott! mein Gott! sagte Valentine, mit der Hand den Schweiß abtrocknend, der auf ihrer Stirn perlte.
Es schlug in der Tat langsam und schaurig zwölf Uhr; es war, als objeder Schlag des eisernen Hammers das Herz des Mädchens träfe.
Valentine, fuhr der Gras fort, rufen Sie alle Ihre Kräfte zu Hilfe, drängen Sie Ihr Herz in IhreBrust zurück, halten Sie Ihre Stimme in Ihrer Kehle seit, stellen Sie sich schlafend, und Sie werden sehen. Valentine faßte den Grafenbei der Hand und sagte: Es scheint mir, ich höre Geräusch, entfernen Sie sich!
Leben Sie wohl, oder vielmehr auf Wiedersehen, sagte der Graf. Dann kehrte er mit einem so traurigen und so väterlichen Lächeln, daß das Herz des Mädchens davon durchdrungen wurde, zur Tür derBibliothek zurück. Doch wandte er sich noch einmal um und flüsterte: Keine Gebärde, kein Wort; man muß Sie für eingeschlafen halten, sonst tötet man Sie vielleicht, ehe ich Zeit hätte herbeizukommen.
Lorusta.
Valentineblieballein; zwei Pendeluhren schlugen kurz nacheinander Mitternacht. Dann herrschte wieder, von ein paar Wagen abgesehen, die man in der Entfernung rollen hörte, völlige Todesstille.
Sie fing an, die Sekunden zu zählen, undbemerkte, daß sie um das Doppelte langsamer waren, als die Schläge ihres Herzens. Dennoch zweifelte sie. Die harmlose Valentine konnte sich nicht vorstellen, es wünsche irgend jemand ihren Tod. Warum? In welcher Absicht? Was hatte sieBöses getan, um jemandes Feindschaft auf sich zu ziehen?
Ein Gedanke, ein einziger, furchtbarer Gedanke hielt ihren Geist gespannt, der Gedanke, es sei eine Person auf der Welt, die sie zu ermorden versucht habe und es abermals versuchen würde. Wenn diese Person diesmal, wie es der Graf von Monte Christo gesagt, ihre Zuflucht zum Eisen nahm! Wenn der Graf nicht mehr Zeit hatte, herbeizueilen! Wenn sie ihrem letzten Augenblicke nahe stände, wenn sie Morel nicht mehr wiedersehen sollte!
Bei diesem Gedanken, der sie zugleich mit Leichenblässe und mit eisigem Schweißebedeckte, war Valentine nahe daran, nach der Glockenschnur zu greifen und um Hilfe zu rufen. Zwanzig Minuten, zwanzig Ewigkeiten verliefen so, dann noch zehn weitere Minuten; endlich schlug die Pendeluhr einmal auf das hellklingende Glöckchen.
In demselben Augenblicke sagte der Kranken ein unmerkliches Kratzen des Nagels an der Wand derBibliothek, daß der Graf wachte und ihr zu wachen empfahl.
Auf der entgegengesetzten Seite, nämlich in der Richtung von Eduards Zimmer, glaubte Valentine wirklich denBoden knacken zu hören; sie horchte, ihrenbeinahe erstickten Atem zurückhaltend; die Türklinke knirschte, und die Tür drehte sich auf ihren Angeln.
Valentine hatte sich auf ihren Ellenbogen erhoben; esbliebihr kaum Zeit, sich auf ihrBett zurückfallen zu lassen und ihre Augen unter ihrem Arm zu verbergen. Dann wartete sie, zitternd, erschüttert, mit einem von unsäglicher Angst zusammengeschnürten Herzen.
Es näherte sich jemand demBette und streifte die Vorhänge. Valentine raffte alle ihre Kräfte zusammen und ließ das regelmäßige Gemurmel des Atems vernehmen, das einen ruhigen Schlaf andeutet.
Valentine! sprach ganz leise eine Stimme.
Dasselbe Schweigen: Valentine hatte versprochen, nicht zu erwachen und nicht zu sprechen.
Dannblieballes still; Valentine hörte nur dasbeinahe unmerkliche Geräusch, wie eine Flüssigkeit in das Glas gegossen wurde, das sie geleert hatte.
Nun wagte sie es, unter dem Schirm ihres ausgestreckten Armes halbihr Augenlid zu öffnen. Sie sah eine Frau in weißem Nachtkleide, die aus einer Phiole eine Flüssigkeit in ihr Glas leerte.
Während dieses kurzen Augenblicks hielt Valentine vielleicht ihren Atem zurück, oder sie machte irgend eineBewegung, denn die Frau schaute unruhig auf und neigte sich über ihrBett, um zu sehen, obsie wirklich, schlafe: es war Frau von Villefort. Als Valentine ihre Stiefmutter erkannte, wurde sie von einem so jähen Schauer ergriffen, daß sich ihrBettbewegte.
Frau von Villefort drückte sich sogleich an die Wand undbeobachtete hier, vomBettvorhang gedeckt, ihr Opfer stumm und aufmerksam.
Valentine erinnerte sich der furchtbaren Worte Monte Christos; es war ihr vorgekommen, als hätte sie in der Hand, welche die Phiole nicht hielt, ein langes, scharfes Messer glänzen sehen, und sie rief ihre ganze Willenskraft zu Hilfe, um die Augen zu schließen.
Durch die Stille, in der sich das gleichmäßige Geräusch des Atemholens der Kranken wieder hören ließ, sicher gemacht, streckte Frau von Villefort abermals den Arm aus und goß, halbverborgen hinter dem oben amBette zusammengezogenen Vorhang, den Inhalt der Phiole vollends in Valentines Glas.
Dann entfernte sie sich, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Es läßt sich nicht ausdrücken, was Valentine während der letzten anderthalbMinuten empfunden hatte. Ein leichtes Kratzen an derBibliothek entzog sie ihrerBetäubung. Sie hobden Kopf mit großer Anstrengung in die Höhe. Die stille Tür drehte sich abermals auf ihren Angeln, und der Graf von Monte Christo erschien wieder.
Nun! fragte er, zweifeln Sie immer noch?
Oh, mein Gott! murmelte das Mädchen.
Sie haben sie erkannt?
Valentine stieß einen Seufzer aus und erwiderte: Ja, doch ich kann nicht daran glauben.
Sie wollen also lieber sterben und Maximilian sterben lassen?
Mein Gott! mein Gott! rief das Mädchen, fast von Sinnen, kann ich denn nicht das Haus verlassen und fliehen?
Valentine, die Hand, die Sie verfolgt, wird Sie überall treffen; mit Gold verführt man Ihre Diener, und der Todbietet sich Ihnen unter allen Gestalten verkleidet: im Wasser, das Sie an der Quelle trinken, in der Frucht, die Sie vomBaume pflücken.
Wer sagten Sie denn nicht, die Vorsicht des guten Papas habe mich gegen das Giftbeschützt?
Gegen ein Gift, das nicht einmal in starker Dose angewendet wurde; man wird das Gift verändern oder die Dosis vermehren.
Er nahm das Glas undbenutzte seine Lippen.
Ah! sehen Sie, sagte er, es istbereits geschehen. Man vergiftet Sie nicht mehr mitBrucin, sondern mit einem andern Mittel. Ich erkenne den Geschmack des Alkohols, in dem man es sich hat auflösen lassen. Hätten Sie getrunken, was Ihnen Frau von Villefort in dieses Glas gegossen, Valentine, Sie wärenbereits verloren.
Mein Gott! warum verfolgt sie mich denn? Ich habe ihr nie Schlimmes zugefügt.
Doch Sie sind reich, Valentine, Sie haben 200 000 Franken Rente, und diese 200 000 Franken entziehen Sie ihrem Sohne.
Wieso? Mein Vermögen ist nicht das seinige; es kommt mir von meinen Großeltern zu.
Allerdings, und deshalbsind Herr und Frau von Saint‑Meran gestorben, die Siebeerben sollten; deshalbwar Herr Noirtier verurteilt, sobald er Sie zu seiner Erbin eingesetzt hatte; deshalbendlich sollen Sie sterben, damit Ihr Vater von Ihnen erbt und IhrBruder als einziges Kind dann von Ihrem Vater.
Eduard! Armes Kind, für ihnbegeht man alle diese Verbrechen?
Ah! Siebegreifen endlich.
Mein Gott! Wenn er nur nicht einmal hierfür leiden muß!
Sie sind ein Engel, Valentine!
Und in dem Geiste einer Frau ist eine solche Kombination geboren worden! Mein Gott! Mein Gott! Denken Sie an Perugua, an die Laube im Gasthause zur Post, an den Mann mit dembraunen Mantel, den Ihre Mutter über die Aqua Tosanabefragte! Nun, seit jener Zeit reifte der ganze höllische Plan in ihrem Gehirn.
Oh! mein Herr, rief das sanfte Mädchen, in Tränen zerfließend, ich sehe wohl, daß ich zum Sterben verurteiltbin, wenn es so ist.
Nein, Valentine, nein, denn ich habe dies alles vorhergesehen; nein, denn unsere Feindin istbesiegt, weil sie entdeckt ist: nein, Sie werden leben, Valentine, um zu lieben und geliebt zu werden, Sie werden leben, um glücklich zu sein und ein edles Herz glücklich zu machen; doch um zu leben, Valentine, müssen Sie Vertrauen zu mir haben.
Befehlen Sie, mein Herr, was soll ich tun?
Sie müssenblindlings nehmen, was ich Ihnen geben werde.
Oh! Gott ist mein Zeuge, rief Valentine, wenn ich allein wäre, so würde ich lieber sterben.
Sie werden niemand vertrauen, selbst nicht einmal Ihrem Vater?
Nicht wahr, mein Vater hat keinen Anteil an diesem furchtbaren Komplott?
Nein, und dennoch muß Ihr Vater vermuten, daß alle diese Todesfälle, die Ihr Haus treffen, nicht natürlich sind. Ihr Vater hätte über Ihnen wachen sollen, er sollte zu dieser Stunde an dem Platze sein, den ich einnehme; er solltebereits dieses Glas ausgeleert haben; er müßte sich gegen den Mörder erhoben haben. Gespenst gegen Gespenst, murmelte er, ganz leise seinen Satz vollendend.
Gut, sagte Valentine, ich werde alles tun, um zu leben, denn es gibt zwei Wesen auf der Welt, die mich so lieben, daß sie sterben würden, wenn mich der Tod träfe: mein Großvater und Maximilian.
Ich werde auch siebeschützen.
Wohl, mein Herr, verfügen Sie über mich, sprach Valentine. Dann sagte sie mit leisem Stimme: Oh, mein Gott! mein Gott! Was wird mir widerfahren?
Valentine, was Ihnen auch geschehen mag, erschrecken Sie nicht! Wenn Sie leiden, wenn Sie das Gesicht, das Gehör, das Gefühl verlieren, fürchten Sie nichts! Wenn Sie erwachen, ohne zu wissen, wo Sie sind, hegen Sie keine Furcht, und sollten Sie sich in einem Grabgewölbe oder in einem Sarge finden! Sammeln Sie sogleich Ihren Geist und sagen Sie sich: In diesem Augenblick wacht ein Freund, ein Vater, ein Mann, der mein und Maximilians Glück will, über mir.
Ach! ach! welch eine gräßliche Notwendigkeit!
Valentine, wollen Sie lieber Ihre Stiefmutter anklagen?
Ich wollte lieber hundertmal sterben! ah! ja, sterben!
Nein, Sie werden nicht sterben, und was Ihnen auch geschehen mag, Sie werden nicht klagen, sondern hoffen, das versprechen Sie mir.
Ich werde an Maximilian denken.
Sie sind meine vielgeliebte Tochter; ich allein kann Sie retten und werde Sie retten.
Valentine faltete im höchsten Schrecken die Hände, denn sie fühlte, daß der Augenblick gekommen war, Gott um Mut anzuflehen; sie richtete sich auf, um zubeten, murmelte Worte ohne Folge und vergaß dabei, daß ihre weißen Schultern keinen andern Schleier hatten, als ihr weiches Haar, und daß man ihr Herz unter der seinen Spitze ihres Nachtgewandes schlagen sah.
Der Graf legte sacht die Hand auf Valentines Arm, zog ihre Samtdeckebis zum Halse herauf und sprach mit väterlichem Lächeln: Meine Tochter, glauben Sie an meine Zuneigung, wie Sie an die Güte Gottes und an die Liebe Maximilians glauben.
Valentine heftete einenBlick voll Dankbarkeit auf ihn undbliebgelehrig wie ein Kind. Da zog der Graf aus seiner Westentasche die kleineBüchse von Smaragd, nahm ihren goldenen Deckel abund schüttelte in Valentines Hände eine runde Pastille von der Größe einer Erbse. Valentine schobdie Pastille in den Mund und verschluckte sie.
Und nun auf Wiedersehen, mein Kind, sagte der Graf, ich will versuchen, zu schlafen, denn Sie sind gerettet.
Gehen Sie, sagte Valentine, was mir auchbegegnen mag, ich verspreche Ihnen, keine Furcht zu haben.
Monte Christo hielt lange seine Augen auf das Mädchen geheftet, das, von der Macht des narkotischen Mittelsbesiegt, allmählich entschlummerte.
Nun nahm er das Glas, leerte drei Viertel in den Kamin, damit man glaube, Valentine habe das Fehlende getrunken, und stellte es wieder auf den Nachttisch; dann kehrte er zur Tür derBibliothek zurück und verschwand, nachdem er einen letztenBlick auf Valentine geworfen hatte, die mit dem Vertrauen und der Reinheit eines zu den Füßen des Herrn liegenden Engels einschlief.
Valentine.
Die Nachtlampebrannte immer noch auf dem Kamine und verzehrte die letzten Tropfen Öl; ein trauriges Licht färbte mit mattem Widerschein die weißen Vorhänge und dieBettücher. Alles Geräusch der Straße war jetzt erloschen, und im Innern herrschte eine furchtbare Stille.
Die Tür von Eduards Zimmer öffnete sich jetzt, und ein Kopf erschien in dem der Tür gegenüber angebrachten Spiegel; es war Frau von Villefort, die zurückkehrte, um die Wirkung des Trankes zubeobachten.
Siebliebauf der Schwelle stehen und ging dann sacht auf den Nachttisch zu, um zu sehen, obdas Glas leer sei.
Es war, wie gesagt, noch zum vierten Teile voll.
Frau von Villefort nahm es und leerte es in die Asche, dir sie mit dem Fuße umrührte, um die Einsaugung der Flüssigkeit zu erleichtern; dann spülte sie sorgfältig den Kristall aus, wischte ihn mit ihrem eigenen Taschentuch abund stellte ihn wieder auf den Nachttisch.
Wer in das Innere dieses Zimmers hätte schauen können, würde gesehen haben, wie Frau von Villefort zögerte, ihre Augen auf Valentine zu heften und sich ihremBett zu nähern! die Giftmischerin fürchtete sich offenbar vor ihrem Werke.
Endlich faßte sie Mut, schobden Vorhangbeiseite, stützte sich auf das Kopfkissen und neigte sich über Valentine.
Valentine atmete nicht mehr, ihre halbgeöffneten Zähne ließen kein Atom von dem Hauche durch, der das Leben verrät. Ihre weißen Lippen hatten zu zittern aufgehört; in einen violetten Dunst getaucht, der sich unter die Haut gezogen zu haben schien, bildeten ihre Augen dort, wo der Augapfel das Augenlid wölbte, einen weißen Vorsprung, und ihre langen, schwarzen Wimpern schienen dunkle Furchen über einebereits wachsartig matte Haut zu ziehen.
Frau von Villefortbeschaute dieses Gesicht mit einem sonderbar starren Ausdruck; sie hobdann rasch die Decke auf und legte ihre Hand auf das Herz des Mädchens. Es war stumm und eisig.
Was unter ihrer Hand schlug, das war die Arterie ihrer Finger; sie zog ihre Hand mit einem Schauer zurück. Valentines Arm hing über dasBett herab, und die Nägel waren an der Wurzelblau.
Für Frau von Villefort gabes keinen Zweifel mehr, alles war vorbei; das furchtbare Werk, das letzte, das sie zu vollbringen hatte, war vollbracht. Die Giftmischerin hatte nichts mehr in diesem Zimmer zu tun; sie wich langsam, den Vorhang noch immer haltend und wie gebannt durch den Anblick des Opfers, sobehutsam zurück, daß sie das Geräusch ihrer Füße auf dem Teppiche zu fürchten schien.
In diesem Augenblick verdoppelte sich das Geknister der Nachtlampe. Frau von Villefortbebtebei diesem Geräusch und ließ den Vorhang fallen. Dann erlosch die Lampe, und das Zimmer versank in eine furchtbare Dunkelheit.
In dieser Dunkelheit erwachte die Pendeluhr und schlug halbvier. Erschrocken über diese aufeinander folgenden Geräusche, erreichte die Giftmischerin tappend die Tür, und kehrte, den Angstschweiß auf der Stirn, in ihr Zimmer zurück. Die Dunkelheit dauerte noch zwei Stunden.
Allmählich drang einbleicher Tag durch die Zwischenräume der Läden, und das Licht wurde nach und nach stärker und gabden Gegenständen und Körpern Farbe und Form zurück. Jetzt hörte man das Husten der Krankenwärterin auf der Treppe, und diese Frau trat, eine Tasse in der Hand, ein. Sie hielt Valentine noch für schlafend und sagte: Gut! sie hat getrunken, das Glas ist zu zwei Dritteln leer. Dann ging sie an den Kamin, zündete Feuer an, setzte sich in ihren Lehnstuhl undbenutzte, obgleich sie erst aus ihremBette kam, Valentines Schlaf, um selbst noch einige Augenblicke zu schlummern. Die Pendeluhr erweckte, die Wärterin, als sie acht Uhr schlug. Erstaunt über den hartnäckigen Schlaf, in dem Valentine verharrte, erschrocken über den aus demBette hängenden Arm, ging sie näher undbemerkte jetzt erst die kalten Lippen und die eisigeBrust. Sie wollte den Arm zum Körper heraufziehen; doch mit jener furchtbaren Steifheit, die für eine Wärterin keinen Zweifel übrig ließ, widerstand der Arm.
Sie stieß einen furchtbaren Schrei aus, lief an die Tür und rief: Zu Hilfe! zu Hilfe!
Wie! zu Hilfe? entgegnete unten an der Treppe Herrn d'Avrignys Stimme.
Es war die Stunde, zu der der Doktor gewöhnlich kam.
Wie! zu Hilfe! rief Herr von Villefort, aus seinem Kabinett stürzend, Doktor, haben Sie nicht um Hilfe rufen hören?
Ja, ja, gehen Sie rasch hinauf, es istbei Valentine, antwortete d'Avrigny.
Doch ehe der Arzt und der Vater hinaufkamen, waren die Diener, welche sich in den Zimmern und Gängenbefanden, bei Valentine eingetreten, und als sie diesebleich und unbeweglich auf ihremBette sahen, hoben sie die Hände zum Himmel empor und wankten, wie vom Schwindel erfaßt.
Ruft Frau von Villefort! Weckt Frau von Villefort! schrie der Staatsanwalt vor der Tür des Zimmers, in das er, wie es schien, nicht einzutreten wagte.
Doch statt zu antworten, schauten die Diener Herrn d'Avrigny an, der auf Valentine zugelaufen war und sie in seinen Armen aufhob.
Auch diese… murmelte er und ließ sie zurückfallen. Oh! mein Gott! mein Gott! wann wirst du müde werden?
Villefort stürzte in das Zimmer.
Was sagen Sie? rief er, die Hände zum Himmel emporstreckend, Doktor!.. Doktor!..
Ich sage, daß Valentine tot ist, antwortete d'Avrigny mit feierlichem und in seiner Feierlichkeit schrecklichem Tone.
Herr von Villefort sank zusammen, wie wenn seineBeine gebrochen wären, und fiel mit dem Kopf auf dasBett seiner Tochter.
Bei den Worten des Doktors, bei dem Geschrei des Vaters entflohen die Diener voll Schrecken und unter dumpfen Verwünschungen. Man hörte auf den Treppen und in den Gängen hastige Tritte — dann war alles vorbei, der Lärm verklang; von dem erstenbis zum letzten hatten sie das verfluchte Haus verlassen.
In diesem Augenblick hobFrau von Villefort, den Arm halbin ihr Morgengewand gehüllt, den Türvorhang auf; einen Augenblickbliebsie auf der Schwelle, scheinbar die Anwesendenbefragend und ein paar widerwillige Tränen zu Hilfe rufend.
Plötzlich machte sie, die Arme gegen den Nachttisch ausstreckend, einen Schritt oder vielmehr einen Sprung vorwärts.
Sie hatte gesehen, wie sich d'Avrigny neugierig über diesen Tischbeugte und das Glas nahm, von dem sie gewiß wußte, daß sie den Inhalt in die Asche geschüttet hatte.
Hätte sich das Gespenst des Opfers vor der Giftmischerin erhoben, es hätte keine solche Wirkung auf sie hervorbringen können. Hat sie nicht den Rest des Trankes vorsichtig ausgeschüttet? Es muß ein Wunder sein, das Gott ohne Zweifel getan, damit eine Spur des Verbrechens zurückbleibe.
Während Frau von Villefort unbeweglich wie eineBildsäule des Schreckens dastand, während Villefort, den Kopf in den Tüchern des Sterbebettesbergend, nichts von dem sah, was um ihn her vorging, näherte sich d'Avrigny dem Fenster, um den Inhalt des Glases zu prüfen, und kostete einen Tropfen, den er mit dem Ende des Fingers nahm.
Ah! murmelte er, das ist nicht mehrBrucin; wir wollen sehen, was es ist.
Dann lief er nach einem Schranke im Zimmer, den man in eine Apotheke verwandelt hatte, zog ein Fläschchen mit Salpetersäure hervor und ließ ein paar Tropfen in das Milchweiß der Flüssigkeit fallen, die sich alsbaldblutrot färbte.
Ah! machte d'Avrigny, indem sich mit dem Schrecken des die entsetzliche Wahrheit erkennenden Richters die Genugtuung des Gelehrten, dem sich ein Problem entschleiert, mischte.
Frau von Villefort drehte sich einen Augenblick um sich selbst, ihre Augen schleuderten Flammen, dann wurden sie trübe; wankend suchte sie mit der Hand die Tür und verschwand.
Einen Augenblick nachher hörte man das Geräusch eines auf denBoden fallenden Körpers. Doch niemand achtete darauf außer Herrn d'Avrigny, der Frau von Villefort mit den Augen folgte und ihre rasche Entfernungbemerkte.
Er hobden Türvorhang des Zimmers von Valentine auf, worauf seinBlick durch Eduards Zimmer in das Gemach der Frau von Villefort dringen konnte, die er ohneBewegung auf demBoden ausgestreckt sah.
Stehen Sie Frau von Villefortbei, sagte er zu der Wärterin: Frau von Villefort ist unwohl!
Doch Fräulein Valentine? stammelte die Wärterin.
Fräulein Valentinebedarf keiner Hilfe mehr, denn sie ist tot, sprach d'Avrigny.
Tot! Tot! seufzte Villefort im Paroxysmus eines um so gräßlicheren Schmerzes, als er für dieses eherne Herz neu, unbekannt, unerhört war.
Tot sagen Sie, rief eine dritte Stimme, wer sagt, Valentine sei tot?
Diebeiden Männer wandten sich um und erblickten an der Tür Morel, bleich, verstört, furchtbar.
Morel hatte sich zur gewöhnlichen Stunde durch die kleine Tür, die zu Noirtier führte, eingefunden. Gegen die Gewohnheit fand er die Tür offen; er hatte also nicht nötig zu läuten und trat ein. Im Vorhause wartete er einen Augenblick und rief einenBedienten, der ihnbei dem alten Noirtier einführen sollte. Doch niemand antwortete auf sein Rufen. Nachdem er noch eine Weile vergeblich gewartet hatte, entschloß er sich, hinaufzugehen.
Noirtiers Tür war offen, wie die andern Türen.
Das erste, was er sah, war der Greis in seinem Lehnstuhle und an seinem gewöhnlichen Platze; doch seine weitgeöffneten Augen schienen einen inneren Schrecken auszudrücken, den auch die über seine Züge ausgebreitete seltsameBlässe verriet.
Wie geht es Ihnen, mein Herr? fragte der junge Mann mit gepreßtem Herzen.
Gut! machte der Greis mit den Augenblinzelnd, gut!
Doch seine Unruhe schien noch zuzunehmen.
Sie sind unruhig, fuhr Morel fort, Siebrauchen etwas, soll ich jemand von Ihren Leuten rufen?
Ja, machte Noirtier.
Aber Morel mochte an der Klingelschnur ziehen, soviel er wollte, es kam niemand.
Mein Gott! mein Gott! sagte er, warum kommt man denn nicht? Ist jemand krank im Hause?
Noirtiers Augen schienenbei diesen Worten nahe daran, aus ihrer Höhle hervorzuspringen.
Aber was haben Sie denn? fuhr Morel fort, Sie erschrecken mich. Valentine! Valentine!..
Ja, ja, machte der Greis.
Maximilian öffnete den Mund, um zu sprechen, doch er vermochte keinen Ton hervorzubringen; er wankte und hielt sich am Gesimse. Dann streckte er die Hand nach der Tür aus.
Ja! ja! ja! fuhr der Greis fort.
Maximilian stürzte nach der kleinen Treppe, über die er in zwei Sprüngen setzte, während Noirtier ihm mit den Augen zuzurufen schien: Schneller! schneller!
Eine Minute genügte für den jungen Mann, um durch mehrere Zimmer zu eilen, die wie das übrige Haus verlassen waren, undbis an das Krankenzimmer zu gelangen, dessen Tür weit offen stand.
Ein Schluchzen war das erste Geräusch, das er hörte. Er sah wie durch eine Wolke eine knieende und in einem verworrenen Haufen von weißen Tüchern verlorene schwarze Gestalt. Die Angst, die gräßliche Angst fesselte ihn an die Schwelle.
Da hörte er eine Stimme sagen: Valentine ist tot.
Maximilian.
Villefort stand auf, wie es schien, beschämt darüber, daß er sichbei dem Anfalle dieses Schmerzes hatte überraschen lassen. Sein anfangs irres Auge heftete sich auf Morel, und er sagte: Wer sind Sie, mein Herr, der Sie vergessen, daß man nicht so in ein Haus eintritt, das der Todbewohnt? Entfernen Sie sich!
Doch Morelbliebunbeweglich; er konnte seine Augen nicht von dem furchtbaren Schauspiel des in Unordnung gebrachtenBettes und des darauf liegendenbleichen Gesichtes losmachen.
Entfernen Sie sich, hören Sie! rief Villefort, während d'Avrigny vorschritt, um Morel weggehen zu heißen.
Morel aber schaute mit verstörter Miene den Leichnam an, schien einen Augenblick zu zögern, öffnete den Mund, fand jedoch, trotz der zahllosen unseligen Gedanken, die sein Gehirnbestürmten, keine Worte, fuhr mit den Händen in die Haare, kehrte auf der Stelle um und eilte hinaus, so daß Villefort und d'Avrigny, nachdem sie ihm nachgeschaut hatten, einenBlick austauschten, der sagen wollte: Er ist ein Narr!
Doch ehe fünf Minuten abgelaufen waren, hörte man die Treppe unter einer schweren Last seufzen und sah Morel, der, mit übermenschlicher Kraft Noirtiers Lehnstuhl in seinen Armen haltend, den Greis in den ersten Stock des Hauses trug. Oben auf der Treppe setzte Morel den Stuhl zuBoden und rollte ihn rasch in Valentines Zimmer. Dieses ganze Manöver wurde mit einer durch die wahnsinnige Aufregung des jungen Mannes verzehnfachten Kraft ausgeführt.
Eines aber warbesonders gräßlich, das Antlitz Noirtiers, als dieser, von Morel fortgeschoben, sich ValentinesBett näherte, das Antlitz, worin der Verstand alle seine Mittel entwickelte und die Augen ihre ganze Kraft anstrengten, um die anderen Sinne zu ersetzen.
Diesesbleiche Gesicht mit dem flammendenBlicke war auch für Villefort eine furchtbare Erscheinung. So oft er mit seinem Vater inBerührung gekommen war, hatte sich etwas Schreckliches ereignet.
Sehen Sie, was sie getan haben! rief Morel, eine Hand noch auf die Lehne des Stuhles gestützt, den erbis zumBette fortschob, und die andere gegen Valentine ausstreckend, sehen Sie! mein Vater, sehen Sie!
Villefort wich einen Schritt zurück und schaute mit Erstaunen den ihm kaumbekannten jungen Mann an, der Noirtier seinen Vater nannte.
In dieser Sekunde schien die ganze Seele des Greises in seine Augen überzugehen, die sich zuerst mitBlut unterliefen; dann schwollen die Halsadern an, einebläuliche Farbe, wie sie die Haut des Epileptischen überzieht, bedeckte seinen Hals, seine Wangen und seine Schläfe; diesem inneren Ausbruche seines ganzen Wesens fehlte nur ein Schrei.
D'Avrigny eilte auf den Greis zu und ließ ihn an einem Fläschchen riechen, das ein kräftiges Ableitungsmittel enthielt.
Mein Herr, rief nun Morel, die träge Hand des Gelähmten ergreifend, man fragt mich, wer ich sei, und welches Recht ich habe, hier zu sein. Oh! Sie, der Sie es wissen, sagen Sie es!
Und die Stimme des jungen Mannes erlosch in Schluchzen. Ein keuchender Atem schüttelte dieBrust des Greises. Man hätte glauben sollen, er sei einer von den heftigenBewegungen preisgegeben, die dem Todeskampfe vorhergehen.
Endlich entstürzten Tränen den Augen Noirtiers, der glücklicher war, als der junge Mann, denn dieser schluchzte, ohne zu weinen.
Sagen Sie, fuhr Morel mit gepreßter Stimme fort, sagen Sie, daß es meine Verlobte war! Sagen Sie, daß es meine edle Freundin, meine einzige Liebe auf Erden war! Sagen Sie, sagen Sie, daß dieser Leichnam mir gehört!
Und der junge Mannbot das furchtbare Schauspiel einerbrechenden Kraft und stürzte schwerfällig vor dasBett, das seine krampfhaften Finger mit aller Heftigkeit preßten.
Dieser Schmerz war so einschneidend, daß d'Avrigny sich abwandte, um seine Rührung zu verbergen, und daß Villefort, ohne eine andere Erklärung zu fordern, durch den Magnetismus angezogen, der uns zu den Menschen hintreibt, welche diejenigen geliebt haben, die wirbeweinen, dem jungen Manne die Hand reichte.
Doch Morel sah nichts; er hatte Valentines eisige Hand ergriffen, und da er nicht weinen konnte, biß erbrüllend in dieBettücher.
Eine Zeit lang hörte man in diesem Zimmer nur Schluchzen, Verwünschungen und Gebete.
Endlich nahm Villefort, der noch am meisten seiner Herr war, nachdem er eine Zeit lang Maximilian gleichsam den Platz abgetreten hatte, das Wort und sagte zu diesem: Mein Herr, Sie liebten Valentine, sagten Sie; Sie waren ihr Verlobter, ich wußte nichts von dieser Verbindung; aber dennoch vergebe ich Ihnen, ich, ihr Vater, denn ich sehe, Ihr Schmerz ist groß und wahr. Überdies istbei mir der Schmerz auch zu groß, als daß in meinem Herzen Raum für den Zornbleiben könnte. Doch Sie sehen, der Engel, auf den Sie hofften, hat die Erde verlassen. Valentine kann von den Menschen nur noch angebetet werden, sie, die zu dieser Stunde den Herrn anbetet; nehmen Sie Abschied von der traurigen Hülle, die sie unter uns gelassen hat, ergreifen Sie zum letzten Male ihre Hand, die Sie für sich haben wollten, und trennen Sie sich auf immer von ihr; Valentinebedarf jetzt nur noch des Priesters, der sie segnen soll.
Sie täuschen sich, mein Herr, rief Morel, sich auf ein Knie erhebend, das Herz durchbohrt von einem Schmerze, der schärfer war als alle Schmerzen, die erbis jetzt empfunden; Sie täuschen sich; gestorben, wie sie gestorben ist, bedarf Valentine nicht nur eines Priesters, sondern auch eines Rächers. Herr von Villefort, schicken Sie nach dem Priester, ich werde der Rächer sein.
Was wollen Sie damit sagen, mein Herr? murmelte Villefort.
Ich will damit sagen, antwortete Morel, daß in Ihnen zwei Menschen sind; der Vater hat genug geweint, der Staatsanwaltbeginne sein Amt!
Noirtiers Augen funkelten, d'Avrigny trat näher.
Mein Herr, fuhr der junge Mann fort, ich weiß, was ich sage, und Sie wissen ebensogut, wie ich, was ich sagen will: Valentine ist ermordet worden!
Villefort neigte das Haupt; d'Avrigny trat noch einen Schritt näher; Noirtier machte mit den Augen ja.
Mein Herr, fuhr Morel fort, ein Geschöpf, und wäre es auch nicht jung, wäre es auch nicht schön, wäre es auch nicht anbetungswürdig, wie Valentine, ein Geschöpf wird in unserer Zeit nicht gewaltsam aus der Welt gebracht, ohne daß man Rechenschaft über sein Verschwinden verlangt. Auf! Herr Staatsanwalt, fügte Morel mit wachsender Heftigkeit hinzu, kein Mitleid! Ich zeige Ihnen das Verbrechen an, suchen Sie den Mörder!
Und sein unversöhnliches Auge fragte Villefort, der mit demBlickebald Noirtier, bald d'Avrigny anflehte.
Doch statt Hilfebei seinem Vater undbei dem Doktor zu finden, fand er in ihren Gesichtern nur einen ebenso unbeugsamen Ausdruck, wie in dem Morels.
Ja! machte der Greis.
Gewiß! sagte d'Avrigny.
Mein Herr, versetzte Villefort, der noch gegen diesen dreifachen Willen und gegen seine eigene Erschütterung anzukämpfen suchte, mein Herr, Sie täuschen sich, es werden keine Verbrechen in meinem Hausebegangen. Das Unglück trifft mich, Gott prüft mich; das ist ein furchtbarer Gedanke — aber man ermordet niemand!
Noirtiers Augen flammten, d'Avrigny öffnete den Mund, um zu sprechen, Morel streckte, Schweigenbefehlend, den Arm aus und rief mit einer Stimme, die sich senkte, ohne etwas von ihrem furchtbaren Klange zu verlieren: Und ich sage Ihnen, daß man hier tötet. Ich sage Ihnen, daß dies das vierte Opfer ist, das seit vier Monaten getroffen wird! Ich sage Ihnen, daß man vor vier Tagenbereits einmal Valentine zu vergiften versucht hat, was nur infolge der Vorsichtsmaßregeln des Herrn Noirtier scheiterte. Ich sage Ihnen, daß man die Dose verdoppelt oder die Natur des Giftes verändert hat, und daß es diesmal gelungen ist! Ich sage Ihnen endlich, daß Sie dies alles so gut, wie ich, wissen, denn dieser Herr hat Sie als Arzt und als Freund davon in Kenntnis gesetzt.
Oh! Sie sprechen im Fieberwahn, mein Herr! sagte Villefort, der sich vergebens in dem Kreise, in dem er sich gefangen fühlte, zu sträuben suchte.
Ich im Fieberwahn! rief Morel; wohl, ichberufe mich auf Herrn d'Avrigny. Fragen Sie ihn, mein Herr, ober sich noch der Worte erinnere, die er im Garten dieses Hauses gesprochen, an dem Abend, wo Frau von Saint‑Meran starb; als Sie im Glauben, Sie seien allein, über den eigentümlichen plötzlichen Todesfall sprachen.
Villefort und d'Avrigny schauten sich an.
Ja, ja! erinnern Sie sich, rief Morel. Allerdings hätte ichbei der frevelhaften Nachsicht des Herrn von Villefort für die Seinigen schon an jenem Abende derBehörde alles entdecken sollen, und dann wäre ich in diesem Augenblick nicht mitschuldig an deinem Tode, Valentine! Meine vielgeliebte Valentine! Doch der Mitschuldige wird dein Rächer werden; dieser vierte Mord ist offenkundig und aller Augen sichtbar, und wenn dein Vater dich verläßt, Valentine, so werde ich den Mörder verfolgen, das schwöre ich dir.
Nun endlich schien die Natur Mitleid mit diesem starken Geist zu empfinden; die letzten Worte Morels verklangen in einem mächtigen Schluchzen, und Tränen entstürzten seinen Augen, er wankte, fiel auf seine Knie und weinte an ValentinesBett.
Nun war die Reihe an d'Avrigny, der mit fester Stimme erklärte:
Auch ich verbinde mich mit Herrn Morel, um Gerechtigkeit für das Verbrechen zu verlangen, denn mein Herz empört sichbei dem Gedanken, daß meine feige Nachgiebigkeit den Mörder ermutigt hat!
Oh! mein Gott! murmelte Villefort vernichtet.
Morel hobdas Haupt empor und sagte, in den Augen des Greises lesend, welche übernatürliche Flammen schleuderten:
Seht! seht! Herr Noirtier will sprechen.
Ja, machte Noirtier mit einem um so furchtbareren Ausdrucke, als alle Fähigkeiten des ohnmächtigen Greises in seinemBlicke konzentriert waren.
Sie kennen den Mörder? fragte Morel.
Ja, erwiderte Noirtier.
Und Sie wollen uns leiten? rief der junge Mann. Hören Sie, Herr d'Avrigny, hören Sie!
Noirtier wandte sich hierauf an den unglücklichen Morel mit jenem sanften Lächeln, welches Valentine so oft glücklich gemacht hatte, und fesselte dadurch seine Aufmerksamkeit. Als er Maximilians Augen gleichsam an den seinigenbefestigt hatte, wandte er diese der Tür zu.
Ich soll mich entfernen, mein Herr? rief Morel mit schmerzlichem Tone. — Ja, machte Noirtier.
Ach! ach! mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir.
Die Augen des Greisesblieben unbarmherzig auf die Tür geheftet.
Darf ich wenigstens zurückkommen? fragte Morel.
Ja. — Soll ich allein gehen? — Nein.
Wen soll ich mitnehmen, den Herrn Staatsanwalt?
Nein. — Den Doktor? — Ja.
Sie wollen mit Herrn von Villefort alleinbleiben?
Ja. Oh! rief Villefort, beinahe freudig, daß die erste Untersuchung unter vier Augen vor sich gehen sollte.
D'Avrigny nahm Morelbeim Arm und führte ihn in das anstoßende Zimmer.
Es herrschte sodann im ganzen Hause eine Todesstille.
Nach Verlauf einer Viertelstunde hörte man wankende Schritte, und Villefort erschien auf der Schwelle des Zimmers, in dem sich Morel und d'Avrignybefanden.
Kommen Sie, sagte er und führte sie zurück.
Morel schaute nun Villefort aufmerksam an. Das Gesicht des Staatsanwaltes war leichenblaß, undbreite, rostfarbige Fleckenbedeckten seine Stirn.
Meine Herren, sagte er mit gepreßter Stimme, Ihr Ehrenwort, daß das furchtbare Geheimnis unter unsbegrabenbleibt?
Diebeiden Männer machten eineBewegung.
Ichbeschwöre Sie! fuhr Villefort fort.
Doch der Schuldige!.. rief Morel… der Mörder… der Meuchler!..
Seien Sie unbesorgt, mein Herr, es soll Gerechtigkeit geübt werden, sprach Villefort. Mein Vater hat mir den Namen des Schuldigen genannt, es dürstet ihn nach Rache, wie Sie, und dennochbeschwört Sie mein Vater, wie ich, das Geheimnis des Verbrechens zubewahren. Nicht wahr, Vater?
Ja, antwortete Noirtier energisch.
Morel machte eineBewegung des Abscheus und des Unglaubens.
Oh! rief Villefort, Maximilian am Arm zurückhaltend, oh! mein Herr, wenn mein Vater, dessen unbeugsame Natur Sie kennen, dieseBitte an Sie richtet, so tut er dies nur, imBewußtsein, daß Valentine furchtbar gerächt werden wird. Nicht wahr, mein Vater?
Der Greis machte einbejahendes Zeichen.
Villefort fuhr fort: Er kennt mich, und ich habe ihm mein Wort verpfändet. Beruhigen Sie sich also, meine Herren; drei Tage, nur drei Tage verlange ich von Ihnen, das ist weniger, als das Gericht von Ihnen verlangen würde, und in drei Tagen wird die Rache, die ich für die Ermordung meines Kindes nehme, die gleichgültigsten Menschenbis in die tiefste Tiefe des Herzens erzittern lassen. Nicht wahr, mein Vater?
Und während er diese Worte sprach, knirschte er mit den Zähnen und schüttelte die gelähmten Hände des Greises.
Wird alles, was versprochen ist, gehalten werden? fragte Morel.
Ja, machte Noirtier mit einemBlicke finsterer Freude.
Schwören Sie also, meine Herren, sagte Villefort, d'Avrignys und Morels Hände fassend, schwören Sie, daß Sie Mitleid mit der Ehre meines Hauses haben und mir die Sorge der Rache überlassen werden!
D'Avrigny wandte sich abund murmelte ein sehr schwaches Ja. Morel aber riß seine Hände weg, stürzte nach demBette, drückte seine Lippen auf Valentines eisige Lippen und entfloh mit dem langen Seufzer einer Seele, die sich in Verzweiflung versenkt.
Da die Diener sämtlich verschwunden waren, sah sich Herr von Villefort genötigt, Herrn d'Avrigny zubitten, die Schritte zu übernehmen, die ein Todesfall undbesonders unter so verdächtigen Umständen nach sich zieht.
Nach einer Viertelstunde kehrte Herr d'Avrigny mit dem Totenbeschauer zurück; man hatte die Tür nach der Straße geschlossen, und da der Portier mit den andern Dienern geflohen war, mußte Villefort selbst öffnen.
Doch erbliebauf dem Vorplatze stehen, da ihm der Mut fehlte, wieder in das Sterbezimmer zu treten.
Diebeiden Ärzte gingen allein zu Valentine.
Noirtier saß noch immer amBette, bleich wie der Tod, unbeweglich und stumm wie er.
Der Totenarzt näherte sich mit der Gleichgültigkeit eines Menschen, der die Hälfte seines Lebens mit Leichnamen zu tun hat, hobdas Tuch auf, mit dem das Mädchenbedeckt war, und öffnete nur ein wenig die Lippen.
Oh! sagte d'Avrigny seufzend, die Arme ist tot.
Ja, antwortete lakonisch der Arzt und ließ das Tuch wieder fallen; dann schrieber die Todeserklärung nieder und entfernte sich, von d'Avrigny zur Tür geleitet.
Villefort hörte sie hinabgehen und erschien wieder an der Tür seines Kabinetts. Mit einigen Worten dankte er dem Arzte und sagte sodann, sich an d'Avrigny wendend: Und nun der Priester; gehen Sie zum nächsten!
Der nächste, sagte der Arzt, ist ein italienischer Abbé, der seit kurzem im anstoßenden Hause wohnt. Soll ich ihn im Vorbeigehenbenachrichtigen?
D'Avrigny, sagte Villefort, ichbitte Sie, begleiten Sie diesen Herrn. Hier ist der Schlüssel, damit Sie nachBelieben aus- und eingehen können. Siebringen den Priester her und führen ihn in das Zimmer meines armen Kindes.
Wünschen Sie ihn zu sprechen, mein Freund?
Ich wünsche, allein zu sein. Nicht wahr, Sie werden mich entschuldigen? Ein Priester muß alle Schmerzenbegreifen, selbst den väterlichen Schmerz.
Hierauf gabHerr von Villefort Herrn d'Avrigny einen Schlüssel und kehrte in sein Kabinett zurück, wo er zu arbeiten anfing.
Als die Ärzte auf die Straße kamen, sahen sie einen Mann in einer Soutane auf der Schwelle des nächsten Hauses stehen.
D'Avrigny ging auf den Geistlichen zu und sagte: Mein Herr, wären Sie geneigt, einem unglücklichen Vater, der soeben seine Tochter verloren, dem Herrn Staatsanwalt von Villefort, einen großen Dienst zu leisten?
Ah! mein Herr, antwortete der Priester mit stark italienischem Akzent, ja, ich weiß, der Tod ist in seinem Hause.
Dannbrauche ich Ihnen nicht zu sagen, welchen Dienst er von Ihnen wünscht. Ich wollte mich soeben hierzu anbieten; es ist unsere Aufgabe, unsern Pflichten entgegenzukommen.
Es handelt sich um ein junges Mädchen.
Ja, ich weiß. DieBedienten, die aus dem Hause fortliefen, haben es mir gesagt. Ich hörte, daß sie Valentine hieß, undbetete für sie.
Ich danke, mein Herr, und da Sie schon Ihr heiliges Amt zu versehen angefangen, so haben Sie die Güte, es fortzusetzen. Nehmen Sie den Platzbei der Toten ein, und eine in Trauer versunkene Familie wird Ihnen dankbar sein.
Ich gehe, mein Herr, und glaube, daß nie ein Gebet glühender gewesen ist, als das meinige sein wird. D'Avrigny nahm den Abbébei der Hand und führte ihn in Valentines Zimmer. Als sie eintraten, traf NoirtiersBlick den des Abbés, und ohne Zweifel glaubte der Greis etwas Seltsames darin zu lesen, denn er ließ ihn nicht mehr aus den Augen.
D'Avrigny empfahl dem Priester nicht nur die Tote, sondern auch den Lebenden, und der Priester versprach, seine Gebete Valentine und seine Sorge Noirtier zu weihen, und schloß, ohne Zweifel, damit er in seinen Gebeten und Noirtier in seinem Schmerze nicht gestört würde, sobald Herr d'Avrigny das Zimmer verlassen hatte, nicht nur den Riegel der Tür, durch die der Doktor weggegangen war, sondern auch den Riegel der zu Frau von Villefort führenden.
Danglars' Unterschrift.
Der Morgen des nächsten Tagesbrach traurig und wolkig an. Man hatte während der Nacht den auf demBette liegenden Körper in das Schweißtuch genäht.
Im Verlaufe des Abends hatten zu diesemBehufe herbeigerufene Männer Noirtier aus Valentines Zimmer in das seinige getragen, und der Greis machte, gegen alle Erwartung, keine Schwierigkeiten, sich von dem Leichname seines Kindes zu trennen.
Der AbbéBusoni hattebis zum Morgen gewacht und sichbei Tagesanbruch zurückgezogen.
Gegen acht Uhr morgens kam d'Avrigny wieder. Erbegegnete Villefort, der zu Noirtier ging, undbegleitete ihn, um zu erfahren, wie der Greis die Nacht zugebracht habe. Sie fanden ihn in seinem großen Lehnstuhle, der ihm alsBett diente, in sanftem Schlummer ruhend und mitbeinahe lächelnder Miene. Beideblieben erstaunt auf der Schwelle stehen.
Sehen Sie, sagte d'Avrigny zu Villefort, der seinen entschlummerten Vaterbetrachtete, sehen Sie, die Natur weiß die heftigsten Schmerzen zu stillen; gewiß wird niemand sagen, Herr Noirtier habe seine Enkelin nicht geliebt, und dennoch schläft er.
Ja, Sie haben recht, sagte Villefort, er schläft, und das ist seltsam, denn der geringste Verdruß hält ihn sonst die ganze Nacht hindurch wach. Der Schmerz hat ihn niedergeschmettert, versetzte d'Avrigny, woraufbeide nachdenklich in das Kabinett des Staatsanwalts zurückkehrten.
Sehen Sie, ich habe nicht geschlafen, sagte Villefort, auf sein unberührtesBett deutend; der Schmerz schmettert mich nicht nieder; ich habe zwei Nächte nicht geschlafen; dagegen schauen Sie meinBüro an; mein Gott! Wie habe ich diese zwei Tage und diese zwei Nächte hindurch geschrieben! Wie habe ich diese Papiere durchwühlt und die Anklageschrift des MördersBenedetto mit Noten versehen!.. Oh, Arbeit, Arbeit! meine Leidenschaft, meine Freude, meine Wut, du mußt mir alle meine Schmerzen niederschlagen!
Und er drückte d'Avrigny krampfhaft die Hand.
Bedürfen Sie meiner? fragte der Doktor.
Nein, sagte Villefort, ichbitte Sie nur, um elf Uhr zurückzukommen; zur Mittagsstunde findet die Abfahrt statt. Mein Gott! mein armes Kind, mein armes Kind!
Und wieder Mensch werdend, schlug der Staatsanwalt die Augen zum Himmel auf und stieß einen Seufzer aus.
Sie werden dann also im Empfangszimmer sein?
Nein, ich habe einen Vetter, der diese traurige Ehre übernimmt. Ich gedenke zu arbeiten, Doktor; wenn ich arbeite, verschwindet alles.
Der Doktor war in der Tat noch nicht vor der Tür, als sich der Staatsanwaltbereits wieder zur Arbeit gesetzt hatte.
Um elf Uhr rollten die Wagen über das Pflaster des Hofes, und die Rue du Faubourg Saint‑Honoré ertönte von dem Gemurmel der auf die Freude wie auf die Trauer der Reichen gleichbegierigen Menge.
Allmählich füllte sich der Trauersaal, und man sah zuerst einige von unseren Freunden, nämlich Debray, Chateau‑Renaud, Beauchamp, sodann hervorragende Vertreter der Gesellschaft, der Anwaltschaft, der Literatur und der Armee. Die, welche sich kannten, winkten sich mit demBlicke und versammelten sich in Gruppen. Eine von diesen Gruppenbestand aus Debray, Chateau‑Renaud undBeauchamp.
Armes Mädchen! sagte Debray. So reich, so schön! Hätten Sie das gedacht, Chateau‑Renaud, als wir vor drei Wochen meine ich, zusammenkamen, um jenen Vertrag zu unterzeichnen, der nicht unterzeichnet wurde?
Meiner Treu! nein, erwiderte Chateau‑Renaud.
Kannten Sie Fräulein von Villefort?
Ich habe einige Male mit ihr gesprochen, sie kam mir reizend vor, obgleich etwas schwermütig. Wo ist die Stiefmutter?
Haben Sie über diesen Tod in Ihrer Zeitung geschrieben?
Der Artikel ist nicht von mir, erwiderteBeauchamp; ich zweifle auch, ober Herrn von Villefort angenehm sein wird. Es ist, glaube ich, darin gesagt, wenn vier aufeinander folgende Todesfälle anderswo als im Hause des Staatsanwalts stattgefunden hätten, so würde der Staatsanwalt sicherlich mehr dadurch inBewegung gesetzt worden sein.
Der Doktor d'Avrigny, der Arzt meiner Mutter, behauptet übrigens, er sei sehr in Verzweiflung, sagte Chateau‑Renaud. Doch was suchen Sie, Debray?
Ich suche Herrn von Monte Christo.
Ich habe ihn unterwegs auf demBoulevard getroffen; ich glaube, er will abreisen, denn er ging zu seinemBankier.
Zu seinemBankier? Ist seinBankier nicht Danglars? fragte Chateau‑Renaud.
Ich glaube, ja, erwiderte der Geheimsekretär mit einer leichten Unruhe. Doch Monte Christo ist nicht der einzige, der hier fehlt, ich sehe auch Morel nicht.
Morel! Kannte er sie? fragte Chateau‑Renaud.
Ich glaube, er ist ihr einmal vorgestellt worden.
Gleichviel, er hätte kommen müssen, sagte Debray; dieseBeerdigung ist das Ereignis des Tages.
Beauchamp hatte wahr gesprochen; als er sich zu der Trauerfeierlichkeitbegab, begegnete er Monte Christo, der auf dem Wege zu Danglars war.
DerBankier sah von seinem Fenster aus den Grafen im Hofe erscheinen und ging ihm rasch entgegen.
Nun, Graf, sagte er, Monte Christo mit einem halbtrübseligen, halbhöflichen Gesichte die Hand reichend, Sie kommen, mir IhrBeileid zubezeigen. In der Tat, das Unglück ist in meinem Hause. Es scheint überhaupt ein unglückliches Jahr zu sein. Nehmen Sie unsern Puritaner von einem Staatsanwalt, den heiligen Villefort, der nun auch seine Tochter verloren hat, nachdem auf seltsam plötzliche Weise drei andere Todesfälle in seinem Hause vorgekommen sind; Morcerf ist entehrt und getötet, und ichbin lächerlich gemacht durch die Verworfenheit diesesBenedetto, und dann…
Was dann?… fragte der Graf.
Ach! Sie wissen nicht, daß uns Eugenie verlassen hat?
Mein Gott, was Sie mir da sagen!
Sie konnte die Schmach nicht ertragen, die ihr dieser Elende angetan, undbat mich, abreisen zu dürfen.
Und sie ist mit Frau Danglars abgereist?
Nein, mit einer Verwandten… Doch wir werden nichtsdestoweniger die liebe Eugenie verlieren; denn ich zweifle, obsiebei ihrem Charakter je wieder einwilligt, nach Frankreich zurückzukehren!
Was wollen Sie, lieberBaron? versetzte Monte Christo, Familienkummer ist niederschmetternd für einen armen Teufel, dessen Kind sein einziges Vermögen darstellt, er ist aber erträglich für einen Millionär. Die Philosophen haben gut reden, die praktischen Menschen werden sie hierin immer Lügen strafen; das Geld tröstet über vielerlei, und Sie müssen schneller getröstet sein, als irgend jemand, Sie, der König der Finanzen.
Danglars warf einen schiefenBlick auf den Grafen, um zu sehen, ober spotte oder im Ernste spreche. Ja, sagte er, es ist wahr, wenn das Vermögen tröstet, sobin ich getröstet; ichbin reich.
So reich, mein lieberBaron, daß Ihr Vermögen den Pyramiden gleicht; wollte man sie zerstören, man würde es doch nicht wagen; und wagte man es, so vermöchte man es nicht.
Danglars lächelte über dieses gutmütige Zutrauen des Grafen und erwiderte: Dies erinnert mich, daß ichbei Ihrem Eintritt damitbeschäftigt war, fünf kleine Anweisungen fertigzustellen. Zwei hatte ichbereits unterzeichnet; wollen Sie mir erlauben, auch die andern drei vollends auszufertigen?
Tun Sie das, lieberBaron.
Es trat ein kurzes Schweigen ein, während dessen man die Feder desBankiers kritzeln hörte.
SpanischeBons, haytischeBons, Bons auf Neapel? fragte Monte Christo.
Nein, antwortete Danglars mit seinem anmaßenden Lachen, Anweisungen auf den Inhaber an dieBank von Frankreich. Hören Sie, fügte er hinzu, Herr Graf, Sie, der Sie Finanzkaiser sind, wie ich nur König, haben Sie viele Papierfetzen von dieser Größe, jeden im Wert von einer Million, gesehen?
Monte Christo nahm die fünf Papierstücke, die ihm Danglars stolz darreichte, in die Hand, als wollte er sie abwägen, und las:
Der Direktor derBankbeliebebezahlen zu lassen an meine Ordre und auf die von mir hinterlegten Fonds die Summe von einer Million, Wert in Rechnung.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sagte Monte Christo, fünf Millionen! Teufel! wie Sie zu Werke gehen, Herr Krösus.
So treibe ich die Geschäfte, sprach Danglars.
Das ist wunderbar, besonders wenn diese Summe, woran ich nicht zweifle, barbezahlt wird.
Sie wird es, versetzte Danglars.
Es ist schön, einen solchen Kredit zu haben; in der Tat, dergleichen sieht man nur in Frankreich, fünf Papierfetzen im Werte von fünf Millionen, und man muß es wohl glauben.
Sie sagen das mit einem Tone… Hören Sie, machen Sie sich das Vergnügen, begleiten Sie meinen Kommis zurBank, und Sie werden ihn mit Anweisungen auf den Staatsschatz für dieselbe Summe herauskommen sehen.
Nein, erwiderte Monte Christo, die fünf Zettel zusammenlegend, die Sache ist zu interessant, und ich will selbst den Versuch machen. Mein Kreditbei Ihnenbetrug sechs Millionen, ich habe 900 000 gezogen, und Sie sind mir folglich noch fünf Millionen und 100 000 Franken schuldig. Ich nehme Ihre fünf Papierstreifen, die mir schon durch Ihre Unterschrift gut sind und gebe Ihnen hier einen allgemeinen Schein für sechs Millionen, wodurch sich unsere Rechnungbegleicht. Ich habe den Schein schon vorher geschrieben, denn ich muß Ihnen sagen, daß ich heute durchaus Geldbrauche.
Mit einer Hand steckte Monte Christo die fünf Papiere in seine Tasche, während er mit der andern demBankier den Empfangschein reichte.
Hätte derBlitz zu Danglars' Füßen eingeschlagen, sein Schrecken konnte nicht größer sein.
Wie? stammelte er, wie, Herr Graf, Sie nehmen dieses Geld? Verzeihen Sie, es ist Geld, das ich den Hospitälern schuldigbin, ein Depositum, das ich heute morgen zubezahlen versprochen habe.
Ah! sagte Monte Christo, das ist etwas anderes; es liegt mir nicht gerade an diesen Papieren. Bezahlen Sie mich in anderen Werten! Ich nahm diese Zettel nur, um überall sagen zu können, ohne fünf Minuten Frist von mir zu verlangen, habe mir das Haus Danglars fünf Millionenbarbezahlt! Das wäre merkwürdig gewesen!
Dabei reichte er die fünf Papiere Danglars, der zuerst seine Hand ausstreckte, wie ein Geier die Klauen durch die Stangen seines Käfigs ausstreckt, um das Fleisch zu packen, das man ihm hinhält.
Plötzlichbesann er sich eines andern undbezwang sich mit einer mächtigen Anstrengung. Dann sah man allmählich ein Lächeln seine verstörten Gesichtszüge runden, und er sprach: Im ganzen ist Ihr Empfangschein Geld.
Oh, mein Gott ja! Und wenn Sie in Rom wären, würde das Haus Thomson und Frenchbei der Auszahlung keine Schwierigkeit machen.
Verzeihen Sie, Herr Graf, verzeihen Sie!
Ich kann also dieses Geldbehalten?
Ja, erwiderte Danglars, den Schweiß abtrocknend, der an der Wurzel seiner Haare perlte, behalten Sie es.
Monte Christo steckte die fünf Zettel ein, mit einer Miene, als wollte er sagen: Denken Sie, bei Gott, nach; wenn Sie esbereuen, es ist noch Zeit.
Nein, nein, behalten Sie meine Unterschriften, sagte Danglars. Sie wissen, nichts ist förmlicher, als ein Geldmensch. Ichbestimmte diese Summe für die Hospitäler und hätte sie zubestehlen geglaubt; wenn ich ihnen nicht gerade dieses Geld gegeben haben würde, als obnicht ein Taler so viel wert wäre, wie der andere.
Und erbrach in ein lautes, aber unverkennbar gekünsteltes Lachen aus.
Ich entschuldige und stecke ein, erwiderte Monte Christo auf das freundlichste und legte die Anweisungen in sein Portefeuille.
Doch, esbleibt noch eine Summe von 100 000 Franken, sagte Danglars.
Oh! Bagatelle! Das Agio muß sich auf diesenBetragbelaufen, behalten Sie ihn, und wir sind quitt.
Graf, rief Danglars, sprechen Sie im Ernste?
Ich scherze nie mitBankiers, antwortete Monte Christo ernst. Und er ging auf die Tür zu, als eben der Diener meldete: Herr vonBoville, Generaleinnehmer der Hospitäler. Wahrhaftig, sagte Monte Christo, es scheint, ichbin zu rechter Zeit gekommen, mich Ihrer Unterschriften zu erfreuen, denn man macht sie mir streitig.
Danglars erbleichte zum zweitenmal und nahm schleunigst von dem Grafen Abschied.
Dem im Vorzimmer wartenden Generaleinnehmer trat Danglars anscheinend völlig ruhig entgegen.
Guten Morgen, mein lieber Gläubiger, sagte er, denn ich wollte wetten, der Gläubiger kommt zu mir.
Sie haben richtig erraten, HerrBaron, sagte Herr vonBoville, die Hospitäler erscheinen in meiner Person; die Witwen und Waisen verlangen durch meine Hände ein Almosen von fünf Millionen von Ihnen.
Und man sagt, die Waisen seien zubeklagen! versetzte Danglars, den Scherz ausspinnend, arme Kinder!
Ich komme also in ihrem Namen; Sie müssen meinenBrief gestern erhalten haben? — Ja.
Hier ist mein Empfangschein.
Mein lieber Herr vonBoville, Ihre Witwen und Waisen werden wohl die Güte haben, vierundzwanzig Stunden zu warten, inBetracht, daß Herr von Monte Christo, den Sie wohl weggehen sahen, Ihre fünf Millionen fortgenommen hat.
Wieso?
Der Graf hatte einen unbeschränkten Kredit auf mich durch das Haus Thomson und French in Rom; er kam zu mir und verlangte eine Summe von fünf Millionen auf einmal; ich gabihm eine Anweisung auf dieBank, und Siebegreifen, wenn ich an einem Tage aus derBank zehn Millionen zurückzöge, so möchte dies seltsam erscheinen. In zwei Tagen ist das etwas anderes, fügte Danglars lächelnd hinzu.
Gehen Sie doch, rief Herr vonBoville mit dem Tone des vollkommensten Unglaubens; fünf Millionen an den Herrn, der soeben wegging und mich grüßte, als obich ihn kennte. Vielleicht kennt er Sie, ohne daß Sie ihn kennen; Herr von Monte Christo kennt jedermann.
Fünf Millionen?
Hier ist sein Empfangschein, machen Sie es wie der heilige Thomas; sehen Sie undberühren Sie.
Herr vonBoville nahm das Papier, das ihm Danglars reichte, und las:
Empfangen von HerrnBaron von Danglars die Summe von fünf Millionen einmalhunderttausend Franken, die er sich nachBelieben in Anweisungen auf das Haus Thomson und French in Rom zurückzahlen lassen wird.
Es ist meiner Treu wahr! rief Herr vonBoville, doch kennen Sie das Haus Thomson und French?
Eines derbesten Häuser Europas, versetzte Danglars und warf den Empfangschein, den er wieder an sich genommen hatte, nachlässig auf seinen Schreibtisch.
Und er hatte auf Sie allein fünf Millionen? Ah, dieser Graf von Monte Christo muß ein wahrer Nabobsein.
Meiner Treu! Ich weiß nicht, wie das ist; doch er hatte drei unbeschränkte Kredite, einen auf Rothschild, einen auf mich und einen auf Laffitte, und er gab, wie Sie sehen, mir den Vorzug, wobei er mir hunderttausend Franken für das Agio ließ.
Mit dem Ausdruck der höchsten Verwunderung erwiderte Herr vonBoville: Das gefällt mir; ich muß ihnbesuchen und eine fromme Stiftung für uns erlangen.
Oh! es ist, als obSie siebereits hätten, seine Almosen alleinbelaufen sich monatlich auf 20 000 Franken.
Das ist herrlich! Übrigens werde ich ihm dasBeispiel der Frau von Morcerf und ihres Sohnes anführen, die ihr ganzes Vermögen den Hospitälern geschenkt haben.
Welches Vermögen?
Ihr Vermögen, das Vermögen des verstorbenen Generals von Morcerf, weil sie nichts von einem so schmählich erworbenen Gutebesitzen wollten.
Wovon werden sie leben?
Die Mutter zieht sich in die Provinz zurück, und der Sohn nimmt Dienste.
Ah! das nenne ich Skrupel! Wievielbesaßen sie?
Oh! nicht sehr viel, etwa eine und eine Viertelmillion.
Also Sie haben große Eile mit Ihrem Geld?
Allerdings, die Kontrolle unserer Kassen findet morgen statt.
Morgen! Warum sagten Sie mir das nicht sogleich! Morgen, ist ein Jahrhundert! Um welche Stunde?
Um zwei Uhr.
Schicken Sie um zwölf Uhr zu mir, versetzte Danglars lächelnd.
Herr vonBoville antwortete nicht viel, er machte Ja mit dem Kopfe und schüttelte sein Portefeuille.
Doch wenn ichbedenke, sagte Danglars, Sie können noch etwasBesseres tun.
Was soll ich tun?
Der Empfangschein des Herrn von Monte Christo ist Geld wert! Zeigen Sie diesen Scheinbei Rothschild oderbei Laffitte, sie nehmen Ihnen denselben auf der Stelle ab.
Obgleich rückzahlbar auf Rom?
Gewiß; es kostet Sie nur einen Diskont von fünf‑bis sechstausend Franken.
Der Einnehmer machte einen Sprung rückwärts und rief:
Meiner Treu! nein, ich will lieberbis morgen warten. Wie schnell Sie zu Werke gehen!
Ich glaubte einen Augenblick, verzeihen Sie mir, sagte Danglars mit der größten Unverschämtheit, ich glaubte, Sie hätten ein kleines Defizit zu decken.
Ah! machte der Einnehmer.
Es ist alles schon dagewesen, und in einem solchen Fallebringt man ein Opfer.
Gott sei Dank, nein.
Morgen also, nicht wahr, mein lieber Einnehmer?
Morgen? ich werde selbst kommen.
Sie drückten sich die Hand.
Doch sagen Sie, bemerkte Herr vonBoville, gehen Sie nicht zu dem Leichenbegängnis des Fräulein von Villefort?
Nein, ich halte mich seit der lächerlichen Geschichte mitBenedetto zurück.
Bah! Sie haben unrecht; sind Sie an der ganzen Sache schuld?
Hören Sie, mein lieber Einnehmer, wenn man einen fleckenlosen Namen trägt, wie ich, so ist man etwas empfindlich.
Jederbeklagt Sie, davon dürfen Sie überzeugt sein, undbesondersbeklagt man Fräulein Danglars.
Arme Eugenie! rief Danglars mit einem tiefen Seufzer. Sie wissen, daß sie in ein Kloster tritt? — Nein.
Ach! es ist leider nur zu wahr. Am Morgen nach dem Ereignis entschloß sie sich, mit einer ihrbefreundeten Nonne abzureisen; sie tritt in ein sehr strenges Kloster in Italien oder Spanien.
Oh! das ist furchtbar.
Nach diesem Ausrufe entfernte sich Herr vonBoville unter tausendBeileidsbezeugungen.
Doch er war nicht sobald außen, als Tanglars mit einer energischen Gebärde ausrief: Dummkopf!!
Und die Quittung von Monte Christo in sein kleines Portefeuille schiebend, fügte er hinzu: Komm morgen um Mittag, komm nur, und ich werde sonstwo sein.
Dann schloß er sich doppelt ein, leerte alleBehälter seiner Kasse, brachte etwa 50 000 Franken inBanknoten zusammen, verbrannte verschiedene Papiere, legte andere so, daß sie in die Augen fielen, und fing an, einenBrief zu schreiben; sobald er ihn geschrieben hatte, versiegelte er ihn und setzte darauf die Adresse: An FrauBaronin Danglars.
Dann zog er einen Paß aus seiner Schublade und sagte: Gut! er ist noch für zwei Monate gültig.
Der Kirchhof Père la Chaise.
Herr von Villefort, ein Vollblut‑Pariser, betrachtete den Friedhof Père la Chaise als allein würdig, die sterblichen Hüllen einer Pariser Familie aufzunehmen. Nur auf dem Père la Chaise konnte ein Hingeschiedener der guten Gesellschaft anständig ruhen. Er hatte hier für ewige Zeiten einen Raum erkauft, auf dem sich das so schnell gefüllte Mausoleum erhob. Man las am Giebel: die Familien Saint‑Meran und Villefort; denn dies war der letzte Wunsch der armen Renée, Valentines Mutter, gewesen.
Der prunkhafte Leichenzug fuhr durch ganz Paris, sodann durch den Faubourg du Temple und über die äußerenBoulevardsbis zum Friedhofe. Mehr als fünfzig Herrenwagen folgten den zwanzig Trauerwagen, und hinter diesen fünfzig Wagen gingen noch mehr als fünfhundert Personen zu Fuß.
Als der Zug die Grenze des Stadtgebietes erreicht hatte, sah man ein Gespann von vier Pferden erscheinen; es war das des Herrn von Monte Christo. Der Graf stieg aus und mischte sich unter die Menge, die zu Fuß dem Leichenwagen folgte. Chateau‑Renaud erblickte ihn; er stieg sogleich aus seinem Coupé und ging auf ihn zu. Beauchamp verließ ebenfalls sein Kabriolett. Der Graf schaute aufmerksam durch die Reihen der Leidtragenden. Er suchte offenbar irgend jemand. Endlich fragte er: Wo ist Morel? Weiß einer von Ihnen, meine Herren, wo er ist?
Wir haben uns schon gegenseitig dieselbe Frage vorgelegt, sagte Chateau‑Renaud, denn niemand von uns hat ihnbemerkt.
Endlich gelangte man auf den Friedhof. Des Grafen durchdringendes Auge durchforschte die Eiben- und Fichtengebüsche; ein Schatten schlüpfte durch das dunkle Gesträuch, und Monte Christo erkannte ohne Zweifel den, welchen er suchte. Erbeobachtete, wie dieser Schatten sich rasch über den Platz hinter dem Grabe von Heloise und Abälard fortbewegte und zu dem für dasBegräbnis gewählten Ort gelangte.
In dem Schatten erkannten, als der Zug anhielt, auch die andern Morel, der mit seinem schwarzen, bis oben zugeknöpften Rocke, mit seiner leichenbleichen Stirn, seinen hohlen Wangen und seinem krampfhaft zerknitterten Hute sich an einenBaum angelehnt und auf einem das Mausoleum überragenden Hügel so aufgestellt hatte, daß er nicht das geringste von der Zeremonie verlieren konnte.
Alles ging wie gewöhnlich vor sich. Einige Herren hielten Reden. Die einenbeklagten den frühzeitigen Tod; die andern verbreiteten sich über den Schmerz des Vaters; einige waren geistreich genug, zubehaupten, Valentine habe mehr als einmalbei Herrn von VillefortBitten für die Schuldigen eingelegt, über deren Haupt er das Schwert der Gerechtigkeit gehalten; kurz man erschöpfte sich inblumenreichen Wendungen.
Monte Christo hörte nichts, sah nichts, oder er sah vielmehr nur Morel, dessen Ruhe und Unbeweglichkeit ein furchtbares Schauspiel für den waren, der allein zu lesen vermochte, was im Innersten des jungen Mannes vorging.
Sieh da, sagte plötzlichBeauchamp zu Debray, dort ist Morel! Wo zum Teufel mag er gesteckt haben?
Und sie zeigten ihn Chateau‑Renaud.
Wiebleich er aussieht! sagte dieser erschrocken.
Es wird ihn frieren, versetzte Debray.
Nein, entgegnete langsam Chateau‑Renaud, ich glaube, er ist erschüttert. Maximilian ist ein für Eindrücke sehr empfänglicher Mensch.
Bah! rief Debray; er kannte Fräulein von Villefort kaum. Sie haben es selbst gesagt.
Es ist wahr. Doch ich erinnere mich, daß er auf demBalle der Frau von Morcerf dreimal mit ihr getanzt hat; Sie wissen, Graf, auf demBalle, wo Sie eine so große Wirkung hervorbrachten?
Nein, es ist nur nichtbekannt, antwortete Monte Christo, ohne eigentlich zu wissen, worauf und wem er antwortete, so sehr war er damitbeschäftigt, Morel zu überwachen, dessen Wangen sich jetztbelebten.
Die Reden sind zu Ende, Gottbefohlen, meine Herren, sagte plötzlich der Graf. Damit gaber das Zeichen zum Aufbruch und verschwand sofort. Die Leichenfeierlichkeit war vorüber, und die Anwesenden schlugen den Weg nach Paris ein.
Nur Chateau‑Renaud suchte einen Augenblick Morel mit den Augen; doch während seinBlick dem wegeilenden Grafen gefolgt war, hatte Morel seinen Platz verlassen, und Chateau‑Renaud ging, nachdem er ihn vergebens gesucht, Debray undBeauchamp nach.
Monte Christo war in ein Gebüsch getreten undbeobachtete, hinter einem großen Grabmale verborgen, jedeBewegung Morels, der sich allmählich dem Mausoleum näherte. Morel schaute irre umher; Monte Christo konnte sich abermals zehn Schritte nähern, ohne gesehen zu werden.
Der junge Mann kniete nieder, erbeugte seine Stirnbis auf den Stein, umfaßte das Gitter mit seinen Händen und murmelte: Oh! Valentine!
Dem Grafen wolltebei dem Ausdruck, mit dem diese Worte gesprochen wurden, das Herzbrechen; er machte noch einen Schritt, klopfte Morel auf die Schulter und sagte: Sie, mein lieber Freund, Sie suchte ich.
Monte Christo erwartete ein Aufbrausen, Vorwürfe, Beschuldigungen; er täuschte sich. Morel wandte sich um und sagte mit scheinbarer Ruhe: Sie sehen, ichbetete!
Der forschendeBlick des Grabenbetrachtete den jungen Mann von obenbis unten. Nach dieser Prüfung schien er ruhiger. Soll ich Sie nach Paris zurückfahren? sagte er.
Nein, ich danke.
Wünschen Sie irgend etwas? — Lassen Sie michbeten.
Der Graf entfernte sich ohne Erwiderung, doch nur um auf einer andern Stelle stehen zubleiben, von wo aus er jedeBewegung Morelsbeobachten konnte. Dieser erhobsich endlich und schlug wieder den Weg nach Paris ein, ohne ein einziges Mal den Kopf umzuwenden. Er ging langsam die Rue de la Roquette hinab. Der Graf folgte ihm auf hundert Schritte.
Maximilian ging über den Kanal und kehrte auf denBoulevards nach der Rue Meslai zurück. Fünf Minuten nachdem sich die Tür hinter ihn geschlossen hatte, öffnete sie sich wieder für Monte Christo.
Juliebefand sich am Eingang des Gartens und schaute Penelon zu, der im Garten arbeitete.
Ah! Herr Graf von Monte Christo, rief sie mit jener Freude, die jedes Mitglied der Familie Morel zeigte, wenn Monte Christo einenBesuch in der Rue Meslai machte.
Nicht wahr, gnädige Frau, Maximilian ist soeben nach Hause gekommen? fragte der Graf.
Ja, ich glaube, ich habe ihn vorübergehen sehen, erwiderte die junge Frau, doch ichbitte, rufen Sie Emanuel.
Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich muß sogleich zu Maximilian hinaufgehen, ich habe ihm eine Sache von der größten Wichtigkeit mitzuteilen.
Gehen Sie, sagte sie, den Grafen mit ihrem reizenden Lächeln nachschauend, bis er an der Treppe verschwunden war.
Monte Christo hattebald die Stufen der zwei Stockwerke hinter sich, die das Erdgeschoß von Maximilians Wohnung trennten. Auf dem Vorplatze horchte er, es ließ sich kein Geräusch vernehmen. An dieser Glastür fand sich kein Schlüssel; Maximilian hatte sich von innen eingeschlossen, aber man konnte unmöglich durch die Tür sehen, da hinter den Scheibe ein Vorhang von roter Seide angebracht war.
Die Angst des Grafen verriet sich durch eine lebhafte Röte.
Was ist zu tun? murmelte er. Und er dachte einen Augenblick nach. Läuten? fuhr der Graf fort; oh, nein! Oftbeschleunigt der Schall einer Glocke den Entschluß dessen, der sich in Morels augenblicklicher Lagebefindet.
Monte Christo schauerte vom Scheitelbis zu den Zehen, und dabei ihm der Entschluß die Raschheit desBlitzes hatte, so stieß er mit dem Ellenbogen eine Scheibe der Glastür ein, hobden Vorhang auf und sah Morel, wie er, au seinem Schreibtisch sitzend, beim Geräusch der zerbrochenen Scheibe vom Stuhle aufsprang.
Es ist nichts, sagte der Graf, ichbitte tausendmal um Vergebung, mein lieber Freund, ichbin ausgeglitten und habe dabei an das Fenster gestoßen. Da es nun einmal zerbrochen ist, so will ich diesbenutzen, umbei Ihnen einzutreten; bemühen Sie sich nicht!
Der Graf streckte den Arm durch die zerbrochene Scheibe und öffnete die Tür. Morel erhobsich offenbar ärgerlich und ging dem Grafen entgegen, doch weniger um ihn zu empfangen, als um ihm den Weg zu versperren.
Sind Sie verwundet, mein Herr? fragte er.
Ich weiß es nicht. Doch was machten Sie denn da? Sie schrieben?
Es ist wahr, antwortete Morel, ich schrieb; das kommtbei mir manchmal vor, obgleich ich Soldatbin.
Monte Christo machte einige Schritte im Zimmer, Morel mußte den Grafen vorüberlassen, folgte ihm jedoch.
Sie schrieben? versetzte Monte Christo mit einem unheimlich scharfenBlicke, dann schaute er umher.
Ihre Pistolen neben dem Schreibzeug? sagte er, auf die Waffen deutend, die auf dem Schreibtisch lagen.
Ich mache eine Reise, antwortete Maximilian trotzig.
Mein Freund! sagte Monte Christo mit unendlich weicher Stimme, mein lieber Maximilian, keine heftigen Entschlüsse, ichbitte Sie!
Ich, heftige Entschlüsse, versetzte Morel, die Achseln zuckend; ich frage Sie, wieso ist eine Reise ein heftiger Entschluß?
Maximilian, sagte Monte Christo, legen wir die Maskebeiseite, die wir gegenseitig tragen. Maximilian, Sie täuschen mich ebensowenig durch diese erheuchelte Ruhe, wie ich Sie mit dem Anschein oberflächlicher Teilnahme täusche. Morel, meine herzliche Empfindung für Sie sagt es mir, Sie wollen sich töten.
Gut! versetzte Morel schauernd. Woher kommen Sie auf diesen Gedanken, Herr Graf?
Ich sage Ihnen, daß Sie sich töten wollen, fuhr der Graf mit demselben Tone fort, hier ist derBeweis.
Und er trat zu dem Schreibtisch, hobdas weißeBlatt auf, das der junge Mann auf einen angefangenenBrief geworfen hatte, und nahm denBrief.
Morel stürzte auf ihn zu, um das Papier seinen Händen zu entreißen. Doch Monte Christo sah dieseBewegung voraus und kam ihm zuvor, indem er ihnbeim Faustgelenk faßte und zurückhielt.
Sie sehen, daß Sie sich töten wollten, Morel, sagte der Graf, Sie haben es hier selbst geschrieben!
Nun wohl! rief Morel mit einmal von scheinbarer Ruhe zur größten Heftigkeit übergehend; nun wohl, wenn dem so wäre, wenn ichbeschlossen hätte, den Pistolenlauf gegen mich zu richten, wer wollte mich hindern, wer hätte den Mut, mich zu hindern? Wenn ich sage: Alle meine Hoffnungen sind zertrümmert, mein Herz ist gebrochen, mein Leben ist erloschen, es gibt nur noch Trauer und Ekel um mich her! Wenn ich sage: Es ist Mitleid, mich sterben zu lassen, denn wenn man mich nicht sterben läßt, so verliere ich den Verstand und werde wahnsinnig. Sprechen Sie, mein Herr, wenn ich dies sage, und man sieht, daß ich es mit der Angst und den Tränen meines Herzens sage, wird man mir antworten: Du hast unrecht? Wird man mich verhindern, nicht mehr der Unglücklichste zu sein? Sprechen Sie, mein Herr, haben Sie den Mut hierzu?
Ja, Morel, erwiderte Monte Christo mit einer Stimme, deren Ruhe seltsam mit der Ausregung des jungen Mannes im Widerspruche stand; ja, ich habe den Mut.
Sie! rief Morel mit einem wachsenden Ausdrucke von Zorn und Vorwurf; Sie, der mich mit einer törichten Hoffnung kirrte; Sie, der mich mit leeren Versprechungen zurückhielt und einschläferte, während ich durch einen äußersten Entschluß sie vielleicht hätte retten oder wenigstens in meinen Armen sterben sehen können; Sie, der alle Mittel des Geistes, alle Kräfte der Materie zubesitzen vorgibt; Sie, der aus der Erde die Rolle der Vorsehung spielt oder zu spielen sich den Anschein verleiht, und der nicht einmal die Machtbesitzt, einem vergifteten Mädchen ein Gegengift zu reichen! Ah! In der Tat, mein Herr, Sie würden mir Mitleid einflößen, flößten Sie mir nicht Abscheu ein!
Morel…
Ja, Sie haben mir gesagt, wir wollen die Masken ablegen: wohl, Sie sollenbefriedigt werden, ich lege sie ab. Ja, als Sie mir nach dem Kirchhofe folgten, antwortete ich Ihnen noch, denn ichbin gutmütig; als Sie hier eintraten, ließ ich Siebis zu dieser Stelle kommen… Doch da Sie meine Güte mißbrauchen, da Sie mir sogar in meinem Zimmer trotzen, in das ich mich als in mein Grabzurückgezogen habe, da Sie mir eine neue Qualbringen, mir, der alle erschöpft zu haben glaubte, Graf von Monte Christo, mein angeblicher Wohltäter; Graf von Monte Christo, allgemeiner Retter, seien Sie zufrieden, Sie werden Ihren Freund sterben sehen.
Und das Lächeln des Wahnsinns auf den Lippen, stürzte Morel zum zweiten Male nach den Pistolen.
Bleich wie ein Gespenst, aber mitblitzenden Augen streckte Monte Christo die Hand nach den Waffen aus und sagte: Und ich wiederhole Ihnen, Sie werden sich nicht töten!
Hindern Sie mich doch! versetzte Morel mit einem letzten Sprunge, der sich, wie der erste, an dem stählernen Arme des Grafenbrach.
Ich werde Sie hindern.
Doch wer sind Sie denn, daß Sie sich dieses Recht über freie und denkende Geschöpfe anmaßen? rief Maximilian.
Wer ichbin? wiederholte Monte Christo. Hören Sie: Ichbin der einzige Mensch auf der Welt, derberechtigt ist, Ihnen zu sagen: Morel, ich will nicht, daß der Sohn deines Vaters heute stirbt!
Und majestätisch, erhaben, ging Monte Christo mit gekreuzten Armen auf den zitternden jungen Mann zu, der, unwillkürlich durch das erhabene Wesen dieses Menschenbesiegt, einen Schritt zurückwich.
Warum sprechen Sie von meinem Vater? stammelte er, warum mischen Sie die Erinnerung an meinen Vater in das, was mir heutebegegnet?
Weil ich derbin, der deinem Vater eines Tages das Leben gerettet hat, als er sich töten wollte, wie du dich heute töten willst; weil ich der Mannbin, der deiner jungen Schwester dieBörse und dem alten Morel den Pharao geschickt hat; weil ich Edmond Dantesbin, der dich als Kind auf seinem Schoße spielen ließ!
Morel machte wankend, keuchend noch einen Schritt rückwärts, dann verließen ihn seine Kräfte, und er stürzte mit einem gewaltigen Schrei zu den Füßen Monte Christos nieder.
Plötzlich trat in Morels starkem Geiste eine rasche, vollständige Wiedergeburt ein; er stand auf, sprang aus dem Zimmer, eilte auf die Treppe und rief mit der ganzen Macht seiner Stimme: Julie! Julie! Emanuel!
Monte Christo wollte ebenfalls hinauseilen; doch Maximilian hätte sich lieber töten lassen, als daß er von den Angeln der Tür gewichen wäre, die er gegen den Grafen zurückdrückte.
Auf Maximilians Geschrei liefen Julie, Emanuel, Penelon und einige Diener erschrocken herbei.
Morel faßte siebei den Händen, öffnete die Tür wieder und rief mit einer fast erstickten Stimme: Auf die Knie! Auf die Knie! Es ist der Wohltäter, es ist der Retter unseres Vaters! Es ist…
Er wollte sagen: Es ist Edmond Dantes! Doch der Graf hielt ihn zurück.
Julie stürzte auf die Hand des Grafen, Emanuel umfaßte ihn wie einen Schutzgott, Morel fiel zum zweiten Male auf die Knie und schlug mit der Stirn aus denBoden.
Da fühlte der eherne Mann, wie sein Herz sich in seinerBrust erweiterte; die verzehrende Flamme stieg von seiner Kehle in seine Augen, er neigte das Haupt und weinte!
Einige Augenblicke erfüllte das Zimmer ein Zusammenklang edler Herzensergüsse, der denBewohnern des Himmels harmonisch geklungen haben müßte.
Julie hatte sich kaum von ihrer tiefen Erschütterung erholt, als sie hinausstürzte, die Treppe hinabeilte, mit einer kindischen Freude in den Salon lief und die kristallene Kugel aufhob, welche die ihr von dem Unbekannten der Allées de Meillan geschenkteBörsebeschützte.
Während dieser Zeit sprach Emanuel mit erschütterter Stimme zum Grafen: Oh! Herr Graf, wie konnten Sie, der uns so oft von unserem unbekannten Wohltäter sprechen hörte, wie konnten Siebis heute warten, ohne sich uns zu offenbaren? Oh! das ist eine Grausamkeit gegen uns, und ich möchtebeinahe sagen, Herr Graf, gegen Sie selbst.
Hören Sie, mein Freund, erwiderte der Graf, so kann ich Sie nennen, denn ohne es zu vermuten, sind Sie mein Freund seit elf Jahren, die Entdeckung dieses Geheimnisses ist durch ein großes Ereignis herbeigeführt worden, das Sie nicht kennen sollen. Gott ist mein Zeuge, ich wollte es mein ganzes Leben hindurch im Grunde meiner Seelebegraben halten; Ihr Schwager Maximilian hat es mir durch seine Heftigkeit entrissen, die er, ichbin fest überzeugt, bereut.
Dann schaute er Maximilian an, der sich, obgleich auf den Knien verharrend, gegen einen Lehnstuhl gewendet hatte, und fügte ganz leise, Emanuel auf einebezeichnende Weise die Hände drückend, hinzu: Wachen Sie über ihn.
Warum? fragte der junge Mann erstaunt.
Ich kann es Ihnen nicht sagen; doch wachen Sie über ihn.
Jetzt kam Julie wieder herauf; sie hielt die seideneBörse in der Hand, und zwei glänzende, freudige Tränen rollten wie zwei Tropfen Morgentau über ihre Wangen. Das ist die Reliquie, sagte sie; glauben Sie nicht, daß sie mir minder teuer ist, seitdem wir den Retter kennen.
Mein Kind, antwortete Monte Christo errötend, erlauben Sie mir, dieseBörse zurückzunehmen; nun da Sie die Züge meines Gesichtes kennen, will ich in Ihrer Erinnerung nur durch die Zuneigung leben, die Sie mir auf meineBitte gewähren werden.
Oh! nein, nein, ich flehe Sie an, sagte Julie, dieBörse an ihr Herz drückend, denn eines Tages könnten Sie uns verlassen, ja Sie werden uns leider verlassen; nicht wahr?
Sie haben richtig erraten, erwiderte Monte Christo lächelnd; in acht Tagenbin ich von diesem Lande entfernt, wo so viele Leute, die des Himmels Rache verdient hätten, glücklich lebten, während mein Vater vor Hunger und Schmerz starb.
Als er seine nahe Abreise ankündigte, heftete Monte Christo seine Augen auf Morel, und erbemerkte, daß diese Worte ihn keinen Augenblick seinem Tiefsinn zu entziehen vermochten. Er sah ein, daß er einen letzten Kampf mit dem Schmerze seines Freundesbestehen mußte; er nahm daher Julies und Emanuels Hände in die seinigen und sprach mit der sanften Würde eines Vaters: Meine lieben Freunde, ichbitte Euch, laßt mich mit Maximilian allein.
Der Grafblieballein mit Morel, der unbeweglich wie eineBildsäule verharrte.
Laß hören, sagte der Graf, Maximilians Schulter mit seinem glühenden Fingerberührend, wirst du endlich wieder ein Mensch, Maximilian?
Ja, denn ich fange an zu leiden.
Maximilian! Maximilian! sagte der Graf düster, die Gedanken, in welche du dich versenkst, sind eines Christen unwürdig.
Oh! Beruhigen Sie sich, Freund, sagte Morel, das Haupt erhebend und dem Grafen ein Lächeln voll unaussprechlicher Traurigkeit zeigend, ich werde den Tod nicht mehr suchen.
Also keine Waffen, keine Verzweiflung mehr?
Nein, denn ich habe etwasBesseres, um mich von meinem Schmerze zu heilen, als den Lauf einer Pistole oder die Spitze eines Messers.
Armer Narr!.. Was hast du denn?
Ich habe meinen Schmerz, der mich töten wird.
Freund, sagte Monte Christo mit derselben Schwermut, wie Maximilian, höre mich! Eines Tages wollte ich im Augenblick einer Verzweiflung, die der deinigen gleichkam, mich töten wie du, und in eben solcher Verzweiflung wollte sich eines Tages auch dein Vater töten. Wenn man deinem Vater in dem Augenblick, wo er den Pistolenlauf gegen seine Stirn richtete, wenn man mir in dem Augenblick, wo ich von meinemBette dasBrot des Gefangenen wegschob, das ich seit drei Tagen nichtberührt hatte, gesagt hätte: Lebt, es kommt ein Tag, wo ihr glücklich sein und das Leben segnen werdet, wir würden diese Stimme mit der Angst des Zweifels oder mit demBangen des Unglaubens aufgenommen haben, und wie oft hat doch dein Vater, dich umarmend, das Leben gesegnet, wie oft habe ich selbst…
Ah! rief Morel, den Grafen unterbrechend, Sie hatten nichts verloren, als Ihre Freiheit; mein Vater hatte nichts verloren, als sein Vermögen, und ich, ich habe Valentine verloren.
Schau mich an, Morel, sagte Monte Christo, ich habe weder Tränen in den Augen, noch Fieber in den Adern; ich sehe dich jedoch leiden, Maximilian, dich, den ich liebe, wie ich meinen Sohn lieben würde. Nun, sagt dir das nicht, Morel, daß der Schmerz ist wie das Leben, und daß es stets etwas Unbekanntes jenseits gibt? Wenn ich dich zu lebenbitte, wenn ich dir zu lebenbefehle, so geschieht es in der Überzeugung, du werdest mir eines Tages dafür danken, daß ich dir das Leben erhalten habe.
Mein Gott! rief der junge Mann, mein Gott! was sagen Sie mir da, Graf? Nehmen Sie sich in acht! Sie haben vielleicht nie geliebt?
Kind! rief der Graf.
Mit der Liebe, die ich meine, versetzte Morel. Sehen Sie, seitdem ich ein Menschbin, bin ich Soldat, ich habe das neunundzwanzigste Jahr erreicht, ohne zu lieben, denn keines von den Gefühlen, die sichbis dahin in mir regten, verdiente den Namen Liebe. Mit neunundzwanzig Jahren sah ich Valentine; ich liebe sie folglich seitbeinahe zwei Jahren; seit zwei Jahren konnte ich alle Tugenden des Mädchens und der Frau mit meinen Augen in ihrem Herzen wie in einem offenenBuche lesen. Graf, in Valentine lag für mich ein unendliches, unermeßliches, unbekanntes Glück, ein Glück, zu groß, zu vollständig, zu göttlich für diese Welt, da es mir auf Erden nicht vergönnt ist. Graf, damit sage ich Ihnen, daß es ohne Valentine für mich auf der Welt nur Trostlosigkeit und Verzweiflung gibt.
Ich hieß Sie hoffen, Morel, wiederholte der Graf.
Nehmen Sie sich in acht, sage ich Ihnen noch einmal, Sie suchen mich zu überzeugen, und wenn Sie mich überzeugen, machen Sie, daß ich den Verstand verliere, denn Sie lassen mich glauben, ich könne Valentine wiedersehen.
Der Graf lächelte.
Mein Freund, mein Vater! rief Morel in höchsterBegeisterung! Nehmen Sie sich in acht! sage ich Ihnen zum dritten Male, denn die Herrschaft, die Sie über mich gewinnen, erschreckt mich; wägen Sie den Sinn Ihrer Worte ab, denn meine Augenbeleben sich, mein Herz entzündet sich wieder, es wird neugeboren; nehmen Sie sich in acht, denn Sie lassen mich an übernatürliche Dinge glauben. Ich würde gehorchen, wenn Sie mich den Stein von dem Grabe, das die Tochter Jairibedeckt, aufheben hießen; ich würde auf den Wellen gehen, wenn Sie mich mit einem Zeichen der Hand auf den Wellen gehen hießen.
Hoffe, mein Freund, wiederholte der Graf.
Ah! rief Morel, von der ganzen Höhe seinerBegeisterung in den Abgrund seiner Traurigkeit zurückfallend; ah! Sie spotten meiner. Sie machen es wie die guten Mütter, oder vielmehr wie die selbstsüchtigen Mütter, die mit honigsüßen Worten den Schmerz ihres Kindes stillen, dessen Geschrei sie plagt. Nein, mein Freund, nein, ich hatte unrecht, Ihnen zu sagen, Sic mögen sich in acht nehmen; nein, befürchten Sie nichts, ich werde meinen Schmerz so sorgfältig in der Tiefe meinerBrustbewahren, ich werde ihn so geheim halten, daß Sie nicht einmal mehr Mitleid zu habenbrauchen. Gottbefohlen, mein Freund, Gottbefohlen.
Im Gegenteil, sagte der Graf, von dieser Stunde an, Maximilian, wirst dubei mir und mit mir leben, du wirst mich nicht mehr verlassen, und in acht Tagen haben wir Frankreich hinter uns.
Und Sie heißen mich immer noch hoffen?
Ich heiße dich hoffen, weil ich ein Mittel kenne, das dich heilen wird.
Graf, Sie machen mich, wenn es möglich ist, noch trauriger. Sie glauben, der Schlag, der mich trifft, hat nur einen alltäglichen Schmerzbewirkt, und wollen mich durch ein alltägliches Mittel, durch Reisen, heilen.
Was soll ich dir sagen? versetzte der Graf. Habe Zutrauen zu meinen Versprechungen, mach' den Versuch!
Graf, Sie verlängern nur meinen Todeskampf.
Schwaches Herz, du hast also nicht die Kraft, deinem Freunde einige Tage zur Probe zu geben! Weißt du, was der Graf von Monte Christo zu vollführen fähig ist? Weißt du, daß er genug Glauben an Gott hat, um Wunder von dem zu verlangen, der gesagt hat, mit dem Glauben könne der MenschBerge versetzen? Nun, dieses Wunder, auf das ich hoffe, erwarte es, oder…
Oder?… erwiderte Morel.
Oder nimm dich in acht, Morel, ich werde dich einen Undankbaren nennen.
Haben Sie Mitleid mit mir, Graf!
Ich habe so sehr Mitleid mit dir, Maximilian, höre mich wohl, daß ich dich, wenn ich dich nicht in einem Monat, auf den Tag, auf die Stunde, heile, selbst vor die geladene Pistole und vor einenBecher des sichersten italienischen Giftes stelle, das rascher wirkt, als das, welches Valentine getrunken hat.
Sie versprechen mirbei Ihrer Ehre, wenn ich in einem Monat nicht getröstetbin, lassen Sie mich frei über mein Leben schalten, und was ich auch tun mag, Sie werden mich keinen Undankbaren nennen?
In einem Monat findest du auf dem Tische, an dem wirbeide sitzen werden, gute Waffen und, wenn du dann noch willst, einen sanften Tod. Doch dagegen versprichst du mir, bis dahin zu warten und zu leben?
Oh! ich schwöre Ihnen! rief Morel.
Monte Christo zog den jungen Mann an sein Herz und hielt ihn lange umfangen.
Und nun, sagte er, wohnst du von heute anbei mir; du nimmst Haydees Zimmer, und meine Tochter wird durch meinen Sohn ersetzt.
Haydee! Was ist aus Haydee geworden?
Sie ist gestern nacht abgereist. — Um Sie zu verlassen?
Um mich zu erwarten… Halte dichbereit, in der Rue des Champs‑Elysees zu mir zu kommen, und laß mich von hier weggehen, ohne daß man mich sieht.
Maximilian neigte das Haupt und gehorchte wie ein Kind.
Die Teilung.
In dem Hause der Rue Saint‑Germain‑des‑Prés, das Albert von Morcerf für seine Mutter und sich gewählt hatte, war der erste Stock, bestehend ans einer kleinen Wohnung, an eine sehr geheimnisvolle Person vermietet.
Diese Person war ein Mann, dessen Gesicht der Portier selbst nie hatte sehen können; denn stets steckte sein Kinn, wenn er kam oder ging, in einer hohen Halsbinde. Gegen alles Herkommen wurde dieser Hausbewohner von niemandbespäht, und das Gerücht, sein Inkognito verberge eine sehr hochgestellte Person, welche» gar lange Arme «habe, verschaffte seiner geheimnisvollen Erscheinung großen Respekt. Er traf fast immer gegen vier Uhr in seiner Wohnung ein, in der er nie eine Nacht zubrachte.
Zwanzig Minuten später hielt ein Wagen vor dem Hotel; eine schwarz gekleidete, stets aber in einen großen Schleier gehüllte Frau stieg aus, schwebte wie ein Schatten vor der Loge vorüber und ging rasch die Treppe hinauf. Im ersten Stocke kratzte sie auf einebesondere Weise an einer Tür; diese öffnete sich und verschloß sich dann wieder hermetisch.
Beim Verlassen des Hauses wurde ebenso verfahren. Die Unbekannte ging, stets verschleiert, zuerst hinaus und stieg wieder in ihren Wagen, derbald an dem einen Ende der Straße, bald an dem andern verschwand; zwanzig Minuten nachher entfernte sich auch der Unbekannte.
An dem Tage nach dem, wo der Graf von Monte Christo Danglars einenBesuch gemacht hatte, und Valentinebeerdigt worden war, erschien der geheimnisvolleBewohnerbereits gegen zehn Uhr vormittags.
Kurz darauf fuhr ein Fiaker vor, und die verschleierte Dame stieg rasch die Treppe hinauf. Die Tür öffnete sich und schloß sich. Doch ehe sie ganz geschlossen war, rief die Dame: Oh, Lucien! oh, mein Freund!
Und so erfuhr der Portier, der diesen Ausruf gehört hatte, zum ersten Male, daß sein Mietsmann Lucien hieß.
Nun! Was gibt es denn, teure Freundin? fragte Lucien, sprechen Sie geschwind.
Mein Freund, kann ich auf Sie zählen?
Gewiß, das ist Ihnenbekannt, doch was gibt es? Ich war ganzbestürzt über IhrBillett von heute morgen. Diese Hast, diese unordentliche Schrift…beruhigen Sie mich, oder erschrecken Sie mich ganz und gar!
Lucien, ein großes Ereignis! sagte die Dame, einen fragendenBlick auf Lucien heftend; Herr Danglars ist heute nacht abgereist.
Herr Danglars abgereist! Und wohin?
Ich weiß es nicht.
Wie! Sie wissen es nicht? Er ist also abgereist, um nicht mehr zurückzukommen?
Allerdings! Um zehn Uhr abendsbrachten ihn seine Pferde an dieBarrière von Charenton; hier sagte er zu seinem Kutscher, er fahre nach Fontainebleau.
Nun! Was sagten Sie dazu?
Warten Sie, mein Freund. Er ließ mir einenBrief zurück. Da lesen Sie.
DieBaronin zog aus ihrer Tasche einenBrief undbot ihn Debray, der einen Augenblick zögerte, ehe er ihn las.
Das Schreiben lautete:
Madame und sehr teure Gemahlin!
Wenn Sie diesenBrief empfangen, haben Sie keinen Gatten mehr! Oh! erschrecken Sie darüber nicht zu sehr; Sie haben keinen Gatten mehr, wie Sie keine Tochter mehr haben; ich werde nämlich auf einer von den dreißig Straßen sein, die aus Frankreich führen.
Ichbin Ihnen eine Erläuterung schuldig: Eine Zahlung von fünf Millionen kam mir heute früh unversehens, ich habe sie ausgeführt; eine andere von derselben Summe sollte fast unmittelbar daraus erfolgen; ich vertage sie auf morgen und reise heute ab, um dieses Morgen zu vermeiden, das mir unerträglich wäre.
Nicht wahr, Siebegreifen das, Madame und sehr kostbare Gemahlin? Ich sage: Siebegreifen das, weil Sie ebensogut wie ich meine Angelegenheiten kennen, Sie kennen sie sogar nochbesser als ich, denn wenn es sich darum handelte, anzugeben, wohin eine gute Hälfte meines jüngst noch so schönen Vermögens gekommen ist, so vermöchte ich dies nicht, während Sie im Gegenteil, davonbin ich fest überzeugt, vollständig zu antworten wüßten.
Haben Sie sich über die Schnelligkeit meines Sturzes gewundert, Madame? Waren Sie geblendet durch das weißglühende Schmelzen meiner Goldstangen? Ich meinerseits gestehe, daß ich nur das Feuer dabei gesehen habe; wir wollen hoffen, daß Sie etwas Gold in der Asche fanden.
Mit dieser tröstlichen Hoffnung entferne ich mich, Madame und sehr kluge Gemahlin, ohne daß mir mein Gewissen den geringsten Vorwurf darüber macht, daß ich Sie verlasse; esbleiben Ihnen Freunde, die fragliche Asche und, um Ihr Glück vollzumachen, die Freiheit, die ich Ihnen wiederzugeben michbeeile.
Es ist indessen der Augenblick gekommenen, Madame, hier ein Wort vertraulicher Erklärung einfließen zu lassen. Solange ich hoffte, Sie arbeiteten für die Wohlfahrt unseres Hauses, für das Vermögen Ihrer Tochter, machte ich philosophisch die Augen zu; da Sie aber aus diesem Hause eine große Ruine gemacht haben, so will ich nicht als Grundlage für das Vermögen eines andern dienen. Ich habe Sie reich, aber wenig geehrt zu mir genommen. Verzeihen Sie mir, daß ich so offenherzig mit Ihnen spreche, da ich aber ohne Zweifel nur für unsbeide spreche, sehe ich nicht ein, warum ich die Worte unter einer Schminke verbergen sollte… Ich habe unser Vermögen vermehrt, und es nahm fünfzehn Jahre lang zu, bis zu dem Augenblick, wo unbekannte und für mich noch unbegreifliche Katastrophen es packten und erdrosselten, ohne daß ich, das darf ich wohl sagen, die geringste Schuld daran habe. Sie, Madame, haben nur für Vermehrung des Ihrigen gearbeitet, was Ihnen gelungen ist, davonbin ich überzeugt. Ich lasse Sie also, wie ich Sie genommen habe, reich, aber wenig ehrenwert, zurück.
Leben Sie wohl. Von heute an gedenke ich auch für meine Rechnung zu arbeiten. Glauben Sie mir, daß ich Ihnen sehr dankbar für dasBeispielbin, das Sie mir gegeben haben, und das ichbefolgen werde.
Ihr
sehr ergebener GatteBaron Danglars.
DieBaronin folgte während des Lesens Debray mit den Augen; sie sah den jungen Mann, trotz seiner großen Selbstbeherrschung, wiederholt die Farbe wechseln.
Als er geendet hatte, faltete er das Papier langsam zusammen und nahm eine nachdenkliche Haltung an.
Nun? fragte Madame Danglars mit einer leichtbegreiflichen Angst, welchen Gedanken flößt Ihnen dieserBrief ein?
Das ist ganz einfach; er flößt mir den Gedanken ein, daß Herr Danglars mit einem Verdacht abgereist ist. Sicher; doch ist das alles, was Sie mir zu sagen haben? Ichbegreife nicht.
Er ist abgereist, um nie wiederzukommen!
Oh! Glauben Sie das nicht! rief Debray.
Nein, sage ich Ihnen, er wird nicht wiederkommen; ich kenne ihn, er ist ein unerschütterlicher Mann in allen Entschließungen, die sein Interesse erheischt. Hätte er mich zu etwas nütze geglaubt, so würde er mich mitgenommen haben; er läßt mich hier, weil unsere Trennung seinen Plänen dienlich sein kann. Sie ist also unwiderruflich, und ichbin für immer frei, fügte Madame Danglars mit demselben fragenden Ausdrucke hinzu.
Doch statt zu antworten, ließ sie Debray in diesem angstvollen, erwartungsvollen Zustand verharren.
Wie! sagte sie endlich, Sie antworten mir nicht?
Ich habe Sie nur eins zu fragen: Was gedenken Sie zu tun?
Das wollte ich Sie fragen, erwiderte dieBaronin mit pochendem Herzen, ich verlange einen Rat von Ihnen.
Wenn Sie einen Rat wollen, entgegnete der junge Mann kalt, so rate ich Ihnen, zu reisen. — Sie sind, wie Herr Danglars gesagt hat, reich und frei. Eine Abwesenheit von Paris wird, scheint mir, nach dem doppelten Lärm über die vereitelte Heirat Fräulein Eugenies und das Verschwinden Herrn Danglars', durchaus notwendig sein. Es ist wichtig, daß man Sie allgemein für verlassen und arm hält; denn man würde der Frau desBankerottierers ihren Reichtum nicht verzeihen. Darum entfernen Sie sich von Ihrem Hotel, nehmen Sie Ihre Juwelen nicht mit und leisten auf Ihr Wittum Verzicht, und alle Welt wird Ihre Uneigennützigkeit rühmen und Ihr Lobsingen. Man weiß dann, daß Sie verlassen sind, und hält Sie für arm, denn ich allein kenne Ihre finanzielle Lage undbinbereit, Ihnen als redlicher Partner Rechenschaft abzulegen.
DieBaronin hatte, bleich und niedergeschmettert, diese Rede mit um so mehr Schrecken und Verzweiflung angehört, als Debray sichbemühte, völlig ruhig und gleichgültig zu erscheinen..
Verlassen? wiederholte sie, oh! sehr verlassen… Ja, Sie haben recht, mein Herr; niemand wird meine Verlassenheitbezweifeln. Das waren die einzigen Worte, welche die stolze und so heftig verliebte Frau hervorbrachte.
Aber reich, sehr reich sogar, fuhr Debray fort, indem er einige Papiere aus seinem Portefeuille zog und auf dem Tische ausbreitete.
Nurbemüht, die Schläge ihres Herzens zu ersticken und die Tränen zurückzuhalten, die am Rande ihrer Augenlider hervorbrechen wollten, ließ ihn Frau Danglars gewähren.
Endlich aber gewann das Gefühl der Würdebei ihr die Oberhand; wenn es ihr nicht gelang, ihr Herz zubewältigen, so gelang es ihr wenigstens, die Tränen zurückzuhalten.
Gnädige Frau, sagte Debray, wir sind ungefähr seit sechs Monaten assoziiert. Sie haben eine Einlage von 100 000 Franken gemacht. Im Monat April dieses Jahres hat unsere Assoziation stattgefunden. Im Maibegannen unsere Operationen, und wir gewannen sofort 450 000 Franken. Im Junibelief sich der Nutzen auf 900 000 Franken. Im Juli kamen 1 700 000 Franken dazu; Sie wissen, das ist der Monat der spanischenBons. Am Anfang des Monats August verloren wir 300 000 Franken; doch am 15. erholten wir uns wieder, und am Ende des Monats waren wir entschädigt, denn unsere Rechnungen sind gestern von mir abgeschlossen worden und geben ein Aktivum von 2 400 000 Franken, das heißt, von 1 200 000 Franken für jedes von uns. Ichbin nun vorgestern so vorsichtig gewesen, Ihr Geld flüssig zu machen; Sie sehen, es ist noch nicht lange her, und es sieht aus, als hätte ich vermutet, ich würdebald Rechenschaft abzulegen haben. Ihr Geld ist hier, halbinBanknoten, halbin Anweisungen.
Frau Danglars nahm mechanisch die Anweisungen und die zusammengebundenenBanknoten mit trockenen Augen, aber mit einer von verhaltenem Schluchzen schwellendenBrust und erwartetebleich und stumm ein Wort von Debray, das sie trösten sollte. Doch sie wartete vergebens.
Nun haben Sie ein herrliches Dasein, gnädige Fran, sagte Debray, 60 000 Livres Renten, was für eine Frau, die wenigstens ein Jahr lang keinen Haushalt führen wird, ungeheuer ist. Sie können nun allen Ihren Phantasien ungescheut nachgeben.
Debray sagte dies alles mit der gleichgültigsten Miene von der Welt, machte dann eine tiefe Verbeugung und verfiel hierauf in einbezeichnendes Schweigen. DiesesBenehmen erzürnte und enttäuschte seine Geliebte so, daß sie sich hoch aufrichtete, die Tür öffnete und, ohne ihren Partner eines letzten Grußes zu würdigen, zur Treppe eilte.
Bah! sagte Debray, als sie fort war, was wird sie nun tun? Sie wird ruhig in ihrem Hausebleiben, Romane lesen und Lanzknecht spielen, da sie nicht mehr an derBörse spielen kann.
Er nahm sein Notizbuch, strich die Summen aus, die erbezahlt hatte, und sagte: Esbleiben mir 1 060 000 Franken. Wie schade, daß Fräulein von Villefort gestorben ist! Sie hätte in jederBeziehung meinen Wünschen entsprochen, und ich würde sie geheiratet haben.
Seiner Gewohnheit gemäß wartete er phlegmatisch, bis Frau Danglars zwanzig Minuten weggegangen war, und entfernte sich dann ebenfalls.
Unter dem Zimmer, wo Debray mit Frau Danglars zwei Millionen geteilt hatte, war ein anderes Zimmer durch einen merkwürdigen Zufall ebenfalls von Personen unsererBekanntschaftbewohnt; es waren dies Mercedes und Albert.
Mercedes hatte sich seit ein paar Tagen sehr verändert… nicht als obsie die Armutbedrückt hätte, sie hatte sich verändert, weil ihr Auge nicht mehr glänzte, weil ihr Mund nicht mehr lächelte, weil einebeständige Verlegenheit das rasche Wort, das einst ihr stetsbereiter Geist ihr eingab, auf ihren Lippen zurückhielt.
Albert aber fühlte sichbeunruhigt, unbehaglich undbeengt durch den ihm noch anklebenden Luxus, der ihn verhinderte, seiner gegenwärtigen Lage zu entsprechen; er wollte ohne Handschuhe ausgehen und fand seine Hände zu weiß dazu; er wollte zu Fuß gehen und fand seine Stiefel zu fein.
Diesebeiden so edeln und verständigen, durch dasBand der mütterlichen und kindlichen Liebe unauflöslich verbundenen Seelen verstanden sich, ohne viele Worte zu machen, und scheuten sich nicht, ohne Umschweife miteinander von den materiellen Lebensbedürfnissen zu sprechen.
Albert konnte am Ende zu Mercedes, ohne daß sie erbleichte, sagen: Meine Mutter, wir haben kein Geld mehr.
Der Winter nahte heran; Mercedes hatte in dem kahlen und nun auch kühlen Zimmer kein Feuer, sie, für die einst ein Ofen mit tausend Röhren das ganze Haus von den Vorzimmernbis zu denBoudoirs erwärmte; sie hatte nicht einmal ein armseligesBlümchen, sie, deren Zimmer mit den kostbarsten Pflanzen gefüllt gewesen war.
Aber sie hatte ihren Sohn.
Meine Mutter, sagte Albert in demselben Augenblick, wo Frau Danglars die Treppe hinabging, wir wollen, wenn es Ihnen recht ist, einmal alle unsere Reichtümer zählen; ich muß die ganze Summe wissen, um meine Pläne aufzubauen.
Die Summe ist Null, erwiderte Mercedes mit schmerzlichem Lächeln.
Oh nein! Einmal haben wir 3000 Franken, und ichbehaupte, daß ich uns mit diesen 3000 Franken ein anbetungswürdiges Leben verschaffen werde.
Kind! seufzte Mercedes.
Ach! gute Mutter, sagte der junge Mann, ich habe Sie leider Geld genug gekostet, um dessen Wert zu kennen; hören Sie, 3000 Franken, das ist ungeheuer, und ichbaue auf diese Summe eine wunderbare, dauerhafte Zukunft.
Du sagst das, mein Freund, entgegnete die arme Mutter; doch vor allem, nehmen wir diese 3000 Franken an?
Mir scheint, das ist abgemacht, erwiderte Albert mit festem Tone; wir nehmen sie um so mehr an, als wir sie noch nicht haben, denn sie sind, wie Sie wissen, im Garten des kleinen Häuschens in den Allées de Meillan in Marseille vergraben.
Mit 200 Franken, sagte Albert, kommen wirbeide nach Marseille. Diese 200 Franken sind hier und noch weitere 200. Ich habe meine Uhr und meine Kette verkauft.
Doch sind wir hier im Hause etwas schuldig?
Dreißig Franken, ichbezahle sie von dem Geld. Doch das ist noch nicht alles, was sagen Sie hierzu, meine Mutter? Albert zog aus einem kleinen Notizbuch mit goldenem Schlosse eine Tausendfrankennote.
Was ist das? fragte Mercedes.
1000 Franken, meine Mutter.
Woher hast du diese tausend Franken?
Hören Sie undbeunruhigen Sie sich nicht, gute Mutter!
Albert stand auf, küßte seine Mutter wiederholt und hielt nur inne, um ihr ins Gesicht zu schauen.
Sie können sich gar nicht denken, meine Mutter, wie schön ich Sie finde! sagte der junge Mann mit dem tiefen Gefühle kindlicher Liebe; Sie sind in der Tat die schönste, wie Sie die edelste aller Frauen sind, die ich je gesehen habe.
Teures Kind! sagte Mercedes, vergebensbemüht, eine Träne zurückzuhalten.
In der Tat, Sie mußten nur noch unglücklich werden, damit sich meine Liebe in Anbetung verwandle.
Ichbin nicht unglücklich, solange ich meinen Sohn habe.
Ganz richtig; doch hier fängt die Prüfung an, meine Mutter! Sie wissen, was verabredet ist?
Ist denn etwas zwischen uns verabredet?
Ja, daß Sie in Marseille wohnen, und daß ich nach Afrika abreise, wo ich mir einen neuen Namen verdienen will.
Mercedes stieß einen Seufzer aus.
Nun, meine Mutter, seit gesternbin ichbei den Spahis eingereiht, fügte der junge Mann mit niedergeschlagenen Augen hinzu. Ich glaubte, mein Körper gehöre mir und ich könnte ihn verkaufen; seit gesternbin ich Stellvertreter von irgend jemand. Ich habe mich verkauft, wie man sagt, und um eine größere Summe, als ich wert zu sein glaubte, nämlich um 2000 Franken.
Also diese 1000 Franken? fragte Mercedesbebend.
Sind die Hälfte der Summe, meine Mutter, die andere Hälfte kommt in einem Jahre.
Mercedes schlug die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke zum Himmel auf, und Tränen strömten unter der inneren Aufregung über ihre Wangen.
Der Preis seinesBlutes! murmelte sie.
Ja, wenn ich getötet werde, erwiderte Albert. Aber ich versichere Ihnen, gute Mutter, daß ich im Gegenteil die Absicht habe, meine Haut grausam zu verteidigen; ich habe nie so viel Lust zu leben in mir gefühlt, wie gegenwärtig.
Mein Gott! mein Gott! rief Mercedes.
Überdies, warum soll ich getötet werden, meine Mutter? Ist Morel getötet worden? Bedenken Sie doch, welche Freude, wenn Sie mich mit einer gestickten Uniform zurückkommen sehen! Ich erkläre Ihnen, daß ich herrlich darin auszusehen hoffe und dieses Regiment aus Eitelkeit gewählt habe.
Mercedes seufzte, während sie zu lächeln versuchte; die Mutterbegriff, daß sie ihr Kind nicht dürfe die ganze Last des Opfers tragen lassen.
Sie sehen also, meine Mutter, fuhr Albert fort, es sindbereits mehr als 4000 Franken für Sie gesichert; mit dieser Summe werden Sie zwei volle Jahre leben.
Glaubst du? versetzte Mercedes.
Diese Worte entschlüpften der Gräfin mit dem Ausdruck so tiefen Schmerzes, daß ihr wahrer Sinn Albert nicht entging; er fühlte, wie sein Herz sich zusammenschnürte, nahm die Hand der Mutter, drückte sie zärtlich und sagte: Ja, Sie werden leben.
Ich werde leben, rief Mercedes, aber nicht wahr, du wirst nicht abreisen?
Meine Mutter, ich werde reisen, sagte Albert mit ruhiger, fester Stimme; Sie lieben mich zu sehr, um mich müßig und unnützbei sich zu lassen; überdies habe ich unterzeichnet.
So tu' nach deinem Willen, mein Sohn.
Nicht nach meinem Willen, meine Mutter, sondern nach den Geboten der Vernunft und der Notwendigkeit. Nicht wahr, wir sind zwei verzweifelte Geschöpfe? Was ist heute das Leben für Sie? Nichts. Was ist das Leben für mich? Oh! sehr wenig ohne Sie, meine Mutter, das glauben Sie mir; denn ohne Sie, das schwöre ich Ihnen, hätte dieses Leben an dem Tage aufgehört, wo ich an meinem Vater zweifelte und seinen Namen verleugnete! Ich lebe, wenn Sie mir versprechen, noch Hoffnung zu hegen; überlassen Sie mir die Sorge für Ihr zukünftiges Glück, so verdoppeln Sie meine Kräfte. Ich werde dort den Gouverneur von Algerien aufsuchen, der ein redliches Soldatenherz ist, ich erzähle ihm meine traurige Geschichte, ichbitte ihn, von Zeit zu Zeit die Augen dahin zu wenden, wo ich sein werde, und wenn er mir Wort hält, wenn er mich handeln sieht, sobin ich vor sechs Monaten Offizier oder tot. Bin ich Offizier, so ist Ihr Schicksal gesichert, meine Mutter, denn ich habe Geld für Sie und für mich und überdies einen neuen Namen, auf den wirbeide stolz sein können, denn es wird Ihr Name sein. Werde ich getötet… nun wohl! Werde ich getötet, liebe Mutter, so sterben Sie, wenn Sie so wollen, und dann hat unser Unglück sein Ziel gerade in seinem Übermaße gefunden.
Es ist gut, sagte Mercedes mit ihrem edlen, beredtenBlicke; du hast recht, mein Sohn; beweisen wir gewissen Leuten, die unsbeobachten, daß wir wenigstens desBeklagens würdig sind!
Keine traurigen Gedanken, teure Mutter, rief der junge Mann; ich schwöre Ihnen, daß wir glücklich sind, oder wenigstens glücklich werden können. Einmal im Dienste, bin ich reich; einmal in dem Marseiller Hause, sind Sie ruhig. Versuchen wir es, ichbitte Sie, meine Mutter.
Ja, versuchen wir es, mein Sohn, denn du sollst leben, du sollst glücklich sein.
Unsere Teilung ist also gemacht, fügte der junge Mann hinzu, indem er sich den Anschein gab, als fühle er sich ganz leicht. Ich denke, wir können noch heute reisen.
Gut, es sei, reisen wir! sagte Mercedes, sich in ihren einzigen Schal hüllend.
Albert sammelte hastig seine Papiere, klingelte, um die dreißig Franken zubezahlen, die er dem Hausmeister schuldig war, bot seiner Mutter den Arm und stieg die Treppe hinab.
Es ging ein Mann vor ihnen; als dieser das Streifen eines seidenen Kleides an dem Geländer hörte, wandte er sich um.
Debray! murmelte Albert.
Sie, Morcerf! erwiderte der Sekretär des Ministers.
Die Neugierde trugbei Debray den Sieg über das Verlangen, sein Inkognito zubewahren, davon; überdies sah er sich erkannt. Es war doch interessant, in diesem unbekannten Hause den jungen Mann wiederzufinden, dessen unglückliches Abenteuer ein so großes Aufsehen in Paris erregt hatte.
Morcerf, wiederholte Debray. Als er dann im Halbdunkel die Gestalt und den schwarzen Schleier der Frau von Morcerfbemerkte, fügte er lächelnd hinzu: Ah! verzeihen Sie, ich entferne mich, Albert.
Albertbegriff Debrays Gedanken und sagte, sich zu Mercedes wendend: Meine Mutter, dies ist Herr Debray, Sekretär des Ministers des Innern, ein ehemaliger Freund von mir.
Wie! ehemalig! stammelte Debray; was wollen Sie damit sagen?
Ich sage dies, Herr Debray, weil ich heute keine Freunde mehr habe und keine mehr haben soll. Ich danke Ihnen, daß Sie so gütig waren, mich zu erkennen.
Debray stieg zwei Stufen zurück, gabAlbert einen kräftigen Händedruck und sagte mit aller Rührung, deren er fähig war: Glauben Sie, lieber Albert, daß ich innigen Anteil an Ihrem Unglück genommen habe, und daß Sie in jederBeziehung über mich verfügen können.
Ich danke, mein Herr, erwiderte Albert lächelnd; doch mitten in unserem Unglück sind wir reich genug geblieben, um zu niemand unsere Zuflucht nehmen zu müssen; wir verlassen Paris, und esbleiben uns nachBezahlung unserer Reise noch 5000 Franken.
Schamröte übergoß Debrays Stirn, der eine Million in seinem Portefeuille trug. Trotz seiner geringen poetischen Veranlagung konnte er nicht umhin, Vergleiche darüber anzustellen, daß dasselbe Haus noch vor wenigen Augenblicken zwei Frauen enthielt, von denen die eine mit 1 500 000 Franken doch arm wegging, während die andere, erhaben in ihrem Unglück, mit wenigen Pfennigen reich war.
DieseBetrachtung störte ihn in seinen Höflichkeitsphrasen; er stammelte ein paar allgemeine Worte und ging rasch die Treppe hinab.
An diesem Tage hatten die ihm untergeordneten Schreiber im Ministerium viel unter seiner verdrießlichen Laune zu leiden. Doch am Abend kaufte er sich ein schönes, auf demBoulevard de l'a Madeleine liegendes Haus.
Am andern Tage, um fünf Uhr abends, stieg Frau von Morcerf, nachdem sie ihren Sohn zärtlich umarmt hatte und zärtlich von ihm umarmt worden war, in den Wagen der Schnellpost.
Ein Mann stand verborgen im Hofe der Messagerie Laffitte hinter einem von den gewölbten Fenstern, die jenesBüro überragten; er sah Mercedes in den Wagen steigen, er sah die Post wegfahren, er sah Albert sich entfernen.
Dann fuhr er mit der Hand über seine vom Zweifel durchfurchte Stirn und sagte: Ach! Wie vermag ich diesenbeiden Unschuldigen das Glück zurückzugeben, das ich ihnen genommen habe?
Der Löwengraben.
Eine Abteilung der Force, welche die gefährlichsten Gefangenen enthielt, hieß die Cour de Saint‑Bernand. Die Gefangenen nannten sie aber in ihrer kräftigen Sprache Löwengraben, ohne Zweifel, weil sie Zähne haben, die häufig in die Gitterstangen und zuweilen auch die Wächterbeißen.
Es ist ein Gefängnis im Gefängnis, die Mauern haben die doppelte Dicke. Jeden Tag untersucht ein Kerkerknecht sorgfältig die massiven Gitter, und an den herkulischen Gestalten, an den kalten, scharfenBlicken der Wächter erkennt man, daß diese in Anbetracht der Gefährlichkeit der Insassen sorgfältig ausgewählt sind.
Der zu dieser Abteilung gehörige Grasplatz ist von ungeheuren Mauern umgeben, über welche die Sonne nur schräg hereinfällt. Hier irren von der Stunde des Aufstehens an sorgenvoll, abgemagert, bleich wie Schatten, die Menschen umher, welche die Gerechtigkeit unter dem Messer gebeugt hält, das sie für sie schärft. Man sieht sie an der Mauer lehnen, die am meisten Wärme einzieht und zurückhält. Hier verweilen sie, zwei und zwei plaudernd, öfter noch allein, das Auge unablässig auf die Tür geheftet, die sich öffnet, um einen von denBewohnern dieses finsteren Aufenthaltes für immer abzurufen, oder um in den Schlund eine neue aus dem Schmelztigel der Gesellschaft ausgeworfene Schlacke zu speien.
Diese Abteilung hat ihr eigenes Sprechzimmer; es ist ein langes Viereck, durch zwei etwa drei Fuß voneinander parallel laufende Gitter in zwei Teile geteilt, so daß derBesuch dem Gefangenen nicht die Hand geben oder ihm etwas zuschieben kann. Dieses Sprechzimmer ist düster, feucht und in jeder Hinsicht fürchterlich.
So gräßlich aber auch der Ort ist, so ist er doch ein Paradies für diese Menschen, deren Tage gezählt sind; denn selten verläßt man den Löwengraben, um anderswohin zu gehen, als aufs Schafott, in dasBagno oder in das Zellengefängnis.
In dembeschriebenen feuchtkalten Hofe ging, die Hände in den Rocktaschen, ein junger Mensch auf und ab, der von denBewohnern des Grabens mit großer Neugierdebetrachtet wurde.
Nach dem Schnitte seiner Kleider hätte man ihn für einen feinen Herrn halten können, wären diese Kleider nicht zerfetzt gewesen. Sie sahen indessen auch nicht abgetragen aus; fein und weich an den unberührten Stellen, nahm das Tuch unter der streichelnden Hand des Gefangenen leicht wieder seinen Glanz an. Er wandte dieselbe Sorgfalt an, um seinBattisthemd in Ordnung zubringen, und fuhr über seine lackierten Stiefel mit dein Zipfel seines Taschentuches, worauf Anfangsbuchstaben mit einer heraldischen Krone gestickt waren.
Einige Kostgänger des Löwengrabens sahen mit auffallendem Interesse der Toilette des Gefangenen zu.
Sieh da, der Prinz macht sich schön, sagte einer.
Er ist von Natur sehr schön, bemerkte ein anderer, und wenn er nur einen Kamm und Pomade hätte, so würde er alle die Herren mit den weißen Handschuhen verdunkeln.
Sein Kleid muß sehr neu gewesen sein, und seine Stiefel glänzen gar hübsch. Es ist schmeichelhaft für uns, daß wir so stattliche Kollegen haben;… und diese Spitzbuben von Gendarmen sind gemeineBurschen, daß sie einen solchen Putz zersetzt haben!
Es scheint, das ist einBerühmter, sagte ein dritter, er hat alles getan… und zwar in der großen Art… er kommt noch so jung hier an! Oh, das lob' ich mir!
Der Gegenstand dieser gemeinenBewunderung schien dieses LobmitBehagen einzuschlürfen. Als seine Toilettebeendigt war, näherte er sich einer Tür, an der ein Gefangenwärter lehnte.
Hören Sie, mein Herr, sagte er zu diesem, leihen Sie mir zwanzig Franken, Siebekommen siebald wieder; bei mir laufen Sie keine Gefahr. Bedenken Sie, daß ich Verwandte habe, die mehr Millionenbesitzen, als Sie Franken. Geben Sie mir zwanzig Franken, ichbitte Sie, damit ich mir einen Schlafrock laufen kann. Ich leide furchtbar, daß ich immer in Frack und Stiefeln sein muß… Und welch ein Frack für einen Prinzen Cavalcanti!
Der Wächter drehte ihm den Rücken zu und zuckte die Achseln.
Gehen Sie, sagte Andrea, Sie sind ein Mensch, der kein Herz im Leibe hat, und ich werde Sie um Ihren Platzbringen.
Jetzt erst drehte sich der Gefangenwärter um undbrach in ein schallendes Gelächter aus.
Nun näherten sich die Gefangenen und machten einen Kreis.
Ich sage Ihnen, fuhr Andrea fort, daß ich mir mit dieser elenden Summe einen Rock und ein Zimmer verschaffen kann, um auf anständige Weise den hohenBesuch zu empfangen, den ich jeden Tag erwarte.
Er hat recht! Er hat recht! riefen die Gefangenen; bei Gott, man sieht, daß er ein ganzer Mann ist.
Nun, so leiht ihr ihm die zwanzig Franken! sagte der Wärter, sich mit seiner kolossalen Schulter an die Wand stützend; seid ihr das nicht einem Kameraden schuldig?
Ichbin nicht der Kamerad dieser Leute, entgegnete stolz der junge Mann; beleidigen Sie mich nicht, Sie haben kein Recht dazu!
Hört ihr ihn? rief der Wärter mit argem Lächeln, erbehandelt euch schön; leiht ihm doch zwanzig Franken!
Die Verbrecher schauten sich mit dumpfem Murren an, und ein Sturm fing an, sich über dem aristokratischen Gefangenen zu sammeln.
Bereits näherten sich die Verbrecher Andrea, und einige riefen: Die Schlappe! Die Schlappe!
Es ist dies eine grausame Operation, wobei ein in Ungnade gefallener Insasse mit Schuhen, die mit Eisenbeschlagen sind, geprügelt wird. Andere schlugen die Anwendung des Aals vor, das heißt, ein mit Sand und Kieselsteinen gefülltes gedrehtes Tuch sollte wie ein Dreschflegel zurBearbeitung von Schultern und Kopf des Missetäters dienen. Wieder andere riefen: Die Peitsche für den schönen Herrn, den ehrlichen Mann!
Doch Andrea wandte sich gegen sie um, blinzelte mit einem Auge, schwellte dieBacke mit seiner Zunge aus und ließ ein eigentümliches Schnalzen der Lippen hören.
Es war ein Maurerzeichen, das ihm Caderousse mitgeteilt hatte. Sie erkannten einen der ihrigen, und der Aufruhr legte sich sofort, was dem Gefangenwärter ganz unbegreiflich vorkam, so daß er, den Wechsel irgend einer unerlaubtenBeeinflussung zuschreibend, Andrea trotz dessen Protesten zu durchsuchen anfing.
Plötzlich erscholl eine Stimme an der Pforte, und ein Aufseher rief: Benedetto!
Man ruft mich! sagte Andrea.
In das Sprechzimmer! rief die Stimme.
Hören Sie, man will mir einenBesuch abstatten!.. Ah! mein lieber Herr, Sie werden sehen, obman einen Cavalcanti wie einen gewöhnlichen Menschenbehandeln darf!
Und wie ein schwarzer Schatten in den Hof schlüpfend, eilte Andrea durch die halbgeöffnete Pforte und ließ seine Genossen und sogar den Gefangenwärter in Verwunderung zurück.
Man rief ihn in der Tat ins Sprechzimmer, und darüber durfte man sich nicht weniger wundern, als Andrea selbst; denn statt wie die andern von der erlaubten Wohltat des Schreibens Gebrauch zu machen, um sich reklamieren zu lassen, hatte der junge Mann seit seinem Eintritt in die Force ein stoisches Schweigenbeobachtet.
Ichbin offenbar von irgend einem Mächtigenbeschützt, sagte er, das ergibt sich aus allem: das plötzliche Vermögen, die Leichtigkeit, mit der ich alle Hindernissebeseitigt habe, eine neue Familie, ein mir verliehenerberühmter Name, der Goldregen, die geplante Ehe. Eine Abwesenheit meinesBeschützers hat mich zugrunde gerichtet, doch nicht gänzlich, nicht für immer! Die Hand hat sich für einen Augenblick zurückgezogen, sie muß sich wieder nach mir ausstrecken und mich in der Minute festhalten, wo ich in den Abgrund zu stürzen drohe. Warum sollte ich einen unklugen Schritt wagen? Ich würde mir vielleicht meinenBeschützer abhold machen. Es gibt für ihn zwei Wege, mich aus der Klemme zu ziehen, entweder eine geheimnisvolle Entweichung durch Gold zu erkaufen, oder den Richter zur Freisprechung zu nötigen. Warten wir mit dem Reden und Handeln, bis ich klar sehe, daß ich ganz verlassenbin, und dann erst…
Es war, wie sich Andrea sagte, offenbar zu früh am Tage, als daß der Untersuchungsrichter nach ihm senden konnte, und zu spät für einen etwaigen Ruf von seiten des Gefängnisdirektors oder des Arztes; es mußte also wirklich der erwarteteBeschützer sein. Da erblickte er hinter dem Gitter des Sprechzimmers mit seinen vor Neugierde weit aufgesperrten Augen das düstere, verständige GesichtBertuccios, der ebenfalls mit schmerzlichem Erstaunen die Gitter, die verriegelten Türen und den Schattenbetrachtete, der sich hinter den gekreuzten Stangenbewegte.
Ah! machte Andrea, im Herzen getroffen.
Guten Morgen, Benedetto, sagteBertuccio mit seiner hohlen Stimme.
Sieh! sagte der junge Mann, voll Schrecken umherschauend.
Du erkennst mich nicht, unglückliches Kind! entgegneteBertuccio.
Still! still doch! flüsterte Andrea, der das feine Gehör der Wände kannte; mein Gott, sprechen Sie nicht so laut!
Nicht wahr, du würdest gern mit mir allein reden?
Oh, ja.
Bertuccio griff in seine Tasche, machte einem Wärter, den man hinter der Scheibe der Pforte erblickte, ein Zeichen und sagte zu ihm: Lesen Sie.
Was ist das? fragte Andrea.
DerBefehl, dich in ein Zimmer zu führen und mich mit dir sprechen zu lassen.
Ah! Ah! machte Andrea, hüpfend vor Freude, dann sagte er zu sich: Abermals der unbekannteBeschützer! Man vergißt mich nicht! Man sucht die Heimlichkeit, da man in einem abgesonderten Zimmer mit mir sprechen will. Ich habe sie…Bertuccio ist vomBeschützer abgeschickt!
Der Wärterbesprach sich einen Augenblick mit einem Oberen, öffnete sodann die zwei vergitterten Türen und führte Andrea, der vor Freude außer sich war, in ein Zimmer des ersten Stockes, das die Aussicht aus den Hof hatte.
Das Zimmer war getüncht und kam dem Gefangenen wunderbar schön vor; ein Ofen, einBett, ein Stuhl, ein Tischbildeten die kostbare Ausstattung.
Bertuccio setzte sich auf den Stuhl. Andrea warf sich auf dasBett. Der Wärter entfernte sich.
Laß hören, was hast du mir zu sagen? sprach der Intendant.
Und Sie? versetzte Andrea.
Sprich, du zuerst…
Oh! nein, Sie haben mir viel mitzuteilen, da Sie mich aufsuchten!
Wohl! es sei. Du hast deine Verworfenheit fortgesetzt; du hast gestohlen, du hast gemordet.
Wenn Sie mich in einbesonderes Zimmer führen, um mir nur dies zu sagen, mein Herr, so hätten Sie sich lieber gar keine Mühe machen sollen. Es gibt anderes, das ich nicht weiß, sprechen wir lieber davon! Wer hat Sie geschickt?
Oh, oh! Sie gehen sehr rasch, HerrBenedetto.
Nicht wahr? Und gerade aufs Ziel. Ersparen wir uns alle unnützen Worte. Wer schickt Sie?
Niemand.
Woher wissen Sie, daß ich im Gefängnisbin?
Ich habe dich längst in dem frechenBurschen erkannt, der so zierlich sein Pferd auf den Champs‑Elysées tummelte.
Die Champs‑Elysées… Ah! ah!.. die Champs‑Elysées! Sprechen wir von meinem Vater, wenn'sbeliebt!
Werbin denn ich?
Sie, meinbraver Herr, sind mein Adoptivvater… Doch, ich denke, Sie haben nicht zu meinen Gunsten 100 000 Franken hergegeben, die ich in vierbis fünf Monaten verbrauchte; Sie haben mir nicht einen italienischen Vater und Edelmann verschafft; Sie haben mich nicht in die Gesellschaft eingeführt und zu einem gewissen Mittagsmahle, das ich noch zu genießen glaube, nach Auteul eingeladen… Vorwärts, reden Sie, ehrenwerter Korse…
Was soll ich dir sagen?
Auf den Champs‑Elysées wohnt ein sehr reicher Herr.
Bei dem du gestohlen und gemordet hast, nicht wahr?
Ich glaube, ja.
Der Herr Graf von Monte Christo?
Sie haben ihn genannt. Soll ich mich in seine Arme werfen und ausrufen: Mein Vater! Mein Vater!
Scherzen wir nicht, erwiderteBertuccio mit ernstem Tone, ein solcher Name soll nicht ausgesprochen werden, wie du ihn auszusprechen wagst.
Bah! rief Andrea, etwas verblüfft durchBertuccios feierliche Haltung, warum nicht?
Weil der, der diesen Namen führt, zu sehr vom Himmelbegünstigt ist, um der Vater eines Elenden deiner Art zu sein.
Oh! Große Worte…
Und große Wirkungen, wenn du dich nicht in acht nimmst!
Drohungen! Ich fürchte sie nicht… ich werde sagen…
Glaubst du es mit Pygmäen, wie du einerbist, zu tun zu haben? sagteBertuccio mit so ruhigem Tone und mit so sicheremBlicke, daß Andrea im Innersten erschüttert wurde, glaubst du es mitBagnohelden oder mit Toren, wie man sie gewöhnlich in der Welt trifft, zu tun zu haben?…Benedetto, dubist in einer furchtbaren Hand, diese Hand will sich dir öffnen; benutze es!
Mein Vater… ich will wissen, wer mein Vater ist, sagte er eigensinnig; ich will darüber sterben, wenn es sein muß, aber ich werde es erfahren. Was kümmere ich mich um den Skandal? Für mich ist er vorteilhaft, erbringt mir Ruhm, er verleiht mir Ansehen, er empfiehlt mich. Doch ihr Leute von der großen Welt habt trotz eurer Millionen und eurer Wappenbeim Skandal immer etwas zu verlieren… Nun, wer ist mein Vater?
Ichbin gekommen, es dir zu sagen…
Ah! riefBenedetto mit freudefunkelnden Augen.
In dieser Sekunde öffnete sich die Tür, und der Gefangenwärter sagte, sich anBertuccio wendend: Verzeihen Sie, der Untersuchungsrichter erwartet den Gefangenen.
Das ist der Schluß meines Verhörs, sagte Andrea zu dem würdigen Intendanten… zum Teufel mit dem Überlästigen!
Ich werde morgen wiederkommen, versetzteBertuccio.
Gut! sagte Andrea. Meine Herren Gendarmen, ichbin ganz zu Ihren Diensten… Ah, lieber Herr, lassen Sie doch ein Dutzend Taler in der Kanzlei zurück, daß man mir hier gibt, was ichbrauche.
Es soll geschehen, erwiderteBertuccio.
Andrea reichte ihm die Hand; Bertuccio hielt die seinigen in der Tasche und ließ nur das Klimpern von ein paar Goldstücken hören.
Das wollte ich sagen, versetzte Andrea mit einer lächelnden Grimasse, aber innerlich vonBertuccios seltsamer Ruhe ganz überwältigt.
Sollte ich mich getäuscht haben? sagte er zu sich selbst, in den länglichen und vergitterten Wagen steigend, den man den Salatkorbnennt. Wir werden sehen! Morgen also! fügte er, sich zuBertuccio umwendend, hinzu.
Morgen! antwortete der Intendant.
Der Richter.
Man erinnert sich, daß der AbbéBusoni alleinbei Noirtier im Sterbezimmer geblieben war, und daß sich der Greis und der Priester in das Wächteramtbei der Leiche des Mädchens geteilt hatten. Vielleicht waren es die christlichen Ermahnungen des Abbés, vielleicht war es das überzeugende Wort, das dem Greise den Mut zurückgab; denn seit dem Augenblick derBesprechung, die er mit dem Priester gehabt, tratbei Noirtier an Stelle der Verzweiflung, die sich anfangs seinerbemächtigt hatte, eine große Ruhe ein, diebei seiner tiefen Liebe und Zuneigung für Valentinebesonders überraschend war.
Herr von Villefort hatte den Greis seit dem Morgen des Todes nicht wiedergesehen. Die ganze Dienerschaft war erneuert worden; man hatte einen anderen Kammerdiener für ihn, einen anderenBedienten für Noirtier angeworben; zwei Kammerfrauen waren in den Dienst der Frau von Villefort getreten.
In ein paar Tagen sollten die Schwurgerichtssitzungenbeginnen; darum verfolgte Villefort, in sein Kabinett eingeschlossen, mit fieberhafter Tätigkeit den gegen Caderousses Mörder eingeleiteten Prozeß. Der Fall machte großes Aufsehen in der Pariser Welt. DieBeweise waren nicht überzeugend, weil sie auf einigen Worten von der Hand eines sterbenden Galeerensklaven, eines ehemaligenBagnogenossen des Angeklagten, beruhten, der seinen Gefährten aus Haß oder aus Rache anschuldigen konnte. Nur der Staatsanwalt hatte die feste Überzeugung gewonnen, Benedetto sei schuldig, und es sollte ihm aus dem schwierigen Siege dieser seiner Anschauung einer von jenen Genüssen der Eitelkeit erwachsen, die allein die Fibern seines vereisten Herzens einigermaßen erwärmten.
Der Prozeß nahm also infolge der rastlosen Arbeit Villeforts seinen raschen Gang. Mehr als je mußte er sich verborgen halten, um einer Erwiderung auf die ungeheure Menge vonBitten zu entgehen, die man an ihn richtete, um Audienzkarten zu erhalten.
Da überdies erst so kurze Zeit vorüber war, seitdem man die arme Valentine zu Grabe getragen hatte, so staunte niemand darüber, wenn man den Vater so ganz in seiner Pflichterfüllung, der einzigen Zerstreuung, die er für seinen Kummer finden konnte, versunken sah.
Ein einziges Mal, und zwar an dem Tage, nachdemBenedetto den zweitenBesuchBertuccios empfangen hatte, bei dem dieser ihm den Namen seines Vaters hatte nennen sollen, war Villefort Herrn Noirtier zu Gesicht gekommen; es geschah dies in dem Augenblick, wo derBeamte, der Erholungbedürftig, in den Garten seines Hauses hinabging.
Wiederholt war erbis an den Hintergrund des Gartens, bis an dasbekannte, nach dem verlassenen Gehege führende Gitter gegangen, als er zufällig nach dem Hause schaute, in dem er seinen Sohn lärmend spielen hörte, der aus seiner Pension zurückgekommen war, um den Sonntag und Montagbei seiner Mutter zuzubringen.
Bei dieser Gelegenheit sah er an einem der offenen Fenster Herrn Noirtier, der sichbis an das Fenster hatte rollen lassen, um sich der letzten Strahlen einer noch warmen Sonne zu erfreuen.
Das Auge des Greises war auf einen Punkt gerichtet, den Villefort nicht genau unterscheiden konnte. DieserBlick Noirtiers war so haßerfüllt, so wild, er zeugte so sehr von heftiger Ungeduld, daß der Staatsanwalt, der alle Eindrücke dieses ihm so genaubekannten Gesichtes mit voller Schärfe auffaßte, ausdrücklich hinging, um zu sehen, worauf oder auf wen derBlick fiel.
Dabemerkte er unter einer Gruppe von Linden mit fast entblätterten Ästen Frau von Villefort, die, einBuch in der Hand, aus einerBank saß und sich von Zeit zu Zeit im Lesen unterbrach, um ihrem Sohne zuzulächeln oder ihm seinen elastischenBall zuzuwerfen, den er hartnäckig vom Salon in den Garten schleuderte.
Villefort erbleichte, denn er verstand, was der Greis sagen wollte.
Noirtier schaute stets denselben Gegenstand an; doch plötzlich ging seinBlick von der Frau auf den Mann über, und Villefort hatte selbst den Angriff dieserblitzenden Augen auszuhalten, die nichts von ihrem drohenden Ausdruck verloren. Man las in der Tat in diesemBlicke zugleich einenblutigen Vorwurf und eine furchtbare Drohung. Dann schlug Noirtier die Augen zum Himmel auf, als ober seinen Sohn an einen vergessenen Schwur erinnern wollte.
Es ist gut, sagte Villefort unten vom Hofe herauf, fassen Sie noch einen Tag Geduld; was ich gesagt habe, ist gesagt.
Noirtier schien durch diese Worteberuhigt, und seine Augen wandten sich einer andern Seite zu.
Villefort fuhr mit derbleichen Hand über seine Stirn und kehrte in sein Kabinett zurück.
Die Nacht ging kalt und ruhig vorüber; allebegaben sich zuBette und schliefen wie gewöhnlich. Nur Villefort legte sich nicht nieder; er arbeitetebis fünf Uhr morgens, durchlas die am Abend vorher von dem Untersuchungsbeamten vorgenommenen Verhöre, verglich die Aussagen der Zeugen undbrachte die Anklageschrift, eine der schärfsten und kräftigsten, die er je abgefaßt, vollends ins reine.
Am folgenden Tage sollte die erste Schwurgerichtssitzung stattfinden. Villefort sah diesen Tag, einen Montag, blaß und düster anbrechen, und derbläuliche Lichtschimmer ließ die auf dem Papiere mit roter Tinte geschriebenen Zeilen erglänzen.
Der Staatsanwalt öffnete sein Fenster; die feuchte Luft der Morgendämmerung übergoß Villeforts Haupt und erfrischte ihn.
Heute wird es geschehen, sagte er mit einer gewissen Anstrengung; heute muß der Mann, der das Schwert der Gerechtigkeit in der Hand hält, überallhin schlagen, wo sich die Schuldigenbefinden.
Allmählich erwachte alles. Villefort hörte von seinem Kabinett aus die aufeinander folgenden Geräusche: die inBewegung gesetzten Türen, das Klingeln der Glocke der Frau von Villefort, die ihre Kammerjungfer rief, das erste Geschrei des Kindes, das sich mit Lärm erhob.
Villefort läutete ebenfalls. Sein neuer Kammerdiener trat ein, brachte ihm die Zeitungen und eine Tasse Schokolade.
Ich habe das nicht verlangt. Wer gibt sich diese Mühe?
Die gnädige Frau sagt, der Herr Staatsanwalt würde ohne Zweifelbei dem Mordprozesse viel sprechen und müßte Kräfte sammeln.
Dabei stellte der Diener die Tasse auf den mit Papieren überladenen Tisch.
Villefort schaute die Tasse einen Augenblick mit düsterer Miene an, dann ergriff er sie plötzlich mit hastigerBewegung und leerte ihren Inhalt mit einem Zuge. Man hätte glauben sollen, er hoffte, dieser Trank sei tödlich, und er sehne den Tod herbei, der ihn von einer Pflichtbefreien sollte, die ihm etwas Schwierigeres, als das Sterben, zu tunbefahl. Die Schokolade war aber harmlos, und Herr von Villefort mußte an sein schweres Tagewerk gehen.
Als die Frühstücksstunde gekommen war, erschien der Staatsanwalt nichtbei Tische.
Der Kammerdiener kehrte in sein Kabinett zurück und meldete: Die gnädige Frau läßt dem Herrn Staatsanwalt sagen, es habe elf geschlagen, und die Sitzung sei auf zwölf Uhrbestimmt.
Nun! Und? rief Villefort.
Die gnädige Frau hat ihre Toilette gemacht; sie istbereit und läßt fragen, obsie den Herrn Staatsanwalt in den Justizpalastbegleiten werde, da sie sehr wünsche, dieser Sitzungbeizuwohnen.
Ah! sie wünscht das! versetzte Villefort mit schrecklichem Tone.
Der Kammerdiener wich einen Schritt zurück und erwiderte: Will der Herr Staatsanwalt allein dahin fahren, so werde ich es der gnädigen Frau sagen.
Villefortbliebeinen Augenblick stumm, er grubmit seinen Nägeln in seinebleiche Wange, von der sein ebenholzschwarzerBart stark abstach, ehe er erwiderte: Sagen Sie der gnädigen Frau, ich wünsche sie zu sprechen undbitte sie, mich in ihrem Zimmer zu erwarten. Dann kommen Sie zurück, um mich zu rasieren und anzukleiden.
Auf der Stelle.
Der Kammerdiener verschwand und erschien sofort wieder, rasierte Villefort und kleidete ihn in feierliches Schwarz. Als er damit fertig war, sagte er: Die gnädige Frau läßt sagen, sie erwarte den Herrn Staatsanwalt, sobald er angekleidet sei.
Ich komme, versetzte Villefort, und wandte sich, die Akten unter dem Arme, den Hut in der Hand, zu den Zimmern seiner Frau.
Frau von Villefort saß auf einer Ottomane undblätterte mit Ungeduld in den Zeitungen undBroschüren, die der junge Eduard zu seinerBelustigung in Stücke zerriß, ehe seine Mutter Zeit gehabt hatte, ihre Lektüre zu vollenden.
Sie war völlig zum Ausgehen gekleidet; ihr Hut lag daneben, und sie hattebereits die Handschuhe angezogen.
Ah! Hier sind Sie, mein Herr, sagte sie mit ihrer natürlichen, ruhigen Stimme. Mein Gott!! Wiebleich sehen Sie aus! Sie haben also abermals die ganze Nacht hindurch gearbeitet? Nun! Nehmen Sie mich mit, oder soll ich allein mit Eduard gehen?
Bei allen diesen FragenbliebHerr von Villefort kalt und stumm, wie eineBildsäule, und sagte nur, einen gebieterischenBlick auf das Kind heftend: Eduard, spiele im Garten, ich habe mit deiner Mutter zu reden.
Frau von Villefortbebtebei diesem kalten Wesen und dem entschiedenen Tone ihres Mannes. Eduard schaute seine Mutter an; als er sah, daß sie denBefehl des Herrn von Villefort nicht wiederholte, fing er an, seinenbleiernen Soldaten die Köpfe abzuschneiden.
Eduard, rief Herr von Villefort mit so hartem Ausdruck, daß das Kind auf denBoden sprang, verstehst du mich? Vorwärts!
An eine solcheBehandlung nicht gewöhnt, richtete sich das Kind auf, erbleichte und entfernte sich.
Herr von Villefort folgte ihmbis zur Tür und schloß diese, als Eduard hinausgegangen war, mit dem Riegel.
Oh! mein Gott! rief die junge Frau, indem sie ihrem Gattenbis in die Tiefe der Seele schauen wollte und zu lächeln versuchte, was wollen Sie denn?
Wo verwahren Sie das Gift, dessen Sie sich gewöhnlichbedienen? sprach scharf und ohne Einleitung der Staatsanwalt.
Frau von Villefort empfand, was die Lerche empfinden muß, wenn sie den Hühnergeier seine mörderischen Kreise über ihrem Kopfe immer enger ziehen sieht.
Ein heiserer, gebrochener Ton, der weder ein Schrei, noch ein Seufzer war, kam aus derBrust der Frau von Villefort, und leichenblaß erwiderte sie: Mein Herr… ich verstehe Sie nicht.
Dann erhobsie sich in einem Anfall des Schreckens… doch in einem zweiten Anfall, der offenbar noch heftiger als der erste war, fiel sie wieder auf die Kissen ihrer Ottomane zurück.
Ich fragte sie, fuhr Herr von Villefort mit vollkommen ruhigem Tone fort, wo Sie das Gift verbergen, mit dessen Hilfe Sie meinen Schwiegervater, Herrn von Saint‑Meran, meine Schwiegermutter, Barrois und meine Tochter Valentine umgebracht haben.
Oh! mein Herr, rief Frau von Villefort, die Hände faltend, was sagen Sie da?
Sie haben mich nicht zu fragen, sondern nur zu antworten.
Habe ich dem Richter oder dem Gatten zu antworten? stammelte Frau von Villefort.
Dem Richter.
Es war ein furchtbares Schauspiel: dieBlässe dieser Frau, die Angst in ihrenBlicken, das Zittern ihres ganzen Körpers. Ah! mein Herr! murmelte sie, ah! mein Herr!
Sie antworten nicht! rief der furchtbare Frager. Dann fügte er mit einem Lächeln hinzu, das noch schrecklicher war, als sein Zorn: Sie leugnen also nicht!
Frau von Villefort machte ein: Bewegung.
Und Sie könnten auch nicht leugnen, fuhr Herr von Villefort fort, indem er die Hand ausstreckte, als wollte er sie im Namen der Gerechtigkeit festnehmen. Sie haben diese verschiedenen Verbrechen mit einer unverschämten Geschicklichkeit verübt, die jedoch nur Leute täuschen konnte, die aus Liebe geneigt waren, Ihnen gegenüberblind zu sein. Seit dem Tode der Frau von Saint‑Meran wußte ich, daß ein Giftmischer in meinem Hause war, Herr d'Avrigny hatte mich davon in Kenntnis gesetzt; nach dem TodeBarrois' fiel mein Verdacht, Gott verzeihe es mir! auf jemand, auf einen Engel. Doch nach Valentines Tode gabes keinen Zweifel mehr für mich, und nicht allein für mich, sondern auch für andere. So wird Ihr Verbrechen, nunmehr zwei Personenbekannt, öffentlich werden; und es ist, wie ich Ihnen soeben sagte, nicht mehr der Gatte, der zu Ihnen spricht, sondern ein Richter.
Ihr Gesicht in ihren Händen verbergend, stammelte die junge Frau: Oh! Herr, ich flehe Sie an, glauben Sie nicht dem Scheine!
Sollten Sie feig sein? rief Villefort mit verächtlichem Tone. In der Tat, ich habe stets wahrgenommen, daß die Giftmischer feig sind. Sollten Sie feig sein, Sie, die Sie den gräßlichen Mut gehabt haben, zwei Greise und ein junges Mädchen, von Ihnen ermordet, vor Ihren Augen verscheiden zu sehen?
Herr! Herr!
Sollten Sie feig sein, fuhr Villefort mit wachsender Heftigkeit fort, Sie, die Sie die Minuten von vier Todeskämpfen eine um die andere gezählt? Sie, die Sie mit einer so wunderbaren Geschicklichkeit und Sorgfalt Ihre höllischen Pläne entworfen und Ihre schändlichen Getränke eingerührt haben? Sie, die Sie alles so gutberechnet, sollten eins nichtberechnet haben, nämlich, wohin Sie die Enthüllung Ihrer Verbrechen führen konnte, führen mußte? Oh! das ist unmöglich, und Sie haben ein Gift, süßer, feiner, tödlicher als die anderen, aufbewahrt, um der Ihnen gebührendenBestrafung zu entgehen… Sie haben dies getan, wenigstens hoffe ich es.
Frau von Villefort rang ihre Hände und fiel auf die Knie.
Ich weiß es wohl… ich weiß es wohl, sagte Herr von Villefort, Sie gestehen; doch ein Geständnis, den Richtern abgelegt, ein Geständnis im letzten Augenblick, ein Geständnis, wenn man nicht mehr leugnen kann, ein solches Geständnis mildert in keinerBeziehung die Strafe, die über den Schuldigen verhängt werden muß.
Die Strafe! rief Frau von Villefort, Strafe! Es ist schon das zweite Mal, daß Sie dieses Wort aussprechen!
Allerdings. Glaubten Sie zu entkommen, weil Sie viermal schuldig waren? Glaubten Sie, weil Sie die Frau dessen sind, der die Strafe fordert, würde diese Strafe ausbleiben? Nein, nein! Die Giftmischerin, wer sie auch sein mag, erwartet das Schafott, besonders Sie, wie ich Ihnen soeben sagte, die nicht dafürbesorgt gewesen ist, einige Tropfen von ihrem sichersten Gifte aufzubewahren!
Frau von Villefort stieß einen wilden Schrei aus, und der häßliche, unbezähmbare Schreckenbemächtigte sich ihrer verstörten Gesichtszüge.
Oh! fürchten Sie das Schafott nicht, sagte der Staatsanwalt, ich will Sie nicht entehren, denn das hieße mich selbst entehren; nein, im Gegenteil, wenn Sie mich recht gehört haben, müssen Siebegreifen, daß Sie nicht auf dem Schafott sterben können.
Nein, ich habe nichtbegriffen; was wollen Sie sagen? stammelte völlig niedergeschmettert die unglückliche Frau.
Ich will sagen, daß die Frau des ersten richterlichenBeamten der Hauptstadt einen fleckenlos gebliebenen Namen nicht mit ihrer Schandebelasten und nicht mit demselben Schlage ihren Gatten und ihr Kind entehren wird.
Nein! oh, nein!
Wohl, das wird eine gute Handlung von Ihnen sein, und für diese gute Handlung danke ich Ihnen.
Sie danken mir und wofür?
Für das, was Sie gesagt haben.
Was habe ich gesagt? Mein Kopf ist verwirrt; mein Gott! Mein Gott! Ichbegreife nichts mehr.
Und sie erhobsich mit aufgelösten Haaren und schäumenden Lippen.
Siebeantworteten die Frage noch nicht, die ichbei meinem Eintritt machte: Wo ist das Gift, dessen Sie sich gewöhnlichbedienen?
Frau von Villefort streckte die Arme zum Himmel empor und schlug krampfhaft die Hände aneinander.
Nein, nein, schrie sie, Sie wollen das nicht!
Ich will nicht, daß Sie auf dem Schafott sterben, hören Sie? antwortete Villefort.
Oh! Gnade, Herr!
Es ist mein Wille, daß Gerechtigkeit geschehe. Ichbin auf der Erde, um zu strafen, fügte er mit einem flammendenBlickebei; jeder andern Frau, und wäre es eine Königin, würde ich den Henker schicken, gegen Sie werde ichbarmherzig sein. Ihnen sage ich: Nicht wahr, gnädige Frau, Sie haben einige Tropfen von Ihrem süßesten, schnellsten und sichersten Gift aufbewahrt?
Oh! Verzeihen Sie mir, lassen Sie mich leben!
Sie ist feig, sagte Villefort.
Bedenken Sie, daß ich Ihre Fraubin!
Sie sind eine Giftmischerin.
Im Namen des Himmels!
Nein.
Im Namen der Liebe, die Sie für mich gehabt haben!
Nein! nein!
Im Namen unseres Kindes! Oh! Unserem Kinde zuliebe lassen Sie mich leben.
Nein! nein! sage ich Ihnen; ließe ich Sie leben, so würden Sie eines Tages das Kind so gut töten, wie die andern.
Ich! mein Kind töten! rief in höchster Leidenschaft diese Mutter, auf Villefort zustürzend; ich meinen Eduard töten? Und ein gräßliches Gelächter, das Lachen einer Wahnsinnigen, vollendete den Satz und verlor sich in einemblutigen Geröchel.
Frau von Villefort stürzte zu den Füßen ihres Gatten nieder.
Villefort näherte sich ihr und sagte: Bedenken Sie wohl! Istbei meiner Rückkehr nicht Gerechtigkeit geschehen, so zeige ich Sie mit meinem eigenen Munde an, verhafte ich Sie mit meinen eigenen Händen.
Sie hörte keuchend, vernichtet; nur ihr Auge lebte in ihr undbrannte in einem düsteren, furchtbaren Feuer.
Sie verstehen mich, sagte Villefort, ich gehe, um die Todesstrafe gegen einen Mörder zu fordern. Finde ich Sie noch lebend, so ist heute nacht der Kerker Ihre Wohnung.
Frau von Villefort stieß einen Seufzer aus, ihre Nerven wurden schlaff, sie wälzte sich gebrochen auf demBoden.
Der Staatsanwalt schien eine Regung des Mitleids zu fühlen, er schaute sie minder streng an, verbeugte sich leicht vor ihr und sagte langsam: Gottbefohlen, gnädige Frau!
Dieser Abschied fiel wie das Messer des Todes auf Frau von Villefort. Sie wurde ohnmächtig.
Der Staatsanwalt entfernte sich und schloßbeim Hinausgehen die Tür doppelt zu.
Das Schwurgericht.
›Die AffäreBenedetto‹, wie man damals in Paris und in der Gesellschaft sagte, machte ein ungeheures Aufsehen. Ein täglicher Gast des Café de Paris, desBoulevard de Gand und desBois deBoulogue, hatte der falsche Cavalcanti während seines Aufenthaltes in Paris und während der paar Monate, die sein Glanz gedauert, eine MengeBekanntschaften gemacht. Die Zeitungen erzählten von den verschiedenen Stellungen des Angeklagten in seinem eleganten Leben und in seinem Leben imBagno. Dies erregte die größte Neugierdebesondersbei den persönlichenBekannten des vermeintlichen Prinzen, und diesebeschlossen, alles daran zu setzen, um HerrnBenedetto, den Mörder seines Kettenkameraden, auf derBank der Angeklagten zu sehen.
Für viele warBenedetto, wenn nicht ein Opfer, doch wenigstens ein Irrtum der Justiz; man hatte Herrn Cavalcanti Vater in Paris gesehen, und man erwartete, er werde abermals erscheinen, um seinen erhabenen Sprößling zu reklamieren.
Alles lief also zu der Gerichtssitzung. Von morgens um sieben Uhr drängte man sich am Gitter, und eine Stunde vor Eröffnung der Sitzung war der Saalbereits voll vonBevorzugten.
Beauchamp, der zu den Königen der Presse gehörte, und folglich seinen Tron überall hatte, schaute durch sein Glas nach rechts und links. Er erblickte Chateau‑Renaud und Debray, die sich die Gunst eines Stadtsergeanten erworben und diesenbestimmt hatten, sich hinter sie zu stellen, statt vor sie, wie es sein Recht war. Der würdige Agent hatte den Sekretär des Ministers und den Millionär gerochen; erbenahm sich voll Rücksicht gegen seine edlen Nachbarn und erlaubte ihnen, mit dem Versprechen, ihre Plätze aufzubewahren, Beauchamp einenBesuch zu machen. Nun! Wir werden also unsern Freund sehen! sagteBeauchamp.
Ei! mein Gott, ja! erwiderte Debray, dieser würdige Prinz! Der Teufel hole den italienischen Prinzen!
Adel des Stricks, bemerkte phlegmatisch Chateau‑Renaud.
Nicht wahr, er wird verurteilt werden? fragte DebrayBeauchamp.
Ei! mein Lieber, erwiderte der Journalist, mir scheint, das muß man Sie fragen; Sie wissen dasbesser als wir. Haben Sie den Präsidentenbei der letzten Soirée Ihres Ministers gesprochen?
Ja.
Was hat er Ihnen gesagt?
Etwas, was Sie in Erstaunen setzen wird.
Ah! Sprechen Sie geschwind, ich habe schon lange nichts dergleichen mehr gehört.
Wohl! Er hat gesagt, Benedetto, den man für einen Phönix an Feinheit, einen Riesen an Schlauheit halte, sei nur ein ganz gemeiner, einfältiger Schuft und ganz unwürdig der Versuche, die man nach seinem Tode an seinen phrenologischen Organen machen werde.
Bah! riefBeauchamp, er spielte den Prinzen gar nicht übel.
Doch wenn ich mit dem Präsidenten gesprochen habe, sagte Debray zuBeauchamp, so müssen Sie den Staatsanwalt gesehen haben?
Unmöglich; seit acht Tagen verbirgt sich Herr von Villefort, und das ist ganz natürlich. Diese Reihe von häuslichen Unglücksfällen, denen der seltsame Tod seiner Tochter die Krone aufsetzte…
Der seltsame Tod! Was sagen Sie da, Beauchamp?
Ah! ja, spielen Sie den Unwissenden, versetzteBeauchamp, indem er sein Monokle einklemmte und Umschau im Saale hielt. Halt, fuhr er fort, ich täusche mich nicht.
Was gibt es?
Sie ist es. Man sagte doch, sie sei abgereist.
Fräulein Eugenie? Sollte sie zurückgekommen sein?
Nein, ihre Mutter.
Unmöglich, rief Chateau‑Renaud; zehn Tage nach der Flucht ihrer Tochter, drei Tage nach demBankerott ihres Mannes!
Debray errötete leicht und folgte der Richtung desBlickes vonBeauchamp.
Was wollen Sie! sagte er, es ist eine verschleierte Frau, eine unbekannte Dame, vielleicht die Mutter des Fürsten Cavalcanti; aber mir scheint, Sie wollen uns da eben etwas sehr Interessantes mitteilen, Beauchamp? — Ich?
Ja. Sie sprachen von dem seltsamen Tode Valentines.
Nun, versetzteBeauchamp, sind Sie nicht neugierig, zu erfahren, warum man so plötzlich in dem Hause von Villefort stirbt?
Wahrhaftig! sagte Debray, ich verliere dieses seit drei Monaten von Trauer erfüllte Haus nicht aus dem Auge.
Ei! meine Herren, fuhrBeauchamp fort, wenn man in Villeforts Hause so plötzlich stirbt, so kann dies nur sein, weil ein Mörder dort ist.
Diebeiden jungen Leutebebten, denn es war ihnen mehr als einmal derselbe Gedanke gekommen.
Und wer ist dieser Mörder? fragten sie gleichzeitig.
Der junge Eduard.
Ein schallendes Gelächter der Zuhörerbrachte den Redner durchaus nicht aus der Fassung, und er fuhr fort: Ja, meine Herren, der junge Eduard, ein Kind, das man als ein Phänomen zubetrachten hat, denn esbringtbereits alles um.
Das ist ein Scherz.
Keineswegs; ich habe gestern einenBedienten angenommen, derbei Villefort ausgetreten ist. Nun, es scheint, das liebe Kind hat sich ein Fläschchen mit einem gewissen Stoff verschafft undbedient sich seiner denen gegenüber, die ihm nicht gefallen. Zuerst war er mit Papa und Mama Saint‑Meran unzufrieden und flößte ihnen drei Tropfen von seinem Elixir ein; drei Tropfen genügen. Dann kam derbraveBarrois, ein alter Diener, an die Reihe, derbisweilen den liebenswürdigen Jungen hart anließ. Endlich hatte er es auf Valentine abgesehen; diese ließ ihn zwar nicht hart an, aber er war eifersüchtig auf sie; er flößte also auch ihr die drei Tropfen ein, und für sie, wie für die andern, war alles vorbei.
Aber zum Teufel, was erzählen Sie uns denn da? sagte Chateau‑Renaud.
Ja, nicht wahr, ein Märchen aus der andern Welt! entgegneteBeauchamp.
Das ist abgeschmackt, sagte Debray.
Zum Teufel! entgegneteBeauchamp. Fragen Sie meinenBedienten; so hieß es im ganzen Hause.
Doch das Elixir; wo ist es? Worausbesteht es?
Verdammt! Der Knabe versteckt es.
Wo hat er es her?
Weiß ich es? Sie stellen da Fragen an mich, wie ein Staatsanwalt. Ich wiederhole nur, was man mir gesagt hat; ich nenne Ihnen meine Quelle, mehr kann ich nicht tun. Der arme Teufel von einemBedienten aß vor Angst nicht mehr.
Das ist unglaublich.
Nein, mein Lieber, das ist durchaus nicht unglaublich. Sie wissen, wie sich im vorigen Jahre ein Kind in der Rue Richelieu ein Vergnügen daraus machte, seineBrüder und Schwestern umzubringen, indem es ihnen, während sie schliefen, eine Nadel ins Ohr steckte. Die kommende Generation ist sehr frühreif, mein Lieber!
Mein Freund, sagte Chateau‑Renaud, ich wette, Sie glauben nicht ein Wort von dem, was Sie uns da erzählen?… Doch ich sehe den Grafen von Monte Christo nicht; warum ist er nicht hier?
Er ist solcher Szenen überdrüssig, sagte Debray; auch wird er nicht vor der Welt erscheinen wollen, nachdem er sich von diesen Cavalcanti hatbetören lassen; sie kamen, wie es scheint, mit falschenBeglaubigungsschreiben zu ihm, und er hat für 500 000 Franken Hypotheken auf das Fürstentum genommen.
Ah! Es fällt mir ein, der Graf von Monte Christo kann nicht kommen! sagteBeauchamp.
Warum?
Weil erbei diesem Drama handelnde Person ist.
Hat er auch jemand ermordet? fragte Debray.
Nein, man wollte im Gegenteil ihn ermorden. Sie wissen, daß der gute Herr von Caderousse, als er von dem Hause des Grafen wegging, von seinem FreundeBenedetto ermordet worden ist. Sie wissen, daß manbei Monte Christo dieberüchtigte Weste gefunden hat, in der sich derBrief fand, durch den die Unterzeichnung des Vertrages gestört wurde. Sehen Sie diese Weste? Dort liegt sie ganzblutig alsBeweisstück auf dem Tische.
Ah! Sehr gut.
Still, meine Herren, der Gerichtshof erscheint; gehen wir an unsere Plätze.
Man vernahm ein starkes Geräusch im Gerichtssaale; der Stadtsergeant machte seinebeiden Schützlinge durch ein kräftiges Hm! aufmerksam, und der Gerichtsdiener rief, auf der Schwelle desBeratungssaales erscheinend: Meine Herren, der Gerichtshof!
Die Anklageschrift.
Die Richter traten unter dem tiefsten Schweigen der Versammelten ein; die Geschworenen ließen sich auf ihren Plätzen nieder; Herr von Villefort, der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, wir möchtenbeinahe sagenBewunderung, setzte sichbedeckt in seinen Lehnstuhl und schaute ruhig umher.
Jederbetrachtete mit Erstaunen das ernste, strenge Antlitz, über dessen Unempfindlichkeit die persönlichen Schmerzen keine Gewalt zu haben schienen, und man sah mit einem gewissen Schrecken diesen Mann an, dem die Regungen der Menschlichkeit fremd zu sein schienen.
Gendarmen, sagte der Präsident, führt den Angeklagten vor.
Bei diesen Worten wurde die Aufmerksamkeit des Publikums lebhafter, und aller Augen waren auf die Tür gerichtet, durch dieBenedetto eintreten sollte.
Bald öffnete sich diese Tür, und der Angeklagte erschien.
Der Eindruck war allgemein der gleiche. Seine Züge trugen nicht das Gepräge jener tiefen Aufregung, die dasBlut zum Herzen zurückdrängt und Stirn und Wangen entfärbt. Seine Hände, von denen die eine zierlich den Hut hielt, die andere in der Öffnung seiner Weste von weißem Piqué steckte, wurden von keinem Schauer geschüttelt, sein Auge war ruhig und glänzend. Kaum war er im Saal, als derBlick des jungen Mannes alle Reihen der Richter und der Anwesenden durchlief und nur länger an dem Präsidenten undbesonders auf dem Staatsanwalt haftenblieb.
Neben Andrea setzte sich der von Amtswegen gewählte Anwalt, ein junger Mensch mitblonden Haaren und einem Gesichte, das hundertmal mehr von Aufregung gerötet war, als das des Angeklagten.
Der Präsident ordnete die Verlesung der von Villeforts geschickter und unversöhnlicher Feder abgefaßten Anklageschrift an.
Während der langdauernden Verlesung war die öffentliche Aufmerksamkeit unablässig auf Andrea gerichtet, der die Wucht der Anklagen mit der Seelenheiterkeit eines Spartaners ertrug.
Wohl niemals war Villefort so scharf, soberedt gewesen. Das Verbrechen wurde mit den lebhaftesten Farben geschildert; die früheren Verhältnisse des Angeklagten, die Verkettung seiner Handlungen seid einem ziemlich zarten Alter wurden mit der vollen Kunst dargestellt, welche der Staatsanwaltbei seinem Scharfsinn, seiner Lebenserfahrung und der Kenntnis des menschlichen Herzens zu entfalten vermochte.
Andrea schenkte dem allen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Herr von Villefort schaute ihn oft prüfend an und setzte an ihm ohne Zweifel die psychologischen Studien fort, die er häufig an den Angeklagten machte.
Endlich war die Verlesung vorüber.
Angeklagter, sagte der Präsident, Ihr Name und Ihr Vorname?
Andrea stand auf und sagte: Verzeihen Sie, Herr Präsident, ich sehe, Siebelieben eine Ordnung der Fragen, in der ich Ihnen nicht folgen kann. Ich werde es mir später zur Aufgabe machen, dieBehauptung zu rechtfertigen, daß ich eine Ausnahme von den gewöhnlichen Angeklagtenbin. Wollen Sie mir also erlauben, in abweichender Ordnung zu antworten; ich werde darum doch auf alles Antwort geben.
Der Präsident schaute erstaunt die Geschworenen an, die ihrerseits den Staatsanwalt anblickten. Offenbar war die ganze Versammlung von Verwunderung ergriffen, nur Andrea schien völlig gleichmütig zu sein.
Ihr Alter? fragte der Präsident; werden Sie diese Fragebeantworten?
Ichbin einundzwanzig Jahre alt, oder vielmehr ich werde es erst in einigen Tagen, denn ichbin in der Nacht vom 27. auf den 28. September im Jahre 1817 geboren.
Herr von Villefort, der eben damitbeschäftigt war, sich eine Notiz zu machen, hobbei diesem Datum rasch den Kopf empor.
Wo sind Sie geboren? fragte der Präsident.
In Auteuil, bei Paris, antworteteBenedetto.
Herr von Villefort hobden Kopf abermals empor, schauteBenedetto an, als ober das Haupt der Meduse erblickt hätte, und wurde leichenblaß.
Benedetto aber fuhr anmutig über seine Lippen mit den gestickten Zipfeln seines feinenBattisttaschentuches. IhreBeschäftigung? fragte der Präsident.
Anfangs war ich Fälscher, erwiderte Andrea auf das allerruhigste, dann wurde ich Dieb, und in der jüngsten Zeit habe ich mich zum Mörder gemacht.
Ein Gemurmel oder vielmehr ein Sturm der Entrüstungbrach in allen Teilen des Saales los; die Richter selbst schauten ihn erstaunt an und zeigten den größten Abscheu vor solcher unerhörten Schamlosigkeit.
Herr von Villefort drückte eine Hand auf seine Stirn, die, anfangsbleich, dann plötzlich unheimlich rot geworden war; es fehlte ihm an Luft.
Suchen Sie etwas, Herr Staatsanwalt? fragteBenedetto mit seinem höflichsten Lächeln.
Herr von Villefort antwortete nicht, sondern setzte sich oder sank vielmehr auf seinen Stuhl zurück.
Und nun, Angeklagter, wollen Sie nach dieser rohen Prahlerei mit Ihren Verbrechen Ihren Namen sagen? fragte der Präsident.
Ichbin nicht im stande, Ihnen meinen Namen zu nennen, denn ich weiß ihn nicht; doch ich weiß den meines Vaters, und den kann ich Ihnen sagen.
Ein schmerzhafter Schwindelblendete Villefort und ließ von seinen Wangen rasch, hintereinander schwere Schweißtropfen auf das Papier fallen, das er mit krampfhafter Hand schüttelte.
So sagen Sie den Namen Ihres Vaters, sprach der Präsident.
Kein Hauch, kein Atemzug ließ sichbei dem tiefen Schweigen der großen Versammlung hören; mit äußerster Spannung warteten alle.
Mein Vater ist Staatsanwalt, antwortete ruhig Andrea.
Staatsanwalt! rief der Präsidentbestürzt und ohne die Verstörung in den Gesichtszügen des Herrn von Villefort zubemerken; Staatsanwalt?
Ja, und da Sie seinen Namen wissen wollen, so will ich ihn nennen; er heißt Villefort.
Der so lange aus Achtung vor der Würde des Gerichtshofes zurückgehaltene Ausbruch erfolgte jetzt wie ein Donner aus derBrust aller Anwesenden; der Vorsitzende selbst dachte nicht daran, dieseBewegung der Menge zu unterdrücken. Die anBenedetto gerichteten Vorwürfe und Schmähungen, die kräftigen Gebärden, dieBewegungen der Gendarmen, das Hohngelächter jenes schmutzigen Teiles der Zuhörerschaft, der sichbei jeder Versammlung in Augenblicken der Unruhe und des Skandalsbemerkbar macht, dies alles dauerte fünf Minuten, bis die Gerichtsdiener das Stillschweigen wiederherzustellen vermochten.
Mitten unter diesem Lärm hörte man den Präsidenten rufen: Sie spotten des Gerichtes, Angeklagter; sollten Sie es wagen, Ihren Mitbürgern das Schauspiel einer Verdorbenheit zu geben, die selbst in unserer lasterhaften Zeit nicht ihresgleichen hätte?
Zehn Personen drängten sich um den auf seinem Stuhle wie niedergeschmettert dasitzenden Staatsanwalt und suchten ihm auf jede Weise Trost und Ermutigung zubieten und ihm ihr Mitgefühl zubeteuern.
Die Ruhe war im Saale wiederhergestellt, mit Ausnahme eines Punktes, wo eine Gruppe sich um eine Fraubemühte, die, wie man sagte, in Ohnmacht gefallen war; man ließ sie an Salzen riechen, und sie war wieder zu sich gekommen.
Andrea wandte während dieses ganzen Tumultes sein lächelndes Gesicht der Versammlung zu, dann stützte er sich mit der anmutigsten Haltung auf die eichene Lehne seinerBank und sprach: Meine Herren, Gottbewahre mich, daß ich den Gerichtshof zubeleidigen und in Gegenwart dieser ehrenwerten Versammlung einen unnützen Skandal zu machen suche. Man fragt mich, wie alt ich sei, ich sage es; man fragt mich, wo ich geboren sei, ich antworte; man fragt mich nach meinem Namen, ich kann ihn nicht nennen, weil meine Eltern mich verlassen haben. Doch ohne meinen Namen zu nennen, da ich keinen habe, kann ich den meines Vaters nennen; ich wiederhole also, mein Vater ist Herr von Villefort, und ichbinbereit, es zubeweisen.
Der Ton des jungen Mannes hatte das Gepräge der Gewißheit und Überzeugung, wodurch der Aufruhr zum Stillschweigen gebracht wurde. DieBlicke richteten sich allgemein auf den Staatsanwalt, der auf seinem Sitze unbeweglich saß, wie ein Mensch, den derBlitz in eine Leiche verwandelt hat.
Meine Herren, fuhr Andrea, durch Gebärde und Stimme Stillschweigen heischend, fort, meine Herren, ichbin Ihnen denBeweis für meine Erklärung schuldig.
Aber Sie habenbei der Untersuchung erklärt, Sie hießenBenedetto, rief heftig der Präsident, Sie haben gesagt, Sie seien eine Waise, und Sie nannten Korsika als Ihr Vaterland.
Ich habebei der Untersuchung gesagt, was mir gut schien, und habe mir die Wahrheit für diese feierliche Gelegenheit vorbehalten. Ich wiederhole Ihnen, daß ich in Auteuil in der Nacht vom 27. auf den 28. September des Jahres 1817 geboren wurde und der Sohn des Herrn Staatsanwalts von Villefortbin. Wollen Sie nun die Einzelheiten wissen? Ich werde sie Ihnen sagen: Ich wurde geboren im ersten Stocke des Hauses Nro. 30, Rue de la Fontaine, in einem mit rotem Damast austapezierten Zimmer. Mein Vater sagte meiner Mutter, ich sei tot, nahm mich in seine Arme, wickelte mich in eine mit einem H. und mit 15 gezeichnete Serviette, und trug mich in den Garten, wo er mich lebendigbegrub.
Ein Schauer durchlief alle Anwesenden, als sie sahen, daß die Sicherheit des Angeklagten wie der Schrecken des Herrn von Villefort zugleich wuchsen.
Doch woher wissen Sie diese einzelnen Umstände? fragte der Präsident.
Ich will es Ihnen sagen, Herr Präsident. In den Garten, wo mich mein Vaterbegraben, hatte sich in dieser Nacht ein Mensch geschlichen, der ihn aus den Tod haßte und seit langer Zeit auf ihn lauerte, um eine korsische Rache an ihm zu nehmen. Dieser Mensch war in einem Gesträuch verborgen; er sah meinen Vater ein Kistchen in die Erde vergraben undbrachte ihm mitten in seiner Arbeit einen Messerstichbei; im Glauben, das Kistchen enthalte einen Schatz, öffnete er das Grabund fand mich noch am Leben. Dieser Mann trug mich in das Hospital der Findelkinder, wo ich unter Nummer 37 eingeschrieben wurde. Drei Monate nachher machte seine Schwägerin die Reise von Rogliano nach Paris, um mich zu holen, forderte mich als ihren Sohn zurück undbrachte mich nach Hause. Deshalbbin ich, obgleich in Auteuil geboren, doch in Korsika erzogen wurden.
Es herrschte einen Augenblick ein so tiefes Schweigen, das; man den Saal hätte für leer halten sollen.
Fahren Sie fort! sprach die Stimme des Präsidenten.
Ich konnte allerdings glücklich seinbei denbraven Leuten, die mich anbeteten; aber meine verkehrte Natur trug den Sieg über alle Tugenden davon, die meine Adoptivmutter in mein Herz zu pflanzen suchte. Ich wuchs im Schlechten und gelangte zum Verbrechen. Eines Tages, als ich Gott verfluchte, daß er mich soböse gemacht und mir ein so abscheuliches Geschick gegeben, kam mein Adoptivvater zu mir und sagte: Lästere nicht, Unglücklicher! Denn Gott hat dir das Tageslicht ohne Zorn verliehen, das Verbrechen kommt von deinem Vater. Von da an hörte ich auf, Gott zu lästern, aber ich verfluchte meinen Vater; und darum ließ ich hier die Worte vernehmen, die Sie mir vorgeworfen, Herr Präsident; darum habe ich den Skandal veranlaßt, über den diese Versammlung noch voll Entrüstungbebt. Ist dies ein Verbrechen mehr, sobestrafen Sie mich, habe ich Sie jedoch überzeugt, daß von meiner Geburt an mein Schicksal ein unseliges, schmerzliches, bitteres war, sobeklagen Sie mich!
Doch Ihre Mutter? fragte der Präsident.
Meine Mutter hielt mich für tot; meine Mutter ist nicht schuldig. Ich wollte ihren Namen nicht wissen und kenne ihn nicht.
In diesem Augenblick ertönte ein schriller Schrei, der in einem Schluchzen endigte, mitten aus einer Gruppe, die, wie gesagt, eine Frau umgab. Diese Frau hatte einen heftigen Anfall und wurde aus dem Gerichtssaale weggetragen; während man sie forttrug, verschobsich der dicke Schleier, der ihr Gesicht verbarg, und man erkannte Frau Danglars.
Trotz des Druckes, der auf seinen geschwächten Sinnen lastete, trotz desBrausens, das sein Ohr erfüllte, trotz des Wahnsinns, der sein Gehirn durchtobte, erkannte sie Herr von Villefort ebenfalls und stand auf.
DieBeweise! DieBeweise! sagte der Präsident, Angeklagter, erinnern Sie sich, daß dieses Gewebe von Greueltaten, um Glauben zu finden, durch die untrüglichstenBeweise unterstützt werden muß.
DieBeweise? versetzteBenedetto lachend, dieBeweise wollen Sie haben? Wohl! Schauen Sie Herrn von Villefort an, und verlangen Sie noch einmalBeweise.
Alle wandten sich dem Staatsanwalt zu, der unter dem Gewichte von tausend auf ihn geheftetenBlicken, wankend, die Haare in Unordnung, das Gesicht hochrot, vor den Präsidenten trat.
Die ganze Versammlung ließ ein anhaltendes Gemurmel des Erstaunens vernehmen.
Man verlangtBeweise von mir, mein Vater, sagteBenedetto; soll ich sie geben?
Nein, nein, stammelte Herr von Villefort mit gepreßter Stimme, nein, es ist unnötig.
Wie, unnötig? rief der Präsident, was wollen Sie damit sagen?
Ich will damit sagen, entgegnete der Staatsanwalt, daß ich mich vergebens unter dem tödlichen Drucke, der mich niederwirft, zerarbeiten würde. Meine Herren, ich erkenne es, ichbin in der Hand des rächenden Gottes. KeineBeweise! Esbedarf deren nicht: Alles, was dieser junge Mensch gesagt hat, ist wahr.
Ein düsteres, drückendes Schweigen, wie das, welches den Katastrophen der Natur vorhergeht, hüllte alle Anwesenden in seinenbleiernen Mantel.
Wie, Herr von Villefort, rief der Präsident. Hat Sie ein Anfall von Irrsinn gepackt? Sind Sie Herr Ihrer geistigen Fähigkeiten? Es wäre kein Wunder, wenn eine so seltsame, so unvorhergesehene, so furchtbare Anklage Ihren Geist gestört hätte! Auf, Herr von Villefort, beruhigen Sie sich!
Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. Seine Zähne schlugen heftig aneinander, wie die eines Menschen, der vom Fieber verzehrt wird, und dennoch war erbleich wie der Tod.
Ichbin ganz und garbei Sinnen, sagte er; der Körper allein leidet, und das läßt sichbegreifen. Ich erkenne mich schuldig alles dessen, was dieser junge Mensch gegen mich vorgebracht hat, und halte mich von dieser Stunde an in meinem Hause zur Verfügung des Herrn Staatsanwalts, meines Nachfolgers.
Nachdem er diese Worte mit dumpfer, fast erstickter Stimme gesprochen hatte, ging Herr von Villefort wankend auf die Tür zu, die ihm der Gerichtsdiener mechanisch öffnete.
Die ganze Versammlungbliebstumm unter dem Eindruck dieser Erklärung und des Geständnisses, wodurch die rätselhaften Erscheinungen, die seit vierzehn Tagen die hohe Pariser Gesellschaft erregten, eine so furchtbare Entwicklung nahmen.
Man sage noch einmal, das Drama liege nicht im Leben! sprachBeauchamp.
Meiner Treu, versetzte Chateau‑Renaud, ich würde noch lieber wie Herr von Morcerf endigen; ein Pistolenschuß erscheint sanft gegen eine solche Katastrophe.
Und dann tötet er auch, bemerkteBeauchamp.
Und ich dachte eine Zeitlang daran, seine Tochter zu heiraten! sagte Debray. Das arme Kind hat wohl daran getan, daß es gestorben ist.
Die Sitzung ist aufgehoben, meine Herren, und die Sache auf die nächste Session verschoben, sagte der Präsident. Der Prozeß muß aufs neue eingeleitet und einem anderenBeamten anvertraut werden.
Andrea verließ den Saal, stets gleich ruhig und noch viel interessanter als zuvor, geleitet von Gendarmen, die ihm unwillkürlich eine gewisse Achtung zollten.
Nun, was denken Sie davon, meinbraver Mann? fragte Debray den Stadtsergeanten, indem er ihm einen Louisd'or in die Hand drückte.
Man wird ihm mildernde Umstände zubilligen! antwortete dieser.
Die Sühne.
Es wäre schwierig, den Zustand derBetäubung zubeschreiben, in dem sich Herr von Villefortbefand, als er den Palast verließ, das Fieber zu schildern, das jede Arterie schlagen, jede Faser seines Leibes erstarren ließ und jede Vene zum Zerspringen anschwellte. Er schleppte sich mühsam die Gänge entlang; er warf die Toga desBeamten von seinen Schultern, weil sie für ihn jetzt eine niederdrückende Last geworden war. Er kam wankendbis zur Cour Dauphine, erblickte seinen Wagen, öffnete selbst den Schlag und sank, mit dem Finger die Richtung des Faubourg Saint‑Honoré andeutend, auf die Kissen.
Das ganze Gewicht seines zusammengestürzten Glückes war auf sein Haupt gefallen; dieses Gewicht drückte ihn nieder, ohne daß er genau die Folgen davon kannte; er hatte diese nicht ermessen, er fühlte sie nur.
Gott! murmelte er, ohne nur zu wissen, was er sagte.
Der Wagen rollte rasch fort; heftig sich auf den Kissen hin und herbewegend, fühlte Villefort einen Gegenstand, der ihnbelästigte, es war ein Fächer, den Frau von Villefort zwischen den Kissen des Wagens hatte liegen lassen; dieser Fächer erweckte eine Erinnerung, und diese Erinnerung war wie einBlitz mitten in der Nacht.
Villefort dachte an seine Frau.
Oh! oh! rief er, als obein glühendes Eisen sein Herz durchdränge.
Seit einer Stunde hatte er in der Tat nur eine Seite seines Unglücks vor Augen, und nunbot sich seinem Geiste plötzlich eine andere, nicht minder furchtbare.
Diese Frau! Er war gegen sie kurz zuvor als unerbittlicher Richter verfahren, er hatte sie zum Tode verurteilt. Und vom Schrecken ergriffen, von Gewissensbissen niedergeschmettert, in den Abgrund der Schande gestürzt, den er durch dieBeredsamkeit seiner vorwurfsfreien Tugend vor ihr geöffnet hatte, schwach und wehrlos gegen seine unumschränkte oberste Gewalt, schickte sich die arme Frau in diesem Augenblick vielleicht an, zu sterben!
Eine Stunde war seit ihrer Verurteilung abgelaufen. Ohne Zweifel stellte sie sich in dieser Minute in ihrem Gedächtnis alle ihre Verbrechen vor, bat Gott um Gnade und schriebeinenBrief, um auf den Knien die Verzeihung ihres tugendhaften Gatten anzuflehen, eine Verzeihung, die sie mit ihrem Tode erkaufte.
Villefort stieß ein zweites Gebrüll des Schmerzes und der Wut aus.
Ah! rief er, sich auf dem Atlaskissen seiner Karosse wälzend, diese Frau ist nur Verbrecherin geworden, weil sie michberührt hat. Ich schwitze das Verbrechen aus, und sie ist davon angesteckt, wie man vom Typhus, von der Cholera, der Pest angesteckt wird, und ichbestrafe sie! Oh! nein! nein! sie wird leben… sie wird mir folgen… Wir fliehen, verlassen Frankreich und wandern fort und fort, solange uns die Erde trägt. Ich sprach zu ihr vom Schafott!.. Großer Gott! Wie konnte ich es wagen, dieses Wort auszusprechen! Auch mich erwartet das Schafott… Wir werden fliehen… Ja, ich will ihrbeichten; ja, jeden Tag will ich mich demütigen, ihr sagen, daß ich auch ein Verbrechenbegangen habe. Oh! Herrliche Verbindung des Tigers und der Schlange! Oh! Würdige Frau eines Mannes, wie ichbin! Sie soll leben, meine Schande soll die ihrige noch überstrahlen und sie verschwinden lassen.
Villefort stieß heftig das Vorderfenster seines Coupés herabund rief mit einer Stimme, die den Kutscher von seinem Sitze auffahren ließ: Vorwärts! Geschwinder! Geschwinder!
Von Furcht getrieben, flogen die Pferdebis an sein Haus.
Ja, ja, wiederholte sich Villefort, während er sich seiner Wohnung näherte, ja, diese Frau soll leben, sie sollbereuen und meinen Sohn erziehen, mein armes Kind, das einzige Wesen meiner Familie, das außer dem unzerstörbaren Greise der Vernichtung entgangen ist. Sie liebte den Knaben; für ihn hat sie alles getan. Man darf nie an dem Herzen einer Mutter verzweifeln, die ihr Kind liebt; sie wirdbereuen, und niemand wird erfahren, daß sie schuldig war. Die in meinem Hause verübten Verbrechen werden mit der Zeit vergessen; oder erinnern sich ihrer einige Feinde, so nehme ich sie auf das Register meiner Frevel. Meine Frau wird leben, sie wird noch glücklich sein, weil sich ihre ganze Liebe in ihrem Sohne zusammendrängt und ihr Sohn sie nicht verlaßt. Ich werde eine gute Handlung verrichtet haben, und das erleichtert das Herz.
Und der Staatsanwalt atmete freier, als er es seit langen Minuten getan. Der Wagen hielt im Hofe des Hotels an.
Villefort stürzte von dem Fußtritt auf die Freitreppe; er sah, wie die Diener darüber staunten, daß er so schnell zurückkam. Er las nichts anderes auf ihrem Antlitz; keiner richtete das Wort an ihn; manbliebvor ihm stehen, wie gewöhnlich, um ihn vorbeigehen zu lassen — mehr nicht.
Er kam an Noirtiers Zimmer vorüber und erblickte durch die halboffene Türe etwas wie zwei Schatten; doch ihn kümmerte es nicht, werbei seinem Vater war; seine Unruhe triebihn vorwärts.
Gut, sagte er, die kleine Treppe hinaufsteigend, die zu dem Vorplatze führte, auf den die Wohnung seiner Frau und Valentines Zimmer mündeten, gut, es hat sich hier nichts geändert.
Er schloß vor allem die Tür des Vorplatzes.
Niemand darf uns stören, sagte er; ich muß frei mit ihr sprechen, mich vor ihr anklagen, ihr alles mitteilen können.
Er näherte sich der Tür, legte die Hand auf den kristallenen Knopf, die Tür gabnach.
Nicht geschlossen! Oh! Gut, sehr gut! murmelte er und umfaßte mit einemBlicke den ganzen Salon. Niemand, sagte er; ohne Zweifel ist sie in ihrem Schlafzimmer.
Er eilte nach der Tür. Hier war der Riegel vorgeschoben. Schauerndblieber stehen und rief: Heloise!
Es kam ihm vor, als verrücke man einen Schrank.
Heloise! wiederholte er.
Wer ist da? fragte die Stimme der Gerufenen.
Er glaubte, diese Stimme sei schwächer als gewöhnlich.
Öffnen Sie, öffnen Sie, rief Villefort, ichbin es.
Doch trotz diesesBefehles, trotz des ängstlichen Tones, mit dem er gegeben wurde, öffnete man nicht.
Villefort stieß die Tür mit einem Fußtritte ein.
Am Eingang des Zimmers, das in ihrBoudoir ging, stand Frau von Villefort, bleich, mit verzogenem Gesicht und schaute ihn mit furchtbar starren Augen an.
Heloise! rief er, was haben Sie, sprechen Sie!
Die junge Frau streckte ihre starre, leichenblasse Hand gegen ihn aus.
Es ist geschehen, mein Herr, sagte sie mit einem Röcheln, das ihren Schlund zu zerreißen schien: Was wollen Sie noch mehr von mir?
Und sie stürzte plötzlich zuBoden.
Villefort lief auf sie zu und faßte siebei der Hand, in der sie krampfhaft ein kristallenes Fläschchen hielt.
Frau von Villefort war tot.
Außer sich vor Schrecken wich Villefortbis auf die Schwelle des Zimmers zurück und schaute die Leiche an.
Mein Sohn! rief er plötzlich, wo ist mein Sohn? Eduard! Eduard!
Er stürzte aus dem Zimmer und schrie nach Eduard mit einem solchen Tone der Angst, daß dieBedienten herbeiliefen.
Mein Sohn! Wo ist mein Sohn? fragte Villefort, man entferne ihn von dem Hause, er soll nicht sehen…
Herr Eduard ist nicht unten, antwortete der Kammerdiener.
Er spielt ohne Zweifel im Garten; seht nach! seht nach!
Nein, Herr Staatsanwalt, die gnädige Frau hat ihren Sohn vor ungefähr einer halben Stunde gerufen; Herr Eduard ist zu ihr hineingegangen und seitdem nicht mehr herausgekommen.
Ein eiskalter Schweiß überströmte Villeforts Stirn; seineBeine strauchelten, seine Gedanken fingen an, sich wie das in Unordnung gebrachte Räderwerk einer zerbrochenen Uhr in seinem Kopfe zu drehen.
Zu ihr! murmelte er, zu ihr! Und er kehrte langsam um und wischte sich mit einer Hand den Schweiß ab, während er sich mit der andern an die Wand stützte.
In das Zimmer zurückkehrend, mußte er abermals den Leichnam der unglücklichen Frau sehen.
Villefort fühlte seine Zunge im Schlunde gelähmt.
Eduard! Eduard! stammelte er.
Das Kind antwortete nicht; wo mochte das Kind sein, das nach Aussage der Diener zu seiner Mutter hineingegangen und nicht wieder herausgekommen war?
Villefort machte einen Schritt vorwärts.
Der Leichnam der Frau von Villefort lag quer vor der Tür desBoudoirs, in dem sich Eduardbefinden mußte; dieser Leichnam schien mit starren, offenen Augen, mit einer gräßlichen, geheimnisvollen Ironie auf den Lippen an der Schwelle zu wachen.
Hinter dem Leichnam ließ der halbaufgehobene Türvorhang einen Teil desBoudoirs, ein Klavier und das Ende eines Diwans vonblauem Atlasbemerken.
Villefort machte ein paar Schritte vorwärts und sah auf dem Sofa sein Kind liegen. Es schlief ohne Zweifel.
Er nahm das Kind in seine Arme, preßte es, schüttelte es, rief es; das Kind antwortete nicht. Er drückte seine gierigen Lippen auf seine Wangen; diese Wangen warenbleich und eisig; er riebseine starren Glieder, er legte seine Hand auf sein Herz, — das Herz schlug nicht mehr. Das Kind war tot. Ein viereckiges zusammengelegtes Papier fiel aus EduardsBrust. Wie vomBlitze getroffen, sank Villefort auf seine Knie; das Kind entschlüpfte seinen schlaffen Armen und rollte an die Seite seiner Mutter.
Villefort hobdas Papier auf, erkannte die Schrift seiner Frau und durchlief es gierig. Es enthielt folgende Worte: Sie wissen, obich eine gute Mutter war, da ich mich für meinen Sohn zur Verbrecherin gemacht habe. Eine gute Mutter reist nicht ohne ihren Sohn!
Villefort wollte seinen Augen nicht trauen, seiner Vernunft nicht glauben; er schleppte sich zu Eduards Körper, untersuchte ihn noch einmal mit ängstlicher Aufmerksamkeit, und ein herzzerreißender Schrei drang aus seinerBrust hervor.
Gott! murmelte erbeständig, Gott!
Diebeiden Opfer flößten ihm Entsetzen ein; er fühlte, wie sich der Schauer der die zwei Leichnamebergenden Einsamkeit seinerbemächtigte. Erbeugte sein Haupt unter dem Gewichte der Schmerzen, er erhobsich auf seine Knie, schüttelte seine von Schweiß feuchten, vor Schrecken emporgesträubten Haare, — und er, der nie Mitleid mit jemand gehabt hatte, suchte den Greis, seinen Vater, auf, um irgend jemand zu haben, dem er sein Unglück erzählen, bei dem er weinen könnte.
Noirtier schien aufmerksam, freundlich auf den wie gewöhnlich ruhigen und kalten AbbéBusoni zu hören.
Als Villefort den Abbé erblickte, fuhr er mit der Hand nach seiner Stirn. Die Vergangenheit kehrte zu ihm zurück; er erinnerte sich desBesuches, den er dem Abbé zwei Tage nach dem Mittagsmahle in Auteuil gemacht, und desBesuches, den ihm der Abbé am Todestage von Valentine abgestattet hatte.
Sie hier, mein Herr! sagte er; Sie erscheinen also immer nur in diesem Hause, um den Tod zu geleiten?
Busoni richtete sich auf. Als er die verstörten Gesichtszüge desBeamten, den wilden Glanz seiner Augen wahrnahm, begriff er, oder glaubte er zubegreifen, daß die Szene vor dem Schwurgericht sich abgespielt hatte; das übrige wußte er nicht.
Ichbin damals gekommen, umbei dem Leichnam Ihrer Tochter zubeten, antworteteBusoni.
Und warum kommen Sie heute hierher?
Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß Sie Ihre Schuld hinreichendbezahlt haben, und daß ich von diesem Augenblicke an Gottbitten werde, er möge zufrieden sein, wie ich.
Mein Gott! rief Villefort erschreckt zurückweichend, diese Stimme ist nicht die des AbbésBusoni!
Nein.
Der Abbé riß seine falsche Tonsur ab, schüttelte den Kopf, und seine langen, schwarzen Haare fielen, vom Zwangebefreit, auf seine Schultern herabund umrahmten sein männliches Antlitz.
Es ist das Gesicht des Herrn von Monte Christo, rief Villefort mit stieren Augen.
Auch das ist es nicht, Herr Staatsanwalt, suchen Siebesser und ferner.
Diese Stimme! Diese Stimme! Wo habe ich sie zum ersten Male gehört?
Sie haben sie zum ersten Male in Marseille gehört vor einundzwanzig Jahren, am Tage Ihrer Verlobung mit Fräulein von Saint‑Meran. Suchen Sie in Ihren Akten!
Sie sind nichtBusoni? Sie sind nicht Monte Christo? Mein Gott, Sie sind jener verborgene Todfeind! Ich habe in Marseille etwas gegen Sie getan, oh! wehe mir!
Ja, du hast recht, sagte der Graf, die Arme über seinerbreitenBrust kreuzend; suche! suche!
Aber was habe ich dir denn getan? rief Villefort, dessen Geistbereits auf der Grenze schwebte, wo sich Vernunft und Unvernunft vermengen und der Wahnsinn droht, was habe ich dir getan? Sage! Sprich!
Sie haben mich zu einem langsamen, gräßlichen Tode verurteilt, Sie haben meinen Vater getötet, Sie haben mir mit der Freiheit die Liebe und mit der Liebe das Glück geraubt!
Wer sind Sie? Mein Gott! Wer sind Sie denn?
Ichbin das Gespenst eines Unglücklichen, den Sie in dein Kerker des Schlosses Ifbegraben haben. Diesem aus seinem Grabe hervorgegangenen Gespenst hat Gott die Maske des Grafen von Monte Christo gegeben, er hat es mit Diamanten und Goldbedeckt, damit Sie es erst heute erkennen sollen.
Ah! Ich erkenne dich, ich erkenne dich! sprach der Staatsanwalt; dubist…
Ichbin Edmond Dantes!
Dubist Edmond Dantes! rief der Staatsanwalt, den Grafenbeim Handgelenke fassend, so komm.
Und er zog ihn nach der Treppe, zu der ihm Monte Christo, ohne zu wissen, wohin ihn der Staatsanwalt führte, aber eine neue Katastrophe ahnend, folgte.
Sieh, Edmond Dantes, sagte er, dem Grafen den Leichnam seiner Frau und den Körper seines Sohnes zeigend; sieh hier! Bist du gerächt?
Monte Christo erbleichtebei diesem furchtbaren Schauspiel; erbegriff, daß er die Rechte der Rache überschritten hatte; erbegriff, daß er nicht mehr sagen konnte: Gott ist für mich und mit mir.
Er warf sich mit einer Empfindung unaussprechlicher Angst auf den Körper des Kindes, öffnete seine Augen, befühlte seinen Puls und stürzte mit ihm in Valentines Zimmer, das er doppelt schloß.
Mein Kind, rief Villefort, er trägt den Leichnam meines Kindes fort! Oh! Fluch! Unglück! Tod über dich!
Und er wollte Monte Christo nachstürzen; aber er fühlte, daß seine Füße wie in einem Traume Wurzel faßten, seine Augen erweiterten sich, als wollten sie ihre Höhlen sprengen. Die Adern seiner Schläfen schwollen an.
Diese Starrheit dauerte mehrere Minuten, bis die gräßliche Umwälzung der Vernunft vollbracht war. Dann stieß er einen Schrei aus, schlug ein langes Gelächter an und stürzte nach der Treppe.
Eine Viertelstunde nachher öffnete sich das Zimmer Valentines wieder, und der Graf von Monte Christo erschien auf der Schwelle. Er warbleich, sein Auge finster, seineBrust gepreßt. Alle Züge des sonst so ruhigen Gesichtes waren vom Schmerz verstört.
Er hielt in seinen Armen das Kind, dem keine Hilfe das Leben hatte zurückgeben können.
Der Graf setzte ein Knie auf die Erde und legte den Knaben mit frommer Gebärde neben seiner Mutter so nieder, daß sein Kopf auf ihrerBrust ruhte.
Dann stand er auf, ging hinaus und fragte einenBedienten: Wo ist Herr von Villefort?
DerBediente streckte, ohne zu antworten, die Hand nach dem Garten aus. Monte Christo stieg die Treppe hinab, schritt auf denbezeichneten Ort zu und sah mitten unter seinen Dienern Villefort, der, einen Spaten in der Hand, die Erde mit einer Art von Wut durchwühlte und vor sich hinmurmelte: Es ist noch nicht hier, es ist noch nicht hier!
Monte Christo näherte sich ihm und sprach ganz leise, mitbeinahe demütigem Tone: Mein Herr, Sie haben einen Sohn verloren; doch…
Villefort unterbrach ihn; er hatte weder gehört noch gesehen. Oh! Ich werde ihn wiederfinden, sagte er; Sie mögen immerhinbehaupten, er sei nicht da, ich werde ihn wiederfinden, und müßte ichbis zum Tage des jüngsten Gerichtes suchen.
Monte Christo wich voll Schrecken zurück. Ha! er ist wahnsinnig, murmelte er. Und als hätte erbefürchtet, die Mauern des verfluchten Hauses könnten über ihm einstürzen, lief er auf die Straße, zum ersten Male zweifelnd, ober das Recht gehabt, zu tun, was er getan.
Oh! Genug, genug damit, sagte er, retten wir den letzten!
Monte Christo kam nach Hanse und traf Morel, der in dem Hotel der Champs‑Elysses umherirrte, schweigsam wie ein Schatten, der den von Gottbestimmten Augenblick, um in sein Grabzurückzukehren, erwartet.
Treffen Sie Ihre Vorkehrungen, Maximilian, sagte er, freundlich lächelnd, zu ihm, wir verlassen morgen Paris.
Haben Sie nichts mehr hier zu tun? fragte Morel.
Nein, antwortete Monte Christo, und Gott wolle, daß ich nicht zu viel getan habe.
Am andern Tage reisten sie wirklich, nur vonBaptistinbegleitet, ab. Haydee hatte Ali mitgenommen, Bertucciobliebbei Noirtier.
Die Abreise.
Diese Ereignissebeschäftigten ganz Paris. Auch Emanuel und seine Frau erzählten sie sich mit erklärlichem Erstaunen in ihrem kleinen Salon der Rue Meslay; sie stellten die drei ebenso plötzlichen wie unerwarteten Katastrophen von Morcerf, Danglars und Villefort zusammen. Maximilian, der ihnen einenBesuch machte, hörte ihnen zu.
Wie viele Unglücksfälle! sagte Emanuel, an Morcerf und Danglars denkend.
Welche Leiden! rief Julie, sich Valentines erinnernd, die sie nicht in Gegenwart ihresBruders nennen wollte.
Wenn Gott sie geschlagen hat, sagte Emanuel, so geschah es, weil Gott in der Vergangenheit dieser Leute nichts fand, was eine Milderung dieser Strafe verdiente, weil diese Leute verflucht waren.
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als das Geräusch der Glocke ertönte. Fast in demselben Augenblick öffnete sich die Tür, und der Graf von Monte Christo erschien auf der Schwelle.
Ein doppelter Freudenschrei drang aus dem Munde der jungen Leute.
Maximilian, sagte der Graf, ohne daß es schien, alsbemerke er den Eindruck, den seine Gegenwart auf seine Wirte hervorbrachte, Maximilian, ich komme, Sie zu holen.
Mich holen? fragte Maximilian, wie aus einem Traume erwachend.
Ja, ist es nicht unter uns verabredet, daß ich Sie mitnehme, und habe ich Ihnen nicht gestern gesagt, Sie möchten sichbereit halten?
Hierbin ich, sagte Maximilian, ich ging nur hierher, um Abschied zu nehmen.
Und wohin reisen Sie, Herr Graf? fragte Julie.
Zuerst nach Marseille, gnädige Frau.
Nach Marseille? wiederholten diebeiden.
Ja, und ich nehme Ihnen IhrenBruder.
Ach! Herr Graf, erwiderte Julie, geben Sie ihn uns geheilt zurück.
Morel wandte sich ab, um eine lebhafte Röte zu verbergen.
Ich werde es versuchen, versetzte der Graf.
Ichbinbereit, mein Herr, sprach Maximilian. Lebt Wohl! Gottbefohlen, Emanuel! Gottbefohlen, Julie!
Wie! Lebt wohl? rief Julie, du reisest also auf der Stelle, ohne Vorbereitung, ohne Paß?
Das sind Dinge, die den Kummer der Trennung verdoppeln, sagte Monte Christo, und ichbin fest überzeugt, Maximilian ist meiner Empfehlung gemäß, so vorsichtig gewesen, für alles zu sorgen.
Ich habe meinen Paß, und mein Koffer ist gepackt, sagte Morel.
Sehr gut, versetzte Monte Christo lächelnd, man erkennt hierin die Pünktlichkeit eines guten Soldaten.
Und Sie verlassen uns auf diese Art? sagte Julie, Sie verlassen uns aus der Stelle, Sir schenken uns nicht einen Tag, nicht eine Stunde?
Mein Wagen ist vor der Tür, gnädige Frau; ich muß in fünf Tagen in Rom sein.
Doch Maximilian geht nicht nach Rom! entgegnete Emanuel.
Ich gehe, wohin mich der Graf führt, sagte Morel mit einem traurigen Lächeln; ich gehöre ihm noch für einen ganzen Monat.
Oh! Mein Gott, wie er das sagt, Herr Graf.
Maximilianbegleitet mich, sagte der Graf mit seiner überzeugenden Freundlichkeit, beruhigen Sie sich also über IhrenBruder.
Gottbefohlen, meine Schwester! wiederholte Morel; lebe wohl, Emanuel!
Er verwundet mir das Herz mit seiner Gleichgültigkeit, sagte Julie; oh! Maximilian, du verbirgst uns etwas!
Bah! rief Monte Christo, Sie werden ihn lachend und freudig zurückkommen sehen.
Maximilian schleuderte Monte Christo einen halbverächtlichen, halbzornigenBlick zu.
Vorwärts! sagte der Graf.
Ehe Sie von uns gehen, Herr Graf, sagte Julie, erlauben Sie uns, alles das auszudrücken, was einst…
Gnädige Frau, erwiderte der Graf, siebeibeiden Händen fassend, alles, was Sie mir sagen würden, käme nicht dem gleich, was ich in Ihren Augen lese; was Ihr Herz gedacht, hat das meinige empfunden. Wie die Wohltäter in Romanen hätte ich, ohne Sie wiederzusehen, abreisen müssen; doch diese Tugend ging über meine Kräfte, weil ich ein schwacher und eitler Menschbin, weil der feuchte, freudige, zärtlicheBlick von meinesgleichen nur wohltut… Nun reise ich ab, ich treibe die Selbstsucht so weit, daß ich sage: Meine Freunde, vergeßt mich nicht, denn ihr werdet mich wahrscheinlich nie wiedersehen.
Nicht wiedersehen! rief Emanuel, während zwei schwere Tränen über Julies Wangen rollten; nicht wiedersehen?
Indem der Graf an seine Lippen die Hand Julies drückte, die sich in seine Arme stürzte, reichte er die andere Emanuel; dann entriß er sich diesem Hause, einem weichen Neste, dessen Wirt das Glück war, und zog durch ein Zeichen den seit Valentines Tode stets unempfindlichen, leidenden, in Gedanken versunkenen Maximilian nach sich.
Geben Sic meinemBruder die Freude wieder! flüsterte Julie Monte Christo zu.
Monte Christo drückte ihr die Hand, wie er sie ihr elf Jahre vorher auf der Treppe, die zu Morels Kabinett führte, gedrückt hatte.
Vertrauen Sie Simbad dem Seefahrer? fragte sie lächelnd der Graf.
Oh, ja.
Wohl! So schlafen Sie im Frieden und im Glauben an den Herrn.
Unten an der Freitreppe wartete Ali mit schweißglänzendem Gesicht; er schien von einem langen Gange zu kommen.
Nun? fragte ihn der Graf in arabischer Sprache, bist dubei dem Greise gewesen?
Ali machte einbejahendes Zeichen.
Und du hast ihm denBrief vorgelegt, wie ich dirbefohlen?
Ja, sagte ehrfurchtsvoll der Sklave.
Und was hat er gesagt oder vielmehr getan?
Ali stellte sich so unter das Licht, daß ihn sein Herr sehen konnte, und schloß, vortrefflich das Gesicht des Greises nachahmend, die Augen, wie dies Noirtier tat, wenn er ja sagen wollte.
Gut! Er nimmt es an, sagte Monte Christo; brechen wir auf!
Kaum hatte er dieses Wort entschlüpfen lassen, alsbereits der Wagen rollte und die Pferde aus dem Pflaster eine Funkenmasse springen ließen.
Maximilian legte sich in seine Ecke, ohne ein Wort zu sprechen. Es verging eine halbe Stunde: der Wagen hielt plötzlich an; der Nubier stieg abund öffnete den Schlag. Die Nacht funkelte von Sternen. Man war oben an der Anhöhe von Villedejuif, auf der Hochebene, von wo aus Paris wie ein düsteres Meer seine Millionen von Lichternbewegt, die phosphoreszierenden Wellen gleichen.
Der Grafblieballein, und auf ein Zeichen fuhr der Wagen ein paar Schritte weiter. Langebetrachtete er mit gekreuzten Armen schweigend dasBabylon zu seinen Füßen. Dann sagte er, die Hände wie zum Gebete faltend:
Große Stadt! Es sind weniger als sechs Monate, daß ich durch deine Tore eingetretenbin. Ich glaube, daß mich der Geist Gottes zu dir geführt hat, triumphierend führt er mich von dir zurück. Das Geheimnis meiner Gegenwart in deinen Mauern habe ich diesem Gotte anvertraut, der allein in meinem Herzen zu lesen vermochte; er allein weiß, daß ich mich ohne Haß und ohne Stolz, doch nicht ohneBedauern entferne! Er allein weiß, daß ich nicht meinetwegen und nicht um eitler Ursache willen von der Macht, die er mir anvertraut, Gebrauch gemacht habe. Oh, große Stadt! In deinem zitternden Schoße habe ich gefunden, was ich suchte; ein geduldiger Gräber, durchwühlte ich deine Eingeweide, um dasBöse daraus hervorzutreiben; nun ist mein Werk erfüllt, meine Sendungbeendigt; nun kannst du mir weder Freude, noch Schmerzen mehrbieten, Gottbefohlen, Paris!
SeinBlick schwebte noch einmal wie der eines nächtlichen Geistes über die Ebene hin. Dann fuhr er mit der Hand nach der Stirn, stieg wieder in seinen Wagen, derbald auf der andern Seite der Anhöhe in einem Wirbel von Staubverschwand.
Das Haus in den Allées de Meillan.
Sie legten zehn Stunden zurück, ohne ein Wort zu sprechen, Morel träumte, Monte Christo schaute den Träumer an.
Morel, sagte der Graf endlich zu ihm, sollten Siebereuen, daß Sie mir gefolgt sind?
Nein, Herr Graf, doch Paris verlassen…
Hätte ich geglaubt, das Glück erwarte Sie in Paris, so würde ich Sie dort gelassen haben.
In Paris ruht Valentine, und von Paris scheiden heißt sie zum zweiten Male verlieren.
Maximilian, sagte der Graf, Freunde, welche wir verloren haben, ruhen nicht in der Erde; sie sind in unserem Herzenbegraben, und Gott hat es so gewollt, damit wir sie stetsbei uns haben können. Ich habe zwei Freunde, die mich auf diese Artbeständigbegleiten: der eine ist der, welcher mir das Leben, der andere der, welcher mir den Verstand gegeben hat. Der Geistbeider lebt in mir. Ichbefrage sie im Zweifel, und wenn ich etwas Gutes tat, so habe ich es ihren Ratschlägen zu verdanken. Beraten Sie sich mit der Stimme Ihres Herzens, Morel, und fragen Sie, obSie mir fortwährend diesesböse Gesicht machen sollen.
Mein Freund, sagte Morel, die Stimme meines Herzens ist sehr traurig und verheißt mir nur Unglück.
Es ist das Eigentümliche geschwächter Geister, daß sie alle Dinge nur durch einen schwarzen Flor sehen. Die Seelebildet sich selbst ihren Horizont; Ihre Seele ist düster, und sie läßt Ihnen den Himmel stürmisch erscheinen.
Das mag wahr sein, sagte Maximilian und verfiel wieder in seine Träumerei.
Die Reise ging mit wunderbarer Schnelligkeit vor sich, die Städte zogen wie Schatten auf ihrem Wege vorüber. Am andern Morgen kamen sie in Chalons an, wo sie das Dampfboot des Grafen erwartete. Ohne einen Augenblick zu verlieren, wurde der Wagen anBord gebracht, nachdem diebeiden Reisenden selbst eingeschifft waren.
Was den Grafenbetrifft, so schien ihn, je mehr er sich von Paris entfernte, eine um so größere Heiterkeit wie eine Glorie zu umgeben; es war, als kehre ein Verbannter in sein Vaterland zurück.
Marseille, das weiße, warme, lebendige Marseille, die jüngere Schwester von Tyrus und Karthago, die ihnen in der Herrschaft auf dem mittelländischen Meere folgte, Marseille, das immer jünger wird, je mehr es altert, erschienbald vor ihren Augen. Dieser runde Turm, dieses Fort Saint‑Nicolas, das Stadthaus, der Hafen mit den Kais vonBacksteinen, wobeide als Kinder gespielt hatten, boten den Reisenden einen erinnerungsreichen Anblick.
Auf der Cannébièreblieben sie stehen.
Ein Schiff ging nach Algier ab. Das geschäftige Handhaben der Warenballen, die auf dem Verdecke sich drängenden Passagiere, die Menge der Verwandten, der Freunde, die hier Abschied nahmen, weinten und schrieen; alle diese lärmenden Szenen vermochten Maximilian einem Gedanken nicht zu entreißen, der ihn ergriff, sobald er den Fuß auf diebreiten Platten des Kais setzte. Sehen Sie, sagte er, Monte Christo am Arme fassend, dies ist der Ort, wo mein Vater stand, als der Pharao in den Hafen einlief. Hier warf sich derbrave Mann, den Sie vom Tode und von der Schande erretteten, in meine Arme; ich fühle noch seine Tränen auf meinem Antlitz, und er weinte nicht allein, sondern es weinten noch viele Leute, die uns sahen.
Monte Christo lächelte und sagte, auf eine Straßenecke deutend: Ich war dort.
Als er dies sagte, hörte man in der von ihm angegebenen Richtung ein schmerzliches Seufzen, und man sah eine Frau, die einem Passagier des abgehenden Schiffes Zeichen machte. Der Anblick dieser Frau, die verschleiert war, brachtebei Monte Christo eine Erschütterung hervor, die Morel leicht wahrgenommen hätte, wären seine Augen nicht ans das Schiff geheftet gewesen.
Oh mein Gott! rief Morel, ich täusche mich nicht! jener junge Mann mit den Epauletten des Unterleutnants ist Albert von Morcerf!
Ja, sagte Monte Christo, ich habe ihn erkannt.
Wie kann dies sein? Sie schauten auf die entgegengesetzte Seite.
Der Graf lächelte, wie er es machte, wenn er nicht antworten wollte, wobei seine Augen zu der verschleierten Frau zurückkehrten, die an der Straßenecke verschwand. Dann wandte er sich um und sagte zu Maximilian: Lieber Freund, haben Sie nichts in dieser Gegend zu tun?
Ich habe auf dem Grabe meines Vaters zu weinen, antwortete Morel mit dumpfem Tone.
Es ist gut, gehen Sie, und erwarten Sie mich dort, ich werde Sie abholen.
Sie verlassen mich?
Ja… ich habe auch eine Pflicht zu erfüllen.
Monte Christo ließ Maximilian weggehen undbliebauf derselben Stelle, bis er verschwunden war; dann erst wanderte er nach den Allées de Meillan, um das kleine Haus auszusuchen, das unsere Leser am Anfange dieser Geschichte kennen gelernt haben.
Es erhobsich noch im Schatten der großen Lindenallee, die den müßigen Marseillern als Spaziergang dient, und im Schmucke der großen Vorhänge von Weinreben, die auf dem von der glühenden Sonne des Südens vergilbten Gesteine ihre geschwärzten und gezackten Arme kreuzten.
In dieses trotz seines Alters reizende, trotz seiner Ärmlichkeit heitere Haus, das einst Dantes' Vaterbewohnte, trat die Frau mit dem langen Schleier, die Monte Christo von dem abgehenden Schiffe sich entfernen sah.
Für den Grafen waren die ausgetretenen Stufen vor der Tür alteBekannte; er verstand esbesser als irgend jemand, diese Tür zu öffnen, deren innere Klinke ein Nagel mitbreitem Kopfe hob.
Er trat auch ein, ohne zu klopfen, ohne sich melden zu lassen, wie ein Freund, wie ein Gast.
Am Ende eines mitBacksteinen gepflasterten Ganges öffnete sich, reich an Wärme, an Sonne und an Licht, ein kleiner Garten, derselbe, wo an dembezeichneten Orte Mercedes die Summe gefunden hatte, deren Verwahrung der Graf aus Zartgefühl um vierundzwanzig Jahre zurückdatierte. Von der Schwelle der Haustür erblickte man die erstenBäume des Gartens.
Schon auf der Schwelle hörte Monte Christo ein Seufzen, das einem Schluchzen glich. Dieses Seufzen leitete seinenBlick, und unter einer Laube von dichtemBlätterwerk sah er Mercedes mit gesenktem Kopfe und weinend auf einerBank sitzen.
Monte Christo machte einige Schritte, der Sand knisterte unter seinen Füßen.
Mercedes hobdas Haupt und stieß einen Schrei des Schreckens aus, als sie einen Mann vor sich sah.
Gnädige Frau, sagte der Graf, es liegt nicht mehr in meiner Gewalt, Ihnen das Glück zubringen; doch ichbiete Ihnen den Trost; wollen Sie ihn als von einem Freunde kommend annehmen?
Ich bin in der Tat sehr unglücklich, erwiderte Mercedes; allein auf der Welt… Ichbesaß nur meinen Sohn, und er hat mich verlassen.
Und er hat wohl daran getan, gnädige Frau, Ihr Sohn ist ein edles Herz, versetzte der Graf. Er hatbegriffen, daß jeder Mensch dem Vaterlande einen Tribut schuldig ist, die einen ihre Talente, die andern ihren Gewerbefleiß; diese ihren Schweiß, jene ihrBlut. Wäre erbei Ihnen geblieben, so würde er ein unnützes Leben in Schwermut hingebracht haben. Im Kampfe gegen sein Mißgeschick, das er sicherlich in Glück verwandelt, wird er groß und stark werden. Lassen Sie ihn für Siebeide eine neue Zukunft schaffen; ich wage Ihnen zu versprechen, daß sie in sicheren Händen ist.
Oh! dieses Glück, sagte die arme Frau, traurig den Kopf schüttelnd, dieses Glück, das ich Gott aus dem Grunde meines Herzensbitte ihm zu gewähren, werde ich nicht genießen. Es ist so vieles in mir und um mich her in Trümmer gegangen, daß ich mich meinem Grabe nahe fühle. Sie haben wohl daran getan, Herr Graf, mich an einen Ort zu versetzen, wo ich so glücklich gewesenbin. Da, wo man glücklich gewesen ist, muß man sterben.
Ach! Alle Ihre Worte, gnädige Frau, fallenbitter undbrennend auf mein Herz, um sobitterer und um sobrennender, als Sie recht haben, wenn Sie mich hassen; ich habe Ihr ganzes Unglück verursacht. Warum werfen Sie mir meine Schuld nicht vor, warum klagen Sie mich nicht an?
Sie hassen, Sie anschuldigen! Sie, Edmond… den Mann, der meinem Sohne das Leben gerettet hat, hassen, anschuldigen! Denn nicht wahr, es ist Ihre unselige, blutige Absicht gewesen, Herrn von Morcerf den Sohn zu töten, auf den er so stolz war? Oh! Schauen Sie mich an, und Sie werden sehen, oban mir auch nur ein Schein von Vorwurf wahrzunehmen ist.
Der Graf schlug seine Augen auf undbetrachtete Mercedes, die, sich halbaufrichtend, ihre Hände gegen ihn ausstreckte.
Oh! Schauen Sie mich an, fuhr sie mit einem Gefühle tiefer Schwermut fort; man kann den Glanz meiner Augen heute ertragen, die Zeit ist vorüber, wo ich Edmond Dantes zulächelte, der mich dort an dem Fenster jener von seinem alten Vaterbewohnten Mansarde erwartete… Seit damals sind viele schmerzliche Tage vergangen und haben einen Abgrund zwischen mir und jener Zeit gegraben. Sie anklagen, Edmond, Sie hassen, mein Freund, nein! Mich klage ich an, mich hasse ich! Oh! Ich Elende! rief sie, die Hände faltend und die Augen zum Himmel aufschlagend. Wiebin ichbestraft worden!.. Ich hatte die Religion, die Unschuld, die Liebe, dieses dreifache Glück, das die Engelbildet, und ich Elende zweifelte an Gott.
Monte Christo ging einen Schritt auf sie zu und reichte ihr schweigend die Hand.
Nein, sagte sie, sacht die ihrige zurückziehend, nein, mein Freund, berühren Sie mich nicht. Sie haben mich verschont, und dennoch war ich von allen, die Sie geschlagen haben, die Schuldigste. Alle haben aus Haß, aus Habgier, aus Selbstsucht gehandelt, ich handelte aus Feigheit; sie wurden vonBegierden getrieben, und mich triebdie Furcht. Nein, drücken Sie meine Hand nicht, Edmond. Sie sinnen auf ein liebevolles Wort, ich fühle dies; sagen Sie es nicht, behalten Sie es für eine andere, ichbin dessen nicht würdig. Sehen Sie… das Unglück hat meine Haare grau gemacht; meine Augen haben so viele Tränen vergossen, daß sie vonblauen Adern umzogen sind; meine Stirn runzelt sich. Sie, Edmond, sind im Gegenteil immer jung, immer schön, immer stolz. Das kommt davon her, daß Sie den Glauben, daß Sie die Kraft gehabt haben, daß Sie auf Gottbauten, daß Gott Sie unterstützte. Ichbin feig gewesen, ich habe Gott verleugnet, Gott hat mich verlassen, und sobin ich nur noch eine Ruine.
Mercedes zerfloß in Tränen; das Herz der Fraubrach unter dem gewaltigen Stoße der Erinnerungen.
Monte Christo nahm ihre Hand und küßte sie ehrfurchtsvoll; aber sie fühlte selbst, daß dieser Kuß ohne Glut war, wie der, den der Graf auf die marmorne Hand derBildsäule einer Heiligen gedrückt hätte.
Es gibt von vornherein verdammte Wesen, fuhr sie fort, Wesen, deren ganze Zukunft ein erster Fehler zertrümmert. Ich hielt Sie für tot und hätte sterben sollen; denn wozu nutzte es, die Trauer um Sie ewig im Herzen zu tragen? Nur dazu, aus einer Frau von neununddreißig Jahren eine Frau von fünfzig zu machen. Wozu hat es genutzt, daß ich Sie allein unter allen erkannte und so meinen Sohn retten konnte? Mußte ich nicht den Mann, den ich als Gatten angenommen, so schuldig er auch war, ebenfalls retten? Doch ich ließ ihn sterben; mein Gott! Was sage ich, ich trug durch meine feige Unempfindlichkeit, durch meine Verachtung zu seinem Todebei, indem ich mich nicht erinnerte, nicht erinnern wollte, daß er sich meinetwegen zum Verräter und Meineidigen gemacht hatte! Wozu nutzt es endlich, daß ich meinen Sohnbis hierherbegleitet habe, da ich mich hier von ihm trenne, da ich ihn allein abreisen lasse, da ich ihn dem verzehrendenBoden Afrikas preisgebe! Oh! Ichbin feig gewesen, sage ich Ihnen, ich habe meine Liebe verleugnet undbringe allem, was mich umgibt, Unglück.
Nein, Mercedes, sagte Monte Christo, nein! Fassen Sie einebessere Meinung von sich selbst. Nein, Sie sind eine edle, fromme Frau und haben mich durch Ihren Schmerz entwaffnet; doch unsichtbar war hinter mir ein Gott, in dessen Auftrag ich handelte, und der denBlitz, den ich geschleudert hatte, nicht zurückhalten wollte. Oh! Ichbeschwöre diesen Gott, zu dessen Füßen ich mich seit zehn Jahren jeden Tag niederwerfe, ich rufe diesen Gott zum Zeugen an, daß ich Ihnen dieses Leben und mit diesem Leben die Pläne, die damit verbunden waren, zum Opfer gebracht hatte. Doch ich sage es mit Stolz, Mercedes, Gottbedurfte meiner, und ich starbnicht. Prüfen Sie die Vergangenheit, prüfen Sie die Gegenwart, suchen Sie die Zukunft zu erraten, und sehen Sie, obich nicht das Werkzeug des Herrnbin. Das gräßlichste Unglück, die grausamsten Leiden, der Abfall aller derer, die mich liebten, die Verfolgung der Menschen, die mich nicht kannten, das war der Inhalt des ersten Abschnittes meines Lebens. Dann plötzlich, nach der Gefangenschaft, nach der Einsamkeit, nach dem Elend die Luft, die Freiheit, ein so glänzendes, so wunderbares, so maßloses Glück, daß ich, ohneblind zu sein, denken mußte, Gott habe es mir mit großen Absichten geschickt. Von da an erschien mir dieses Glück als ein Priestertum; von da an hatte kein Gedanke mehr für dieses Leben, dessen Süßigkeit Sie, arme Frau, zuweilen genossen haben, in mir Raum; keine Stunde der Ruhe, nicht eine einzige, gabes mehr für mich. Ich fühlte mich fortgetrieben, wie die feurige Wolke, die am Himmel hinzieht, um die verfluchten Städte in Asche zu legen. Früher gut, vertrauensvoll, nachsichtig, machte ich mich rachsüchtig, heuchlerisch, böse, oder vielmehr unempfindlich, wie das taube undblinde Verhängnis. Dannbetrat und durchschritt ich den Pfad, der sich vor mir geöffnet hatte, ichberührte das Ziel; wehe denen, die ich auf meinem Wege traf!
Genug! sagte Mercedes, genug, Edmond! Glauben Sie mir, daß die, welche Sie allein zu erkennen vermochte, auch allein Sie verstehen konnte. Edmond, hätten Sie die, welche Sie zu erkennen, zubegreifen vermochte, auf Ihrem Wege getroffen, und wie ein Glas zerbrochen, sie hätte Siebewundern müssen, Edmond! Wie eine Kluft zwischen mir und der Vergangenheitbefestigt ist, sobesteht auch eine Kluft zwischen Ihnen und den andern Menschen, und meine schmerzlichste Qual, ich sage es Ihnen, ist es zu vergleichen; denn es gibt nichts auf der Welt, was Ihnen an Wert gleichkommt, nichts, was Ihnen ähnlich ist. Nun, sagen Sie mir Lebewohl, Edmond, und trennen wir uns!
Ehe ich Sie verlasse, was wünschen Sie, Mercedes?
Ich wünsche nur eines, Edmond, daß mein Sohn glücklich werde.
Bitten Sie den Herrn, der allein das Dasein der Menschen in seinen Händen hält, er möge den Tod von ihm fernhalten, das übrige sei meine Sorge.
Ich danke, Edmond.
Doch Sie, Mercedes?
Ichbrauche nichts, ich lebe zwischen zwei Gräbern; das eine ist das von Edmond Dantes, der vor langer Zeit gestorben; ich liebte ihn! Dieses Wort paßt nicht mehr zu meiner verwelkten Lippe, doch mein Herz erinnert sich noch dessen, und um keinen Preis der Welt möchte ich dieses Andenken meines Herzens verlieren. Das andere ist das eines Menschen, den Edmond Dantes getötet hat; ichbillige die Tat, aber ich muß für den Totenbeten.
Ihr Sohn wird glücklich werden, wiederholte der Graf.
Dann werde ich so glücklich sein, wie ich sein kann.
Doch was gedenken Sie… am Ende… zu tun?
Mercedes lächelte traurig.
Wollte ich Ihnen sagen, ich werde in dieser Gegend leben, wie die Mercedes von ehemals, das heißt arbeiten, so würden Sie mir nicht glauben; ich vermag nur noch zubeten, doch ichbedarf der Arbeit nicht. Der von Ihnen vergrabene kleine Schatz hat sich an dembezeichneten Orte gefunden; man wird forschen, wer ichbin, man wird fragen, was ich mache, man wird nicht wissen, wovon ich lebe; was liegt daran? Das ist eine Angelegenheit zwischen Gott, Ihnen und mir.
Mercedes, sagte der Graf, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, doch Sie haben das Opfer übertrieben, indem Sie das ganze von Herrn von Morcerf angehäufte Vermögen Fremden überließen, während die Hälfte von Rechtswegen Ihrer Sparsamkeit und Wachsamkeit zukam.
Ich sehe, was Sie mir vorschlagen wollen, doch ich kann es nicht annehmen, mein Sohn würde es mir verbieten.
Ich werde mich auch wohl hüten, etwas für Sie zu tun, was nicht dieBilligung des Herrn Albert von Morcerf hätte. Ich werde seine Ansichten erforschen und mich denselben unterwerfen. Doch wollen Sie, wenn er das, was ich tun will, annimmt, selbst nicht widerstreben?
Sie wissen, Edmond, daß ich kein denkendes Geschöpf mehrbin; ich habe keine Entschließung, wenn nicht die, mich nie mehr zu entschließen. Gott schüttelte mich so in seinen Stürmen, daß ich den Willen verloren habe. Ichbin wie ein Sperling in den Klauen des Adlers. Gott will nicht, daß ich sterbe, da ich lebe. Schickt er mir Hilfe, so wird er dies wollen, und ich werde sie annehmen.
Seien Sie auf Ihrer Hut, gnädige Frau, sagte Monte Christo, sobetet man Gott nicht an! Gott will, daß man ihn verstehe und sich seine Macht klar mache; deshalbhat er uns den freien Willen gegeben.
Unglücklicher! rief Mercedes, sprechen Sie nicht so zu mir. Wenn ich glaubte, Gott habe mir den freien Willen gegeben, wasbliebe mir, um mich vor Verzweiflung zu retten?
Monte Christo erbleichte leicht und neigte das Haupt, niedergebeugt durch die Heftigkeit dieses Schmerzes.
Wollen Sie mir nicht sagen: Auf Wiedersehen? sprach er, ihr die Hand reichend.
Oh ja, ich sage Ihnen Lebewohl auf Wiedersehen undbeweise damit, daß ich noch hoffe, antwortete Mercedes, feierlich auf den Himmel deutend, und nachdem sie die Handberührt, stürzte sie nach der Treppe und verschwand aus seinen Augen.
Monte Christo verließ langsam das Haus und schlug den Weg nach dem Hafen ein.
Doch Mercedes sah nicht, wie er sich entfernte, obgleich sie in dein kleinen Zimmer von Dantes' Vater am Fenster stand. Ihre Augen suchten in der Ferne das Schiff, das ihren Sohn nach dem weiten Meere forttrug, wenn auch ihre Stimme gleichsam unwillkürlich murmelte: Edmond! Edmond! Edmond!
Die Vergangenheit.
Der Graf ging mit wundem Herzen aus dem Hause, wo er Mercedes zurückließ, um sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr zu sehen.
Seit dem Tode des kleinen Eduard war eine gewaltige Veränderung in Monte Christo vorgegangen. Auf dem Gipfel seiner Rache angelangt, zu dem er auf einem steilen und gekrümmten Pfade aufgestiegen war, hatte er auf der anderen Seite desBerges den Abgrund des Zweifels erblickt, und das Gespräch, das soeben zwischen ihm und Mercedes stattgefunden, hatte sein Herz übermäßig erschüttert.
Ein Mann von dem mächtigen Geiste des Grafen konnte aber nicht lange in dieser Schwermut schweben, die erhabene Seelen tötet. Ichbetrachte die Vergangenheit in einem falschen Lichte, sagte erbei sich, ich kann mich nicht so sehr getäuscht haben. Wie! der Zweck, den ich mir vorgesetzt hatte, wäre ein unsinniger Zweck gewesen! Wie! Ich hätte seit zehn Jahren einen falschen Weg verfolgt! Wie! Eine Stunde hätte genügt, um dem Architekten zubeweisen, das Werk aller seiner Hoffnungen sei ein, wenn nicht unmögliches, doch gotteslästerliches Werk!
Ich will mich an diesen Gedanken nicht gewöhnen, er würde mich verrückt machen. Was meinem Urteile von heute fehlt, ist die rechte Würdigung der Vergangenheit, weil ich diese Vergangenheit vom andern Ende des Horizonts ansehe. In der Tat, je mehr man fortschreitet, desto mehr verschwindet die Vergangenheit nach dem Maßstabe der Entfernung, der Landschaft ähnlich, die man durchwandert. Esbegegnet mir, was den Leutenbegegnet, die sich im Traume verwundet haben; sie sehen und fühlen ihre Wunde und erinnern sich nicht, sie erhalten zu haben.
Vorwärts, du Wiedergeborener! Vorwärts, du unermeßlich Reicher! Vorwärts, du allmächtiger Seher! Fasse noch einmal die traurige Perspektive deines elenden, hungrigen Lebens ins Auge, durchwandere wieder die Wege, auf die dich das Verhängnis gestoßen und das Unglück geführt, wo die Verzweiflung dich gepackt hat! Es strahlen heute zu viel Diamanten, zu viel Gold, zu viel Glück auf den Gläsern des Spiegels, worin Monte Christo Dantesbetrachtet; verbirg diese Diamanten, vertilge diese Strahlen! Reicher, suche den Armen auf; Freier, suche den Gefangenen auf; Wiedererweckter, suche den Leichnam auf!
Während Monte Christo so mit sich sprach, folgte er der Rue de la Caisserie. Es war die Straße, durch die ihn vierundzwanzig Jahre vorher eine schweigsame, nächtliche Wache geführt hatte.
Er ging ans dem Kai hinabdurch die Rue Saint‑Laurent und wanderte nach der Consigne; das war der Punkt des Hafens, wo man ihn damals eingeschifft hatte. Ein zu Lustfahrten dienendes Schiff kam vorüber; Monte Christo rief dem Patron, der sogleich mit Eifer auf ihn zufuhr.
Das Wetter war herrlich und die Fahrt ein Fest. Am Horizont stieg die Sonne rot und flammend in die Wellen hinab. In der Ferne sah man, weiß und anmutig wie tauchende Möwen, die Fischerbarken, die sich nach den Martiguesbegaben, und die nach Korsika oder Spanien segelnden Schiffe hinziehen.
Trotz dieses schönen Himmels, trotz dieserBarken, trotz des goldenen Lichtes, das die Landschaft übergoß, erinnerte sich der Graf, in seinen Mantel gehüllt, hintereinander all der einzelnen Umstände dieser furchtbaren Fahrt. Das einzige Licht, dasbei den Kataloniernbrannte, der Anblick des Kastells If, der ihnbelehrte, wohin er geführt wurde; der Kampf mit den Gendarmen, als er sich ins Meer stürzen wollte; seine Verzweiflung, da er sichbesiegt sah, und die kalte Empfindung des Karabinerlaufes, der sich wie ein eiserner Ring an seine Schläfe drückte: dies alles trat lebhaft vor sein Gedächtnis.
Da fühlte er allmählich wieder die alte Galle sich regen, die einst Edmond Dantes' Herz überströmt hatte. Für ihn gabes von nun an keinen schönen Himmel, keine anmutigenBarken, kein glühendes Licht mehr; der Himmel umzog sich mit einem Trauerflor, und die Erscheinung des schwarzen Riesen, den man das Kastell If nennt, ließ ihnbeben, als obplötzlich das Gespenst eines Todfeindes vor ihn getreten wäre.
Man kam an Ort und Stelle. Unwillkürlich wich der Grafbis an das Ende derBarke zurück. Der Patron mochte immerhin mit seinem freundlichsten Tone sagen: Wir landen, mein Herr.
Monte Christo erinnerte sich, daß er auf derselben Stelle, auf demselben Felsen von den Wachen fortgeschleppt worden war, daß man ihn, mit der Spitze einesBajonettes in seine Seite stechend, diese jähe Treppe hinaufzusteigen genötigt hatte.
Der Weg war Dantes sehr lang vorgekommen; Monte Christo hatte ihn sehr kurz gefunden; jeder Ruderschlag ließ mit dem feuchten Meeresstaube eine Million Gedanken und Erinnerungen emporspringen.
Seit der Julirevolution gabes keine Gefangenen mehr im Kastell If, Obgleich er dies wußte, überzog die Stirn des Grafen, als er unter das Gewölbe trat und die schwarze Treppe hinabstieg, doch eine kalteBlässe und eisiger Schweiß. Er erkundigte sich, obnoch irgend ein Gefangenwärter aus der Zeit der Restauration vorhanden sei. Alle waren entlassen oder hatten andere Ämter erhalten. Der Hausmeister, der ihm das Kastell zeigte, war erst seit 1830 da.
Man führte ihn in seinen eigenen Kerker. Er sah wieder dasbleiche Licht durch das enge Luftloch dringen, er sah den Platz, wo einst seinBett stand, und erkannte hinter demBette an den neueren Steinen noch die vom Abbé Faria gemachte Öffnung.
Monte Christo fühlte, wie seineBeine wankten; er nahm einen hölzernen Schemel und setzte sich darauf.
Erzählt man auch noch andere Geschichten von dem Kastell, außer der von Mirabeaus Einkerkerung? fragte der Graf; gibt es irgend einebesondere Überlieferung über diese finsteren Kerker?
Ja, mein Herr, antwortete der Hausmeister, und gerade von diesem Kerker hat mir der Gefangenwärter Antoine eine Geschichte mitgeteilt.
Monte Christobebte. Der Gefangenwärter Antoine war sein Gefangenwärter gewesen. Er hatte seinen Namen und sein Gesichtbeinahe vergessen; doch jetzt sah er ihn wieder vor sich mit seinem dickenBarte, seinembraunen Wams und seinem Schlüsselbund, dessen Klirren er noch zu hören wähnte. Soll ich dem Herrn die Geschichte erzählen?
Ja, sprechen Sie! Und erschrocken darüber, daß er seine eigene Geschichte erzählen hören sollte legte er die Hand auf seineBrust, um ein heftiges Schlagen des Herzens zurückzudrängen.
Dieser Kerker, sagte der Hausmeister, war vor langer Zeit von einem sehr gefährlichen Menschenbewohnt, der um so gefährlicher war, weil er große Gewandtheit und Schlauheitbesaß. Gleichzeitig mit ihmbewohnte ein anderer Mensch das Kastell; dieser war nichtbösartig, sondern nur ein armer, närrischer Priester.
Ah! Worinbestand seine Narrheit?
Erbot Millionen, wenn man ihn frei ließe.
Monte Christo schlug die Augen zum Himmel auf, doch er sah den Himmel nicht; es war ein steinerner Schleier zwischen ihm und dem Firmament. Erbedachte, daß ein nicht minder dichter Schleier zwischen den Augen derer, denen der Abbé seine Schätzebot und diesen Schätzen selbst gewesen war.
Konnten sich die Gefangenen sehen?
Oh nein, mein Herr, das war ausdrücklich verboten; doch sie vereitelten das Verbot, indem sie eine Galerie von einem Kerker zum andern aushöhlten.
Wer vonbeiden machte die Galerie?
Sicher der junge Mann, denn er war erfinderisch und stark, der alte Abbé aber alt und schwach; überdies war sein Geist zu sehr zerrüttet, als daß er einen Gedanken hätte verfolgen können.
DieBlinden! murmelte Monte Christo.
So viel ist gewiß, fuhr der Hausmeister fort, der junge Mann höhlte eine Galerie aus; womit? Das weiß man nicht; aber er höhlte sie aus, und zumBeweise dient, daß man noch die Spur davon sieht. Sehen Sie!
Und er hielt die Fackel an die Wand.
Ah! ja, in der Tat, sagte Monte Christo mit erschütterter Stimme.
Daraus ging hervor, daß die Gefangenen miteinander in Verbindung standen. Wie lange diese Verbindung dauerte, weiß man nicht. Eines Tages wurde nun der alte Gefangene krank und starb. Können Sie sich denken, was der junge tat? fragte der Hausmeister, sich unterbrechend.
Nun?
Er trug den Gestorbenen fort, legte ihn mit der Nase gegen die Wand in sein eigenesBett, kehrte in den leeren Kerker zurück, verstopfte das Loch und schlüpfte in den Sack des Toten. Haben Sie je dergleichen gehört?
Monte Christo schloß die Augen und empfand wieder alle Eindrücke, die er gehabt, als ihm die grobe Leinwand, die noch die Kälte des Leichnams an sich hatte, das Gesicht streifte.
Der Hausmeister fuhrt fort: Hören Sie, was sein Plan war: Er glaubte, manbegrabe die Toten im Kastell If, und so dachte er, die Erde mit seinen Schultern aufzuheben; doch zu seinem Unglück herrschte im Kastell If ein anderer Gebrauch; manband dem Toten eine Kugel an die Füße, um sie ins Meer zu schleudern, was auch diesmal geschah. Der tollkühne Mensch wurde oben von der Galerie ins Wasser geworfen. Am andern Tage fand man den wahren Toten in seinemBett, und man erriet alles, denn die Totengräber sagten nun, was siebis dahin nicht zu sagen gewagt hatten, sie hätten in dem Augenblick, wo sie den Körper in die Luft geschlendert, einen furchtbaren Schrei gehört, der auf der Stelle vom Wasser, in dem der Sack verschwand, erstickt worden sei.
Der Graf atmete schmerzlich, der Schweiß lies ihm von der Stirn, dieBangigkeit schnürte ihm das Herz zusammen.
Nein! murmelte er, nein! Der Zweifel, der sich in mir regte, war ein Anfang des Vergessens; doch hier höhlt sich das Herz abermals aus und wird wieder hungrig nach Rache. Und der Gefangene? fragte er, er war verschwunden, man hat nie etwas von ihm gehört?
Nie, gar nie; Siebegreifen, es sind nur zwei Fälle möglich; entweder ist er platt gefallen, und da er fünfzig Fuß hinabstürzte, so wird er auf der Stelle tot gewesen sein.
Sie sagten, man habe ihm eine Kugel an die Füße gebunden, folglich wird er senkrecht gefallen sein.
Oder er ist senkrecht gefallen, fuhr der Hausmeister fort, dann hat ihn die Kugel auf den Grund hinabgezogen, wo der arme Mensch geblieben ist.
Siebeklagen ihn?
Meiner Treu, ja! Obgleich er in seinem Elemente war.
Was wollen Sie damit sagen?
Es ging das Gerücht, dieser Unglückliche sei seiner Zeit Marineoffizier gewesen und als eifrigerBonapartist gefangen gehalten worden. — Will der Herr seinenBesuch fortsetzen? fragte der Hausmeister.
Ja, besonders wenn Sie mir das Zimmer des armen Abbés zeigen wollen.
Ah! der Nummer 27? Ja, der Nummer 27, wiederholte Monte Christo.
Und es kam ihm vor, als höre er noch die Stimme Farias, wie dieser ihm die Nummer durch die Mauer zurief.
Folgen Sie mir!
Warten Sie, sagte Monte Christo, lassen Sie mich einen letztenBlick auf alle Teile dieses Kerkers werfen.
Das ist mir lieb, versetzte der Führer, ich habe den Schlüssel des andern vergessen. — Holen Sie ihn. — Ich lasse die Fackel hier zurück. — Nein, nehmen Sie die Fackel mit.
Doch Sie haben dann kein Licht. — Ich sehe in der Nacht. — Gerade wie er. — Welcher er?
Der Nummer 34, der hier gehaust hat. Man sagte, er habe sich so an die Dunkelheit gewöhnt, daß er eine Nadel im finsteren Winkel seines Kerkers hätte sehen können.
Der Führer entfernte sich mit der Fackel.
Der Graf hatte wahr gesprochen; kaum war er ein paar Minuten in der Finsternis, als er alles wie am hellen Tage unterschied.
Ja, sagte er, dies ist der Stein, auf dem ich saß! Dies ist die Spur meiner Schultern, die ihren Eindruck in der Mauer zurückließen! Dies ist die Spur desBlutes, das von meiner Stirn floß, als ich mir eines Tages den Schädel an der Wand zerschmettern wollte!.. Oh! diese Zahlen… ich erinnere mich ihrer… ich machte sie eines Tages, als ich das Alter meines Vatersberechnete, um zu wissen, obich ihn lebendig wiederfinden würde, und Mercedes' Alter, um zu wissen, obich sie frei wiedersehen würde. Ich hatte einen Augenblick Hoffnung, nachdem ich dieBerechnung gemacht… Ich rechnete ohne den Hunger und ohne die Untreue!
Und einbitteres Lachen entströmte dem Munde des Grafen.
Auf der andern Wand traf seinenBlick eine Inschrift, die sich noch weiß auf der grünlichen Wand hervorhob: Mein Gott, erhalte mir das Gedächtnis. Oh! ja, rief der Graf, das war das einzige Gebet meiner letzten Zeit; ich verlangte nicht die Freiheit, ich verlangte das Gedächtnis, ichbefürchtete, ein Narr zu werden und zu vergessen; mein Gott, du hast mir das Gedächtnis erhalten, und ich habe mich erinnert. Dank, Dank, mein Gott!
In diesem Augenblick spiegelte sich das Licht der Fackel auf den Wänden. Der Führer stieg herab, und ohne daß man nötig hatte, wieder an den Tag hinaufzusteigen, ließ er Monte Christo durch ein unterirdisches Gewölbe wandern, das zu einem andern Eingang führte.
Auch hier wurde Monte Christo von einer Welt voll Gedanken ergriffen. Vor allem fiel ihm der an der Wand gezogene Meridian in die Augen, mit dessen Hilfe der Abbé Faria die Stunden zählte; dann sah er die Überreste desBettes, auf dem der arme Gefangene gestorben war.
Statt derBeklemmung, die der Graf in seinem Kerker empfunden hatte, erfüllte sein Herzbei diesem Anblick ein zärtliches Gefühl, ein Gefühl der Dankbarkeit, und zwei Tränen rollten aus seinen Augen hervor.
Hier, sagte der Führer, war der verrückte Abbé; durch dieses Loch kam der junge Mensch zu ihm, und er zeigte Monte Christo die Öffnung der Galerie, die man auf dieser Seite nicht verstopft hatte. An der Farbe des Steines, fuhr er fort, erkannte ein Gelehrter, daß die zwei Gefangenen ungefähr zehn Jahre miteinander in Verbindung gestanden haben. Die armen Leute müssen sich während dieser zehn Jahre viel gelangweilt haben.
Dantes nahm ein paar Louisd'or aus seiner Tasche und reichte sie dem Manne, der ihn zum zweiten Malebeklagte, ohne ihn zu kennen.
Der Hausmeister nahm sie, im Glauben, er erhalte Silbermünzen, dochbeim Scheine der Fackel erkannte er den Wert der Summe, die ihm der Fremde gab.
Mein Herr, sagte er zu ihm, Sie haben sich getäuscht.
Wieso? — Sie haben mir Gold gegeben. — Ich weiß es wohl. — Und ich kann es mit gutem Gewissenbehalten? — Ja.
Der Hausmeister schaute Monte Christo mit Erstaunen an.
Ehrlichkeit! murmelte der Graf wie Hamlet.
Mein Herr, sagte der Hausmeister, der nicht an sein Glück zu glauben wagte, mein Herr, ichbegreife Ihre Großmut nicht.
Sie ist doch leicht zubegreifen, mein Freund, versetzte der Graf. Ichbin Seemann gewesen, und Eure Geschichte mußte mich mehr rühren, als Euch.
Mein Herr, sagte der Führer, da Sie so großmütig sind, so erlauben Sie mir, Ihnen auch etwas anzubieten.
Was habt Ihr mir anzubieten, mein Freund? Muscheln, Stroharbeiten? Ich danke.
Nein, mein Herr, nein; einen Gegenstand, der sich auf die soeben erzählte Geschichtebezieht.
In der Tat! rief der Graf, was ist denn das?
Hören Sie, sagte der Hausmeister, wie das gekommenen ist. Ich sagte mir, man findet immer etwas in einem Zimmer, in dem ein Gefangener fünfzehn Jahre geblieben ist, und ich fing an, die Wände zu untersuchen.
Ah! rief Monte Christo, sich des doppelten Verstecks des Abbés erinnernd.
Nach langem Nachsuchen, fuhr der Hausmeister fort, entdeckte ich, daß es oben amBette und unter dem Herde des Kamins hohl klang.
Ja, sagte Monte Christo, ja.
Ich nahm die Steine weg und fand…
Eine Strickleiter, Werkzeug! rief der Graf.
Woher wissen Sie das? fragte der Hausmeister voll Erstaunen.
Ich weiß es nicht, ich errate es nur; man findet gewöhnlich dergleichen in den Verstecken der Gefangenen.
Ja, mein Herr; eine Strickleiter, Werkzeug.
Und Ihr habt diese Gegenstände noch?
Nein, mein Herr, ich verkaufte sie anBesucher, denn sie waren sehr seltsam; doch esbliebmir noch etwas anderes.
Was denn? fragte der Graf ungeduldig.
Esbliebmir eine Art vonBuch, auf Leinwandstreifen geschrieben.
Oh! rief Monte Christo, Ihr habt diesesBuch?
Ich weiß nicht, obes einBuch ist, aber ich habe das Ding noch.
Holt es mir, mein Freund, geht, sagte der Graf, und der Führer ging hinaus.
Der Graf neigte das Haupt in Erinnerung an die erhabene Seele seines väterlichen Freundes und faltete die Hände, in Sinnen verloren.
Sehen Sie, mein Herr, sprach eine Stimme hinter ihm, und der zurückkehrende Hausmeister reichte ihm die Leinwandstreifen, auf denen der Abbé Faria alle Schätze seines Geistes zum Ausdruck gebracht hatte. Es war das große Werk über das Königtum in Italien.
Der Graf nahm es ungestüm an sich, dann zog er aus seiner Tasche ein kleines Portefeuille, das zehnBanknoten über je tausend Franken enthielt.
Nehmt dieses Portefeuille! sagte er.
Sie schenken es mir?
Ja, doch unter derBedingung, daß Ihr erst hineinschaut, wenn ich weggegangenbin.
Und an seinerBrust die wiedergefundene Reliquiebewahrend, die für ihn den Wert des reichsten Schatzes hatte, eilte er aus dem unterirdischen Gewölbe fort, bestieg wieder seineBarke und rief: Nach Marseille!
Während sich das Fahrzeug von dem Kastell If entfernte, sagte er, die Augen aus das düstere Gefängnis geheftet: Wehe denen, die mich in diesen finsteren Kerker einsperren ließen, und denen, die vergaßen, daß ich darin eingesperrt war!
Als der Graf wiederbei den Kataloniern vorüberkam, wandte er sich abund murmelte, sein Haupt in den Mantel hüllend, den Namen einer Frau.
Der Sieg war vollständig, der Graf hatte zweimal den Zweifel niedergeschlagen.
Der Name, den er mit einem Ausdrucke der Zärtlichkeit, beinahe der Liebe aussprach, war der Haydees.
*
Als Monte Christo den Fuß wieder auf die Erde setzte, wanderte er nach dem Kirchhofe, wo er Morel fand.
Auch er hatte zehn Jahre vorher ein Grabauf dem Friedhofe gesucht, aber vergebens. Er, der nach Frankreich mit Millionen zurückkam, hatte das Grabseines vor Hunger gestorbenen Vaters nicht finden können. Morel hatte ein Kreuz darauf setzen lassen, doch dieses Kreuz war umgefallen, und der Totengräber hatte es in seinen Ofen gesteckt.
Der würdige Handelsmann war glücklicher gewesen als der alte Dantes. In den Armen seiner Kinder gestorben, wurde er, von diesen zu Grabe geleitet und neben seiner Frau, die ihm um zwei Jahre in die Ewigkeit vorangegangen war, beigesetzt. Zwei große Marmorplatten, ans denen ihre Namen geschrieben standen, lagen nebeneinander innerhalbeines kleinen Geheges, das durch ein eisernes Geländer geschlossen und von vier Zypressen überschattet wurde.
Maximilian lehnte an einem von diesenBäumen und heftete seine matten Augen auf diebeiden Gräber. Sein Schmerz warbodenlos tief, fast wie der Schmerz eines Unzurechnungsfähigen.
Maximilian, Sie drückten auf der Reise das Verlangen aus, sich einige Tage in Marseille aufzuhalten; ist dies noch Ihr Wunsch?
Ich habe keinen Wunsch mehr, Graf; nur kommt es mir vor, es wird mir weniger peinlich sein, in Marseille als anderswo zu warten.
Destobesser, Maximilian, denn ich verlasse Sie und nehme Ihr Wort mit, nicht wahr?
Ah! Ich werde es vergessen, Graf, ich werde es vergessen!
Nein, Morel, Sie werden es nicht vergessen, weil Sie vor allem ein Mann von Ehre sind, weil Sie geschworen haben, weil Sie noch einmal schwören werden.
Oh! Graf, haben Sie Mitleid mit mir! Graf, ichbin so unglücklich!
Ich habe einen Menschen gekannt, der unglücklicher war, als Sie, Morel.
Unmöglich! Was gibt es Unglücklicheres, als einen Menschen, der das einzige Gut, das er auf der Weltbegehrte und liebte, verloren hat?
Hören Sie, Morel, und lassen Sie einen Augenblick Ihren Geist das festhalten, was ich Ihnen sagen werde. Ich habe einen Menschen gekannt, bei dem alle seine Hoffnungen aus Glück, wiebei Ihnen, auf einer Frauberuhten. Dieser Mensch war jung, er hatte einen alten Vater, den er liebte, eineBraut, die er anbetete; er war eben imBegriff, sie zu heiraten, als plötzlich das launenhafte Schicksal ihm seine Freiheit, seine Geliebte und alle Hoffnung auf einebessere Zukunft raubte, um ihn in die Tiefe eines Kerkers zu stürzen.
Ah! entgegnete Morel, man verläßt einen Kerker wieder nach acht Tagen, nach einem Monat, nach einem Jahr.
Erbliebvierzehn Jahre dort, Morel, sagte der Graf, seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes legend.
Maximilianbebte und murmelte: Vierzehn Jahre!
Vierzehn Jahre, wiederholte der Graf. Auch er hatte während dieser vierzehn Jahre viele Augenblicke der Verzweiflung, auch er hielt sich, wie Sie, Morel, für den Unglücklichsten der Menschen und wollte sich töten.
Nun?
Nun! Im äußersten Augenblick enthüllte sich ihm Gott durch ein irdisches Mittel, denn Gott tut keine Wunder mehr. Am Anfangbegriff er vielleicht nicht die unendlicheBarmherzigkeit des Herrn; endlich aber faßte er Geduld und wartete.
Eines Tages kam er wie durch ein Wunder aus seinem Grabe, ein anderer, reich, mächtig; sein erster Schrei galt seinem Vater — sein Vater war tot.
Mein Vater ist auch tot, sagte Morel.
Ja, aber Ihr Vater starbin Ihren Armen, unter Freunden, glücklich, geehrt, reich; sein Vater starbarm, hoffnungslos, an Gott verzweifelnd. Und als zehn Jahre nach seinem Tode der Sohn sein Grabsuchte, da war sogar sein Grabverschwunden, und niemand konnte ihm sagen: Hier ruht im Herrn das Herz, das dich so sehr geliebt.
Oh! seufzte Morel.
Dies war also ein unglücklicherer Sohn, als Sie, Morel, denn er wußte nicht einmal, wo er das Grabseines Vaters wiederfinden sollte.
Aber esbliebihm doch wenigstens die Frau, die er so sehr geliebt hatte.
Sie täuschen sich, Morel, diese Frau…
Sie war tot? rief Morel.
Noch schlimmer als dies; sie war untreu geworden, sie hatte einen von den Verfolgern ihresBräutigams geheiratet. Sie sehen also, daß dieser Mensch in seiner Liebe unglücklicher war, als Sie.
Und ihm hat Gott dennoch Trost verliehen?
Er hat ihm wenigstens Ruhe verliehen.
Und dieser Mensch kann noch glücklich sein?
Ich hoffe es, Maximilian.
Der junge Mann ließ sein Haupt auf seineBrust sinken.
Sie haben mein Versprechen, sagte er nach kurzem Stillschweigen, Monte Christo die Hand reichend; nur erinnern Sie sich…
Am fünften Oktober, Morel, erwarte ich Sie auf der Insel Monte Christo. Am vierten holt Sie eine Jacht im Hafen vonBastia ab; diese Jacht heißt der Eurus, Sie nennen sich dem Patron, und er führt Sie zu mir. Nicht wahr, das ist abgemacht, Maximilian?
Es ist abgemacht, und ich werde tun, was gesagt ist? nur erinnern Sie sich des fünften Oktobers. Wann reisen Sie?
Auf der Stelle, das Dampfboot erwartet mich. In einer Stundebin ich fern von Ihnen.
Morelbegleitete Monte Christobis zum Hafen; schon wirbelte der Rauch aus der schwarzen Röhre des Dampfers hervor. Bald lief das Schiff aus, und eine Stunde nachher durchstreifte derselbe Strich von weißlichem Rauch, kaum noch sichtbar, den von den ersten Nebeln verdüsterten östlichen Horizont.
Peppino.
In demselben Augenblick, wo das Dampfschiff des Grafen hinter dem Kap Morgiou verschwand, hatte ein Mann, der mit Extrapost auf der Straße von Florenz nach Rom reiste, das Städtchen Aquapendente passiert. In einen Oberrock gekleidet, der ein glänzendesBand der Ehrenlegion sehen ließ, war dieser Mann nicht allein durch dieses Zeichen, sondern auch durch den Akzent, in dem er mit dem Postillon sprach, als Franzose leicht erkennbar.
In der Nähe der ewigen Stadt fühlte der Reisende durchaus nicht die Regung enthusiastischer Neugierde, die jeden Fremden antreibt, sich aus seinem Wagen zu erheben und den Dom von St. Peter ins Auge zu sassen, den man lange vorher gewahrt, ehe man etwas anderes unterscheidet.
Nein, er zog nur sein Portefeuille aus der Tasche und aus dem Portefeuille ein viereckig zusammengelegtes Papier, das er entfaltete und mit einer fast ehrfürchtigen Aufmerksamkeit wieder zusammenlegte. Dann sagte er: Gut! ich habe es immer noch.
Der Wagen fuhr durch die Porta del Popolo, schlug den Weg links ein und hielt vor dem Gasthofe zur Stadt London an. Meister Pastrini, unser alterBekannter, empfing den Reisenden, den Hut in der Hand, auf der Schwelle seines Hauses. Der Reisende stieg aus, befahl ein gutes Mittagsmahl und erkundigte sich nach der Adresse des Hauses Thomson und French, die ihm sogleich genannt wurde, denn dieses Haus war eines derbekanntesten in Rom. Es lag auf der Via deiBanchibei St. Peter.
Als der Ankömmling nach dem Essen mit dem Führer den Gasthof verließ, trennte sich ein Mensch von einer Gruppe von Neugierigen und folgte dem Fremden, ohne von diesembemerkt zu werden, mit der Geschicklichkeit eines Agenten der Pariser Polizei. Der Franzose hatte große Eile, seinenBesuchbei dem Hause Thomson und French zu machen, und sie kamenbald an Ort und Stelle. Der Franzose trat ein und ließ seinen Führer im Vorzimmer. Gleichzeitig mit dem Franzosen trat der Mensch ein, der ihm so vorsichtig gefolgt war. Der Franzose läutete an der Tür desBüros und ging in das erste Zimmer; sein Schatten tat dasselbe.
Finde ich hier die Herren Thomson und French? fragte der Fremde.
Ein Lakai erhobsich und fragte, wen er zu melden habe, indem er sich anschickte, dem Fremden voranzugehen.
Den HerrnBaron von Danglars.
Kommen Sie! sagte der Lakai.
Eine Tür öffnete sich, der Lakai und derBaron verschwanden durch diese Tür. Der Mensch, der hinter Danglars eingetreten war, setzte sich auf eine Wartebank. Außerdembefand sich im Zimmer nur ein Kommis, der ungefähr fünf Minuten lang ruhig schrieb, während der Wartende ganz still und unbeweglich dasaß. Dann kritzelte die Feder des Kommis nicht mehr auf dem Papiere; er schaute auf, sah aufmerksam umher und sagte, nachdem er sich überzeugt hatte, daß ihn niemand weiter hören konnte: Ah! Ah! Du hier, Peppino?
Ja, antwortete dieser lakonisch.
Du witterstBeutebei dem Dicken?
Die Witterung war leicht; man hat uns im voraus Nachricht gegeben.
Du weißt also, was er hier macht?
Bei Gott! Er kommt, um Geld zubeziehen; nur muß man erst wissen, wieviel.
Man wird es dir sogleich sagen, Freund.
Sehr gut. Doch ich rate dir, mir keine falsche Nachricht zu geben.
Gut, ich will gleich in mein Observatorium gehen, der Franzose könnte sonst inzwischen sein Geschäft abmachen.
Peppino machte einbejahendes Zeichen, zog einen Rosenkranz aus seiner Tasche und murmelte ein paar Gebete, während der Kommis durch dieselbe Tür verschwand, die dem Lakaien und demBaron Eingang gewährt hatte. Nach ungefähr zehn Minuten kam er strahlend zurück.
Nun? fragte Peppino. — Hurtig! sagte der Kommis; die Summe ist rund. — Nicht wahr, fünfbis sechs Millionen? — Ja; du weißt die Zahl? — Auf einen Schein des Grafen von Monte Christo? — So ist es, rief der Kommis; wenn du aber schon alles weißt, warum wendest du dich dann noch an mich? — Um sicher zu sein, daß es der Mensch ist, mit dem wir zu tun haben. — Er ist es… fünf Millionen. Nicht wahr, eine hübsche Summe, Peppino?
Ja, und wirbekommen einigeBrocken davon, erwiderte Peppino philosophisch.
Still! Unser Mann kommt.
Der Kommis nahm wieder seine Feder und Peppino seinen Rosenkranz; der eine schrieb, der anderebetete, als die Tür sich öffnete. Danglars erschien strahlend, begleitet von demBankier, der ihnbis zur Tür zurückführte.
Hinter Danglars entfernte sich Peppino.
Der Wagen wartete vor dem Hause. Der Führer hielt den Kutschenschlag geöffnet. Danglars sprang leicht wie ein Jüngling von zwanzig Jahren in den Wagen. Der Führer schloß den Schlag und stieg zum Kutscher hinauf. Peppino stieg auf den Hintersitz.
Will Seine Exzellenz St. Peter sehen? fragte der Führer.
Wozu? entgegnete derBaron; ichbin nicht nach Rom gekommen, um zu sehen. Für sich fügte er mit seinem habgierigen Lächeln hinzu: Ichbin gekommen, um einzusacken.
Und erbetastete in der Tat sein Portefeuille, in dem er einenBrief verschlossen hatte.
Casa Pastrini, sagte der Führer zum Kutscher, und der Wagen entfernte sich rasch.
Zehn Minuten nachher war derBaron wieder in seinem Zimmer, und Peppino setzte sich auf die an der Wand vor dem Gasthof angebrachteBank, nachdem er ein paar Worte einemBetteljungen zugeflüstert hatte, der mit aller Schnelligkeit seinerBeine den Weg nach dem Kapitol einschlug.
Danglars war müde, befriedigt und darum schläfrig. Er legte sich nieder, steckte sein Portefeuille unter sein Kopfkissen und entschlummerte.
Peppino hatte Zeit übrig; er spielte Mora mit den Facchini, verlor drei Taler und trank, um sich zu trösten, eine Flasche Orvietowein.
Am andern Morgen erwachte Danglars spät, obgleich er sich früh zuBette gelegt hatte. Er frühstückte reichlich, und da er nach den Sehenswürdigkeiten der ewigen Stadt nichts fragte, so verlangte er auf die Mittagsstunde Postpferde.
Doch er hatte ohne die italienische Unpünktlichkeit und die Förmlichkeiten der Polizei gerechnet. Die Pferde kamen erst um zwei Uhr, und der Führerbrachte den visierten Paß erst um drei Uhr.
Welche Straße? fragte der Postillon italienisch.
Straße nach Ancona, antwortete derBaron.
Meister Pastrini übersetzte die Frage und die Antwort, und der Wagen verließ den Gasthof im Galopp.
Danglars wollte nach Venedig reisen und dort einen Teil seines Vermögens einziehen, sodann sich von Venedig nach Wienbegeben, wo er den Rest flüssig zu machen gedachte. Seine Absicht war, sich in dieser Stadt niederzulassen, die man ihm als eine Stadt der Vergnügungen geschildert hatte.
Kaum hatte er drei Stunden in der Campagna von Rom zurückgelegt, als die Nacht anzubrechenbegann. Danglars hatte nicht so spät abzureisen geglaubt, sonst wäre er geblieben. Er fragte den Postillon, wieviel Zeit man nochbrauche, um die nächste Stadt zu erreichen.
Non capisco! antwortete der Postillon.
Danglars machte eineBewegung mit dem Kopfe, die sagen wollte: Sehr gut!
Der Wagen setzte seinen Weg fort.
Bei der ersten Post werde ich anhalten, sagte Danglars zu sich selbst. Er fühlte noch einen Rest des Wohlbehagens vom vorhergehenden Tage, das ihm eine so gute Nacht verschafft hatte. Was tun, wenn manBankier ist und einen glücklichenBankerott gemacht hat? Danglars dachte an seine in Paris zurückgebliebene Frau, an seine Tochter, die sich mit Fräulein d'Armilly in der Welt umhertrieb; dann dachte er auch an seine Gläubiger und die Art und Weise, wie er sein Geld anwenden wollte. Als er an nichts mehr zu denken hatte, schloß er die Augen und schlief ein.
Bei einem heftigeren Stoße öffnete er zuweilen seine Augen aus eine Sekunde wieder und fühlte sich stets mit derselben Geschwindigkeit durch die römische Campagna mit ihren zahllosen zertrümmerten Wasserleitungen fortgezogen. Doch die Nacht war kalt, düster und regnerisch, und es war vielbesser für einen schläfrigen Menschen, im Hintergrunde seines Wagens mit geschlossenen Augen zu träumen, als den Kopf aus dem Kutschenschlag zu strecken und einen Postillon, der nichts zu antworten wußte, als: non capisco, zu fragen, wo er sichbefinde.
Danglars sagte sich, es sei auf der Station noch immer Zeit, zu erwachen, und setzte seinen Schlaf fort.
Der Wagen hielt an; Danglars dachte, er habe das ersehnte Ziel erreicht. Er öffnete die Augen, schaute durch die Scheiben, in der Erwartung, sich mitten in einer Stadt oder wenigstens in einem Dorfe zu finden; doch er sah nur ein Stück halbzerfallener Mauer und dreibis vier Menschen, die wie Schatten hin und her gingen.
Danglars wartete einen Augenblick, er glaubte, der Postillon werde hier an der Station kommen und das Postgeld von ihm verlangen; er gedachte die Gelegenheit zubenutzen, um sich von seinem neuen Führer Auskunft geben zu lassen; doch die Pferde wurden gewechselt, ohne daß jemand Geld von ihm forderte. Erstaunt öffnete Danglars den Wagenschlag, doch eine kräftige Hand stieß ihn sogleich zurück, und der Wagen rollte fort.
Voll Verwunderung erwachte derBaron gänzlich aus seinem Halbschlummer.
He! sagte er zu dem Postillon, he! mio caro!
Doch mio caro antwortete nicht. Danglars öffnete nun das Fenster und fragte, den Kopf durch die Öffnung streckend: He, Freund! Wohin fahren wir?
Dentro la testa! rief eine gebieterische Stimme mit drohender Gebärde.
Danglarsbegriff, daß dentro la testa den Kopf zurück! hieß. Er gehorchte nicht ohne eine gewisse Unruhe, und da diese Unruhe von Augenblick zu Augenblick zunahm, so war sein Geistbald von Gedanken erfüllt, die ganz geeignet waren, einen Reisenden, undbesonders einen Reisenden in Danglars' Lage wachzuhalten.
Seine Augen nahmen in der Finsternis jenen Grad von Schärfe an, den im ersten Augenblick große Aufregung verleiht. Erbemerkte einen Menschen, der, in einen Mantel gehüllt, am Schlage rechts galoppierte.
Ein Gendarm! sagte er. Sollte der französische Telegraph die päpstlichenBehörden auf mich aufmerksam gemacht haben? Erbeschloß, sich darüber Licht zu verschaffen.
Wohin führt Ihr mich? fragte er.
Dentro la testa! wiederholte dieselbe Stimme mit drohendem Ausdruck.
Danglars wandte den Kopf nach dem Kutschenschlage links und sah hier einen zweiten Reiter galoppieren.
Ichbin offenbar gefangen, sagte Danglars mit schweißtriefender Stirn zu sich selbst. Und er warf sich in den Hintergrund seiner Kalesche zurück, diesmal nicht, um zu schlafen, sondern um nachzudenken.
Einen Augenblick nachher ging der Mond auf.
Aus dem Grunde seines Wagens heraus ließ er nun seinenBlick in die Campagna schweifen. Er sah die gespensterhaften Formen der Wasserleitungen, die er schon vorher im Vorüberfahrenbemerkt hatte; nur waren sie jetzt, statt zu seiner Rechten, zu seiner Linken. Erbegriff, daß man den Wagen hatte eine Wendung machen lassen und nach Rom zurückfuhr.
Oh! Ich Unglücklicher, murmelte er, man hat sicher meine Auslieferung verlangt.
Der Wagen rollte mit furchtbarer Schnelligkeit fort. Eine Stunde verging für Danglars in gräßlichster Angst, dennbei jedem neuen Zeichen seines Weges erkannte der Flüchtling, daß die Reise nach Rom zurückging. Endlich erblickte er eine düstere Masse, er glaubte, der Wagen müßte sich daran stoßen; doch der Wagen wandte sich aband fuhr an dieser düsteren Masse hin, die nichts anderes war, als der Rom umschließende Wallgürtel.
Oh! oh! murmelte Danglars, wir kehren nicht in die Stadt zurück, folglich ist es nicht die Justiz, die sich meinerbemächtigt. Guter Gott! Ein anderer Gedanke, — sollten es etwa?… Seine Haare sträubten sich.
Er erinnerte sich jener interessanten Geschichten von römischenBanditen, die Albert Morcerf Frau Danglars und Eugenie erzählt hatte.
Vielleicht Räuber! murmelte er.
Plötzlich rollte der Wagen auf härteremBoden alsbisher. Danglars wagte einenBlick aufbeide Seiten der Straße; er gewahrte Monumente von seltsamer Form, und sagte sich, nach Morcerfs Erzählungen müsse er auf der Via Appia sein.
Links vom Wagen, in einem Tale, sah er eine kreisförmige Aushöhlung. Das war der Zirkus des Caracalla.
Auf ein Wort des Mannes, der rechts vom Wagen galoppierte, hielt dieser an, und der Kutschenschlag links öffnete sich.
Scendi! befahl eine Stimme.
Danglars stieg sogleich aus und schaute mehr tot als lebendig umher. Vier Männer umgaben ihn, vom Postillon abgesehen.
Di quà! sagte einer von den vier Männern, den Fußpfad hinabsteigend, der von der Via Appia in die unebenen Gründe der Campagna von Rom führte. Danglars folgte dem Manne ohne Widerspruch undbrauchte sich nicht umzuwenden, um zu wissen, daß ihm die drei andern Männer folgten. Es kam ihm indessen vor, als obdiese Männer wie Schildwachen in ungefähr gleichen Entfernungen stehenblieben.
Nach einem stummen Marsche von etwa zehn Minutenbefand sich Danglars zwischen einem kleinen Hügel und einem Gebüsch; drei Männer, die stumm da standen, bildeten ein Dreieck, dessen Mittelpunkt er war. Er wollte sprechen, seine Zunge verwirrte sich.
Vorwärts! Vorwärts! sagte dieselbe Stimme mit dem kurzen, gebieterischen Tone.
Diesmalbegriff Danglars doppelt, durch den Klang des Worts und durch das Gefühl, denn der Mensch, der hinter ihm ging, triebihn so heftig vorwärts, daß erbeinahe auf seinen Führer stieß.
Dieser Führer war unser Freund Peppino, der auf gewundenem Pfade in das hohe Gras drang. Erbliebvor einem, von dichtemBuschwerk überragten Felsen stehen, in dessen Spalten er verschwand.
Der Mann, der Danglars folgte, forderte diesen durch Zeichen auf, dasselbe zu tun. Es unterlag keinem Zweifel mehr, der französischeBankerottierer war in den Händen römischerBanditen!
Danglars ergabsich, wie ein zwischen zwei furchtbare Gefahren gestellter Mensch, den die Angst mutig macht. Trotz seinesBauches schober sich hinter Peppino durch, ließ sich, die Augen schließend, hinabgleiten und fiel auf seine Füße. Als er die Erdeberührte, öffnete er die Augen.
Der Weg warbreit, aber dunkel. Peppino, der nun, da er zu Hause war, sich nicht mehr zu verbergen hatte, schlug Feuer und zündete eine Fackel an.
Zwei andere Männer stiegen, die Nachhutbildend, hinter Danglars herab; sie stießen diesen, wenn er stehenblieb, wie zufällig vorwärts und trieben ihn so auf einem sanften Abhangebis zum Mittelpunkte eines düster aussehenden Kreuzweges. In übereinandergesetzten Nischen, die in Form von Särgen ausgegraben waren, schienen sich an den Wänden unter dem weißen Gestein schwarze, tiefe Augen zu öffnen. Eine Schildwache schlug mit der linken Hand an den Kolben ihres Karabiners und rief sodann: Wer da?
Freunde! Freunde! sagte Peppino. Wo ist der Kapitän?
Dort, antwortete die Schildwache, über ihre Schulter aus einen aus dem Felsen ausgehöhlten Saal deutend, aus dem das Licht durch große gewölbte Öffnungen in den Gang drang.
GuteBeute, Kapitän, guteBeute! rief Peppino italienisch, nahm Danglars am Kragen seines Überrocks und führte ihn zu einer Öffnung, die einer Tür glich; durch diese Öffnung gelangte man in den Saal, wo der Kapitän seinen ständigen Aufenthalt zu haben schien.
Ist es der Mensch? fragte der Kapitän, der aufmerksam in Plutarchs Leben Alexanders las.
Er selbst, Kapitän, er selbst.
Sehr gut, zeigt ihn mir!
Auf diesen durchaus nicht höflichenBefehl hielt Peppino so rasch seine Fackel an Danglars' Gesicht, daß dieser lebhaft zurückwich, um sich nicht die Augenbrauen versengen zu lassen.
Sein verstörtes Gesichtbot alle Symptome einesbleichen, häßlichen Schreckens.
Der Mann ist müde, sagte der Kapitän, man führe ihn zu seinemBett!
Oh, diesesBett! murmelte Danglars; wahrscheinlich ist es einer von den Särgen, die aus der Mauer ausgehöhlt sind, und der Schlaf ist der Tod, den mir einer von den Dolchen, die ich im Schatten funkeln sehe, bringen wird.
Man erblickte in der Tat in den düstern Tiefen des ungeheuren Saales, auf ihren Lagern von getrockneten Kräutern oder von Wolfshäuten, die Gefährten des Mannes sich erheben, den Albert von Morcerf die Kommentare Cäsars lesend und Danglars in den Plutarch versenkt fand.
DerBankier stieß einen dumpfen Seufzer aus und folgte seinem Führer; er versuchte weder zubitten, noch zu schreien. Er hatte keine Kraft, keinen Willen, keine Gewalt, kein Gefühl mehr; er ging, weil man ihn fortzog. Er stieß an eine Stufe, begriff, daß er eine Treppe vor sich hatte, und hobmechanisch vier- oder fünfmal den Fuß auf. Dann öffnete sich eine niedrige Tür vor ihm; erbückte sich unwillkürlich, um nicht anzustoßen, undbefand sich in einer aus dem Felsen gehauenen Zelle. Diese Zelle war, wenn auch kahl, so doch rein und trocken.
EinBett von getrocknetem Grase, bedeckt mit Ziegenhäuten, war in einer Ecke dieser Zelle ausgebreitet. Bei diesem Anblick murmelte Danglars: Oh, Gott sei gelobt! Es ist ein wirklichesBett!
Es war zum zweiten Male, daß er in einer Stunde den Namen Gottes anrief; dies war seit zehn Jahren nicht vorgekommen.
Ecco, sprach der Führer, stieß Danglars in die Zelle und schloß die Tür hinter ihm. Ein Riegel klirrte; Danglars war gefangen.
Wäre indessen auch kein Riegel dagewesen, so hätte er doch der heilige Peter sein und zum Führer einen Engel des Himmels haben müssen, um mitten durch die Garnison zu kommen, welche die Katakomben von San Sebastianobesetzt hielt und um ihren Führer gelagert war, in dem unsere Leser sicher schon denberüchtigten Luigi Vampa erkannt haben.
Danglars hatte diesenBanditen, an dessen Dasein er nicht glauben wollte, als ihm Morcerf davon erzählte, ebenfalls erkannt. Er hatte nicht nur ihn, sondern auch die Zelle erkannt, in der Morcerf eingeschlossen gewesen war, und die aller Wahrscheinlichkeit nach den Fremden gewöhnlich als Wohnung diente.
Diese Erinnerungen, bei denen Danglars mit einer gewissen Freude verweilte, verliehen ihm wieder Ruhe. Da ihn dieBanditen nicht aus der Stelle töteten, hatten sie überhaupt nicht die Absicht, ihn zu töten. Man hatte ihn festgenommen, um ihn zu plündern, da er aber nur einige Louisd'orbei sich trug, so würde man sich, meinte er, damitbegnügen müssen.
Er erinnerte sich, daß Morcerf zu ungefähr viertausend Talern angeschlagen worden war; da er sich für eine viel gewichtigere Person hielt, als Morcerf, so schätzte er sein Lösegeld auf achttausend Taler, das heißt achtundvierzigtausend Franken. Esblieben ihm dann etwa fünf Millionen und fünfzigtausend Franken. Damit kommt man überall durch.
Mit diesemberuhigenden Gedanken streckte er sich auf seinem Lager aus und entschlummertebald.
Luigi Vampas Speisekarte.
Danglars erwachte nach längerem Schlafe.
Für einen Pariser, der an seidene Vorhänge, an samtüberzogene Wände, an den Wohlgeruch, der von dem Holze im Kamin aufsteigt, und ähnlichen Luxus gewöhnt ist, muß das Erwachen in einem Felsen wie ein schlechter Traum sein. Doch in einer Sekunde war sich Danglars der rauhen Wirklichkeitbewußt.
Ja, ja, murmelte er, ichbin in den Händen derBanditen, von denen uns Albert von Morcerf erzählt hat.
Seine ersteBewegung war, zu atmen, um sich Gewißheit zu verschaffen, daß er nicht verwundet sei.
Nein, sagte er, sie haben mich weder umgebracht noch verwundet, aber sie haben mich vielleichtbestohlen.
Er fuhr rasch mit den Händen in seine Taschen. Sie waren unberührt; die hundert Louisd'or, die er sich vorbehalten hatte, um seine Reise von Rom nach Venedig zu machen, waren noch in der Tasche seinerBeinkleider, und das Portefeuille, worin er den Kreditbrief über fünf Millionen und fünfzigtausend Franken aufbewahrt hatte, fand sich in seiner Rocktasche.
SonderbareBanditen, die mir meineBörse und mein Portefeuille lassen! sagte er zu sich selbst. Sie werden es, wie ich es mir gestern abend gedacht habe, auf Lösegeld abgesehen haben. Halt! Ich habe auch noch meine Uhr! Wir wollen einmal sehen, wieviel Uhr es ist.
Danglars Repetieruhr schlug halbsechs Uhr morgens. Ohne sie wäre Danglars in völliger Ungewißheit über die Stunde gewesen, denn das Tageslicht drang nicht in die Zelle.
Sollte er eine Erklärung von denBanditen verlangen, sollte er geduldig warten, bis sie ihn auffordern würden? Das letztere schien ratsamer; Tanglars wartete.
Er wartetebis um die Mittagsstunde. Während dieser Zeit ging eine Schildwache an seiner Tür auf und ab. Um acht Uhr morgens war die Wache abgelöst worden. Danglarsbekam Lust zu sehen, wer ihnbewachte.
Erbemerkte, daß Lichtstrahlen, die von der Lampe herrührten, durch die schlecht zusammengefügtenBretter der Tür drangen. Er näherte sich einer dieser Öffnungen gerade in dem Augenblick, wo derBandit ein paar SchluckBranntwein aus einem ledernen Schlauch nahm.
Zur Mittagsstunde fand wieder eine Ablösung statt; Danglars warbegierig, seinen neuen Wächter zu sehen, und näherte sich abermals der Spalte. Es war ein athletischerBandit, ein Goliath mit großen Augen, dicken Lippen und eingedrückter Nase! Sein rotes Haar hing auf seine Schultern in gedrehten Zöpfen wie eine Anzahl von Schlangen herab.
Oh! oh! sagte Danglars, der gleicht mehr einem Werwolf, als einem menschlichen Geschöpfe; in jedem Fallebin ich alt und zähe, und mein Fleisch ist nicht gut zubeißen.
Man sieht, Danglars hatte noch so viel Geistesgegenwart, daß er scherzen konnte. In demselben Augenblick setzte sich sein Wächter, als wollte er ihmbeweisen, er sei kein Werwolf, der Tür seiner Zelle gegenüber, zog aus seinem Schnappsack schwarzesBrot, Zwiebeln und Käse und fing an, diese Dinge mit großem Appetit zu verzehren.
Der Teufel soll mich holen, sagte Danglars, indem er durch die Spalte seiner Tür einenBlick aus das Mahl desBanditen warf, wenn ichbegreife, wie man solchen Unrat essen kann.
Doch die Geheimnisse der Natur sind unerforschlich, und es übt auf den Hungrigen der Anblick eines Schmausenden einen eigenen Reiz.
Danglars fühlte plötzlich, daß sein Abscheu in diesem Augenblick keinen Grund hatte, der Mensch kam ihm weniger häßlich, dasBrot weniger schwarz, der Käse frischer vor. Die rohen Zwiebeln endlich, ein abscheuliches Nahrungsmittel des Wilden, erinnerten ihn an gewisse PariserBrühen, die sein Koch so ausgezeichnetbereitete, wenn Danglars zu ihm sagte: Herr Deniseau, machen Sie mir heute einen guten Canaille‑Teller.
Er stand auf und klopfte an die Tür. — DerBandit hobden Kopf empor. Danglars sah, daß man ihn gehört hatte, und verdoppelte sein Klopfen.
Che cosa? fragte derBandit.
Sagen Sie doch! Freund, rief Danglars, mit seinen Fingern an die Tür trommelnd, es scheint mir, es wäre Zeit, daß man mir auch zu essen gäbe.
Doch, mag es nun sein, daß der Riese ihn nicht verstand, oder wollte er ihn nicht verstehen, jedenfalls setzte er, ohne sich stören zu lassen, sein Mahl fort.
Danglars fühlte seinen Stolz gedemütigt, und da er sich nicht weiter mit diesem Tiere einlassen wollte, so legte er sich auf seineBockshäute und sprach kein Wort mehr.
Es vergingen abermals vier Stunden; der Riese wurde durch einen andernBanditen ersetzt. Danglars, der ein furchtbares Zerren im Magen fühlte, stand sacht auf, hielt sein Auge wieder an die Spalten seiner Tür und erkannte das kluge Gesicht seines Führers.
Es war in der Tat Peppino, der die friedliche Wachebezog, sich der Tür gegenüber niederließ und zwischen seinenBeinen einen irdenen Topf, der warme, duftende Kichererbsen mit Speck enthielt, niedersetzte. Neben diese Kichererbsen stellte Peppino noch ein hübsches Körbchen mit Trauben und eine Flasche Orvietowein. Peppino war offenbar ein Leckermaul.
Als Danglars diese gastronomischen Vorbereitungen sah, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Ah! ah! Wir wollen doch sehen, obder manierlicher ist, dachte er und klopfte sacht an die Tür.
On y va, sagte derBandit, der in Pastrinis Hause das Französische gelernt hatte.
Danglars erkannte jetzt in ihm wirklich den, der ihm so wütend: Dentro la testa! zugerufen hatte. Doch es war keine Zeit zu Vorwürfen, er nahm im Gegenteil sein freundlichstes Gesicht an und sagte mit liebenswürdigem Lächeln: Verzeihen Sie, mein Herr, wird man mir nicht auch zu essen geben?
Wie? rief Peppino, sollte Euere Exzellenz zufällig Hunger haben?
Zufällig, das ist herrlich! murmelte Danglars; es sind gerade vierundzwanzig Stunden, daß ich nichts mehr gegessen habe. Allerdings, mein Herr, fügte er laut hinzu, ich habe Hunger und sogar sehr großen Hunger.
Und Euere Exzellenz will essen?
Auf der Stelle, wenn es sein kann.
Nichts kann leichter sein, sagte Peppino, man verschafft sich hier alles, was man haben will, wenn manbezahlt, wie diesbei allen ehrlichen ChristenBrauch ist.
Das versteht sich, rief Danglars, obgleich die Leute, die einen verhaften und einsperren, ihre Gefangenen wenigstens auch nähren sollten.
Auf der Stelle, Exzellenz, was wünschen Sie?
Peppino setzte seinen Napf so auf die Erde, daß der Dampf unmittelbar Danglars in die Nase stieg.
Sie haben also Küchen hier? fragte derBankier.
Wie! Obwir Küchen haben? Vollkommene Küchen! — Und Köche? — Vortreffliche! — Wohl! Ein Huhn, einen Fisch, Wildpret, gleichviel was, wenn ich nur zu essenbekomme. — Ganz nach demBelieben Eurer Exzellenz; wir wollen sagen ein Huhn, nicht wahr? — Ja, ein Huhn.
Peppino richtete sich auf und schrie mit lauter Lunge: Ein Huhn für seine Exzellenz!
Peppinos Stimme widerhallte noch unter den Gewölben, alsbereits ein hübscher, schlanker, wie die antiken Fischträger halbnackter, junger Mensch erschien! Er trug das Huhn auf einer silbernen Platte.
Man sollte glauben, man wäre im Café de Paris, murmelte Danglars.
Hier, Exzellenz! sagte Peppino, indem er das Huhn aus den Händen des jungenBanditen nahm und auf einen wurmstichigen Tisch setzte, der nebst einem Schemel und demBette vonBockshäuten die ganze Ausstattung der Zellebildete. Danglars forderte ein Messer und eine Gabel.
Hier, Exzellenz! rief Peppino undbot ihm ein kleines stumpfes Messer und eine Gabel vonBuchsbaum.
Danglars nahm Messer und Gabel und schickte sich an, das Huhn zu zerschneiden.
Verzeihen Sie, Exzellenz, sagte Peppino, eine Hand auf die Schulter desBankiers legend, hierbezahlt man, ehe man ißt; sonst gibt'sbeim Fortgehen Differenzen.
Ah! ah! murmelte Danglars, das ist nicht mehr wie in Paris, abgesehen davon, daß sie mich wahrscheinlich schinden werden; doch wir wollen die Sache großartigbetreiben. Mein Freund, ich habe immer von der Wohlfeilheit des Lebens in Italien reden hören; ein Huhn wird in Rom zwölf Sous kosten; und dabei warf er Peppino einen Louisd'or zu.
Peppino hobden Louisd'or auf. Danglars näherte das Messer dem Huhn.
Einen Augenblick, Exzellenz, sagte Peppino aufstehend; Eure Exzellenz ist mir noch etwas schuldig.
Ich dachte doch, sie würden mich schinden! murmelte Danglars und fügte laut hinzu: Wieviel ist man Ihnen noch für dieses schwindsüchtige Huhn schuldig?
Eure Exzellenz hat mir einen Louisd'or auf Abschlag gegeben und ist mir noch viertausendneunhundertundneunundneunzig Louisd'or schuldig.
Danglars riß seine Augenbei diesem großartigen Scherze sehr weit auf. Ah! Sehr drollig, murmelte er, in der Tat, äußerst drollig.
Er wollte wieder zum Werke schreiten und das Huhn zerlegen; doch Peppino hielt ihm die rechte Hand fest und sagte: Erst das Geld, mein Herr.
Wie, Sie scherzen nicht?
Wir scherzen nie, Exzellenz.
Wie, hunderttausend Franken für dieses Huhn?
Exzellenz, es ist unglaublich, wieviel Mühe man hat, um Geflügel in diesen verfluchten Grotten aufzuziehen.
Gehen Sie! Ich finde das sehr komisch, in der Tat äußerstbelustigend: doch da ich Hunger habe, lassen Sie mich essen! Hier ist noch ein Louisd'or für Sie.
Dann macht es noch viertausendneunhundertundachtundneunzig Louisd'or, sagte Peppino mit derselben Gleichgültigkeit; mit Geduld werden wir zum Ziele gelangen.
Oh! versetzte Danglars, empört über diesenbeharrlichen Spott, oh, niemals. Gehen Sie zum Teufel! Sie wissen nicht, mit wem Sie zu tun haben.
Peppino machte ein Zeichen, und der junge Mensch nahm rasch das Huhn weg. Danglars warf sich auf seinBett. Peppino schloß wieder die Tür und fing an, seine Erbsen mit Speck zu essen.
Danglars kam sein Magen durchlöchert vor wie das Faß der Danaiden, er konnte nicht glauben, daß es ihm je gelingen würde, ihn zu füllen.
Er faßte übrigens noch eine halbe Stunde Geduld; doch es ist nicht zu leugnen, daß ihm diese halbe Stunde wie ein Jahrhundert vorkam. Dann stand er auf, ging abermals zur Tür und sprach: Hören Sie, mein Herr, lassen Sie mich nicht länger schmachten, sagen Sie mir sogleich, was man von mir will.
Exzellenz, sagen Sie vielmehr, was Sie von uns wollen. Geben Sie IhreBefehle, und wir werden sie ausführen.
So öffnen Sie vor allem!
Peppino öffnete.
Ich will, sagte Danglars, bei Gott! Ich will essen. — Sie haben Hunger? — Ei! Sie wissen es wohl. — Was wünscht Eure Exzellenz zu essen? — Ein Stück trockenesBrot, da die Hühner in diesen verfluchten Höhlen so ungeheuer teuer sind. — Brot! Es sei, rief Peppino. Holla! Brot!
Der junge Mannbrachte ein kleinesBrot.
Hier! sagte Peppino.
Wieviel? fragte Danglars. Viertausendneunhundertachtundneunzig Louisd'or. Ich habe zwei Louisd'or Vorschuß.
Wie! EinBrot hunderttausend Franken?
Hunderttausend Franken! erwiderte Peppino; wirbedienen nicht nach der Karte, sondern zu einem Preise. Obman wenig, obman viel ißt, obman zehn Schüsseln verlangt oder eine einzige, das kostetbei uns gleich viel.
Abermals dieser Scherz, lieber Freund, ich erkläre Ihnen, daß das albern ist! Sagen Sie mir auf der Stelle, daß ich vor Hunger sterben soll, die Sache wird schneller abgemacht sein.
Nein, Exzellenz, Sie wollen sich selbst um das Lebenbringen. Bezahlen Sie, und essen Sie.
Womitbezahlen, dreifaches Tier? sagte Danglars, außer sich; glaubst du, man trägt mir nichts, dir nichts hunderttausend Frankenbei sich?
Sie haben fünf Millionen und fünfzigtausend Franken in Ihrer Tasche, Exzellenz, erwiderte Peppino; das macht fünfzig Hühner zu hunderttausend Franken und ein halbes Huhn zu fünfzigtausend Franken.
Danglars schauderte; dieBinde fiel ihm von den Augen; das war allerdings immer noch ein Scherz, aber erbegriff ihn endlich. Hören Sie, sagte er, wenn ich Ihnen diese hunderttausend Franken gebe, werden Sie sich dann wenigstens fürbezahlt erklären und mich nachBelieben essen lassen?
Allerdings, sprach Peppino.
Doch wie soll ich sie Ihnen geben? versetzte Danglars, freier atmend.
Nichts leichter; Sie haben einen offenen Kredit auf Thomson und French, Via deiBanchi in Rom; geben Sie mir eine Anweisung von viertausendneunhundertundachtundneunzig Louisd'or auf diese Herren, unserBankier wird sie uns abnehmen.
Danglars wollte sich wenigstens das Verdienst des guten Willens geben, nahm die Feder, die ihm Peppino nebst Papier reichte, schriebden Zettel und unterzeichnete.
Hier, sagte er, hier ist eine Anweisung auf den Inhaber.
Und hier ist Ihr Huhn.
Danglars zerschnitt seufzend das Huhn; es kam ihm sehr mager für eine so fette Summe vor.
Peppino aber las aufmerksam die Anweisung, steckte sie in die Tasche und aß seine Kichererbsen weiter.
Die Vergebung.
Am andern Morgen hatte Danglars abermals Hunger; die Luft dieser Höhle war im höchsten Maße Appetit erregend; der Gefangene glaubte, an diesem Tage müßte er keine Ausgabe machen; als sparsamer Mann hatte er die Hälfte von seinem Huhn und ein Stück von seinemBrot in einer Ecke seiner Zelle versteckt. Doch er hatte kaum gegessen, als er Durstbekam; darauf hatte er nicht gerechnet.
Er kämpfte gegen den Durst, bis zu dem Augenblick, wo er fühlte, daß seine vertrocknete Zunge an seinem Gaumen anklebte. Als Danglars dem verzehrenden Feuer nicht mehr widerstehen konnte, rief er.
Eine Wache öffnete die Tür; es war ein neuerBandit.
Er dachte, es wäre für ihnbesser, wenn er mit einem altenBekannten zu tun hätte, und rief Peppino.
Hierbin ich, Exzellenz, sagte Peppino, mit einem Eifer herbeieilend, den Danglars als ein gutes Vorzeichenbetrachtete, was wünschen Sie?
Zu trinken, sprach der Gefangene.
Exzellenz, Sie wissen, daß der Wein in der Gegend von Rom übermäßig teuer ist.
So geben Sie mir Wasser, erwiderte Danglars, der den Stoß zu parieren suchte.
Exzellenz, das Wasser ist noch viel seltener, als der Wein; es herrscht gegenwärtig eine so große Trockenheit.
Gehen Sie doch, Sie fangen wieder an, scheint es! sagte Danglars lächelnd, um sich den Anschein zu geben, als scherze er. Der Unglückliche fühlte, wie der Schweiß seine Schläfebefeuchtete.
Nun, mein Freund, fuhr er fort, als er sah, daß Peppino unempfindlichblieb, ichbitte Sie um ein Glas Wein! Werden Sie es mir abschlagen?
Ich habe Ihnenbereits gesagt, Exzellenz, daß wir den Wein nicht im kleinen verkaufen, erwiderte Peppino ernst.
Wohl! So geben Sie mir eine Flasche vombilligsten.
— Sie haben alle denselben Preis. — Und was ist dieser Preis? — Fünfundzwanzigtausend Franken die Flasche.
Sagen Sie mir, rief Danglars mit größterBitterkeit, daß Sie mich ganz und gar ausziehen wollen; das ist schneller undbesser auf einmal getan, als wenn Sie mich so Fetzen für Fetzen auffressen.
Es ist dies möglicherweise der Plan des Herrn. — Wer ist dieser Herr? — Der, zu dem man Sie vorgestern geführt hat. — Und wo ist er? Machen Sie, daß ich ihn sehen kann. — Das ist leicht.
Einen Augenblick nachher stand Luigi Vampa vor Danglars.
Sie rufen mich? fragte er den Gefangenen.
Sie, mein Herr, sind der Anführer der Leute, die mich hierher gebracht haben? — Ja, Exzellenz.
Wieviel Lösegeld verlangen Sie von mir? Sprechen Sie.
Ganz einfach die fünf Millionen, die Siebei sich tragen.
Danglars fühlte einen ungeheuren Krampf sein Herz zermalmen.
Das ist alles, was ich auf der Welt habe, mein Herr, es ist der Rest eines ungeheuren Vermögens; wenn Sie mir es nehmen, so nehmen Sie mir mein Leben.
Es ist uns verboten, IhrBlut zu vergießen, Exzellenz.
Und durch wen ist Ihnen dies verboten?
Durch den, dem wir gehorchen.
Ich glaubte, Sie seien selbst der Führer?
Ichbin der Führer dieser Leute, doch ein anderer ist mein Gebieter.
Und dieser Gebieter gehorcht auch jemand?
Ja. — Wem? — Gott.
Danglarsbliebeinen Augenblick nachdenklich, und sagte sodann: Ichbegreife Sie nicht. — Das ist möglich.
Und dieser Führer hat Ihnen gesagt, Sie sollen mich sobehandeln? — Ja. — Was ist sein Zweck? Ich weiß es nicht. — Aber meineBörse wird sich erschöpfen — Das ist wahrscheinlich. — Hören Sie, wollen Sie eine Million? — Nein. — Zwei Millionen? — Nein.
Drei Millionen?.. Vier?.. Hören Sie, vier? Ich gebe sie Ihnen unter derBedingung, daß Sie mich gehen lassen.
Warumbieten Sie uns vier Millionen für das, was fünf wert ist, versetzte Vampa; das ist Wucher, HerrBankier, oder ich verstehe mich nicht darauf.
Nehmen Sie alles! Nehmen Sie alles! sage ich Ihnen, und töten Sie mich! rief Danglars.
Still! Still! Beruhigen Sie sich, Exzellenz, Sie regen IhrBlut so auf, daß Sie einen Appetitbekommen, bei dem Sie eine Million täglich verzehren; Mord und Tod! Seien Sie sparsamer, lieber Herr.
Doch wenn ich kein Geld mehrbesitze, um Sie zubezahlen, mein Herr? rief Danglars in Verzweiflung.
Dann werden Sie Hunger haben.
Ich werde Hunger haben? fragte Danglars erbleichend.
Das ist wahrscheinlich… antwortete Vampa phlegmatisch.
Aber Sie sagen, Sie wollen mich nicht töten? Und dennoch wollen Sie mich Hungers sterben lassen?
Das ist nicht dasselbe.
Wohl! Ihr Elenden, rief Danglars, ich werde Eure schändlichenBerechnungen vereiteln. Soll ich einmal sterben, so will ich lieber sogleich ein Ende machen: laßt mich leiden, martert mich, tötet mich, doch Ihr sollt meine Unterschrift nichtbekommen.
Wie es Ihnenbeliebt, Exzellenz, sagte Vampa und verließ die Zelle.
Danglars warf sichbrüllend aus dieBockfelle seines Lagers.
Wer waren diese Menschen? Wer war dieser sichtbare Führer? Wer war der unsichtbare Führer? Welche Pläne verfolgten sie mit ihm? Und wenn die ganze Welt sich loskaufen konnte, warum vermochte er allein dies nicht?
Oh! Allerdings der Tod, ein rascher und gewaltsamer Tod war ein gutes Mittel, diese erbitterten Feinde zu hintergehen, die eine unbegreifliche Rache gegen ihn zu planen schienen.
Ja, aber sterben! Zum ersten Male vielleicht in seiner ganzen Laufbahn dachte Danglars an den Tod zugleich mit dem Verlangen und der Furcht, zu sterben. Doch die Stunde war für ihn gekommen, seinenBlick auf das unversöhnliche Gespenst zu heften, das im Innern jedes Geschöpfes lebt und das nunbei jedem Pulsschlage des Herzens zu ihm sagte: Du wirst sterben.
Danglars glich jenen wilden Tieren, welche die Jagd aufregt, in Verzweiflungbringt, und denen es durch die Gewalt der Verzweiflung zuweilen gelingt, sich zu retten.
Danglars dachte an Flucht.
Doch die Mauern waren die Felsen selbst, und vor dem einzigen Ausgang, der aus der Zelle führte, lag ein Mensch; hinter diesem Menschen sah man mit Flintenbewaffnete Schatten hin und her gehen.
Sein Entschluß, nicht zu unterzeichnen, dauerte zwei Tage, dann verlangte er Nahrungsmittel undbot eine Million. Man trug ihm ein vortreffliches Abendessen auf und nahm seine Million.
Von da an war das Leben des unglücklichen Gefangenen einebeständige Ausschweifung. Er hatte so viel gelitten, daß er sich keinen weiteren Leiden mehr aussetzen wollte und sich allen Forderungen unterzog. Nach Verlauf von acht Tagen machte er eines Nachmittags, als er wie in den schönen Tagen seines Glückes gespeist hatte, seine Rechnung undbemerkte, daß er so viele Anweisungen abgegeben, daß ihm nur noch fünfzigtausend Franken übrigblieben.
Da ging eine seltsame Umwandlung in ihm vor. Er, der fünf Millionen hingegeben hatte, suchte die fünfzigtausend Franken zu retten, die ihmblieben; erbeschloß, eher die größten Entbehrungen zu ertragen, als diese fünfzigtausend Franken herzugeben. Der Unglückliche nährte einen Schimmer von Hoffnung, der an Wahnsinn grenzte; er, der seit so langer Zeit Gott vergessen hatte, dachte an ihn, um sich zu sagen, Gott habe zuweilen Wunder getan. Diese Höhle könnte versinken; die päpstlichen Karabinieri könnten diesen verfluchten Aufenthaltsort entdecken und ihm zu Hilfe kommen; dann würden ihm noch fünfzigtausend Frankenbleiben; fünfzigtausend Franken wären eine hinreichende Summe, um einen Menschen vor dem Hungertode zu schützen. Erbat Gott, ihm diese fünfzigtausend Franken zu erhalten, und indem erbat, weinte er.
So vergingen drei Tage, während deren der Name Gottesbeständig, wenn nicht in seinem Herzen, doch auf seinen Lippen war. In Zwischenräumen hatte er Augenblicke des Irrsinns, in denen er durch die Fenster einer armseligen Kammer einen Greis im Todeskampfe auf einem elenden Lager zu erblicken glaubte. Dieser Greis starbauch vor Hunger.
Am vierten Tage war er kein Mensch mehr, sondern ein lebendiger Leichnam; er hatte auf demBoden die letzten Krümchen seiner früheren Mahle zusammengerafft und fing an das Stroh zu verzehren, mit dem derBodenbedeckt war.
Dann flehte er Peppino an, wie man einen Schutzengel anfleht, ihm etwas Speise zu geben; erbot ihm tausend Franken für einen Mund vollBrot. Peppino antwortete nicht.
Am fünften Tage schleppte er sich vor den Eingang der Zelle.
Ihr seid also kein Christ? sagte er, sich auf seine Knie erhebend; Ihr wollt einen Menschen töten, der EuerBruder vor Gott ist?
Und er fiel mit dem Gesicht auf die Erde.
Dann fuhr er plötzlich wieder auf und rief: Der Führer!
Hierbin ich! sagte, sogleich erscheinend, Vampa, was wünschen Sie noch?
Nehmen Sie mein letztes Geld, stammelte Danglars, ihm sein Portefeuille reichend, nehmen Sie es und lassen Sie mich in dieser Höhle; ich verlange meine Freiheit nicht mehr, ich verlange mein Leben nicht mehr.
Sie leiden also sehr? fragte Vampa.
Ja, ich leide grausam.
Es gibt aber Menschen, die mehr gelitten haben.
Ich glaube es nicht.
Doch! Die, welche vor Hunger gestorben sind.
Danglars dachte an den Greis, den er während der Stunde seines Irrsinns durch die Fenster seiner armseligen Kammer aus seinem Lager sich winden sah. Er schlug mit der Stirn auf die Erde und stieg einen Seufzer aus.
Ja, sagte er, es ist wahr; es gibt Leute, die mehr gelitten haben, als ich, aber diese waren Märtyrer.
Siebereuen wenigstens? sagte eine düstere, feierliche Stimme, welche die Haare auf Danglars' Haupte sich sträuben ließ.
Sein geschwächterBlick suchte die Gegenstände zu unterscheiden, und er sah hinter demBanditen einen Mann, der in einen Mantel gehüllt und vom Schatten eines steinernen Pfeilersbedeckt war.
Was soll ichbereuen? stammelte Danglars.
DasBöse, das Sie getan haben.
Oh! ja, ichbereue es, ichbereue es, rief Danglars.
Und er schlug mit seiner abgemagerten Faust an seineBrust.
Dann vergebe ich Ihnen, sagte der Unbekannte, seinen Mantel abwerfend und in das Licht vorschreitend.
Der Graf von Monte Christo! rief Danglars, bleicher vor Schrecken, als er es einen Augenblick zuvor vor Hunger und Elend gewesen war.
Sie täuschen sich; ichbin nicht der Graf von Monte Christo.
Und wer sind Sie denn?
Ichbin der, den Sie verkauft, preisgegeben, entehrt haben; ichbin der, dessenBraut Sie mit Schmachbedeckten; ichbin der, auf den Sie traten, auf dem Sie fortschritten, um sich zum Glück aufzuschwingen; ichbin der, dessen Vater Sie vor Hunger sterben ließen, den Sie verurteilt hatten, ebenfalls Hungers zu sterben, und der Ihnen dennoch vergibt, weil er selbst der Vergebungbedarf; ichbin Edmond Dantes.
Danglars stieß einen Schrei aus und stürzte, so lang er war, zur Erde nieder.
Stehen Sie auf, sagte der Graf, Ihr Lebenbleibt unverletzt; ein solches Glück ist Ihren zwei Genossen nicht widerfahren; der eine ist wahnsinnig, der andere ist tot. Behalten Sie die fünfzigtausend Franken, die Sie noch haben, ich mache sie Ihnen zum Geschenk. Die fünf Millionen, die Sie den Hospitälern gestohlen haben, sind diesenbereits von unbekannter Hand wiedererstattet worden.
Und nun essen Sie und trinken Sie! Für heute abend sind Sie mein Gast.
Vampa, wenn dieser Mensch sichberuhigt hat, lassen Sie ihn frei!
Danglarsbliebauf der Erde liegen, bis sich der Graf entfernte; als er das Haupt erhob, sah er nur noch einen im Gange verschwindenden Schatten, vor dem sich die Räuber verbeugten.
Danglars wurde demBefehle des Grafen gemäß von Vampa mit demBesten, was er hatte, erquickt. Als er seinen Hunger gestillt hatte, ließ ihn der Anführer derBanditen in einen Wagen steigen, begleitete ihn eine Strecke weit und lehnte ihn dann unfern der Straße an einenBaum.
Hierblieberbis zum Anbruch des Tages, ohne zu wissen, wo er war.
Beim Morgenlichtebemerkte er, daß er sich in der Nähe einesBachesbefand; er hatte Durst und schleppte sichbis zu diesemBache. Als er sich neigte, um daraus zu trinken, sah er, daß seine Haare weiß geworden waren.
Der fünfte Oktober.
Es war ungefähr sechs Uhr abends; ein opalfarbiges Licht, in das eine schöne Herbstsonne ihre goldenen Strahlen einwob, fiel auf dasbläuliche Meer. Aus diesem ungeheuren Gewässer, das sich von Gibraltarbis zu den Dardanellen, und von Tunisbis nach Venedig ausdehnt, glitt eine leichte Jacht von reiner, zierlicher Form in dem ersten Dunste des Abends hin.
Nach und nach verschwanden am westlichen Horizont die letzten Strahlen der Sonne. Die Jacht rückte rasch vor, obgleich scheinbar der Wind kaum stark genug war, um das Lockenhaar eines Mädchens flattern zu lassen.
Auf dem Vorderteile stehend, sah ein Mann von hoher Gestalt, brauner Gesichtsfarbe und mit großem Auge das Land als düstere, kegelförmige Masse auf sich zukommen, die gleich einem ungeheuren katalanischen Hut sich aus den Wellen erhob.
Ist das Monte Christo? fragte mit ernster, von tiefer Traurigkeit zeugender Stimme der Reisende, dessenBefehlen die Jacht für den Augenblick unterstand.
Ja, Exzellenz, antwortete der Patron, wir kommen sogleich dahin.
Wir kommen dahin! murmelte der Reisende mit einem Ausdrucke unsäglicher Schwermut. Dann fügte er mit leiser Stimme hinzu: Ja, dort wird der Hafen sein.
Und er versenkte sich wieder in seine Gedanken, die sich durch ein unsäglich trauriges Lächeln kundgaben.
Zehn Minuten nachher geite man die Segel auf und warf den Anker fünfhundert Schritte von einem kleinen Hafen.
DasBoot warbereits mit den Ruderern und dem Lotsen im Meere. Der Reisende stieg hinabundblieb, statt sich auf das für ihn mit einemblauen Teppich geschmückte Vorderteil zu setzen, mit gekreuzten Armen stehen.
Die Ruderer warteten, ihre Ruder halbin die Höhe gehoben, wie Vögel, die ihre Flügel trocknen lassen.
Vorwärts! sprach der Reisende.
Die acht Ruderer setzten mit einem Schlage ein; dann glitt dieBarke, dem Antriebe gehorchend, rasch dem Ufer zu.
In einem Augenblickbefand man sich in der kleinenBucht, die hier durch einen natürlichen Ausschnitt gebildet wurde. DieBarkeberührte einen Grund von feinem Sand. Der junge Mann stieg aus und suchte mit seinen Augen um sich her den Weg, denn es warbereits völlig Nacht.
In dem Augenblick, wo er den Kopf umwandte, ruhte eine Hand auf seiner Schulter, und eine Stimme ließ ihn erbeben.
Guten Abend, Maximilian, sagte diese Stimme, Sie sind sehr pünktlich, und ich danke Ihnen.
Sie sind es, Graf! rief der junge Mann mit einer freudigenBewegung und mit seinenbeiden Händen die Hand Monte Christos drückend.
Ja, wie Sie sehen, nicht minder pünktlich; doch Sie triefen, lieber Freund. Sie müssen die Kleider wechseln, es findet sich hier eine für Siebereitstehende Wohnung, in der Sie Müdigkeit und Kälte vergessen werden, sagte Monte Christo lächelnd.
Maximilian schaute den Grafen voll Erstaunen an.
Wie, sagte er, Sie sind hier nicht mehr derselbe, der Sie in Paris waren?
Warum dies?
Ja, hier lächeln Sie.
Monte Christos Stirn verdüsterte sich plötzlich, und er sagte: Sie haben recht, daß Sie mich an mich selbst erinnern, Maximilian; Sie wiederzusehen war ein Glück für mich, und ich vergaß, daß jedes Glück vorübergehend ist.
Oh! nein, nein, Graf, rief Morel, abermals diebeiden Hände seines Freundes ergreifend; lachen Sie im Gegenteil, seien Sie glücklich, undbeweisen Sie mir, daß das Leben nur für die Leidenden schlecht ist. Oh! Sie sind menschenfreundlich, Sie sind gut, Sie sind groß, mein Freund, und um mir Mut zu verleihen, heucheln Sie diese Heiterkeit.
Sie täuschen sich, Morel, erwiderte Monte Christo, ich war in der Tat glücklich.
Dann ist es um sobesser, Sie vergessen mich.
Wieso?
Ja, denn Sie wissen, Freund, wie der Gladiator, der in den Zirkus trat, den erhabenen Kaiserbegrüßte, so sage ich zu Ihnen: Der den Tod erleiden wird, grüßt dich.
Sie sind nicht getröstet? fragte Monte Christo mit einem seltsamenBlicke.
Haben Sie wirklich geglaubt, ich könnte es sein? rief Morel mit einem Tone vollBitterkeit. Graf, hören Sie mich: Ichbin zu Ihnen gekommen, um in den Armen eines Freundes zu sterben. Allerdings gibt es noch Menschen, die ich liebe; ich liebe meine Schwester Julie, ich liebe ihren Gatten Emanuel; aber für mich ist esBedürfnis, daß man mir starke Arme öffnet, daß man mir in meinen letzten Augenblicken zulächelt. Meine Schwester würde in Tränen zerfließen und ohnmächtig werden; ich würde sie leiden sehen und habe selbst genug gelitten. Emanuel würde mir die Waffe aus den Händen reißen und das Haus mit seinem Geschrei erfüllen. Sie, Graf, dessen Wort ich habe, Sie, der Sie mehr als ein Mensch sind, Sie werden mich sanft und zärtlichbis zu den Pforten des Todes geleiten? Oh! Graf, wie sanft und wollüstig werde ich im Tode ruhen!
Morel sprach diese letzten Worte mit einem Ausdrucke von Energie, der den Grafenbeben ließ.
Mein Freund, fuhr Morel fort, als er sah, daß der Graf schwieg, Sie haben mir den fünften Oktober als das Ende der Fristbezeichnet, die Sie von mir verlangen… Mein Freund, heute ist der fünfte Oktober…
Morel zog seine Uhr.
Es ist neun Uhr, ich habe noch drei Stunden zu leben.
Es sei! sagte Monte Christo, kommen Sie!
Morel folgte mechanisch dem Grafen, und sie warenbereits in der Grotte, ehe es Maximilianbemerkte.
Er fand Teppiche unter seinen Füßen, eine Tür öffnete sich, Wohlgerüche umhüllten ihn, ein lebhaftes Licht traf seine Augen. Morel zögerte, weiterzugehen, undbliebstehen; er mißtraute den entnervenden Sinnenreizen, die ihn umgaben.
Monte Christo zog ihn sanft vorwärts und sagte: Geziemt es sich nicht, daß wir die drei Stunden, die uns nochbleiben, wie die alten Römer verwenden, die, von Nero, ihrem Kaiser und Erben, zum Tode verurteilt, sich mitBlumenbekränzt zu Tische setzten und den Tod mit dem Wohlgeruch von Heliotropen und Rosen einatmeten?
Morel lächelte.
Wie Sie wollen, sagte er; der Todbleibt immer der Tod, das heißt die Ruhe, das heißt die Abwesenheit des Lebens nd folglich des Schmerzes. Er setzte sich, Monte Christo nahm seinen Platz ihm gegenüber.
Manbefand sich in dem wundervollen, bereits von unsbeschriebenen Speisesaal, wo Marmorstatuen auf ihren Häuptern stets mitBlumen und Früchten gefüllte Körbchen trugen.
Morel hatte alles flüchtig angeschaut und ohne Zweifel nichts gesehen. Reden wir als Männer! sagte er mit einemBlicke auf den Grafen.
Sprechen Sie!
Graf, Sie sind der Inbegriff aller menschlichen Kenntnisse, und Ihr Wesen macht den Eindruck auf mich, als kämen Sie aus einer Welt, die weiter vorgerückt und reicher ist, als die unsrige.
Es ist etwas Wahres daran. Morel, sagte der Graf mit jenem schwermütigen Lächeln, das ihn so schön erscheinen ließ; ichbin von einem Planeten herabgestiegen, den man den Schmerz nennt.
Ich glaube alles, was Sie mir sagen, ohne daß ich den Sinn davon zu ergründen suche. ZumBeweise hierfür mag dienen: Sie hießen mich leben, und ich lebte; Sie hießen mich hoffen, und ich hofftebeinahe. Ich wage es daher, Graf, sie zu fragen, als obSie schon einmal tot gewesen wären: Graf, tut das wehe?
Monte Christo schaute Morel mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit an und erwiderte: Ja, allerdings, es tut sehr wehe. Wenn Sie auf eine rohe Weise die sterbliche Hülle zerreißen, die hartnäckig zu leben verlangt; wenn Sie Ihr Fleisch unter den unmerklichen Zähnen eines Dolches aufschreien lassen; wenn Sie mit einer unverständigen Kugel Ihr Hirn durchbohren, dasbei dem geringsten Stoße von Schmerzenbefallen wird, — so werden Sie sicher leiden und mit Widerwillen das Leben verlassen, das Sie mitten unter Ihrem verzweiflungsvollen Todeskampfe immer noch schöner finden, als eine so teuer erkaufte Ruhe.
Ja, ichbegreife, sagte Morel; der Tod hat wie das Leben seine Geheimnisse des Schmerzes und der Wollust, und es kommt nur darauf an, sie kennen zu lernen.
Ganz richtig, Maximilian, Sie haben das große Wort ausgesprochen. Der Tod ist, je nachdem wir uns gut oder schlimm mit ihm stellen, entweder ein Freund, der uns ebenso sanft wiegt, wie eine Amme, oder ein Feind, der uns mit Gewalt die Seele aus dem Leibe reißt. Eines Tags, wenn unsere Welt noch tausend Jahre gelebt, wenn man sich aller zerstörenden Kräfte der Naturbemächtigt haben wird, um sie der allgemeinen Wohlfahrt der Menschheit dienstbar zu machen; wenn der Mensch einmal die Geheimnisse des Todes kennt, — wird dieser ebenso sanft, ebenso wollüstig sein, wie der Schlummer in den Armen unserer Geliebten.
Und wenn Sie sterben wollten, wüßten Sie so zu sterben? — Ja.
Morel reichte ihm die Hand und sagte: Ichbegreife nun, warum Sie mich hierherbeschieden haben, auf diese einsame Insel, mitten in den Ozean, in diesen unterirdischen Palast… ein Grab, das den Neid eines Pharao erregt haben würde; es geschah dies, weil Sie mich liebten, nicht wahr, Graf? Weil Sie mich hinreichend lieben, um mir einen Tod ohne Kampf zu gönnen, einen Tod, der mir gestattet, zu sterben, während ich den Namen Valentine ausspreche und Ihnen die Hand drücke?
Ja, Sie haben richtig erraten, Morel, sagte der Graf einfach, dies war meine Absicht.
Ich danke; die Hoffnung, daß ich morgen nicht mehr leben werde, ist so süß für mein armes Herz.
Bedauern Sie keinen Verlust? fragte Monte Christo.
Nein! antwortete Morel.
Bedauern Sie nicht, von mir scheiden zu müssen? fragte der Graf mit tiefer Rührung.
Morel hielt inne. Sein so reines Auge trübte sich plötzlich und glänzte dann wieder in ungewöhnlichem Feuer, eine große Träne strömte hervor und rollte an seiner Wange herab.
Wie! rief der Graf, Siebeklagen den Verlust von irgend etwas auf Erden und wollen sterben?
Oh! Ich flehe Sie an! rief Morel mit mattem Tone, kein Wort mehr, verlängern Sie meine Qualen nicht, Graf.
Hören Sie, Morel, sagte der Graf, im innersten Herzenbewegt, Ihr Schmerz ist ungeheuer, das sehe ich; aber dennoch glauben Sie an Gott und setzen das Heil Ihrer Seele nicht aufs Spiel!
Morel lächelte traurig und erwiderte: Graf, ich schwöre Ihnen, meine Seele gehört nicht mehr mir.
Hören Sie, Morel, ich habe keine Verwandten auf der Welt, ich habe mich daran gewöhnt, Sie als meinen Sohn zubetrachten; um meinen Sohn zu retten, würde ich mein Leben und noch viel mehr mein Vermögen opfern.
Was wollen Sie damit sagen?
Ich will damit sagen, Morel, daß Sie das Leben verlassen, weil Sie nicht alle Genüsse kennen, die es einem großen Vermögen verheißt. Morel, ichbesitze hundert Millionen: mit einem solchen Vermögen können Sie jedes Ziel erreichen, das Sie sich vorsetzen. Sind Sie ehrgeizig? Jede Laufbahn ist Ihnen geöffnet. Setzen Sie die Welt in Aufruhr, vollführen Sie wahnsinnige Streiche, seien Sie ein Verbrecher, wenn es sein muß, aber leben Sie.
Graf, ich habe Ihr Wort, erwiderte Morel kalt, und, fügte er, seine Uhr ziehend, hinzu, es ist halbzwölf Uhr.
Morel! Bedenken Sie auch, unter meinen Augen, in meinem Hause?
Dann lassen Sie mich gehen, sprach Morel düster, oder ich fange an zu glauben, Sie lieben mich nicht meinetwegen, sondern Ihretwegen! Und er stand auf.
Es ist gut, sagte Monte Christo, dessen Gesicht sichbei diesen Worten aufklärte; Sie wollen es, Morel, und sind unbeugsam. Ja! Sie sind tief unglücklich, und es könnte Sie, wie Sie gesagt haben, nur ein Wunder heilen; setzen Sie sich, Morel, und warten Sie!
Morel gehorchte. Monte Christo stand ebenfalls auf und holte aus einem sorgfältig verschlossenen Schranke, dessen Schlüssel er an einer goldenen Kette an sich hängen hatte, ein kleines silbernes, wunderbar gearbeitetes Kästchen, dessen Ecken vier Figuren darstellten, Figuren von Frauen, Symbole von Engeln, die zum Himmel aufstreben.
Er stellte dieses Kästchen auf den Tisch, öffnete es und zog eine kleine goldene Kapsel daraus hervor, deren Deckel sich durch den Druck einer Feder hob.
Diese Kapsel enthielt eine salbenartige, halbfeste Substanz. Der Graf schöpfte eine kleine Menge davon mit einem goldenen Löffel undbot sie Morel mit einem langenBlicke.
Man konnte nun sehen, daß diese Substanz grünlich war.
Das ist es, was Sie von mir verlangten, sagte er, das ist es, was ich Ihnen versprochen habe.
Noch lebend, erwiderte der junge Mann, den Löffel aus den Händen Monte Christos nehmend, noch lebend danke ich Ihnen aus dem Grunde meines Herzens.
Der Graf nahm einen zweiten Löffel und schöpfte abermals aus der goldenen Kapsel.
Was wollen Sie machen, Freund? fragte Morel, seine Hand zurückhaltend.
Meiner Treu, Morel, erwiderte er lächelnd, Gott vergebe mir! Ich glaube, ichbin des Lebens so müde wie Sie, und da sich eine Gelegenheitbietet…
Halten Sie ein! rief der junge Mann. Oh! Sie, der Sie lieben, den man liebt, der Sie den Glauben und die Hoffnung haben, tun Sie nicht, was ich zu tun imBegriffebin!
Von Ihrer Seite wäre es ein Verbrechen. Gottbefohlen, mein edler und hochherziger Freund! Gottbefohlen! Ich werde Valentine alles sagen, was Sie für mich getan haben.
Und ohne weiter zu zögern, schlürfte Morel die geheimnisvolle Substanz.
Dann schwiegenbeide. Alibrachte still und aufmerksam den Tabak und die persischen Pfeifen, trug den Kaffee auf und verschwand. Allmählich erbleichten die Lampen in den Händen der Marmorstatuen, und der Geruch der Räucherflammen kam Morel minder durchdringend vor.
Ihm gegenübersitzend, schaute Monte Christo Maximilian aus der Tiefe des Schattens an, während Morel nur die Augen des Grafen glänzen sah.
Ein ungeheurer Schmerzbemächtigte sich des jungen Mannes; er fühlte die Pfeife seinen Händen entschlüpfen, die Gegenstände verloren unmerklich ihre Farbe, seinen getrübten Augen kam es vor, als öffneten sich die Türen und Vorhänge in der Wand.
Freund, sagte er, ich fühle, daß ich sterbe — Dank!
Er machte eine Anstrengung, um dem Grafen zum letzten Male die Hand zu reichen; aber die Hand fiel kraftlos an seiner Seite nieder.
Dann kam es ihm vor, als lächele Monte Christo, nicht mit seinem seltsamen, furchtbaren Lächeln, bei dem er wiederholt die Geheimnisse dieser tiefen Seele im Halbdunkel zu erkennen geglaubt hatte, sondern mit einembarmherzigen Wohlwollen, wie es Väter ihren kleinen Kindern zeigen, wenn diese unvernünftige Dinge reden.
Zu gleicher Zeit wuchs der Graf in seinen Augen; seine fast verdoppelte Gestalt trat auf den roten Tapeten hervor; er hatte seine schwarzen Haare zurückgeworfen und erschien aufrecht und stolz, wie einer von jenen Engeln, mit denen man dieBösen am Tage des jüngsten Gerichtesbedroht.
Gelähmt, gebändigt, warf sich Morel in seinen Stuhl zurück; eine sanfte Erstarrung durchdrang alle seine Adern.
Liegend, entkräftet, fühlte er nichts Lebendes mehr in sich als diesen Traum; es kam ihm vor, als liefe er mit vollen Segeln in den schwankenden Zustand ein, der dem unbekannten Dunkel vorhergeht, das man Tod nennt. Noch einmal versuchte er, dem Grafen seine Hand zu geben; diesmal aber rührte sich seine Hand nicht mehr. Er wollte ein letztes Lebewohl aussprechen; doch seine Zunge wälzte sich schwerfällig im Munde umher, wie ein Stein, der ein Grabverstopfen soll.
Seine mitbetäubender Schlafsuchtbelasteten Augen schlossen sich unwillkürlich; hinter seinen Augenlidern aberbewegte sich einBild, das er erkannte, trotz der Dunkelheit, mit der er sich umhüllt glaubte. Es war der Graf, der eine Tür öffnete.
Sogleich übergoß eine unermeßliche, aus einem anstoßenden mit unendlicher Pracht geschmückten Gemache hervorstrahlende Klarheit den Saal, in dem sich Morel seinem süßen Todeskampfe hingab.
Da sah er auf der Schwelle dieses Saales zwischenbeiden Gemächern eine Frau von wunderbarer Schönheit stehen, Bleich und sanft lächelnd, schien sie der Engel derBarmherzigkeit, der den Engel der Rachebeschwört.
Öffnet sich schon der Himmel für mich? dachte der Sterbende; dieser Engel gleicht dem, welchen ich verloren habe.
Monte Christobezeichnete der jungen Frau mit dem Finger das Sofa, auf dem Morel ruhte.
Sie ging auf ihn zu, die Hände gefaltet und ein Lächeln auf den Lippen.
Valentine! Valentine! rief Morel aus dem Grunde seiner Seele.
Aber sein Mundbrachte keinen Ton hervor, und er stieß, als wären alle seine Kräfte in dieser innerenBewegung vereinigt, einen Seufzer aus und schloß die Augen.
Valentine stürzte auf ihn zu.
Morels Lippen machten abermals eineBewegung.
Er ruft Sie, sprach der Graf, er ruft Sie aus der Tiefe seines Schlummers, er, dem Sie Ihr Schicksal anvertraut hatten, und von dem Sie der Tod trennen wollte! Aber zum Glück war ich da; und ich habe den Todbesiegt! Valentine, fortan sollt ihr euch auf Erden nicht mehr trennen; denn damit ihr einander wiederfändet, stürzte er sich in das Grab. Ohne mich wäret ihrbeide gestorben; ich gebe euch einander zurück: möge Gott mir das doppelte Dasein, das ich rettete, in Rechnung stellen!
Valentine ergriff die Hand Monte Christos und drückte sie in einem Ergusse unwiderstehlicher Freude an ihre Lippen.
Oh! Danken Sie mir sehr, sagte der Graf, oh! Wiederholen Sie mir, ohne des Wiederholens müde zu werden, daß ich Sie glücklich gemacht habe; Sie ahnen nicht, wie sehr ich dieser Gewißheitbedarf.
Oh! Ja, ja, ich danke Ihnen von ganzer Seele, sagte Valentine, und wenn Sie an der Aufrichtigkeit meines Dankes zweifeln, so fragen Sie Haydee, die mich seit unserer Abreise von Frankreichbewog, mit Gesprächen über Sie den glücklichen Tag, der heute für mich erglänzt, geduldig zu erwarten.
Sie lieben also Haydee? fragte Monte Christo mit einer Rührung, die er vergebens zu verbergenbemüht war.
Oh! Von ganzer Seele!
Nun wohl, so hören Sie, sagte der Graf, ich habe mir eine Gunst von Ihnen zu erbitten.
Von mir? Großer Gott! Bin ich so glücklich?…
Ja. Sie haben Haydee Ihre Schwester genannt, möge sie in der Tat Ihre Schwester sein, Valentine; geben Sie ihr alles zurück, was Sie mir schuldig zu sein glauben, beschützen Sie mit Morel die arme Haydee, denn sie wird fortan allein auf der Welt sein…
Allein auf der Welt! wiederholte eine Stimme hinter dem Grafen; und warum?
Monte Christo wandte sich um.
Haydee stand da, bleich und in Eis verwandelt, und schaute den Grafen mit einer Gebärde tödlicher Starrheit an.
Weil du morgen frei sein wirst, meine Tochter, antwortete der Graf; weil du in der Welt den dir gebührenden Platz einnehmen wirst; weil mein Verhängnis das deinige nicht verdunkeln soll. Fürstentochter! Ich gebe dir die Reichtümer und den Namen deines Vaters zurück!
Haydee erbleichte, öffnete ihre durchsichtigen Hände, wie es die Jungfrau tut, die sich Gottbefiehlt, und sprach mit einer von Tränen heiseren Stimme: Also du verläßt mich, Herr?
Haydee! Dubist jung, dubist schön; vergiß michbis auf meinen Namen und sei glücklich!
Es ist gut, sprach Haydee, deineBefehle sollen vollzogen werden, mein Herr, ich werde dichbis auf deinen Namen vergessen und glücklich sein. Und sie machte einen Schritt rückwärts, um sich zu entfernen.
Oh, mein Gott! rief Valentine, während sie den erstarrten Kopf Morels auf ihre Schulter hob, sehen Sie nicht, wiebleich sie ist? Begreifen Sie nicht, was sie leidet?
Haydee entgegnete mit einem herzzerreißenden Ausdrucke: Warum soll er michbegreifen? Er ist mein Herr, und ichbin seine Sklavin; er hat das Recht, nichts zu sehen.
Der Grafbebtebei den Tönen dieser Stimme, die selbst die geheimsten Fibern seines Herzens erweckte; seine Augenbegegneten denen des jungen Mädchens und konnten ihren Glanz nicht ertragen.
Mein Gott! Mein Gott! rief Monte Christo, was ich ahnen durfte, wäre also wahr, Haydee, du wärest glücklich, wenn ich dich nicht verlassen würde?
Ichbin jung, antwortete sie mit sanftem Tone; ich liebe das Leben, das du mir stets so süß gemacht hast, und würde esbeklagen, wenn ich sterben müßte.
Damit willst du mir sagen, wenn ich dich verließe, Haydee…
So würde ich sterben, Herr, ja!
Du liebst mich also?
Oh! Valentine, er fragt, obich ihn liebe! Valentine, sage ihm doch, obdu Maximilian liebst!
Der Graf fühlte, wie seineBrust sich erweiterte und sein Herz sich ausdehnte; er öffnete seine Arme, und Haydee fiel ihm, einen Schrei ausstoßend, um den Hals.
Oh! Ja, ich liebe dich! sprach sie, ich liebe dich, wie man seinen Vater, seinenBruder, seinen Gatten liebt, ich liebe dich, wie man sein Leben, seinen Gott liebt, denn dubist für mich das Schönste, dasBeste und das Größte der geschaffenen Wesen.
Also geschehe, wie du willst, mein geliebter Engel, sagte der Graf. Gott, der mich gegen meine Feinde angetrieben und mich zu ihrem Sieger gemacht hat, Gott will nicht diese Reue an das Ende meines Sieges setzen, das sehe ich nun. Ich wollte michbestrafen; Gott will mir verzeihen. Liebe mich also, Haydee! Wer weiß? Deine Liebe wird mich vielleicht vergessen lassen, was ich vergessen muß.
Aber was sprichst du denn da, Herr? fragte das junge Mädchen.
Ich sage, daß ein Wort von dir, Haydee, mich mehr erleichtert hat, als zwanzig Jahre meiner lahmen Weisheit. Ich habe nur dich aus dieser Welt; durch dich kann ich leiden, durch dich kann ich glücklich sein.
Hörst du, Valentine? rief Haydee, er sagt, durch mich könne er leiden, durch mich, die ich mein Leben für ihn geben würde!
Der Graf sammelte sich einen Augenblick und sprach: Habe ich die Wahrheit erschaut? Oh, mein Gott, gleichviel, Belohnung oder Strafe, ich nehme dieseBestimmung an. Komm, Haydee, komm…
Seinen Arm um den Hals des Mädchens schlingend, drückte er Valentine die Hand und verschwand.
Es verging ungefähr eine Stunde, während deren Valentine, stöhnend, ohne Stimme und mit starren Augenbei Morel verharrte. Allmählich fühlte sie sein Herz schlagen, ein unmerklicher Atem öffnete seine Lippen, und dieses leichte, die Rückkehr des Lebens verkündendeBeben durchlief den ganzen Leibdes jungen Mannes.
Endlich öffneten sich seine Augen, aber starr und wie im Irrwahn; dann kehrte das Gesicht zurück, und mit dem Gesicht das Gefühl, mit dem Gefühl der Schmerz.
Oh! rief er im Tone der Verzweiflung, ich lebe noch, der Graf hat mich getäuscht! Und er streckte die Hand nach dem Tische aus und griff nach einem Messer.
Freund, sagte Valentine mit ihrem wunderbaren Lächeln, erwache und schaue mich an!
Morel stieß einen gewaltigen Schrei aus und fiel mit irrem Geiste, voll Zweifel, wie von einer himmlischen Erscheinung geblendet, auf seine Knie nieder…
Am andern Morgen, bei den ersten Strahlen des Tages, gingen Morel und Valentine Arm in Arm am Gestade hin. Valentine erzählte Morel, wie Monte Christo in ihrem Zimmer erschienen sei, wie er ihr alles entschleiert habe, wie er sie das Verbrechen mit dem Finger habeberühren lassen, und sie endlich auf eine wunderbare Weise, indem er die Leute in dem Glauben ließ, sie sei wirklich gestorben, vom Tode errettete.
Sie hatten die Tür der Grotte offen gefunden und waren hinausgetreten; der Himmel ließ in seinem Morgenazur die letzten Gestirne der Nacht erglänzen.
Da erblickte Morel in dem Halbschatten einer Gruppe von Felsen einen Menschen, der auf ein Zeichen wartete, um herbeizukommen; es war Jacopo, der Kapitän der Jacht.
Mit einer Gebärde rief Valentine ihn zu sich, und Maximilian fragte ihn: Ihr habt uns etwas zu sagen?
Ich habe Ihnen einenBrief vom Grafen zu übergeben. Vom Grafen! murmelten gleichzeitig die jungen Leute.
Ja, lesen Sie.
Morel öffnete denBrief und las:
Mein lieber Maximilian!
Eine Feluke liegt für Sie vor Anker. Jacopo wird Sie nach Livorno fahren, wo Herr Noirtier seine Enkelin erwartet, die er segnen will, ehe sie Ihnen zum Altare folgt. Alles, was sich in dieser Grotte findet, mein Freund, mein Haus in den Champs‑Elysées und mein kleines Schloß in Treport sind Hochzeitsgeschenke von Edmond Dantes für den Sohn seines Patrons Morel. Fräulein von Villefort wird die Güte haben, die Hälfte davon zu nehmen, denn ichbitte sie, den Armen von Paris das ganze Vermögen zu schenken, das ihr von ihrem Vater, der wahnsinnig geworden, und von ihremBruder, der im vorigen September mit ihrer Stiefmutter verschieden ist, zukommt.
Sagen Sie dem Engel, der über Ihrem Leben wachen wird, Morel, er möge zuweilen für einen Menschenbeten, der sich wie Satan einen Augenblick für Gottes gleichen gehalten, aber mit aller Demut eines Christen erkannt hat, daß in den Händen Gottes allein die oberste Macht und die unbegrenzte Weisheit liegen. Diese Gebete werden vielleicht die Gewissensbisse mildern, die er im Grunde seines Herzens mit sich trägt.
Was Siebetrifft, Morel, hören Sie das ganze Geheimnis meinesBenehmens gegen Sie. Es gibt weder Glück noch Unglück auf dieser Welt, es gibt nur eine Vergleichung eines Zustandes mit einem anderen und mehr nicht. Der allein, der das äußerste Unglück erfahren hat, ist geeignet, die höchste Glückseligkeit zu empfinden. Man muß die Nähe des Todes empfunden haben, Maximilian, um zu wissen, wie schön das Leben ist.
Lebt also und seid glücklich, geliebte Kinder meines Herzens, und vergeßt nie: bis zu dem Tage, wo es Gott gefallen wird, den Menschen die Zukunft zu enthüllen, besteht die ganze menschliche Weisheit in den zwei Worten:
Warten und Hoffen!
Euer Freund
Edmond Dantes, Graf von Monte Christo.
Während Maximilian diesenBrief las, der Valentine von dem Wahnsinn ihres Vaters und dem Tode ihresBruders in Kenntnis setzte, erbleichte sie; ein schmerzlicher Seufzer entschlüpfte ihrerBrust, und stille, aber darum nicht minderbrennende Zähren rollten an ihren Wangen herab. Ihr Glück war teuer erkauft.
Morel schaute unruhig umher und sprach: In der Tat, der Graf übertreibt seine Großmut, Valentine würde sich mit meinembescheidenen Vermögenbegnügt haben. Wo ist der Graf, mein Freund? Führt mich zu ihm!
Jacopo streckte die Hand nach dem Horizont aus. Die Augen der jungen Leute folgten der vom Seemann angegebenen Richtung, und auf einer dunkelblauen Linie, die am Horizont den Himmel vom Meere trennte, erblickten sie ein kleines weißes Segel.
Abgereist! rief Morel; abgereist! Gottbefohlen, mein Freund! Fahre wohl, mein Vater!
Abgereist! rief Valentine: Gottbefohlen, meine Freundin! Fahre wohl, meine Schwester! Wer weiß, obwir sie je wiedersehen werden! sagte Morel, eine Träne trocknend.
Mein Freund! versetzte Valentine, hat uns der Graf nicht gesagt, die ganze menschliche Weisheitbestehe in den zwei Worten: